Tödliche Zwickmühle
Published by BEKKERpublishing, 2018.
This is a work of fiction. Similarities to real people, places, or events are entirely coincidental.
TÖDLICHE ZWICKMÜHLE
First edition. April 14, 2018.
Copyright © 2018 Thomas West.
ISBN: 978-1386355243
Written by Thomas West.
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Tödliche Zwickmühle
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About the Publisher
Krimi von von Thomas West
Der Umfang dieses Buchs entspricht 115 Taschenbuchseiten.
Als die Freundin des FBI-Agenten Trevellian entführt wird, muss er die Seiten wechseln, um ihr Leben zu retten. Ein Schwerverbrecher soll befreit werden, um weitere Straftaten begehen zu können. Trevellian muss bis an seine Grenzen gehen. Wird er seinen Diensteid gegenüber der Regierung brechen?
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker.
© by Author
© dieser Ausgabe 2017 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Alle Rechte vorbehalten.
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postmaster@alfredbekker.de
Schneeflocken schwebten durch die Lichtkegel der Straßenlaternen. Weiße Decken auf den parkenden Wagen. Wie frierende Tiere kauerten sie in endloser Kolonne an den Straßenrändern. Winternacht in New York City. In Chelsea, um genauer zu sein.
Es war stiller als sonst. Als hätte sich das Nachtleben vor dem ersten Schnee verkrochen. Von Zeit zu Zeit drehte Joan den Zündschlüssel herum, bis die Armaturen aufleuchteten, und ließ dann die Scheibenwischer zwei, dreimal über die Frontscheibe schrammen.
Scheinwerfer näherten sich. Zum hundertsten Mal an diesem Abend. Joan duckte sich tiefer in den Sitz ihres schwarzen Dodges und presste das Nachtglas an die Augen. Der Wagen, der da heranrollte, verlangsamte. Joan griff nach dem Mikro des Funkgeräts.
»Ein roter Sportwagen«, sagte sie. »Halt dich bereit ...«
Ein heller werdender Lichtfleck schob sich durch den Vorhang aus tanzenden Schneeflocken.
»Er stoppt vor dem Haus.« In der Rechten das Nachtglas, in der Linken das Mikro, drückte sich Joan an die Beifahrertür.
Der Sportwagen rangierte in eine Parklücke ein. Seine Scheinwerfer erloschen.
»Das ist er«, flüsterte Joan. »Eindeutig, das ist er ...«
Sie spürte ihre Hände feucht werden. Statt zu tun, was zu tun war, starrte sie durch das Glas, obwohl nicht mehr viel zu sehen war: Die Frontseite des roten Sportwagens hinter dem Vorhang aus Schneeflocken, die Silhouetten zweier Menschen hinter der Windschutzscheibe im trüben Licht der Straßenbeleuchtung.
Die Beifahrertür öffnete sich.
»Es geht los!«, zischte Joan ...
»Armer G-man ...« Linda wand sich aus meiner Umarmung. »Bist ja halb verhungert.« Eine ziemlich stürmische Umarmung war es gewesen, ich gestehe es. »Das war die Vorspeise.« Sie drückte mich von sich weg und öffnete die Beifahrertür. »Den Hauptgang gibt’s oben.«
Im Licht der Straßenbeleuchtung sah ich das Lächeln auf ihrem hübschen Gesicht. Ein verheißungsvolles Lächeln.
»Wie sollte ich auch satt sein.« Ich zog den Zündschlüssel ab. »Sieben magere Tage liegen hinter mir!«
Wir kamen aus der East Village. Aus »McSorley’s Old Ale House«, genauer gesagt, der ältesten Kneipe Manhattans. Dort hatten wir Versöhnung gefeiert. Zum fünfzigsten oder hundertsten Mal schätzungsweise. Irgendwann hatte ich aufgehört zu zählen.
Seit einigen Monaten war ich jetzt schon mit Linda McCain zusammen. Ich hatte sie kennengelernt, als ich gegen eine rechtsradikale Gruppierung ermittelte, die sich »Elias Rangers« genannt hatte, und während dieses Falls hatte ich Linda auch das Leben gerettet.
Seither waren wir ein Paar.
Aber was für eins.
Ständig kam es zwischen uns zum Streit, und Linda trennte sich mehr oder weniger regelmäßig von mir. Schuld war mein Job. Sie selbst als Chefredakteurin des Lifestyle Magazins »Female« hatte ja schon wenig Freizeit, aber immer oder zumindest sehr häufig, wenn wir mal einen Abend gemeinsam verbringen wollten, kam mir irgendein heißer Fall dazwischen, und ich musste aufbrechen, um mich irgendwelchen Ganoven oder Terroristen zu stellen.
Natürlich war Linda dann sauer. Und sie war eine sehr aufbrausende junge Lady, die ihre Gefühle häufig nicht unter Kontrolle hatte. Das war sowohl positiv, als auch negativ zu sehen.
Sehr häufig leider negativ, denn für meinen Job brachte sie wenig Verständnis auf.
Es hatte also mal wieder zwischen uns geknallt, und wieder hatte Linda erklärt, es wäre aus mit uns. Und wieder war ich es gewesen, der über seinen Schatten gesprungen war, und wir hatten uns ein weiteres Mal versöhnt.
»Eine Woche Fasten«, grummelte ich und grinste sie an. Beiläufig zog ich mein Handy aus der Halterung am Armaturenbrett. »Keine Umarmung, kein Kuss, kein Wort und auch sonst nichts. Meine Hormone haben sich ganz schön angestaut ...«
»Selber schuld.« Ihr ausgestreckter Zeigefinger deutete auf mein Handy. »Das Ding bleibt im Auto, G-man!«
»Sorry, Linda.« Ich versenkte das Gerät in meinem Jackett. »Völlig ausgeschlossen.«
»Du begleitest nicht irgendeine Frau in ihr Apartment!« Jetzt schwebte ihr Zeigefinger drohend vor meinem Gesicht. Schneeflocken trieben durch die offene Beifahrertür in meinen Sportwagen. »Die Frau, die du liebst, hat dich in ihr Bett eingeladen – und sie kann dich ganz schnell wieder ausladen. Also weg mit dem Ding!« Sie öffnete das Handschuhfach. »Ich will′s nicht in meiner Wohnung sehen. Nicht mal ausgeschaltet!«
»Kommt nicht in Frage.« Ich stieg aus. »Der Mann, mit dem du dich heute Abend versöhnt hast, ist Polizist!«
Auf der Beifahrerseite sprang Linda aus dem Sportwagen.
»FBI-Agent! Staatsdiener!«, fuhr ich fort. »Ich kann nicht so tun, als wäre ich nicht erreichbar!«
Über das nasse Wagendach hinweg blitzte sie mich an. »Der Mann, mit dem ich mich heute Abend versöhnt habe, gehört in dieser Nacht weder dem FBI noch den Vereinigten Staaten, noch dem Big Apple, sondern mir!« Mit dem Zeigefinger stach sie sich gegen die Brust. »Mir ganz allein! Sonst pfeif′ ich auf ihn!«
Ich verdrehte die Augen und trommelte mit den Fingern auf das Wagendach. Ganz ruhig, Jesse, dachte ich, bleib ganz ruhig – ein Kompromiss ... Denk daran, was ihr heute Abend vereinbart habt ... Versuch, einen Kompromiss zu schließen.
»Pass auf, Linda – Fakt ist: Ich muss erreichbar sein!«
Sie knallte die Wagentür zu und stemmte die Fäuste in die Hüften. Schneeflocken senkten sich auf ihre blonde Löwenmähne. »Fakt ist auch: Ich will mit dir zusammen sein, und du willst mit mir zusammen sein.« Wie zum Schwur hob ich die Rechte. »Sollte ich heute Nacht zu irgendeinem Einsatz ausrücken müssen – ich halte das für unwahrscheinlich, aber nur mal angenommen – dann verspreche ich dir, dass ich mir übernächstes Wochenende frei nehme. Richtig Urlaub. Nur für dich.«
Ich fand mich gut. Ein besseres Versprechen wäre auch einem Kommunalpolitiker im Wahlkampf nicht eingefallen.
Doch Linda zeigte sich wenig beeindruckt. »Übernächstes Wochenende habe ich keine Zeit. Jetzt habe ich Zeit.«
Ich stieß die Fahrertür zu und drückte auf den Impulsgeber für die Zentralverriegelung. »Dann nächstes Wochenende, oder wie wäre es ...«
In der Außentasche meines Jacketts vibrierte mein Handy. Linda verschränkte die Arme vor der Brust. Das Licht der Straßenbeleuchtung reflektierte sich in ihren bernsteinfarbenen Augen. Eine Mischung aus Bitterkeit und Spott legte sich auf ihr schönes Gesicht.
Das Geräusch des Handys verlangte nach mir – aufdringlich und erbarmungslos.
Ich drehte mich um, lehnte mit dem Rücken gegen meinen Wagen, und zog das verflixte Ding aus der Tasche. »Trevellian!«
»Entschuldigen Sie die späte Störung, Mister Trevellian.« Eine Frauenstimme schnarrte mir ins Ohr. Sie klang angespannt. »Ich heiße Karen Spencer, wahrscheinlich kennen Sie mich nicht ...«
Der Name sagte mir wirklich nichts. »Worum geht’s denn, Ma’am?«
»Um den Szyszkowitz-Prozess. Ich hab eine Aussage zu machen.«
Szyszkowitz – der Name sagte mir etwas. Genug jedenfalls, um eine Batterie roter Lampen in meinen Hirnwindungen aufflammen zu lassen. Wir hatten den Waffenhändler polnischer Abstammung hinter Schloss und Riegel gebracht. Ein halbes Jahr war das her, vielleicht auch länger.
»Sie wissen doch, der Prozess gegen ihn wird morgen eröffnet ...«
»Ich weiß.« Während des morgendlichen Briefings beim Chef hatten wir über den Prozess gesprochen. Ein Team von uns sollte den Schwerverbrecher auf dem Weg von Rikers Island ins United States Courthouse eskortieren. Der Einsatz war für den Nachmittag des nächsten Tages geplant.
»Wenn Sie eine Aussage machen wollten, bin ich die falsche Adresse. Ich kann ihnen die Nummer des Staatsanwaltes geben.«
»Ich habe Angst, Mister Trevellian.« Die Stimme wurde hastiger. »Da steht ein Wagen am Straßenrand, unten vor meinem Haus. Schon seit dem frühen Abend. Ich glaube, ich werde beschattet ... O Gott diese Teufel werden mich doch nicht umbringen?«
»Ganz ruhig, Miss Spencer. Niemand wird Sie umbringen.«
Es war eine Phrase. Aus dem Umfeld der Bundesstaatsanwaltschaft wussten wir, dass die Anklage gegen Szyszkowitz nicht gerade auf stählernem Fundament stand. Monatelang hatte man händeringend nach Zeugen gesucht. Der US-Amerikaner polnischer Abstammung hatte mindestens acht Morde in Auftrag gegeben. Von den drei Zeugen, die sich schließlich bereit fanden, gegen ihn auszusagen, lebte nur noch einer. Und das trotz Polizeischutz.
Ich betätigte wieder die Zentralverriegelung. Schnee hatte sich auf meinem Jackett gesammelt, Wasser tropfte mir aus dem Haar. »Nennen Sie mir Ihre Adresse, damit ich Ihnen die Nummer des zuständigen Polizeireviers geben kann.«
Fast gleichzeitig ließen Linda und ich uns in die Sitze fallen. Mit schmollend geschürzten Lippen beäugte Linda die noch lichte Schneedecke auf der Frontscheibe.
»Zweiundfünfzig Prince Street ...« Gehetzt klang die Frauenstimme jetzt. »Bitte, Mister Trevellian – können Sie nicht persönlich bei mir vorbeikommen? Ich will meine Aussage loswerden, ich war dabei, als dieser Teufel zwei Morde in Auftrag gab. Bitte, Ihnen vertraue ich. Ich hab in der Zeitung gelesen, wie hartnäckig Sie ihn gejagt haben ...«
»Sie können die Aussage auch einem Beamten des Police Department machen. Der Richter wird ihm ...«
»Ich beschwöre Sie, Mister Trevellian! Ich bin wie gelähmt vor Angst! Wenn ich nicht Ihre Stimme aus der Sprechanlage höre, werde ich niemandem öffnen ...«
Ich gab auf. »Okay. Ich bin in fünfzehn Minuten bei Ihnen.«
Neben mir hörte ich Linda die Luft scharf durch die Nase einatmen.
»Sorry, Linda. Es wird nicht lange dauern.«
Sie stieg aus.
»Ich werde der Frau ein paar Minuten zuhören«, sagte ich beschwörend, »ihre Aussage notieren und ...«
Linda beugte sich zurück in den Wagen.
»Auf dem Weg in die Prince Street rufe ich das zuständige Polizeirevier an«, sagte ich. »Ich überlass den Cops die Frau und komm zu dir ...«
Linda blickte auf ihre Armbanduhr. »Es ist kurz vor Mitternacht.« Ihre raue Altstimme vibrierte vor Zorn und Enttäuschung. »Bis halb zwei gebe ich dir Zeit. Danach brauchst du nicht mehr bei mir klingeln. Und zwar nie wieder!«
Sie schlug die Wagentür zu und lief zum Eingang ihres Apartmenthauses.
Kein Lichtschein erhellte den Raum. Der Mann drückte sich gegen die Wand neben dem Fenster. Drei Stockwerke unter ihm die Reihen der parkenden Wagen. Schneeflocken glitzerten im Licht der Straßenbeleuchtung.
Sein kantiges Gesicht wirkte angespannt. Die Kaumuskulatur arbeitete. Das Herz in seinem breiten Brustkorb schlug schneller als sonst. Seine Hand um den Griff des schwarzen Geräts in der Tasche seines Trenchcoats schwitzte.
Wie festgewachsen stand er da. In einem Apartment, das nicht sein Apartment war. Sein konzentrierter Blick klebte an dem Sportwagen dort unter ihm. Anders als die meisten anderen Fahrzeuge bedeckte ihn noch keine geschlossene Decke.
»Nun mach schon«, murmelte der Mann. »Fahr endlich los ...«
Er sah den Sportwagen nur zur Hälfte. Die dem Bürgersteig zugewandte Seite des Wagens wurde vom Fenstersims verdeckt. Doch der Mann sah, was er sehen musste. Und er wusste, wer in dem Wagen saß. Und was der Fahrer des Sportwagens gerade tat, das wusste er auch.
Die Scheinwerfer des Sportwagens flammten auf. Er scherte aus der Parklücke.
»Endlich ...!«
Der Mann tastete sich durch den dunklen Raum. Bis seine Schuhspitze gegen etwas Festes, Hohles stießen. Er bückte sich, berührte die raue Oberfläche eines kofferartigen Behälters, glitt mit den Händen über dessen abgerundete Schmalseite und erwischte eines der Schnappschlösser.
Klack, klack! – nacheinander sprangen die Schlösser auf. Der Mann klappte den Deckel des ungewöhnlichen Behälters auf und lehnte ihn gegen eine Couch. Gegen eine Couch, die nicht seine Couch war.
Seine Hände tasteten den samtenen Stoff ab, mit dem der Behälter ausgeschlagen war. Bis sie das Bündel berührten. Zusammengerollte Lederhandschuhe. Der Mann wickelte sie auseinander. Etwas fiel klappernd in den Kasten.
Hastig streifte er sich die Handschuhe über.
In der Innentasche seines Trenchcoats vibrierte ein Handy. Er zog es heraus.
»Ja?«, flüsterte er.
»Er hat angebissen.«
»Gut. Ich verlass mich auf dich.«
Er steckte das Handy zurück in die Manteltasche. Seine Hände strichen über den Boden des Kastens, bis er das Ding tastete, das aus dem Handschuhbündel gefallen war. Lang und dünn war es, eine Spritze.
Er steckte sie in die rechte Manteltasche, holte eine kleine Stablampe aus der Innentasche und schaltete sie für eine Sekunde ein.
Umrisse von Möbeln, Bodenvasen, Zeitschriftenstapeln, Türrahmen und einem Schuhregal erschienen im Lichtstrahl. Für einen Augenblick nur, dann wieder Dunkelheit.
Behutsam setzte der Mann einen Fuß vor den anderen. Das Bild, das ihm das Licht seiner Lampe verschafft hatte, genügte zur Orientierung. Vorbei am niedrigen Holztisch, hindurch zwischen Zeitungsstapel und Vase, dann der Türrahmen, dann das Schuhregal, und daneben die Apartmenttür.
Dort blieb der Mann stehen und lauschte. Etwas summte draußen vor der Tür der Lift. Das Summen verstummte, ein anderes Geräusch statt dessen: Die Aufzugtüren schoben sich auseinander. Schritte näherten sich ...
Das Spinnennetz war neu. Gestern jedenfalls spannte es sich noch nicht zwischen der Unterseite des schmalen, fast leeren Wandregals und der Wand des kleinen Raumes. Nicht nur das Netz, auch die Spinne konnte Herbert Cheyne deutlich erkennen, obwohl er neben der Metalltür des Raumes stand. Der Tür in den Zellentrakt. Also mindestens fünf Schritte entfernt von dem halb leeren Wandregal.
Herbert Cheyne – seine Verwandten und seine Freunde nannten ihn Herbie – hatte persönlich nichts gegen Spinnen. Aber er hatte etwas dagegen, wenn irgendwelche Leute ihre Arbeit nicht gründlich erledigten. Und ein Spinnennetz im Besucherraum war ja wohl der schlagendste Beweis dafür, dass die Leute von der Hausreinigung schlampig arbeiteten.
Herbie nahm sich vor, morgen ein ernstes Wort mit George Marshner zu sprechen. Georgie war für den Reinigungstrupp im Untersuchungstrakt von Rikers Island zuständig. Und Herbie, als einer von drei stellvertretenden Leitern der Wachmannschaft, hatte das Recht, ihn auf Fehler hinzuweisen. Weiß Gott, das hatte er.
Herbie versuchte, die Spinne und ihr Netz zu ignorieren. Über die Köpfe der beiden Männer am Besuchertisch hinweg betrachtete er das Muster des abbröckelnden Kalks neben der gegenüberliegenden Tür. Die Tür, durch die Besucher diesen Raum zu betreten pflegten.
Bald jedoch schweifte sein Blick zurück zur Spinne. Wie still sie da in ihrem Netz hing. Haben doch was Gefährliches, die Viecher, dachte Herbie. Lauern, bis irgend so ’ne arme Mücke oder ’ne Fliege kleben bleibt ...
Der Gedanke lenkte seine Aufmerksamkeit auf einen der beiden Männer am Besuchertisch. Auf den Kleinen mit dem schütteren Haarkranz. Er trug eine graue Strickjacke über blauem Hemd.
Herbie beachtete die beiden Männer kaum. Jedenfalls tat er so, als würde er sie nicht beachten. Ein guter Wachmann sollte wie Luft sein, wenn ein Gefangener sich im Besucherraum mit seinen Angehörigen traf. Oder mit seinem Anwalt, wie in diesem Fall.
Und Herbie beherrschte diese Kunst perfekt – die Kunst, nicht anwesend zu sein, obwohl er doch mit auf dem Rücken verschränkten Armen und gleichgültiger Miene neben der Tür zum Zellentrakt stand.
Natürlich bekam er jedes Wort mit, was an dem kahlen Tisch dort in der Mitte des Raums, vier Schritte von ihm entfernt, geredet wurde. Und er hatte gelernt, aus den Augenwinkeln wahrzunehmen, die Dinge zu beobachten, die sich am Rande seines Gesichtsfelds abspielten. So wie es die Indianer machten. Oder gemacht hatten. Auch diese Fähigkeit fand Herbie ziemlich gut an sich selbst.
Der Kleine mit dem schütteren Haarkranz zum Beispiel, also Szyszkowitz – der saß da, als hätte er eine Gesichtslähmung, als wäre er aus Gips: Er spielte nicht mit den Fingern, er wippte nicht mit den Füßen, er kaute nicht an der Unterlippe, er zuckte nicht mit Brauen und Mundwinkeln. Wie eine Gipsfigur, ganz im Ernst!
Nur manchmal, wenn der andere – sein Anwalt – sich über den Tisch beugte und seiner Stimme eine besonders eindringliche Färbung zu verleihen versuchte, deutete Szyszkowitz ein Nicken an. Und seine Lider schoben sich langsam über seine schmalen Augen. Und zwar ganz besonders langsam. So langsam, wie Herbie das schon bei Schildkröten oder Krokodilen gesehen hatte.
Ja, ja, solche Sachen fielen Herbie auf, während er die Muster des abgeblätterten Putzes zu studieren schien.
Oder der windige Bursche in seinem teuren Anzug – Niko Szyszkowitz’ Anwalt: Wie er sich hin und her bog, während er sprach, wie seine Arme in die Luft über seinen Kopf fuhren, als würde er die Worte dort fangen müssen, die er sagen wollte.