Zum Buch:
Weltweit haben Menschen dieselben Vorbehalte gegenüber der Macht. »Macht ist schmutzig, Macht korrumpiert, Macht gehört den Mächtigen.« Das Problem daran ist: Sie entbehren jeglicher Grundlage. Unsere persönliche Einstellung zur Macht hingegen beeinflusst unser tägliches Leben und unseren Erfolg. Wer Macht als etwas Negatives empfindet, wird selbst nie darüber verfügen.
In ihrer überraschenden und augenöffnenden Analyse der Macht zeigen die Professorinnen Julie Battilana und Tiziana Casciaro, dass Macht immer relativ ist und wirklich jeder Mensch sie neu verhandeln kann. Denn Macht entsteht immer dann, wenn jemand über Ressourcen verfügt, die ein anderer braucht. Die Autorinnen entwickeln ein praktikables Framework der Macht, das zeigt, an welchen Fäden jede*r jederzeit ziehen kann, um ein neues und soziales Machtgleichgewicht herbeizuführen. Niemand ist zu gering, um die Verhältnisse nachhaltig zu verändern! Egal, ob frischgebackene Führungskraft oder Anführer*in einer Grassroots-Bewegung.
Zu den Autorinnen:
Julie Battilana ist Professorin an der Harvard Business School und der Harvard Kennedy School of Government. Sie ist Gründerin und Lehrstuhlinhaberin der Initiative für Soziale Innovation und Wandel. Sie ist außerdem Mitgbegründerin der weltweiten Initiative Democratizing Work. Zahlreiche Medien wie NPR, Businessweek, Harvard Business Review, The Guardian, Forbes, The Boston Globe und Le Monde berichten über sie und veröffentlichen ihre Beiträge. Die gebürtige Französin lebt in Belmont, Massachusetts.
Tiziana Casciaro ist Professorin an der Rotman School of Management der Universität von Toronto. Über ihre Forschung berichten unter anderem Economist, Financial Times, The Washington Post, HuffPost, Harvard Business Review, USA TODAY, Forbes, CNN, MSNBC, ABC, Fortune und Time. Ihre vielfach preisgekrönte Arbeit brachte sie auf den Thinkers50 Radar, einem Ranking der 30 Managementvordenker, die unsere Zukunft und die unserer Arbeit formen werden. Die gebürtige Italienerin lebt in Toronto.
Julie Battilana & Tiziana Casciaro
POWER FOR ALL
Wie Macht funktioniert, wie sie uns nützt und
weshalb das alle etwas angeht
Mit einem Vorwort von Janina Kugel
Aus dem amerikanischen Englisch von Heike Schlatterer
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel
Power, for All bei Simon & Schuster.
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.
Aus dem amerikanischen Englisch von Heike Schlatterer
© 2021 by Julie Battilana und Tiziana Casciaro.
© der deutschsprachigen Ausgabe 2022 Ariston Verlag in der
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Redaktion: Desirée Šimeg, Stadtbergen
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
unter Verwendung eines Fotos von © Liesl Clark
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN: 978-3-641-28785-6
V001
Für Jean-Pierre, Marica und Emilie, die mir den Weg ebneten,
Für Romain, der ihn für mich markiert hat und immer an meiner Seite ist, und für Lou und Noé und die engagierten jungen Leute ihrer Generation, die unseren gemeinsamen Marsch zu sozialer Gerechtigkeit fortsetzen
JB
Für meine Mutter Maria Teresa Tarsitano, die mir Liebe, Tugend und Wissen vermittelte und hin und wieder eine sgridatina gab
TC
Vorwort zur deutschen Ausgabe von Janina Kugel
Einleitung: Macht wird missverstanden
Kapitel 1: Die Grundlagen der Macht
Kapitel 2: Macht kann schmutzig sein, muss sie aber nicht
Kapitel 3: Was schätzen Menschen besonders?
Kapitel 4: Wer kontrolliert den Zugang zu dem, was wir schätzen?
Kapitel 5: Machthierarchien halten sich hartnäckig, können jedoch demontiert werden
Kapitel 6: Agitation, Innovation, Orchestrierung
Kapitel 7: Macht ändert sich nicht – sie wechselt nur den Besitzer
Kapitel 8: Macht in Schach halten
Schluss: Es liegt an uns
Anhang: Machtdefinitionen in den Sozialwissenschaften
Dank
Über die Autorinnen
Anmerkungen
Das Leben der Mächtigen. Die geheimen Zirkel der Macht. Darum drehen sich unzählige Geschichten, die uns seit Menschengedenken faszinieren. Die meisten Menschen betrachten Macht daher als etwas, das einem kleinen, elitären Kreis von Personen vorbehalten ist, zu dem sie selbst keinen Zugang haben. Aber ist das denn wirklich so?
Macht zu haben bedeutet, Einfluss nehmen zu können, also über etwas zu verfügen, das für andere von Interesse ist. Das können vollkommen unterschiedliche Dinge sein: Wissen, ein Netzwerk, Zuhörer*innen, politische oder finanzielle Möglichkeiten, aber auch die Kenntnis eines sozialen Gefüges. Genau genommen handelt es sich um Dinge, über die jede*r von uns verfügt. Doch fühlen wir uns tatsächlich mächtig? Nutzen wir unsere Möglichkeiten und wollen wir das überhaupt?
Für viele ist Macht noch immer mit etwas Negativem besetzt, sie schrecken fast ein wenig davor zurück. Doch Macht an sich ist weder gut noch böse. Zweifellos können Menschen, die Einfluss haben, Gutes bewirken, sie können gestalten und Veränderungen ins Rollen bringen. Woher rührt also diese Skepsis? Sie kommt durch Situationen, die wir alle kennen und so manches Mal auch selbst erleben. Situationen, in denen die Macht Einzelner nicht förderlich, sondern zerstörerisch wirkt. Es kommt also darauf an, wer an Macht gelangt.
Wie so oft im Leben sind es soziale und zwischenmenschliche Fähigkeiten, die darüber entscheiden, wie Macht sich auswirkt. Wer über ein hohes Maß an Sozialkompetenz verfügt, zuhören kann und empathisch ist, wird den eigenen Einfluss dazu nutzen, Positives zu bewirken – und zwar nicht für sich selbst, sondern für andere. Diejenigen jedoch, die ihre eigenen Fähigkeiten überschätzen, an Hybris leiden oder Kritik und die Realität ausblenden, zerstören mehr, als sie bewirken.
Weil diese Unterschiede gravierend sein können, ist es wichtig, die Wirkmechanismen der Macht zu kennen und zu verstehen. Dabei dürfen wir nie aus dem Blick verlieren, dass sich menschliches Verhalten verändern kann, sodass wir immer wachsam bleiben müssen, um Machtmissbrauch zu verhindern.
Julie Battilana und Tiziana Casciaro entmystifizieren Macht und öffnen neue Perspektiven. Mit einer wunderbaren Mischung aus akademischen Forschungsergebnissen und Erzählungen aus dem echten Leben gelingt es ihnen, die Dynamiken der Macht nicht nur verstehen zu lernen, sondern sie geben den Leser*innen auch eine Anleitung dafür, wie sie ihnen begegnen, sie beeinflussen und nutzen können. Eine erfrischende Aufforderung, die eigenen Einflussmöglichkeiten zu entdecken und zu erproben.
Macht geht uns alle an, denn es gibt noch so vieles, für das wir uns einsetzen können – zum Positiven.
München, im Mai 2022
Janina Kugel
Ein Schäfer, der nach einem heftigen Sturm zu seiner Herde zurückkehrt, macht eine erstaunliche Entdeckung. Mitten auf der Weide klafft eine tiefe Erdspalte, die den Zugang zu einer unterirdischen Höhle freigibt. Der neugierige Hirte kriecht hinein und findet in einer Krypta eine riesige hohle Pferdeskulptur aus Bronze. In der Skulptur liegt ein Skelett mit einem goldenen Ring am Finger. Der Hirte steckt den Ring ein und verlässt die Höhle. Bald darauf entdeckt er, dass der Ring kein gewöhnlicher Ring, sondern ein magischer Ring ist, der seinen Träger unsichtbar macht. Im Wissen um diese Fähigkeit heckt der Hirte einen Plan aus: Er verschafft sich Zutritt zum Palast, verführt die Königin, ermordet den König und übernimmt die Herrschaft über dessen Reich.
Platon schildert das Abenteuer des Hirten, auch bekannt als »Der Ring des Gyges«, im 4. Jahrhundert v. Chr. in seinem Buch Der Staat.1 Seitdem hat seine Geschichte die Menschen immer wieder in ihren Bann geschlagen. Eine weitere Geschichte über einen magischen Ring, der unsichtbar macht, aber auch dunkle Kräfte verleiht, hat es geschafft, die Leser auf mehr als 1500 Seiten zu fesseln. Die Rede ist natürlich von J. R. R. Tolkiens Fantasy-Romanen Der Hobbit und Der Herr der Ringe, in denen der »eine Ring« seine Träger mit dem Versprechen der absoluten Macht korrumpiert.
Seit Jahrtausenden erzählen sich die Menschen Geschichten wie »Der Ring des Gyges« oder Der Herr der Ringe: In einem arabischen Volksmärchen entdeckt Aladin, den ein böser Zauberer ausschickt, um aus einer magischen Höhle eine Öllampe zu holen, einen Dschinn, der ihm Wünsche erfüllt. In einer vietnamesischen Legende befreit der König Le Loi im 15. Jahrhundert nach einem jahrzehntelangen Krieg sein Volk von der Besatzung der chinesischen Ming-Dynastie mithilfe eines magischen Schwertes namens Thuận Thiên (»Wille des Himmels«). In Richard Wagners Opernzyklus Der Ring des Nibelungen besitzt Alberich einen magischen Helm, der es seinem Träger ermöglicht, die Gestalt zu wandeln oder unsichtbar zu werden. Ein aktuelleres Beispiel ist die Geschichte von Harry Potter, die in seiner Suche nach den Heiligtümern des Todes mündet, drei magischen Objekten, die ihren Träger zum Meister des Todes machen.
Geschichten über einen Protagonisten, der sich auf die Suche nach einem magischen Objekt macht, das ihm – oder neuerdings auch ihr – die Fähigkeit verleiht, über das eigene Schicksal zu bestimmen und über Bösewichte zu triumphieren, finden sich in allen Kulturen. Was diese zeitlosen Erzählungen verbindet, macht auch ihre Faszination aus: Im Grunde geht es immer um Macht. Die Helden und Schurken kämpfen und töten, um in den Besitz magischer Objekte zu gelangen, die ihnen nicht nur die Kontrolle über ihr eigenes Schicksal ermöglichen, sondern auch über das Verhalten anderer. Und genau das macht Macht aus: die Fähigkeit, das Verhalten anderer zu beeinflussen, sei es nun durch Überzeugung oder durch Zwang.
Diese epischen Erzählungen haben sich über Jahrtausende gehalten, weil Macht uns fasziniert. Sie sorgt dafür, dass wir ein Buch Seite um Seite verschlingen, dass wir vor dem Bildschirm kleben und die Nachrichten verfolgen oder stundenlang Filme und Serien schauen. Macht gehört zu den Themen, über die weltweit am meisten gesprochen und vermutlich auch geschrieben wird, weil Macht ein fester Bestandteil unseres Lebens ist. Von unseren persönlichen Beziehungen über Konflikte am Arbeitsplatz bis zu den höchsten Ebenen der internationalen Diplomatie und der Wirtschaft – es geht immer um Macht.
Nachdem wir uns zwei Jahrzehnte mit dem Thema befasst, es studiert und unterrichtet hatten, stellten wir fest, dass Macht trotz ihrer Allgegenwart – oder vielleicht gerade deswegen – immer noch häufig falsch verstanden wird. Wenn die Studierenden im Herbst in unsere Seminare an der Harvard University oder der University of Toronto strömen, suchen sie jedes Jahr Antworten auf dieselben Fragen: »Wie kann ich Macht erlangen und behalten? Warum fühle ich mich nicht mächtig, obwohl ich befördert wurde? Wie kann ich andere Menschen überzeugen, sich zu verändern? Warum ist es so schwer, sich gegen manipulative Vorgesetzte zur Wehr zu setzen? Wie kann ich sicherstellen, dass ich meine Macht, wenn ich denn welche habe, nicht missbrauche?«
Die Studierenden machen sich auch Gedanken über die aktuellen Entwicklungen in der Welt und fragen sich, ob sie das Potenzial haben, etwas zu verändern. Vor allem in den letzten Jahren wurde uns immer wieder die Frage gestellt: »Warum habe ich das Gefühl, dass die Welt vor meinen Augen in den Abgrund treibt und ich nichts dagegen tun kann?«
Doch nicht nur in unseren Seminaren werden uns diese drängenden Fragen gestellt. Unsere Forschung und Beratungstätigkeiten haben uns um die ganze Welt geführt, und überall äußerten Menschen jeden Alters und ganz unterschiedlicher Herkunft ähnliche Sorgen und Nöte, ob Teenager oder über Neunzigjährige, sehr gebildete Menschen oder jene, die nie eine Chance bekommen haben, lesen und schreiben zu lernen. All diese Begegnungen gewährten uns einen Einblick, wie Menschen mit Macht umgehen, sei es nun in einem Krankenhaus im Zentrum von Rio de Janeiro, im gut ausgestatteten Büro eines ehemaligen französischen Präsidenten in Paris oder in einem geschäftigen Start-up-Inkubator für Social Entrepreneurship in New York.
Trotz dieser enormen Vielfalt denken die Menschen, mit denen wir uns unterhalten und zusammengearbeitet haben, ganz ähnlich über Macht. Größtenteils geht es ihnen darum, ihr eigenes Leben und oft auch das ihrer Mitmenschen zu verbessern. Sie wollen mehr Kontrolle über ihr Umfeld und sie wollen etwas bewirken, sei es nun in der eigenen Familie, an ihrem Arbeitsplatz, in ihrer Gemeinschaft oder in der Gesellschaft an sich. Doch sie müssen feststellen, dass das gar nicht so einfach ist. Auf jeden Erfolg kommt mindestens eine Episode, in der sie kämpfen oder eine Niederlage einstecken mussten. Intuitiv wissen sie, dass Macht der Schlüssel zu der von ihnen erhofften Wirkung ist. Doch es ist ein großer Unterschied, ob man die Wirkung von Macht erkennt oder ob man weiß, wie sie funktioniert. Damit kommen wir zu der zweiten Gemeinsamkeit, die wir häufig beobachten: Die meisten Menschen haben falsche Vorstellungen von Macht. Vor allem drei Fehlannahmen hindern viele daran, Macht richtig zu begreifen und letztlich auch auszuüben.
Der erste Trugschluss ist die Vorstellung, dass Macht etwas ist, das man dauerhaft besitzt, und dass manche Menschen besondere Eigenschaften haben, die es ihnen ermöglichen, Macht zu erlangen. Wenn man diese Eigenschaften hat – so die Denkweise – oder einen Weg findet, sie sich anzueignen, wird man beständig Macht ausüben. Diese besonderen Eigenschaften unterscheiden sich gar nicht so sehr von den magischen Gegenständen in den Volksmärchen und Mythen; es verwundert daher nicht, dass viele herausfinden wollen, wie diese »idealen Eigenschaften« beschaffen sind. Doch stellen Sie sich nun einmal die Beziehungen in Ihrem Leben vor. Wahrscheinlich haben Sie das Gefühl, in manchen mehr Kontrolle zu haben als in anderen, obwohl sich an Ihren Eigenschaften und Fähigkeiten nicht viel geändert hat. Persönliche Attribute können zwar in bestimmten Situationen die eigene Macht befördern, doch Sie werden feststellen, dass die Suche nach besonderen Eigenschaften, die jemanden immer und überall mächtig machen, weitgehend Zeitverschwendung ist.
Der zweite Trugschluss ist der, dass Macht an eine bestimmte Position gebunden ist, also beispielsweise Königen und Königinnen vorbehalten ist, Präsidenten und Generälen, Vorstandsmitgliedern und CEOs, den Reichen und Berühmten. Autorität oder eine bestimmte Position werden häufig mit Macht verwechselt, was sich in unserem eigenen Leben auch jedes Jahr zu Beginn des Semesters zeigt: Wenn wir unsere Studierenden auffordern, fünf Personen aufzuzählen, die sie für mächtig halten, nennen sie zu 90 Prozent Personen, die an der Spitze einer Hierarchie stehen. Doch Sie wären überrascht, wie viele Topmanager und CEOs zu uns kommen, weil sie Probleme haben, in ihren Organisationen tatsächlich etwas zu bewegen. Sie haben erkannt, dass eine Position an der Spitze keine Garantie dafür ist, dass ihre Teams tatsächlich das tun, was sie wollen. In Komödien, von den antiken griechischen Schauspielen bis zu den britischen Monty-Python-Sketchen, werden gern Autoritätspersonen lächerlich gemacht, ob Kaiser, Heerführer, Minister oder aufgeblasene Chefs. Unsere Analyse wird zeigen, warum eine Position an der Spitze zwar Autorität verleiht, aber nicht zwangsläufig Macht.
Der letzte und vielleicht am weitesten verbreitete Trugschluss ist der, dass Macht schmutzig ist und dass ihr Erwerb und ihre Ausübung mit Manipulation, Zwang und Grausamkeit verbunden sind. In der Literatur und Filmwelt wimmelt es von abschreckenden Beispielen: Lady Macbeth und Iago bei Shakespeare, Voldemort in der Harry-Potter-Reihe oder Frank und Claire Underwood in House of Cards. Wir können den Blick nicht abwenden, können aber auch den Gedanken nicht ertragen, so wie diese Figuren zu sein. Macht fasziniert uns, stößt uns aber gleichzeitig ab. Sie scheint wie Feuer: fesselnd, aber auch in der Lage, uns zu verschlingen, wenn wir ihr zu nahe kommen. Wir fürchten, wir könnten den Verstand verlieren oder unsere Prinzipien über Bord werfen. Der Hirte in »Der Ring des Gyges« wird zu einem manipulativen Mörder und der »eine Ring« in Tolkiens Herr der Ringe verdirbt nach und nach den Charakter seines Trägers. Doch in Wirklichkeit ist Macht an sich nicht schmutzig. Es besteht zwar immer die Möglichkeit, von ihr korrumpiert zu werden, doch ihre Energie ist unverzichtbar, wenn wir etwas erreichen wollen. Wenn eine Drittklässlerin ihre Klassenkameraden überzeugt, sich an einer Spendenaktion zugunsten einer gemeinnützigen Organisation zu beteiligen, die sich um Kinder mit Behinderungen kümmert, nutzt sie Macht auf konstruktive Weise. Das gilt auch für den Manager, der die Unternehmensleitung überzeugt, seinem Team die Mittel zur Verfügung zu stellen, die es benötigt, um unter besseren Bedingungen zu arbeiten und mehr zu leisten.
Die drei Trugschlüsse über Macht behindern uns als Individuen und im Kollektiv. Für uns als Individuen sind diese Fehleinschätzungen ein Quell der Frustration, weil sie unsere Fähigkeit einschränken, unser eigenes Leben zu kontrollieren, andere zu beeinflussen und Dinge auf die Reihe zu bekommen. Wir haben das Gefühl, wir wären den »Machtspielchen« am Arbeitsplatz hilflos ausgeliefert und Spielball einer Dynamik, auf die wir keinen Einfluss hätten.
In kollektiver Hinsicht hat unsere falsche Vorstellung von Macht katastrophale Folgen, weil wir dadurch weniger in der Lage sind, Machtmissbrauch zu erkennen, zu verhindern und zu beenden, wenn er unsere Freiheit und unser Wohlergehen bedroht. Dadurch laufen wir Gefahr – oft ohne es zu merken –, dass eine kleine Gruppe, die nur ihre eigenen Interessen verfolgt, über unser gemeinsames Schicksal bestimmt.
In der Geschichte gibt es unzählige Beispiele von Tyrannen, die das Leben und die Freiheit anderer missachteten. Dennoch halten sich Diktaturen rund um den Globus und entziehen den Menschen ihre grundlegenden Rechte. Und selbst in Demokratien sind hart erkämpfte Freiheiten gefährdet, weil stets das Risiko besteht, dass sich früher oder später die Macht in den Händen einiger weniger konzentriert, die dann ihre Privilegien erbittert verteidigen.
So hartnäckig sich diese Trugschlüsse auch halten und so schwerwiegend ihre Folgen sein können, wir wissen aus unserer Forschung und Erfahrung, dass die wahre Dynamik der Macht erlernt werden kann. Ob man nun dem Bösen widerstehen oder Gutes tun will, man muss die Funktionsweise von Macht verstehen und begreifen, was es braucht, Macht zu erlangen und auszuüben. Weil wir dieses Wissen vermitteln wollen, haben wir unser Buch geschrieben: Wir möchten aufzeigen, wie man diese Dynamik entschlüsselt, damit Sie besser in der Lage sind, Ihre Ziele in Ihren Beziehungen, am Arbeitsplatz, in Ihren Gemeinschaften und in der Gesellschaft an sich mit all Ihrer Energie zu verfolgen.
Am Ende unseres Seminars fordern wir die Studierenden auf, sich an Momente zu erinnern, in denen sie sich der Macht anderer hilflos ausgeliefert fühlten, und diese Situationen mithilfe des Gelernten zu analysieren. Sie erzählen vom Schock einer unerwarteten Entlassung, von der Enttäuschung, wenn man für ein Amt kandidiert und wegen einiger weniger fehlenden Stimmen scheitert, und von der Überraschung, etwas nicht durchsetzen zu können, obwohl scheinbar alle dafür waren. Diese Situationen waren für unsere Studierenden nicht nur schmerzlich, sondern gaben ihnen auch Rätsel auf. Oder wie es ein Student formulierte, der aus heiterem Himmel seinen Job verlor: »Ich hatte das Gefühl, ich würde in einem Film mitspielen, ohne die Handlung zu verstehen.« Wenn wir im Laufe des Seminars die drei Trugschlüsse im Zusammenhang mit Macht darlegen, können wir beobachten, wie die Studierenden diese »Handlung« allmählich nachvollziehen. Am Ende erkennen sie, wie sie bestimmte Situationen falsch deuteten, wie sie ihre Energie auf den falschen Chef oder Politiker konzentrierten oder welche Kräfte dafür sorgten, dass sie das Gefühl hatten, irgendwie festzustecken. Kurz gesagt, sehen sie Macht so, wie sie tatsächlich ist. Dieses Verständnis wollen wir auch Ihnen vermitteln.
Die Dynamik der Macht zu begreifen, hilft Ihnen, nicht nur Ihre persönlichen Ziele zu verfolgen, sondern auch unsere kollektive Zukunft effektiv mitzugestalten. Individuelle und kollektive Macht sind untrennbar miteinander verbunden. Die Macht, die wir in unserem persönlichen Leben ausüben, ob bei der Arbeit oder zu Hause, ist eng mit dem politischen System verflochten, in dem wir leben, mit dem Wirtschaftssystem, das uns Möglichkeiten bietet, uns aber auch einschränkt, und mit den ökologischen und biologischen Systemen in unserer Umwelt mit all den Launen und Gesetzen der Natur. Die Machtverteilung in unserer Gesellschaft wirkt sich immer auch auf unsere eigene Macht aus, daher wäre es dumm zu glauben, wir könnten unsere individuellen Ziele unabhängig davon verfolgen.
Wenn wir die Mechanismen der Macht in unserem Leben verstehen, werden wir feststellen, dass Macht- und Ohnmachtsgefühle mit ihren psychischen Manifestationen und Konsequenzen sehr real und wichtig sind. Doch eine Analyse der Macht darf sich nicht auf das eigene Denken und Fühlen beschränken, sondern muss immer auch die Menschen in unserem Umfeld berücksichtigen: wer sie sind, in welcher Beziehung wir zu ihnen stehen, welche Beziehungen untereinander existieren und in welchen größeren Kontext diese Beziehungen eingebettet sind.
Entsprechend werden wir die Dynamik der Macht in Organisationen und in der Gesellschaft allgemein sowie in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen untersuchen. Dabei stützen wir uns auf Erkenntnisse aus unserer eigenen Forschung, bei der wir Macht auf allen drei Ebenen untersuchten, sowie auf die Ergebnisse anderer Disziplinen wie Soziologie, Sozial- und Evolutionspsychologie, Management, Politikwissenschaft, Wirtschaft, Recht, Geschichte und Philosophie. Aufbauend auf diesem Wissensfundus werden wir Ihnen – Schicht für Schicht – die vielen Facetten der Macht und ihre Erscheinungsformen in der Vergangenheit und in unserem heutigen Leben aufzeigen.
Als Frauen und Wissenschaftlerinnen mit internationalem Background – Julie stammt ursprünglich aus Frankreich und hat heute die französische und US-amerikanische Staatsbürgerschaft; Tiziana wuchs in Italien auf, lebte viele Jahre in den USA und machte dann Kanada zu ihrer Heimat – ist uns bewusst, dass die Art und Weise, wie Macht sich manifestiert und wahrgenommen wird, nicht nur im Laufe der Zeit stark variiert, sondern auch je nach Kultur, Geschlecht, Herkunft und sozialem Hintergrund. Um diese Variationen und ihre Auswirkungen zu verstehen, die weit über unsere eigenen Erfahrungen hinausgehen, haben wir mehr als hundert Interviews mit Menschen auf fünf Kontinenten geführt, die faszinierende und unterschiedliche Wege zur Macht beschritten oder Macht erlebt haben, darunter eine brasilianische Ärztin, die zur Sozialunternehmerin wurde, eine polnische Holocaustüberlebende, ein afroamerikanischer Bürgerrechtler, ein Polizist aus Bangladesch, ein kanadischer Investmentbanker, eine weltberühmte italienische Modedesignerin und eine nigerianische Aktivistin.
Sie werden deren Stimmen im gesamten Buch wiederfinden. Ihre Geschichten werden Ihnen helfen, die Funktionsweise von Macht zu erkennen und zu verstehen, und Ihnen zeigen, was nötig ist, um Macht zu nutzen und wirkungsvoll einzusetzen.
Vor über 500 Jahren schrieb Niccolò Machiavelli sein Traktat Der Fürst, ein wegweisendes Werk, das auch heute noch von Menschen in Machtpositionen und jenen gelesen wird, die ihnen nacheifern.2 Für dieses Publikum schrieb Machiavelli sein Buch, und hier liegt auch ein wesentlicher Unterschied zwischen unserem Buch und Werken wie Der Fürst: Wir schreiben nicht ausschließlich für und über mächtige Menschen. Unser Buch ist für alle gedacht, auch für Gruppen, denen in der Vergangenheit und selbst heute noch der Zugang zur Macht verwehrt wird. Dass ihnen die Macht so lange verwehrt blieb, heißt nicht, dass sie keine Macht haben können. Macht kann für alle da sein.
Wie wir noch zeigen werden, gibt es Elemente, die in jeder Situation zuverlässig verdeutlichen, wer Macht hat und wer nicht. Wenn Sie diese Elemente kennen, ist das wie ein Infrarotsichtgerät, mit dem Sie im Dunkeln sehen können: Sie werden in der Lage sein, die Machtverhältnisse in Ihrer Umgebung zu erkennen, bei Ihnen zu Hause, bei der Arbeit und im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Kontext, in dem sich Ihr Leben bewegt. Zusammen bilden diese Elemente die Grundlagen der Macht. Wenn man Macht auf ihre Grundlagen herunterbricht, hängt die Analyse, wer sie ausübt und warum, von der Antwort auf zwei Fragen ab. Sie haben richtig gelesen, nur zwei Fragen. Wir werden Ihnen zeigen, was man benötigt, um diese beiden Fragen zu beantworten.
Wir werden erklären, warum Macht zwar den Besitzer wechseln kann, ihre Verteilung in der Gesellschaft aber relativ statisch ist, weshalb es für manche Menschen einfach ist, strukturelle Vorteile zu erlangen, zu wahren und zu festigen, während andere eindeutig benachteiligt werden. Doch wir werden Ihnen auch zeigen, dass diese unterdrückerischen Hierarchien durchbrochen werden können, wenn die Leute aktiv werden und gemeinsam dagegen kämpfen. Neue digitale Technologien haben das Potenzial, diese Form des kollektiven Handelns zu erleichtern, aber auch zu behindern. Streng überwacht und klug eingesetzt, kann die Informationstechnologie denjenigen, die von der Macht ausgeschlossen waren, Zugang zu Ressourcen verschaffen, die ihnen bislang verwehrt geblieben sind. Bleibt die Informationstechnologie jedoch unkontrolliert, kann sie zu einer immer größeren Machtkonzentration führen. Wie Macht ist auch Technologie an sich weder gut noch schlecht; es kommt immer darauf an, wie und zu welchem Zweck sie eingesetzt wird. In diesem wie auch in anderen Zusammenhängen werden Sie feststellen, dass Macht nur für alle sein kann, wenn wir sie mit Mechanismen im Zaum halten, die eine übermäßige Konzentration verhindern, und wenn wir ihre Hüter zur Verantwortung ziehen können, falls sie versuchen, unsere Rechte und Freiheiten einzuschränken.
Die Menschheit hat in ihrer Geschichte einen langen Weg zurückgelegt, in dessen Verlauf immer mehr Menschen die Möglichkeit erhielten, ein gutes Leben zu führen, ihre Ziele zu verfolgen und andere darin zu unterstützen, das auch zu tun. Über Jahrtausende musste die große Mehrheit die Willkür und Missachtung autoritärer Herrscher ertragen, die sich in ihren Entscheidungen von ihren eigenen Interessen und Wünschen leiten ließen. Heute leben viele von uns in Demokratien, in denen wir unsere Meinung bei Wahlen zum Ausdruck bringen und selbst entscheiden können, wie wir leben wollen. Diese Vorteile haben wir dem unermüdlichen Engagement von Menschen zu verdanken – einige berühmt, die meisten namenlos –, die für eine gerechtere Welt eintraten und neue Ideen formulierten, selbst wenn diese manchen zu radikal waren. Doch das Auf und Ab der Geschichte hat auch tiefe Gräben hinterlassen, und Demokratien schaffen es immer noch nicht ganz, allen gleich viel Mitspracherecht einzuräumen, und auch die sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten sind weltweit immer noch allgegenwärtig.
Wenn wir als Spezies überleben und gedeihen und in Harmonie miteinander und mit unserer Umwelt leben wollen, müssen wir die Arbeit früherer Generationen fortsetzen und weiter für eine gerechtere Machtverteilung kämpfen. Dieses Engagement ist eine moralische Verpflichtung, es ist aber auch in unserem eigenen Interesse, denn nur so können wir eine übermäßige Machtkonzentration vermeiden und unsere individuellen und kollektiven Freiheiten bewahren. Zum Glück fangen wir nicht bei null an. Ganz im Gegenteil. Wie wir in diesem Buch zeigen, haben bewährte Ideen und Lösungen das Potenzial, Macht für alle zugänglich zu machen.