1.

Inhaltsverzeichnis

Der Nebel der letzten Tage war in einen staubfeinen Dauerregen übergegangen. Naßglänzende Schirme überdachten das Gewimmel der Menschen in den Straßen von Stockholm. Doppelt und dreifach zurückgeworfen vom Spiegel der Asphaltdämme schillerten die Farben der Lichtreklamen. Der Portier des »Grand-Hotel Royal« trat mit einem großen Schirm bewaffnet aus der schützenden Halle an die vorfahrenden Autos heran, um die Gäste trocken ins Haus zu bringen. Unter den wenigen Neugierigen, die trotz des schlechten Wetters ausharrten, um die Anfahrt der Gäste zu beobachten, befand sich auch ein Herr in einem gelben Regenmantel. Man konnte schon sagen, daß dieser Herr die beste Position erwischt hatte. Er lehnte an der Hauswand unter einem Balkon, und nur ab und zu huschte das Licht eines Autoscheinwerfers über den gelben Mantel. Ein Streichholz glomm auf. Es war vergebliche Bemühung, einen speichel- und regenfeuchten Sumatrastummel zum Glühen zu bringen.

»Dann nicht«, knurrte der Mann und schob den Stummel für spätere Verwendung in die Manteltasche. Aus dem emporgeschlagenen Kragen lugte ein gerötetes Gesicht. Hinter Brillengläsern lagen dunkle Augen wie in einem Versteck. Die Nase schien mit einem ewigen Schnupfen zu kämpfen. An ihrem kupferfarbenen Rücken rannen Regentropfen hinunter. Wenn ein Windstoß den Mantelkragen lüftete, konnte man das glänzende Blau eines Gummikragens, eine stark abgenutzte, »gelötete« Krawatte und den Ansatz einer unmodernen hochgeschlossenen Weste erkennen. Unter dem Mantel sahen derbe Hosenrollen hervor, die sich faltig über ein Paar seltsam gekrümmte Schnürstiefel schmiegten.

»Wo mag Olaf Järnvägen bleiben?« knurrte der Mann und reckte den Hals. Da sah er, wie gerade eine junge Dame, vom Portier »beschirmt«, in das Portal trat.

»Oh, Molly Dane, unsere amerikanische Akrobatin! Und sie kommt allein? Wer hätte sie je ohne Olaf Järnvägen gesehen?«

Es kamen noch mehrere Autos, aber Järnvägen war nicht unter den Gästen.

»Das enttäuscht mich«, murmelte der Beobachter. »Wieder ein Beweis, Nat, daß man in Herzensangelegenheiten nicht vorschnell urteilen soll! Ich glaube, ich kann jetzt getrost nach Hause gehen – hier gibt's nichts mehr zu sehen für mich.«

Er zog den Mantelkragen bis zu den Ohren hinauf und ging davon.

An der Ecke der Stallgatan nahm er eine Taxe. Es war ein weiter Weg nach Vasastaden hinaus. Nathanel Wade liebte die öffentlichen Verkehrsmittel nicht. Man konnte zu oft auf Bekannte treffen, und außerdem hatte er noch andere zwingende Gründe, das Mietauto zu bevorzugen. Die Taxe hielt in der Upsalagatan. Es war eine der stillen Straßen, wie sie in der Gegend von Vasastaden überall zu finden sind. Wade zahlte und blickte der schnell davonfahrenden Taxe noch eine Weile nach. Sein Blick schweifte über die Fenster der gegenüberliegenden Häuser, hinter deren kleinen, musselinverhangenen Fenstern traulicher Lampenschein leuchtete; dann ging er schnell hinüber. Schon nach einigen Schritten verschluckte ihn ein dunkler Torbogen. Treppenstufen knarrten unter hartem Tritt. In der ersten Etage fingerte er einen Schlüssel aus der Tasche. Eine Tür öffnete sich quietschend. Das angeknipste Licht beleuchtete einen kleinen Vorraum, von dem drei Türen abgingen. Durch eine von ihnen trat Wade in einen einfach eingerichteten Wohnraum. Eine Schreibtischlampe beleuchtete die Umrisse eines unmodernen Sofas und anderen Mobiliars. Der Goldrahmen eines billigen Öldruckes an der Wand schimmerte auf.

Jemand klopfte.

»Guten Abend, Herr Wade!« Ein grauhaariger Kopf, das vertrauenswürdige Gesicht eines Hausmütterchens, erschien im Türspalt. »Ein Herr war hier und wollte Sie dringend sprechen.«

»Wer?« fragte Wade kurz.

»Ein Herr Torget!«

»Oh, das ist nicht so wichtig!«

Die Frau legte mehrere Briefe und Zeitungen auf den Tisch.

»Schönen Dank, Frau Järta«, setzte Wade hinzu, »tja, wenn ich Sie nicht hätte!«

»Dann würden Sie hier in Ihrer Junggesellenbude wohl bald Mäuse fangen können«, entgegnete Frau Järta lachend.

»Mäuse, liebe Frau Järta? Das ist eine Idee. Wie Sie aber auch auf Mäuse kommen konnten!« Wade kicherte vor sich hin. »Pumpen Sie mir nächstens einen Schirm, Frau Järta, es regnet wieder Bindfäden, und dieser Mantel scheint nicht mehr recht dicht zu halten.« Frau Järta nickte nur und schob Wade zum Tisch, wo sie für ihn das Abendbrot bereitgestellt hätte.

»Essen!« versetzte sie. »Wenn man Ihnen nicht alles mit Gewalt aufdrängt, essen Sie überhaupt nichts mehr.«

»Sie sind mein guter Engel, Frau Järta«. gab Wade zu und drückte ihr die Hand.

Ein halbes Jahr war es her, daß Nathanel Wade schüchtern an ihre Tür klopfte. Er komme als Nachbar, sagte er, und ob sie ihm nicht einen Gefallen tun möchte. Frau Järta war sofort bereit. In dem Wirrwarr von Hausrat des neu eingezogenen Mieters hing über einem schäbigen Sessel ein Regenmantel, an dem ein Knopf fehlte. Das war alles. »Ich habe kein Geschick für weibliche Arbeiten«, sagte Nathanel Wade lächelnd. Bei dem angenähten Knopf blieb es nicht. Frau Järta bemutterte den hoffnungslosen Junggesellen bis auf den heutigen Tag, obwohl sie für sich selbst, ihren Mann und ihre erwachsene Tochter schon genügend zu sorgen hatte. Aber Nathanel Wades Regenmantel war ein Stück seiner selbst geworden. Er gehörte zu ihm wie die kupferfarbene Nase zu seinem geröteten Gesicht. Mütter erwachsener Töchter haben immer Interesse für Junggesellen. Frau Järta wußte bald, daß Wade neununddreißig Lenze zählte und im übrigen einen festen Posten hatte. »Nathanel Wade, Sergeant der Staatspolizei.« Das klang so gesetzt und sicher. Frau Järta war jedoch einsichtsvoll genug, um den Einwurf ihrer Tochter gelten zu lassen, daß der Herr Nachbar jeden aufmerksamen Beobachter zum Lachen herausfordere. In dieser Beziehung war Nathanel Wade ein hoffnungsloser Fall. Frau Järta erwartete durchaus nichts Besonderes von Herrn Wades Intelligenz. Sein Beruf sagte ihr nicht mehr, als wäre er Straßenfeger oder Fensterputzer gewesen. Eine Gefahr schien ihr für Herrn Wade ausgeschlossen. Was konnte ihm schon passieren, wenn er mal jemandem ein Strafmandat von zwei Kronen wegen schlechter Beleuchtung des Fahrrades zuzustellen hatte, oder wenn er aufpassen mußte, daß den Marktfrauen keine Äpfel gestohlen wurden? – Nein, Nathanel Wade hatte eine sehr gesicherte Existenz; er hatte alle Aussicht, noch in bester Verfassung seine Pension verzehren zu können. Es war aber auch zu dumm, daß Elke so viel an ihm lächerlich fand. Vater Järta bestärkte sie noch darin, und gegen die Autorität ihres Gatten und die jugendliche Überlegenheit ihres Kindes wagte Frau Järta nicht zu opponieren.

Trotzdem warf sie noch einen liebevollen Blick auf den essenden Herrn Wade und verließ dann mit dem berühmten Regenmantel über dem Arm leise das Zimmer. Den knisternden Gummi in der Hand, wurde sie aber doch wieder daran erinnert, daß von diesem lächerlichen Garderobenstück ihre ganze Verzweiflung über den Mißerfolg ihrer geheimen Wünsche herrührte. Sie hängte also den Mantel etwas unsanft an den Haken. Da gab es plötzlich einen Krach, und Mantel und Haken lagen am Boden. Wenige Sekunden später wurde die Tür hinter ihr aufgerissen. Als sie sich erschreckt umwandte, stand Nathanel Wade vor ihr. Aber es war nicht Herrn Wades alltäglich freundliche Miene, die ihr entgegen lächelte – sie war gegen ein hartes, energisches, ja, wie ihr vorkam, in seinem Ausdruck brutales Gesicht vertauscht. In der Rechten ihres »harmlosen« Mieters funkelte etwas, in dem Frau Järta trotz ihrer augenblicklichen Lähmung sofort einen Revolver erkannte.

»Um Gottes willen, es war nur der Mantel«, ächzte sie, »der Garderobenhaken war nicht fest!«

Wade schob aufatmend die Waffe in die Tasche, und sein Gesicht nahm wieder die heitere, harmlose Miene an.

»Oh, ich wollte sie nicht erschrecken, liebe Frau Järta«, erwiderte er, »ich dachte nur – aber das ist ja nun alles in schönster Ordnung.«

»Mein Mann soll Ihnen das reparieren«, stammelte Frau Järta und ließ sich von Wade sanft zur Tür drängen.

Als das Schloß hinter ihr zuschnappte, ging sie wie traumwandelnd in ihre Wohnung hinüber. Norbert Järta schlief schon. Sie weckte ihn, um ihr Erlebnis mit ihm teilen zu können.

»Denke dir, Wade hat einen Revolver!«

»Was? Wer?«

Sie mußte dem so unsanft aus dem Schlaf Geschreckten die Geschichte noch einmal erzählen.

»Was hab' ich dir gesagt? Das grenzt ja an Verfolgungswahnsinn! Der Kerl hat einen Tick, hahaha!«

Norbert Järta lachte schallend. »Wenn ich das morgen Elke erzähle, lacht sie sich schief!«

»Untersteh dich!«

Während des Auskleidens hatte Frau Järta noch genügend Zeit, über ihr Erlebnis mit Wade nachzudenken. »Entsetzlich«, hauchte sie und gab im stillen zu, daß Nathanel Wades Beruf nur geringe Aussicht auf das ruhige Verzehren einer Pension bot. Damit begrub sie ihre schöne Hoffnung endgültig.

*

Wenn man den schmalen Weg, der von der eleganten Avenue in Nynäshamn aus zwischen zwei Villen hindurchführt, wegen seines kaum wahrnehmbaren Daseins nicht versäumt, gelangt man zu der Besitzung von Oberst Robert Humle. Ein Haus aus dicken Tannenbohlen mit einem Stockwerk darauf und einen prächtigen Park, der sich bis zum Seeufer hinzieht. Von den Fenstern der Wohnzimmer aus hat man einen herrlichen Ausblick auf das Meer und die Insel Torö. Oberst Humle mußte diese schöne Aussicht mit einer völligen Isolierung seines Besitzes von der befahrenen Straße bezahlen. Er war der älteste Ansiedler von Nynäshamn, und rings um seinen Park bauten sich neue und immer neue Freunde dieses idyllischen Fleckchens Erde an – bis Oberst Humle fast über des Nachbarn weiß gestrichenen Zaun steigen mußte, um einen Ausgang nach der Straße zu finden.

Dieser Umstand hatte ihn naturgemäß verärgert, denn er war ein Mann, der für sich selbst leben wollte, ohne die Gefälligkeit oder Verlegenheit eines Nachbarn auf sich nehmen zu müssen. Oberst Humle war klein, ja zierlich von Gestalt. Er trug einen wohlgepflegten silbergrauen Spitzbart und hatte große verträumte Augen. Stets sprach er so leise, als möchte er niemanden stören. Auf sein Äußeres legte er großen Wert und kleidete sich immer nach der neuesten Mode. Robert Humle hatte eine bewegte Vergangenheit. Er sprach nicht gern darüber; desto mehr sprach man über ihn. Er mußte seinen Dienst quittieren, weil man – – seiner Frau Beziehungen zu einer Betrugsaffäre nachsagen konnte. Seine Ehe wurde geschieden. Seine Frau zog fort und nahm das Kind mit, dem sie nach einer zweijährigen Ehe das Leben gegeben. Der schmale Pfad zu Humles Villa war nun die einzige Verbindung des Obersten zur Welt, und die große Gesellschaft fand auf diesem engen Wege, auf dem man nicht sicher war, irgendwo anzustoßen, keinen Platz. Oberst Humle stand jetzt im sechzigsten Lebensjahr. Genau fünfundzwanzig Jahre war es her, daß sein Eheskandal in allen schwedischen Zeitungen Gegenstand längerer Erörterung war.

Im Hause hatte Humle seit fünfundzwanzig Jahren keine Veränderungen vornehmen lassen. Das Zimmer von Frau Eri Humle durfte nicht betreten werden, und den Schlüssel hierzu trug der Oberst in der Brieftasche. Er entließ alle Dienstboten bis auf einen, seinen früheren Militärburschen Frederic Hanssen oder Fred, wie er ihn kurz nannte. Fred war das Ideal eines Dieners. In aller Hauswirtschaft bewandert, diskret und – was für Oberst Humle schwer ins Gewicht fiel – Nichtraucher und Nichttrinker. Er war von großem Wuchs, kräftig und hatte das feiste, glatte Gesicht eines gutgenährten Mannes. Er war der einzige, der Herrn Humle noch nicht geraten hatte, noch einmal zu heiraten; und dies wohl aus dem Grunde, weil er selbst nichts von den Frauen hielt und geschworener Junggeselle war. – –

 

Schwere Regenwolken hingen über der Küste. Die Scharen der Tümmler flogen dicht über die Schaumkämme der See, und Torö lag heute so fern in einem Nebel, daß man fast glauben konnte, die Insel sei von Nynäshamn um viele Meilen weiter ins Meer gerückt. Oberst Humle saß beim Tee, den ihm Fred in seinem Arbeitszimmer serviert hatte. Der verdämmernde Tag schaute durch die großen Fenster, vor denen sich die Äste der uralten Platanen im Sturm bogen. Buchenscheite knisterten im Kaminfeuer, das ab und zu einen hellen Schein ins Zimmer warf. Der Schreibtisch des Obersten lag voller Papiere, unter denen einige Telegramme waren, von denen Humle jetzt wieder eines zur Hand nahm.

»Ich begreife es nicht«, flüsterte er, »Dirk schrieb mir doch ausdrücklich, daß er spätestens im September in Stockholm eintreffen würde. Ich bekomme aus New York keine Antwort auf meine Telegramme. Dirk kommt nicht und – –«

Er unterbrach sich, denn Fred, der Diener, trat ein und brachte die Abendpost.

»Es ist wieder kein Brief von Herrn Dirk dabei«, sagte er.

Oberst Humle sprang auf. »Wieder nichts? – Fred, wir müssen etwas unternehmen – es muß etwas geschehen – ich werde an die Schwedische Gesandtschaft schreiben!«

»Es kann Herrn Dirk doch nichts passiert sein?« fragte Fred Hanssen.

»Unmöglich«, flüsterte der Oberst. »Geh jetzt! Ich habe noch zu arbeiten!«

Oberst Humle hielt es durchaus für nicht so »unmöglich«, daß seinem Bruder Dirk in New York etwas geschehen sei. Er kannte Dirk zu gut. Sein Leichtsinn hatte ihn nach Amerika geführt, und war es nicht möglich, daß er auch hier seine tollen Streiche fortsetzte, in schlechte Gesellschaft geriet? – Dirk Humle war das Sorgenkind der Familie Humle. Da er der Jüngste von den acht Kindern des alten Holzhändlers Christ Humle war, wurde ihm viel nachgesehen. Solange die Eltern lebten, hatte Dirk gute Zeiten, aber dann kam das bittere Ende: Dirk fälschte die Unterschrift seines Bruders, des Obersten Robert Humle, und mußte nach Amerika. Nach Jahr und Tag schrieb er. Es ging ihm gut. Er schickte Geld, und man hätte in Schweden gut davon leben können. Endlich kam die Nachricht, daß Dirk heimkehren wollte. An Robert Humle war das Schicksal inzwischen auch nicht ohne Schläge vorübergegangen.

Im August wollte Dirk schon kommen, heute schrieb man den letzten Novembertag.

»Ich muß an die Gesandtschaft schreiben«, flüsterte Robert Humle, und setzte nach einer Weile seufzend hinzu: »Dirk hat das Zeug dazu, Schecks zu fälschen und ein Vermögen damit zu verdienen!«

2.

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Vor dem Hause in der Upsalagatan standen eine Frau und ein Mann. Wade, der vom Dienst kam, wollte schon still vorübergehen, als er angerufen wurde.

»Hallo, Herr Wade! Sie liegen noch nicht im Bett? Sie beginnen, unsolide zu werden!«

»Oh, Fräulein Järta? Nein, wirklich nicht«, stotterte Wade, »meine Pflichten lassen es auch gar nicht zu.«

»Dies ist Raul Harper«, stellte Elke Järta ihren Begleiter vor, »wir waren zusammen im Kino.«

Der junge Mann reichte Wade die Hand. »Freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte er, »Fräulein Järta hat mir schon viel von Ihnen erzählt.«

»Doch wohl nur Gutes?« fragte Wade lachend.

»Wie könnten Sie daran zweifeln! Also, dann bis morgen, Fräulein Järta«, wandte sich Harper an das junge Mädchen, »unter Herrn Wades Schutz kann ich Sie unbedenklich allein lassen.«

»Gute Nacht, Raul!« rief Elke Järta und nahm Wades Arm. Während sie die Treppe hinauf gingen, fragte Wade:

»Kennen Sie Herrn Harper schon lange?«

»Oh, seit ich bei Järnvägen beschäftigt bin. Er ist doch dort erster Buchhalter.«

»Ein einträglicher Posten. Werden Sie bald heiraten, Fräulein Järta?«

Sie lachte. »Jeden anderen, nur nicht Raul Harper! Er ist ja für mich viel zu jung. Als Freund lasse ich ihn mir schon gefallen – aber heiraten? Nein!«

»Tja, die junge Welt!« meinte Nathanel Wade. »Herr Harper wird sehr enttäuscht sein.«

»Bei seinem Temperament verwindet er das schnell«, entgegnete Elke Järta, »gute Nacht, Herr Wade!« Sie schlüpfte durch die Flurtür. Wade hörte sie noch im Korridor mit ihrer Mutter sprechen. Wartend stand er am Treppengeländer, dann, den Hut tief ins Gesicht ziehend, schlich er wieder hinunter. In der Valagatan nahm sich Wade eine Taxe. Erst als sich der Wagen in Bewegung setzte, gab er dem Chauffeur das Fahrtziel an.

*

In den elegant eingerichteten Räumen des Hammarby-Clubs in der Frejgatan glühten Kerzenlüster über grüngedeckten Tischen. Dicke, rote Plüschläufer verschluckten jeden Schritt. Man pflegte nicht laut zu sprechen. Dennoch ging es an einem der Spieltische lauter, erregter zu als sonst.

»Sie haben Pech, Järnvägen«, sagte der joviale alte Herr, der dem bekannten Unternehmer gegenüber saß und drei Asse auf dem grünen Tuch ausbreitete.

»Das ist mir allerdings zu hoch«, erwiderte Järnvägen ruhig und reichte seinem Gegner die Anweisung auf fünfhundert Kronen hinüber. Er sah sich um. »Teufel, wo mag Richard Degerby bleiben? Er versprach mir, pünktlich zu sein, und nun ist es schon zwei Uhr!«

»Ganz recht, Järnvägen, es ist Zeit, aufzubrechen. Degerby wird verhindert sein. Ich gebe Ihnen morgen Revanche!«

»Einverstanden, mein lieber Lost«, nickte Järnvägen und erhob sich. Da wurde die Flügeltür geräuschlos geöffnet, und der von Olaf Järnvägen so sehnlich Herbeigewünschte trat ein.

»Ah, Degerby – also doch noch unserer Verabredung nachgekommen?« Er ging dem Eintretenden entgegen und reichte ihm die Hand.

»Bitte, entschuldigen Sie meine Verspätung, Herr Järnvägen! Ich konnte leider nicht früher fort«, versetzte Degerby und sah sich im Salon um. »Ist Miß Dane nicht hier?«

Järnvägen schien verlegen. »Ich glaube, sie erwartet mich im Hotel«, sagte er, »aber ich hatte hier eine Verpflichtung – –«

»Nun, inzwischen wird sie wohl das Warten aufgegeben haben«, entgegnete Degerby trocken und zündete sich eine Zigarette an. Der große Solitär an seiner linken Hand glitzerte.

»Ja, es tut mir sehr leid, aber ich konnte heute abend unmöglich fort – kleines Mißgeschick, Herr Degerby – man benachrichtigte mich davon, daß mein Büro erbrochen wurde.«

»Oh – Einbruch? Was wurde denn gestohlen?«

»Zweitausend Kronen, die ich gestern in bar aus einer Erbschaftssache hereinbekam. Es war nach Bankschluß.«

»Und das nennen Sie ein kleines Mißgeschick, Herr Järnvägen?«

»Na ja, für mich spielt das schon eine Rolle. Für Sie ist es jedoch nur eine Kleinigkeit«, erwiderte Järnvägen lächelnd.

Degerby sah ihn scharf an.

»Sie kommen dadurch in Verlegenheit, Järnvägen?« fragte er.

»Es ist noch nicht zu übersehen, Herr Degerby, aber es kann sein, daß ich in allernächster Zeit Hilfe brauche. Kann ich auf Sie rechnen?«

»Rechnen Sie jederzeit auf mich, Herr Järnvägen!« versetzte Degerby betont.

Sie gingen in die Bar. Degerby wurde von allen Seiten mit besonderer Freundlichkeit begrüßt.

»Ihr Schwarm, meine Liebe«, flüsterte eine Dame ihrer Nachbarin zu. »Er sieht wieder fabelhaft aus!«

»Schade«, entgegnete eine kleine Blondine, »man erhält so selten eine Einladung in den Hammarby-Club!«

»Ist dieser Degerby wirklich so reich, wie man sagt?« wurde von einer ältlichen Dame gefragt.

»Unermeßlich. Haben Sie seinen neuen ›Fiat‹ schon bewundert? Die rehledernen Fahrhandschuhe, die er am Steuer trug, waren von Malmberg in der Gustav-Adolf-Torg!«

Der Mann, dem diese Bewunderung gezollt wurde, saß indessen an der Bar und lächelte still vor sich hin. Olaf Järnvägen nahm an der Bar seinen Mokka. Als Junggeselle war er überall und eigentlich nirgends zu Hause. Er näherte sich stark der Fünfzig, konnte in seinem schütteren Haar nur noch mit Mühe einen Scheitel ziehen, und bekam merklichen Ansatz zu einem Bauch. Sein glattrasiertes Gesicht wurde von unruhigen Augen belebt, die immer nach einer drohenden Gefahr zu suchen schienen.

Richard Degerby war in allem Järnvägens Gegenteil. Seine Ruhe übertrug sich auf jeden, der mit ihm in Berührung kam. Die Elastizität seiner Haltung verriet gute Sportschule. Er stand im besten Mannesalter, und die Frauen behaupteten von ihm, daß er sehr gut aussähe. Mußte man ihn nicht schon durch seine Lebensweise für einen reichen Mann halten, so gab sein Umsatz im Hammarby-Club zweifellos darüber Auskunft, daß es ihm auf tausend Kronen nicht ankam. Richard Degerby war das jüngste Mitglied des Klubs, und seine Einführung durch Olaf Järnvägen war erst vor einem halben Jahr erfolgt. Für Järnvägen, der in letzter Zeit große Verluste an der Börse erlitt, war die Bekanntschaft mit Degerby eine Rettung aus höchster Not. Es kam diesem, wie gesagt, auf tausend Kronen nicht an.

Die Mitglieder des Hammarby-Clubs setzten sich aus Vertretern der schwedischen Finanzwelt und des öffentlichen Lebens zusammen; wobei die Herren von amtlichem Rang mehr eine dekorative Rolle zu spielen hatten. Es gab Feste, es wurde mäßig gespielt und im übrigen die Wohltat geschäftlicher Verbindungen gepflegt. Einen Nachteil hatte der Hammarby-Club: sein Vorstand konnte die Auswahl der Mitglieder nicht mehr übersehen, und so kam es, daß auch Leute Eingang fanden, die weniger geeignet waren, im Hammarby aufgenommen zu werden.

Eine rühmliche Ausnahme machte jedoch Staatsanwalt Jan Kronberg, der soeben die Bar betrat, suchend umherblickte und schließlich auf Järnvägen und Degerby zukam.

»Ah, Herr Kronberg«, rief Järnvägen aus und streckte dem Staatsanwalt die Hand entgegen. »So spät noch?«

Staatsanwalt Kronberg rückte sich einen Hocker heran.

»Arbeit, viel Arbeit, meine Herren«, erwiderte er und begrüßte auch Degerby, der ihn prüfend musterte.

Jan Kronberg brachte immer eine Last von Aktenstaub und schlechter Büroluft mit in den Klub. Ihm fehlte jede Farbe, und das Schwarz seines Gehrocks umwehte ihn wie eine Trauerfahne, die über das Unglück der Welt gehißt war.

»Gibt es was Neues, Kronberg?« fragte Degerby.

»Verlegenheiten – ich glaube, die nächsten Wochen werden über Stockholm viel Lärm verbreiten.« Staatsanwalt Kronberg sagte es mit unheilverkündender Miene.

»Man macht mehr Sensation aus den Dingen, als sie wert sind«, knurrte Järnvägen, »es ist entsetzlich, was in den Zeitungen an Lügen und Gehässigkeiten verbreitet wird!«

»Ich nehme an, es wäre viel schlimmer, wenn alles stimmen würde, was man zu hören und zu lesen bekommt«, warf Degerby ein und stieß Kronberg mit dem Fuß an.

Järnvägen wollte den Staatsanwalt aushorchen, aber Kronberg war ein alter Fuchs, der nicht so leicht den Köder aufnahm, den man ihm hinwarf.

»Man sieht Sie jetzt so häufig im ›Södra‹, Järnvägen«, lenkte er ein, »seit wann haben Sie für Varietévorstellungen Interesse?«

Järnvägen wurde verlegen.

»Eine indiskrete Frage, Kronberg«, rief Degerby aus, »Miß Molly Dane wird sie Ihnen wohl am besten beantworten.«

»Ah, die Dane – Donnerwetter, fesches Weib – kennen Sie sie näher, Järnvägen?«

»Nun verlangen Sie nur noch, daß ich sie Ihnen vorstellen soll«, Järnvägen lachte gekünstelt auf, »seit wann interessieren Sie sich denn für Damen vom Varieté?«

»Warum soll ein Staatsanwalt keine Ambitionen haben?« fragte Degerby boshaft.

Kronberg schob die Augenbrauen zusammen. »Ohne Spaß – New York kabelte uns vor einigen Tagen, daß wir ein Auge auf Miß Molly Dane haben sollten, da sie dringend in dem Verdacht stehe – Schweden in unreellen Absichten besucht zu haben.«

Järnvägen setzte seine Mokkatasse klirrend auf die Glasplatte des Bartisches. »Könnten Sie sich nicht deutlicher ausdrücken, Kronberg?« fragte er heiser.

Der Staatsanwalt zuckte die Achseln. »Leider nicht; aber Sie können versichert sein, daß ich Sie warnen würde, wenn Sie durch Ihr Interesse an Miß Dane in Gefahr geraten könnten!«

»Das wird doch nicht mit dem Einbruch in Ihrem Büro zusammenhängen?« fragte Degerby anscheinend besorgt.

Järnvägen sah auf die Uhr.

»Holla – ich muß fort. Kleine Verabredung, Sie werden begreifen, meine Herren!«

»Aber was ich Ihnen sagte, bleibt unter uns«, entgegnete Kronberg.

»Dessen können Sie versichert sein«, versprach Järnvägen und ging.

»Sie haben ihm einen tüchtigen Schreck eingejagt«, sagte Degerby nach einer Weile.

»Manchmal sind Schrecken heilsam«, versetzte der Staatsanwalt betont. »Kommen Sie, Degerby, machen wir noch ein Spiel! Ich möchte wetten, daß ich gegen Sie heute wieder verliere!«

*

Nathanel Wade lohnte den Chauffeur an der Dalagatan ab. Im Osten begann der Tag heraufzudämmern. Wade schlich dicht an den Häusern entlang, um seine Wohnung zu erreichen. Das Haustor war offen. Im Flur zog er sich die Stiefel aus. Knarrende Treppenstufen wußte er geschickt zu vermeiden. Aufatmend schloß Wade die Wohnungstür und verharrte einen Augenblick lauschend im Flur.

»Nichts«, flüsterte er vor sich hin, »ich muß mich geirrt haben.« Schnell zog er sich aus und legte sich ins Bett. Das fahle Licht des Morgens fiel grau ins Zimmer.

Die Ereignisse des letzten Tages hatten Wade derart in Anspruch genommen, daß er immer wieder im Halbschlaf auffuhr und dann vergeblich einen Zusammenhang zwischen Wirklichkeit und Traum suchte. Frau Järta ermahnte ihn mit erhobenem Zeigefinger an seine zweck- und ziellose Junggesellenwirtschaft. Elke Järta ließ sich von Raul Harper küssen, und daneben stand Olaf Järnvägen und sah bleich aus wie der Tod.

Nathanel Wade sah sich im Frack und weißer Binde. Er hörte Elke Järtas glockenreine Stimme, sah sie neben sich die teppichbelegte Treppe eines renommierten Lokals emporsteigen und bemerkte zu seinem Schrecken, daß er über seinem Frack den alten gelben Regenmantel trug, an dem ein Knopf, sich langsam vom Stoff lösend, baumelte.

Da riß ein heftiges Klopfen an der Wohnungstür Nathanel Wade aus seinen wirren Träumen. Sein Blick fiel auf die Weckeruhr. Verdammt, es war elf Uhr! Sicher brachte ihm Frau Järta das Frühstück. Wade sprang aus dem Bett und warf seinen Schlafrock über.

»Wer ist dort?« rief er, und zu seinem Schrecken hörte er die Stimme Elke Järtas durch die Tür:

»Ich bringe Ihnen das Frühstück, Herr Wade!«

Er strich sein Haar zurück, während er hinausging, warf einen Blick in den Spiegel und öffnete achselzuckend die Wohnungstür.

»Ach, ich habe Sie wohl gestört?« fragte Elke besorgt. »Mama sagte mir, Sie wünschten immer um diese Zeit das Frühstück.«

»Ganz recht; schönen Dank, Fräulein Järta! Ich habe nur die Zeit verschlafen«, versetzte Wade und ärgerte sich, daß er ihr nicht das Tablett abnehmen konnte, weil er seinen Schlafrock zuhalten mußte.

Sie deckte ein weißes Tuch auf den Tisch.

»Gehen Sie denn heute nicht ins Büro?« fragte Wade und angelte nach seinen Hausschuhen, die ihm viel zu groß waren.

»Nein, ich habe aus bestimmten Gründen Urlaub genommen«, antwortete Elke Järta und goß den Tee ein, »aber ich glaube, Sie kennen diese Gründe besser als ich«, setzte sie hinzu und sah ihn ernst an.

»Sie sollten nicht soviel auf das Gerede der Leute geben, Fräulein Järta«, lenkte er ab. »Wo wollen Sie Ihren Urlaub jetzt im Herbst verbringen?«

»Ich fürchte, zu Hause«, erwiderte sie verstimmt.

»Oh, Raul Harper wird sich Ihnen gern zur Verfügung stellen.«

»Und Sie nicht, Herr Wade?« fragte sie lächelnd. Sie glaubte keinen Augenblick daran, daß Wade ihre halbe Aufforderung ernst nehmen könnte.

»Es würde mir Freude machen, mit Ihnen auszugehen«, sagte er.

»Oh, Herr Wade, das ist sehr freundlich von Ihnen«, stotterte Elke Järta errötend.

»Das ist mehr als freundlich von mir«, erklärte Wade zu ihrer Verwunderung, »ich habe seit meiner Dienstzeit noch keine Gelegenheit genommen, eine junge Dame auszuführen.«

Elke Järta brannte der Boden unter den Füßen. Sie erblickte voll geheimen Schreckens Wades ausgetretene Morgenschuhe, den Schlafrock ohne Knöpfe. Ein Geruch von verbrauchter Luft zog durch die kleine Wohnung. Neben der Teetasse standen ein Paar Gummimanschetten, sogenannte »Röllchen«, die von Steinkohlenknöpfen zusammengehalten wurden. Elke riß sich von diesem Anblick los.

»Ich muß jetzt aber gehen, Herr Wade«, sagte sie herzlich, »lassen Sie sich das Frühstück schmecken.«

Am Abend stand Nathanel Wade wirklich vor Järtas Wohnungstür. Frau Järta betrachtete ihn wohlwollend. Man sah, Wade hatte sich Mühe gegeben. Ein mächtiger gemischter Blumenstrauß prangte in seiner Linken, während er Elke begrüßte. Schließlich fiel ihm noch rechtzeitig ein, daß er diese Blumen für Elke Järta mitgebracht hatte. Frau Järta erblickte in dieser Geste verstohlen lächelnd ein gutes Zeichen für die Zukunft, und sie begann wieder Hoffnung zu schöpfen.

Elke zog sich den Mantel an, und sie gingen hinunter. Mehr als einmal wurde Wade auf den Straßen im Bezirk Staden angehalten.

»Nun, Wade, auch mal einen kleinen Bummel machen?«

»Hallo, Wade! Heute so feierlich?« Diese Frage wurde von einem kräftigen Schlag auf Wades Schulter begleitet.