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Der Großvater war nicht recht op däm Damm. Ging kaum noch aus dem Haus, die Pfeife schmeckte nicht mehr. Legte sich ins Bett und kam nur noch für ein paar Stunden am Tag in die Küche hinunter. Wenn er den Großvater untersucht hatte und sich am Spülstein die Finger wusch, machte Dr. Mickel jedesmal die gleiche Bewegung, zuckte die Achseln und kehrte beide Handflächen nach oben, als befehle er das Ganze in mächtigere Hände.

Nach dem Weihnachtsfest waren wir von Beichtkindern zu Kommunionkindern geworden. Dreimal in der Woche hörten wir nun im Kommunionunterricht von den wunderbarsten Dingen: Blinde konnten sehen, Lahme gehen, Taube hören, Tote warfen die Bahre von sich und wandelten auf und davon. Tatsachen. Keine Märchen. Nicht ohne Mühe hatte mir der Pastor den Unterschied beizubringen versucht. Die Wunder in den Märchen waren Erfindung. Die in der Bibel Tatsachen. Nicht nur Jesus konnte Wunder wirken. Im Prinzip konnte es jeder, nur heilig mußte man sein. Um heilig zu sein, durfte man nicht sündigen. Ich half der Mutter beim Abwaschen, der Großmutter beim Kartoffelschälen, gab dem Bruder den größeren Happen vom Fleisch, stopfte mir jedes Widerwort in die Kehle zurück, jeden giftigen Gedanken gegen den Vater jagte ich aus dem Gehirn. Ich wollte heilig sein. Wunder wirken. Wenigstens eines. Ich wollte den Großvater heilen. Fromme Bücher sollten mir beistehen: ›Der veruntreute Himmel‹, ›Der Kranz der Engel‹, ›Das Schweißtuch der Veronika‹, ›Die letzte am Schafott‹, das Heiligenbuch. In meinem Kopf kreisten vom Aufwachen bis zum Einschlafen Gebete. Als Kommunionkind war ich in einem besonders hohen Stand der heiligmachenden Gnade. Ein Tempel des heiligen Geistes war ich.

Dr. Mickel kehrte weiterhin Hände und Augen gen Himmel, wenn er vom Großvater kam. Ich besprach die Sache mit dem Bruder. Der half beten und stellte ebenfalls das Sündigen ein. Allein, der Großvater wollte nicht wieder auf die Beine kommen. Fast hätte ich aufgegeben und dem Bruder wieder Fleisch vom Teller geschnappt, als Frau Meuten ein Buch in die Borromäusbibliothek zurückbrachte, das ich gleich beiseite legte. Der Einband zeigte eine Muttergottes. In weißem Gewand mit blauer Schärpe und einem Krönchen. Sie kam aus Frankreich, stand auf der Rückseite, aus Lourdes. Dort war sie einem Mädchen erschienen und hatte eine Quelle sprudeln lassen. Die Quelle konnte heilen.

Ein Fingerzeig Gottes. Geweihtes Wasser brauchte ich. Damit würde ich unseren Gebeten zum Durchbruch verhelfen. An Wasser aus Lourdes war nicht zu denken. Dondorfer Weihwasser mußte genügen. Noch am gleichen Tag stahl ich mich nach der Schule in die Kirche und tauchte eine kleine Flasche – Liebesperlen von der letzten Kirmes waren darin gewesen – ins Weihwasserbecken, der Bruder füllte sein Marmeladenglas, mit dem er sonst am Rhein Kaulquappen fing.

In den nächsten Tagen gab es für den Großvater keine Brühe, kein Püree, keinen Tee ohne ein paar Tropfen Weihwasser. Weihwasser, über dem der Bruder und ich hinterm Hühnerstall zur Verstärkung ausgiebig Gebete gesprochen und Kreuzzeichen geschlagen hatten, so, wie wir es vom Pastor am Altar kannten. Der Großvater siechte weiter. Ich erhöhte die Dosis. Ohne Erfolg. Das Dondorfer Weihwasser war zu schwach. Der Bruder ging wieder Kaulquappen fangen. Ich nannte den Vater im stillen wieder ne fiese Möpp. Da brachte ich der Mutter zuliebe Resi Pihl das Monatsblatt vom Frauenverein, als letzte gute Tat. Ihre Tochter Hannelore saß in der Schule neben mir. Im Flur der Wohnung stand auf der Kommode neben Kruzifix und Öllämpchen eine Madonna in weißem Gewand mit breiter blauer Schärpe und Krönchen. Diese Muttergottes, so Frau Pihl, habe ihr dat Schmitze Billa aus Lurdäs mitgebracht. Lur ens, sagte sie, ergriff die Figur, packte den Kopf und schraubte ihn ab. Schüttelte die kopflose Heilige. Es gluckste. Jeweihtes Wasser, frohlockte sie. Jejen mein Ekzem. Lur ens hie. Sie schraubte den Kopf wieder auf, stellte die Figur behutsam zurück, schob die Ärmel hoch und zeigte mir ihre Unterarme. Haut, dünn wie Pergament, von roten Streifen durchzogen, blutig. Dat jöck wie verröck, sagte sie und fuhr ein paarmal mit den Fingernägeln über ihre Haut, die aufstob wie feiner Sand und auf Tischtuch und Kuchen rieselte. Ävver ansteckend is et nit, sät dä Mickel. Loß et der schmecke.

Am nächsten Tag nahm ich Hannelores Rechenbuch mit nach Hause und brachte es ihr mit dem Bruder zurück. Kaum dort, fing er wie verabredet im Hof zu schreien an. Alle stürzten hinaus, ich schraubte der Figur den Kopf ab, goß das heilige Wasser in mein Liebesperlenfläschchen, füllte die Muttergottes mit Kranenwasser auf und nahm den Bruder bei der Hand.

Ferdi war nun anderthalb Jahre tot. Auf dem Kiesberg, dort, wo Rudis Bauern- zu Bauland erklärt worden war, wurde ein geräumiges, doppelstöckiges Haus gebaut. Niemand kannte den Namen des Bauherrn. Alle möglichen Gerüchte liefen im Dorf um, vom Müpp, der im Lotto gewonnen hatte, bis zum reichen Düsseldorfer, der hier eine zweite, eine Landwohnung bauen wollte. Rudi, der es ja wissen mußte, schwieg zu alledem. Unter den Hochrufen der Arbeiter wurde der Birkenstrauch mit den bunten Bändern aufs Dach gepflanzt: Heinrich Hilliger, der Bauunternehmer, machte den Hausherrn, Bier und Ääzezupp gab es, auch für die, die nur vorbeischauten, um endlich den Bauherrn ausfindig zu machen.

Kaum zwei Wochen später, das Dach war schon gedeckt und Elektriker und Klempner zogen bereits Rohre und Leitungen hoch, da stürzte die Tante durch die Gartentür in die Küche. Mama, Maria! rief sie: Dä Ruddi! Nä, dä Ruddi. Sujet jiddet doch janit. Nä, nä, dat jiddet doch nit.

Der Bauherr des Hauses auf dem Kiesberg war niemand anderer als Rudi, der Schwiegersohn in spe. Die Baustelle habe man betreten, obwohl da stand ›Betreten der Baustelle verboten‹, und vor Aufregung habe sie ihrem Schäng einen Stoß in die Rippen gegeben, daß der von der Planke fast in den Schlamm gerutscht sei. Rudi habe Hanni von dem Brett weg direkt durch die Türöffnung auf den Betonfußboden gehoben, über die Schwelle jetragen, sagte die Tante so hochdeutsch wie möglich, da habe sie die Tränen nicht mehr zurückhalten können, do leefe mer de Trone de Backe eraff. Dat Beste ävver kütt noch. Man sei nämlich, nicht ganz ungefährlich, da die Treppe noch kein Geländer habe, in den ersten Stock gestiegen. Un wat jlövt ehr! Do sulle mer entrecke! Dä Schäng und esch. Die Tante schneuzte sich. Berta! riefen Mutter und Großmutter wie aus einem Munde, fielen der Weinenden um den Hals, auch die Mutter wischte ein wenig an ihren Augen herum. Dat wulle mer fiere! rief die Großmutter und holte den Aufgesetzten aus dem Keller.

Un esch weeß och ald, wo dä Höhnerstall hinkütt, die Tante fuhr sich noch einmal über die Augen und steckte das Taschentuch wieder zwischen die Brüste ins Korsett. Un de Johannisbeere. Nur der Keller werde etwas klein. Mit den neuen Maschinen, Rudi wolle nur die allerbesten, brauche man zwar nur noch eine kleine Waschküche; doch wolle er sich auch einen Partykeller einrichten. Met Barhockere und ener Theke, schwärmte die Tante. Dann bliev he em Huus! Un minge Schäng krett endlesch och ene Schuppe för singe Krom! Die Frauen stießen an. Op dat Hüsje! Op dä Jade! 63 Vell Jlöck! Mit jedem Gläschen, bekam das Haus ein Zimmer mehr, wuchsen in dem Garten, was immer den dreien an Gemüse, Sträuchern, Bäumen und zuletzt auch Blumen einfiel, ein Paradies für alle Fälle. Un dat Hanni hät en de Eck von dä Kösch jezesch un jesäät: Un do kumme mer sechs Pänz 64 op de Bank, und da sei, was sie nicht für möglich gehalten habe, dä Ruddi rot geworden bis in den Kragen vom Sonntagshemd. Hück ovend jonn se dat Aufjebot bestelle. Prost!

 

Mit Fräulein Abendgold waren wir bis Lessing und in die ›Aufklärung‹ gekommen. Mit Geffken bis zu Schiller und den ›Räubern‹, und das hieß ›Sturm und Drang‹. Jedesmal wenn die Lehrer den Dichtern so ihren Platz anwiesen, war mir, als zögen sie einen Turnbeutel an seiner Kordel auf und zu, um ein Stück Dichtung hineinzustopfen oder herauszuziehen. In unserem Lesebuch ›Silberfracht‹ gab es ein Bild von Schiller, vorangestellt seinen ›Kranichen des Ibykus‹. Ein Mann im Halbprofil mit bedeutender Nase, feurigem Blick, eine dunkle Locke in der gedankenverlorenen Stirn, der reine, weiße, wellige Kragen um den schlanken Hals. Wort für Wort hatte ich mitgeschrieben, traurige Geschichten von harter Kindheit, tyrannischen Fürsten, von Krankheit und Luise, der Freundschaft zu Goethe, dem frühen Tod. Um mich bei Geffken hervorzutun, hatte ich mir bei Fräulein Abendgold ein Buch ausgeliehen, dick wie unser Heiligenbuch, Biographie nenne man das, sagte sie, der Verfasser sei ein berühmter Mann. Hatte Fragen ausgeklügelt, die ich für verfänglich hielt, Fragen, die sich von frühen Liebeserfahrungen bis zu Verdauungsproblemen des Dichters erstreckten. Wenn ich Geffken mit meiner Wichtigtuerei auf die Nerven gegangen war, hatte er es mich nicht merken lassen. Dies war nun vorbei. Mein Wissensdurst und meine Liebe galten nur noch Schiller allein. Das Buch des gelehrten Schweizer Professors wurde meine Bibel. Kein Zweifel. Schiller war ein Heiliger.

Noch immer teilte ich das Schlafzimmer mit dem Bruder, nur den Nachttopf teilten wir nicht mehr. Ich benutzte den des Großvaters. Einen eigenen Tisch oder eine Kommode, ein Schränkchen oder auch nur eine eigene Schublade für meine Sachen hatte ich nicht. Zwischen unseren Betten stand ein Nachtkästchen. Für einen Groschen Monatsmiete überließ mir der Bruder seine Hälfte und schnitzte mir zudem aus Holzklötzchen zwei Kerzenständer. Der Großmutter schwatzte ich zwei gesprungene Einkochgläser ab.

Aus Piepers Laden besorgte ich mir einen Pappkarton, klappte seine Oberteile rechts und links auseinander wie die Flügel eines Altars und beklebte das Ganze innen wie außen silbern, und aus Nappopapier schnitt ich bunte, glitzernde Sterne.

Für den Schönen selbst bespannte ich die Pappe von einem alten Zeichenblock mit hellblauer Kunstseide, Hanni hatte mir den Fetzen – er war von ihrem Holländerkostüm übriggeblieben – einmal geschenkt. Mit dem Brotmesser trennte ich Schillers Bild aus der ›Silberfracht‹, legte es auf die Pappe und überzog das Ganze mit Zellophanpapier. Machte ihn haltbar wie die Großmutter ihre Marmeladen und Gelees. Dem ellenbogenhohen Herzjesu aus Gips setzte ich den silbernen Pappkarton vor die Nase. Rechts und links die Einmachgläser, Blumen würde ich morgen pflücken. Davor die Kerzenhalter. Kerzen fehlten mir noch. Alles überragend mein Schiller auf schimmerndem Silber. Ein Gott.

Öm Joddeswille! schrie die Großmutter, als sie den Aufbau sah. Wo is dä Jesus?

Ehe sie zugreifen konnte, zog ich die Figur vorsichtig hinter Schiller hervor. Wortlos verschwand sie damit in ihrem Zimmer. Gottlob hatte sie nicht bemerkt, daß mein Silberpapier aus ihrer Sammlung für die Heidenkinder kam.

Die Mutter nickte beifällig. Ein Altar war etwas, das sie verstand. Verehrung war ihr nicht fremd. Schiller, sagte ich, heiße der Mann auf der blauseidenen Pappe, ein Dichter.

Och, su süht dä us, sagte die Mutter.

›Festjemauert in der Erden, steht die Form aus Lehm jebrannt, heute soll die Jlocke werden, frisch, Jesellen, seid zur Hand, von der Stirne heiß rinnen muß der Schweiß.‹

Aufrecht stand die Mutter vor dem Nachtkästchen zwischen unseren Betten und hielt die Finger vor dem Magen verschlungen wie in der Kirche. Sie formte Wort für Wort, jede Hebung und Senkung der Silben, jedes Reimwort betonend, um jedes G und Ch bemüht, überdeutlich, als spräche sie eine fremde Sprache.

Errötend wie eine ertappte Schülerin, brach die Mutter ab, beugte sich verlegen über das Abbild und murmelte: Un dä hät dat jeschrievve? Ne feine Mann. Nä, nä. Un jitz schlooft jut, Kenger.

Lange noch ging mir die Stimme der Mutter im Kopf herum; diese Stimme, die so gewöhnlich klang, wenn sie mit der Großmutter, der Tante, den Nachbarn sprach; zaghaft, unterwürfig, verstohlen, wenn sie sich dem Vater näherte; mürrisch, wenn es um mich, besorgt, wenn es um den Bruder ging; eine warme Altstimme, die Marienlieder sang; gedankenlos und mechanisch, wenn sie in den Andachten endlose ›Gegrüßet seist du, Maria‹ klapperte. Ich hätte gern noch mit dem Bruder über dieses Wunder gesprochen, das Wunder einer Mutter, unserer Mutter, die ein Gedicht aufsagen konnte. Doch der schlief schon, erschöpft von den wilden Jungenspielen am Rhein.

 

Wieder kaufte ich ein Schreibheft: Briefe an Schiller. Friedrich, schrieb ich, und sah ihn vor mir, einen mittelgroßen, schlanken Mann mit träumerischen Augen und feingezeichneten Brauen; in seine Nase war ich verliebt und sein Haar, das für mich, auch als ich wußte, daß es rot war, in weichen, dunklen Herzjesulocken auf die Schultern fiel. Und manchmal schimmerte durch sein ewig junges Gesicht das des Großvaters, der auch Friedrich geheißen hatte, Fritz.

Friedrich, schrieb ich, ich bin allein. Wie du. Ich bin gerne allein, weil ich dann an dich denken kann. Du weilst in der Ferne und blickst nach den Sternen. Ich sehe dieselben Sterne wie du, und manchmal singe ich: Guter Mond, du gehst so stille. Dann denke ich nur an dich, Friedrich. Ich habe Dir einen Altar gebaut – hier folgte eine ausführliche Beschreibung. Du bist so schön. Bis morgen. Deine Hildegard Palm.

Friedrich, schrieb ich. Ich habe heute meinen Aufsatz zurückgekriegt. Eine Eins. Das Thema: Warum wollte Amalie sterben? Ich schreibe Dir den Aufsatz ab und lege ihn bei. Mit tausend Grüßen. Deine Hildegard Palm.

Ich schrieb an Schiller, wie ich vor Jahren mit Frau Peps geredet hatte, rückhaltlos, offen. Und schwärmerisch. Körperteil für Körperteil besang ich seine Erscheinung, besonders seine Nase. Meist jedoch erzählte ich von mir, bis alles, was mich verwirrte und ängstigte, nur noch Wörter waren, Papier. Wie in den Gesprächen mit Frau Peps, wurde mir schon, während ich die Wirklichkeit in Wörter verwandelte, leichter. Hatte ich die Angelegenheit erst einmal zu Papier gebracht, hielt ich sie schon für erledigt. Im Guten wie im Bösen. Genüßlich malte ich Friedrich aus, was ich Gisela zum Geburtstag schenken würde, drei mit rosa, blauer und hellgrüner Spitze umhäkelte Taschentücher, wie ich sie einpacken und kunstvolle Schleifen binden würde. Keine simplen Schlaufen, nein, büschelweise wuchsen seidige Schlingen aus meinen Fingern auf die Linien meines Schreibhefts. So gründlich und ausführlich schrieb ich, bis ich das Geschenk greifbar vor Augen hatte. Am Festtag stand ich mit leeren Händen da und mußte mit einem Sträußchen aus dem Garten gratulieren gehen.

Von der Mutter schrieb ich und der Großmutter, selten vom Bruder, immer wieder vom Vater.

Um hinterm Hühnerstall zu sitzen war es zu verregnet, ich hatte es mir im Wohnzimmer bequem gemacht, las mit erhobener Stimme aus Schillers ›Räubern‹, als die Tür aufging. Der Vater. Viel zu früh. Zu spät, mich aus dem Staube zu machen. Der Vater sah grau und trocken aus, brüchig, versteinert. Nur weg hier. Ich rutschte vom Sofa, wollte mich an ihm vorbeidrücken, als er den Gürtel schon aus der Hose gezogen hatte und auf meine Hand mit dem Reclamheftchen pfeifen ließ. Häs de nix Besseres ze dun, als hie op dä fuule Huck ze lije, 65 schrie er. Das Heftchen fiel mir aus der Hand, heulend drückte ich die gezeichnete Rechte mit der Linken an die Wange, duckte mich untern Tisch. Sah die Hand des Vaters das Heft ergreifen, hörte, wie er es einmal, zweimal zerriß, sah die verschmierten, mit Gummi aus Autoreifen besohlten Schuhe, die Tür knallte hinter ihnen zu.

Tage später stolperte der Vater über eine der großmütterlichen Schnapsflaschen, die, mit Beeren und Korn gefüllt, zur Hälfte aus dem Boden ragten, und fiel kopfüber ins Glas vom Mistbeet. Ein paar große und viele kleine Splitter steckten ihm im Gesicht, über die Stirn lief eine tiefe Schramme, aus der in dicken, trägen Tropfen dunkles Blut quoll. Loof! schickte man mich zu Mickel. Mach flöck! Ich ließ mir Zeit. Wenn meine Füße schneller werden wollten, sah ich meine Hand an. Die aufgeplatzte Haut war noch nicht verheilt.

Friedrich verzieh mir. Er wußte von Tyrannen manches Lied zu singen. ›Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei / Und würd er in Ketten geboren.‹ Mein Heft für schöne Sätze und Wörter füllte sich mit Schiller. Nirgends fand ich mich so tief verstanden wie bei ihm. Der Geist ist frei! In meinem Kopf kann mir niemand dreinreden. Ich trug abgelegte Kleider, zu große oder zu kleine Schuhe, hatte keine Armbanduhr und fuhr in den Ferien nicht weg. Aber in meinem Kopf reiste ich, wohin mir niemand folgen konnte, trug ich Bleyle-Kleider von C & A und Pepitahosen aus Amerika, Lackschuhe von Salamander und Gewänder wie Carmen oder Amalie auf der Bühne der Stadthalle Großenfeld. Ich mußte am Abend um acht zu Hause sein, mußte mit zu den Verwandten nach Rüpprich, ich durfte nicht ans Baggerloch, ich kriegte keinen Badeanzug. In meinem Kopf hatte ich alles. Denken war Weg-denken, Schön-denken, Anders-denken. Denken war Flucht in den Kopf, in die Freiheit. Freiheit war im Kopf. Und nur dort. Alles, was ich mir vorstellte, war so viel herrlicher als das, was ich in Wirklichkeit kannte. Und es gehörte mir, mir allein. Keiner konnte es mir wegnehmen. Keiner konnte mir befehlen, dreinreden, dummkommen. Das Reich der Freiheit. Daß dies auch ein Reich der Einsamkeit war, störte mich nicht. Im Gegenteil. Scheinbar allein, war ich sie alle. Das verliebte Mädchen so gut wie der junge Mann, den sie liebte, der sie liebte; die gütige Mutter, der gerechte Vater, war Gebirge und Meer, Wälder und Seen. In meinem Kopf war alles schön. Lange glaubte ich, ein wahrer Künstler sei einer, der es vermöchte, Häßliches so darzustellen, daß es schön würde, ein Plumpsklo zum Beispiel oder einen Kuhfladen. Ich versuchte es einige Male, doch je genauer ich hinsah und vor allem hinroch, desto widerwärtiger wurden mir beide. Ich war eben kein Künstler.

 

Als ich Friedrich schrieb, daß Hanni und Rudi bald heiraten würden, sagte er nichts dazu. Daß ich hingegen mich reinhalten würde auf ewig und immer für ihn, gefiel ihm.

Es war eine prachtvolle Hochzeit. Der Neubau fix und fertig eingerichtet, mit dem Verputzen wollte man bis zum Frühjahr warten, dann war alles noch besser ausgetrocknet. Die Möbel geflammte Birke. Und Hannis Musiktruhe.

Das ganze Dorf war auf den Beinen. Im Auto vorneweg, einem türkisfarbenen Borgward mit flatternden Tüllstreifen an der Antenne, das Brautpaar. Alle anderen gingen zu Fuß ins Kapellchen am Rhein, wo sie dicht gedrängt die Köpfe reckten nach dem Paar vorm Altar. Rudi, im schwarzen Anzug noch länger und dünner als gewöhnlich, stand neben seiner Braut, scharrenden Fußes wie ein Pferd an der Krippe. Hanni, von oben bis unten mit weißem Tüll umwunden, sah wie eine Riesenportion türkischer Honig aus. ›Einer trage des anderen Leid‹, predigte Pastor Kreuzkamp. Hanni sagte leise, Rudi laut: Ja. Über ihnen golden und schwergewichtig die Jungfrau Maria, ihr speckiges Baby im Arm.

Dat Hanni hät usjesorscht, seufzte die Mutter auf dem Weg zum Festsaal Pückler und sah mich mißtrauisch an, ob ich wohl jemals aussorgen würde.

Nach dem Mittagessen ergriff ich die Flucht. Seit meinem Versteck in den Rüppricher Stangenbohnen wußte ich allerorten einen stillen Winkel aufzuspüren.

Eine Handtasche besaß ich nicht. Aber immer trug ich ein kleines Buch bei mir, sicherheitshalber in der Unterhose. Diese Art des Transports zwang mir eine besonders aufrechte Haltung, einen gemessenen Gang ab. Dat kütt dovon, wenn mer o p de Scholl jeht, höhnten die Verwandten, deren Kinder nur e n de Scholl gingen.

Bei Pückler verkroch ich mich unter die Kellertreppe. Heute hatte ich nur ein dünnes Reclamheft eingesteckt: ›Der Verbrecher aus verlorener Ehre‹. Im Saal wechselte das Schützenbrüderkorps mit der Caprifischer-Band aus Möhlerath, ›Annelise, ach, Annelise, warum bist du böse auf mich‹, ›Rosamunde, schenk mir dein Herz und sei mein‹, spielten die einen, ›Rote Rosen, rote Lippen, roter Wein‹ die anderen. Dazu kam mir mein Friedrich mit Sätzen wie: ›Eine und ebendieselbe Fertigkeit oder Begierde kann in tausend Formen und Richtungen spielen, kann tausend widersprechende Phänomene bewirken, kann in tausend Charakteren anders gemischt erscheinen, und tausend ungleiche Charaktere und Handlungen können wieder aus einerlei Neigung gesponnen sein, wenn auch der Mensch, von welchem die Rede ist, nicht weniger denn eine solche Verwandtschaft ahndet.‹

Ich schnupperte. Der Geruch nach Rotkohl, Bratensoße, Suppengrün und Brühe wurde immer stärker. Ich wollte raus. Doch das Gatter ließ sich nur nach außen öffnen, und davor türmte sich nun schmutziges Geschirr. Ich war in meinem Verschlag gefangen und mußte warten, bis der Bruder mich holen kam.

Es war heiß unter der Treppe, in meinem Kopf verwickelten sich die Wörter, wollten keinen Sinn ergeben. Ich tastete mich von Wort zu Wort, bemüht, Zusammenhänge zu erfassen, Bedeutung herzustellen, Orientierung. Glaubte ich mit einem Satzanfang wie: ›Wir sehen den Unglücklichen‹ festen Boden unter die Füße zu bekommen, ging ich in den nächsten Verschachtelungen wieder unter: ›der doch in ebender Stunde, wo er die Tat beging, so wie in der, wo er dafür büßet, Mensch war wie wir, für ein Geschöpf fremder Gattung an, dessen Blut anders umläuft, als das unsrige, dessen Willen andern Regeln gehorcht, als der unsrige.‹

Erst nach sieben Seiten kam Friedrich endlich in Fahrt, ließ mich Soßen, Kohl, Sellerie und Porreegerüche, das Stampfen der Füße zum Auftrumpfen der Kapellen vergessen, und das hin und wieder an meine Ohren brausende Gelächter und Gejohle machte mir meine dämmerige Einsamkeit noch willkommener. Nur eines störte mich, wie schon bei den ›Räubern‹, auch in dieser Geschichte. Hatte jemand einen Buckel, rote Haare, Narben, schielende Augen, ein hinkendes Bein, war er mit Sicherheit ein Bösewicht. Nur schöne Menschen waren gute Menschen. Ich wußte es besser. War Hillgers Otto, der sabberte, hinkte und kaum verständlich sprechen konnte, nicht ein herzensguter Mensch? Und das Fräulein Feitzen, die Mathematiklehrerin, die aussah wie die Vorführdamen aus dem Quelle-Katalog, nicht ein durch und durch bösartiges Wesen, und das mit Lust?

Dies alles würde ich Friedrich schreiben, wenn ich erst einmal wieder zu Hause war, im Holzstall. Nach dem Auftritt im Wohnzimmer hatte der Vater den Verschlag leer geräumt und einen Tisch und einen Stuhl für mich hingestellt.

Ich mußte langsam lesen, die Geschichte war kurz, das Licht schlecht. Der Bruder ließ auf sich warten. Er hatte sein Geduldsspiel mitgenommen; ein Ding nicht größer als eine Taschenuhr; in den rotlackierten Holzboden unter einer gewölbten Plastikhaube waren blaue Hin- und Herwege eingekerbt, die in eine kleine Grube mündeten. Die Silberkugel war durch Neigen und Rucken zunächst auf einen der Wege zu bringen, dann in die Grube. Wollte man von neuem beginnen, mußte man die Kugel wieder hinausschütteln. Der Bruder wurde für sein Geduldsspiel immer und überall gelobt und beherrschte es bald so geschickt, daß es an ein Wunder grenzte, wie er das Kügelchen auf schnellstem Wege in die Grube schlüpfen ließ. Über diesem Spiel versank für ihn die Welt wie für mich über den Büchern.

Zum dritten Mal schon stand ich mit dem mörderischen Sonnenwirt am Rande des Abgrunds, als der Bruder kam, das Geschirr beiseite räumte und ich mich endlich in Pücklers Festsaal hinaustasten konnte.

Die Musik spielte. Das sah ich an den Bewegungen der Kapelle, der Tänzer. Ich hörte nichts. Unter den modischen Ondulationen und Fassonschnitten über verschwitzten Kragen und verrutschten Krawatten, aufgeknöpften Blusen und rotglühenden Ausschnitten fehlten die vertrauten Nasen, Münder, Augen, Ohren. Totenköpfe. Knöcherne Mundhöhlen, vom Auf und Ab der Kiefer lebhaft bewegt. Stumm. Der Bruder griff nach meiner Hand, wollte mich mit sich ziehen. Ich stand erstarrt.

Bertram! keuchte ich.

Er sah sich um.

Bertram! Er hatte ein Gesicht. Hatte sein liebes, gutmütiges Jungengesicht mit den treuherzigen, Augen, braun wie die meinen. Nur wir beide in der Familie, der grau, grün und blau gemischten Verwandtschaft hatten diese dunklen Augen. Bertram, ich fiel ihm um den Hals. Berti, ich muß hier raus. Das Kleid der Mutter, ihre Beine, ihre Schuhe, ihre frisch gelegten Wellen im rötlichen Haar rannten auf mich zu, ihre Hand war es, die mich packte, Knochenhand, und als der Schädel seine Mundöffnung meinem Ohr näherte, riß ich mich los, heulte auf vor Entsetzen, stürzte ins Freie. Friedrich, erzählte mir der Bruder anderntags, habe ich geschrien, der ganze Saal sei zusammengelaufen, und die Mutter habe dagestanden wie bei der Beerdigung vom Opa, und alle hätten sie bedauert wegen ihrem dolle Döppe. Dat kütt dovon, wenn mer de Blage op de Scholl scheck, hätten sie einstimmig gesagt.

Zu Hause machte mir der Vater, der Feste gern unter einem Vorwand früher verließ, die Tür auf. Er hatte ein Gesicht. Ich hätte es fast geküßt. Auch die Mutter hatte am nächsten Tag wieder ein Gesicht. Alle hatten eines und behielten es.

Im April fiel noch einmal Schnee, weiche Flocken, die nicht liegenblieben. In den Vorgärten blühten schon die Forsythien. Am Samstag fahre ich nach Düsseldorf, schrieb Sigismund, ins Theater. Wir treffen uns um fünf Uhr bei Bötsch. Fährst du mit? Dein S. Jede Menge Kreuzchen.

Familie Bötsch betrieb ein Busunternehmen. Man fuhr nach Altenberg oder Schloß Burg, in den Schwarzwald oder ins Allgäu, zur Tulpenblüte nach Amsterdam, seit zwei Jahren sogar an den Gardasee und die spanische Küste. Am beliebtesten waren Rheinfahrten, Tagestouren, nach Königswinter, St. Goar oder nach Bingen. Für meine gelehrte Schutzpatronin vom Rupertsberg interessierte sich dort allerdings niemand. Besichtigt wurde der Mäuseturm. Die Tante war auch ein paarmal gefahren, erzählte von Torten und Schnitzeln und von verdorbenem Kartoffelsalat, der die Heimreise stark beeinträchtig hatte.

Einmal im Monat fuhr Bötsch nach Düsseldorf ins Schauspielhaus. Die Honoratioren hatten dort ein Abonnement wie für eine Zeitung. Was sollte ich zu Hause sagen? Brauchte ich Geld? Siggi, schrieb ich: Was kostet das? Nichts, schrieb er, ich habe Freikarten. Das Frei rot unterstrichen, die Seite voller Kreuze.

Der Mutter tischte ich eine Geschichte auf, die ich am Ende kaum noch selbst verstand. Doris’ Vater, mit dem die Mutter einmal kurz zusammengetroffen war, als er mich in seinem burgunderfarbenen Borgward nach Hause gefahren hatte, spielte darin die Hauptrolle. Die Mutter hatte vor dem stattlichen Mann fast einen Knicks gemacht, war errötet wie ein junges Ding und hatte ihre normale Gesichtsfarbe erst wiederbekommen, nachdem er fort war. Dieser Vater würde mich zwar nicht abholen, da es um fünf noch hell sei, aber zurückbringen, da es später werden könne, denn man gehe eine kranke Klassenkameradin besuchen, die in Steinfurth wohne und heute abend ohne Beaufsichtigung sei, da die Mutter ins Theater gehe, ja wirklich verantwortungslos, aber wir seien ja treue Freunde, Freundschaft über alles, und da brächte der Vater, wenn die Mutter, nein, nicht Doris’ Mutter, die der kranken Klassenkameradin, wenn die aus dem Theater käme, brächte der Vater mich nach Hause, nein, nicht der Vater von der Klassenkameradin, die hätte gar keinen mehr, im Krieg gefallen, sie sei allein mit der Mutter, der Vater von Doris brächte mich, wenn die Mutter der kranken Klassenkameradin, die eben keinen Vater mehr habe, nach Hause käme, nach Hause. Das reichte. Nächstenliebe stand hoch im Kurs. Krankenschwester sollte ich werden, hoffte die Mutter, am liebsten eine für Kinder.

Gott sei Dank fiel ihr nicht auf, daß ich mein palmolivegrünes Taftkleid trug, um mich an ein Krankenbett zu setzen.

Der Motor lief schon. Vor der offenen Bustür stand Sigismund und winkte. Ich flog. Meine Füße in den viel zu spitzen Schuhen mit den viel zu dünnen, viel zu hohen Pfennigabsätzen zwei himmlische Turbinen, angetrieben von einem überirdischen Brennstoff, meine Arme mächtige Flügel. Sigismunds Ohren glühten. Er war blaß. Endlich, sagte er. Ich dachte, du kommst nicht. Ich war gelandet. Mir zitterten die Knie. Sigismund ergriff meine Hand und zog mich auf die beiden letzten freien Plätze. Dunkelgrauer Anzug, ein weißes Hemd, eine Fliege, Rasierwasserduft. Er war da. Fremd und erwachsen. Die Vorfreude zu Ende.

Vorsichtig tasteten meine Augen durch den Bus. Kaum jemand, den ich kannte. Schräg vor mir das Postvorsteherehepaar Wrings. Trotz der Wärme hatte die Frau den Persianer anbehalten. Ihr dunkles Haar, mit goldschimmernden Bändern durchflochten, balancierte sie in einem unwahrscheinlich hohen Turmbau, was ihr eine steife Gemessenheit abverlangte. Honigmüller, der Organist, grüßte feierlich herüber. Drei, vier Männer aus dem Kirchenvorstand kannte ich vom Sehen. Ihre Frauen, soweit ich das vom Anblick der Hinterköpfe beurteilen konnte, waren prächtiger herausgeputzt als fürs Hochamt. Männerköpfe mit Pomade, alle mit feinster Nackenrasur, exaktestem Kammstrich. Kein Frauenkopf ohne den Versuch, mit perlendurchwobenen Haarnetzen, straßfunkelnden Diademen, Kämmen und Klammern königliche Hoheit herzustellen. Wobei die Katholischen die wenigen Evangelischen, die sich nur hier und da ein beperltes Bröschlein gegönnt hatten, weit übertrumpften. Gottes wahre Kinder zeigten, was sie hatten. Nur eine war ungeschmückt: das kleine Fräulein Bormacher aus der Poetengasse. Unweit der Borromäusbücherei betrieb sie einen winzigen Tabakwarenladen. Sie war oft vor der Tür gestanden, wenn ich Donnerstags pünktlich um vier zu meinem Dienst in der Ausleihe bei ihr vorbeigekommen war. Jedesmal hatte sie mir etwas zugesteckt, meist kleine ledrige Äpfel und Birnen. Auf dem Heimweg kaute ich sie langsam, fast andächtig, bis ich die ganze Süße des Sommers auf der Zunge spürte.

Lieschen Bormacher war verschrumpelt wie ihre Äpfelchen. Sommers wie winters trug sie dasselbe schwarze Kleid, unveränderlich wie eine Figur im Buch. Wir brachten ihr das ›Bonifatiusblatt‹, den ›Michaelskalender‹, ›Frau und Mutter‹, den ›Hünfelder Boten‹. Und nun saß sie ein paar Reihen vor mir und fuhr ins Theater. Schade, daß ich das keinem zu Hause erzählen konnte. Wo Lieschen Bormacher hinfuhr, da durfte auch ich hinfahren.

Träumst du? Sigismund stieß mich in die Rippen. Willst du nicht wissen, was sie heute spielen?

Ja, doch, natürlich.

›Nathan der Weise‹, sagte Sigismund. Lessing. Schon mal gehört?

Gotthold Ephraim, schnatterte ich. 1729 bis 1781. Bedeutender Aufklärer. Begründer der modernen Literatur. Als zentrale Aufgabe sah er die Erziehung des Menschengeschlechts durch Vernunft und Toleranz und den Abbau aller Schranken zwischen den Menschen. Sein berühmtestes Werk: ›Nathan der Weise‹. Ich holte Luft. ›Die Ringparabel: Vor grauen Jahren lebt ein Mann im Osten der einen Ring von unschätzbarem Wert aus lieber Hand besaß. Der Stein ...‹

Der Bus bremste scharf. Wir fielen vornüber. Der Fahrer fluchte. Sigismund sah mich mißmutig an. Ich verstand. Mit Männern war es wie in der Schule: Wissen zu zeigen konnte abträglicher sein, als mit Geld zu prahlen. Der Zwiespalt war unlösbar: Ohne das kam ich nicht weiter, und hatte doch das Gefühl, mich für jede Leistung entschuldigen zu müssen, bei den Klassenkameraden, den Eltern, Verwandten, den Leuten im Dorf. Das, wovon ich hoffte, es würde mir ihre Anerkennung, womöglich gar ihre Liebe eintragen, die Leistung, entfernte mich von ihnen; was mich ihnen näherbringen sollte, brachte mich immer weiter von ihnen weg.

Ich wollte Sigismund nah sein. Und behielt die ›Ringparabel‹ für mich. Ich ließ ihn reden. Im Bus war es warm. Es blieb nun schon länger hell. Wir fuhren am Rhein entlang, an den Weiden blühten die Kätzchen, fuhren in die Dämmerung, die allmählich Pappeln und Erlen, Weiden und Wiesen aufsog, und den Bus ausfüllte wie draußen das Land, innen und außen miteinander verband. Sigismund erzählte von einem Badminton-Spiel, seinem CVJM, einer Ungerechtigkeit im Erdkundeunterricht. Die Wörter glitten aus meinem Kopf wie in der Schule, wenn Fräulein Feitzen ein mathematisches Problem erläuterte, womöglich ein algebraisches, der Pastor in der Kirche zu einem langen, lateinischen Gebet ansetzte oder die Großmutter mir meinen abschüssigen Lebensweg vorhielt. Doch anders als in der Kirche, der Schule oder zu Haus wollte ich nicht anderswo sein, nicht einmal in meinen Büchern. Wunschlos lauschte ich den Tönen aus seiner Kehle wie einer Glocke, einem Vogel, einer Geige. Lehnte mich an seine Stimme wie an einen Baum, legte mich in den Schatten seiner Stimme, ließ mich umhüllen, wärmen und kühlen zugleich. Jaja, sagte ich manchmal oder hm. Ich schloß die Augen, und der Bus fuhr stromabwärts, schaukelnd und schlingernd, daß sich unsere Schultern berührten.

An Sigismunds Seite schritt ich die Stufen zum Eingang des hell erleuchteten Gebäudes empor. Er half mir aus dem Mantel, einem schlottrigen hellgrauen Hänger der Rüppricher Cousine, ich zog meinen Kommunionbeutel auf, stellte mich mit meinem halben Kamm neben die anderen Frauen vor die hohen Spiegel und fuhr mir noch einmal durchs Haar. Sigismund reichte mir, wie die anderen Herren ihren Damen, ein Programmheft, wir nahmen die Stufen über den roten, mit goldenen Stangen befestigten Läufer hinauf in den ersten Rang links, fanden unsere Plätze, setzten uns auf den weinroten dickgerippten Cordsamt und waren erwachsen. Vergeblich suchte Sigismund meine Aufmerksamkeit auf das Programm zu lenken, die Schauspieler, den Regisseur. Nur so dasitzen wollte ich, einfach dasitzen und schauen, wie es sich versammelte in diesem kunstreich erdachten Halbrund, wie es sich setzte und mit geknickten Knien erhob, wenn andere auf ihre Plätze drängten, wie es murmelte, scharrte und knisterte, vornehm gedämpft, über und unter uns, neben und vor uns festlich gestimmte Erwartung, schweifende Blicke oder ins Programmheft vertieft, alle geduldig verharrend vor dem schweren blauen Samtvorhang. Rechts von mir saß ein langer, dünner Mensch, der sich unruhig in seinem Sessel krümmte und nicht wußte, wie er seine Beine verknoten sollte, vor mir ragte ein männlicher Hinterkopf, der in der Mitte kreisrund die Haare verlor, daneben Blondgespinst mit Federboa. Ich hätte sie umarmen mögen, alle. Langsam, als lösche man eine Kerze nach der anderen, wurde es dunkel. Der Vorhang ging auf. Langsam, auf daß die Seele den Augen folgen konnte, von einer Wirklichkeit in die andere.

›Er ist es! Nathan! – Gott sei ewig Dank, / Daß Ihr ja wiederkommt. ‹

Ich wußte, was sie sagen würde, ehe sie den Mund auftat, diese etwas dickliche Person, in graue Gewänder gehüllt, die von einem silberblaubraun gestickten Gürtel gehalten wurden. Wußte, noch ehe der Mann, der würdevoll von links hinten die Bühne betrat, ein Wort sagte, was er sagen würde, dieser Mann, der sich mit jedem Wort in einen Nathan, den Nathan verwandelte. Die Wörter überwältigten ihn, sogen ihn auf und gaben ihn wieder heraus: Nathan. Mit weißen Locken und steifem Bart, das Käppchen auf dem Hinterkopf, in einem Gewand wie der Moses meiner Kinderbibel. ›Ja, Daja, Gott sei Dank.‹

Ich war in jeder Bewegung, jeder Silbe, jedem Hauch einer jeden Person dort auf der Bühne. Ich war sie alle und alles von allen. In jedem Körper, jedem Laut, jeder Gebärde.

›Wie seid Ihr es doch ganz und gar mein Vater / Ich glaubt’ Ihr hättet Eure Stimme nur / Vorausgeschickt. Wo bleibt Ihr? ...‹

Sekundenlang tauchte der Vater im blauen Drillich auf, wie er an jenem Abend, als ich ihm die Verse entgegengerufen, sein Fahrrad durch das Tor geschoben hatte, ›Was für Berge / Für Wüsten, was für Ströme trennen uns / Denn noch? Ihr atmet Wand an Wand mit ihr / Und eilt nicht, Eure Recha zu umarmen?‹

›Mein Kind! mein liebes Kind‹ sprach Nathan, sprach der Vater, sprach ich selbst. Ich in ihren Armen, die auch meine Arme waren. Ich floß durch sie hindurch, in mich zurück und wieder hin zu ihnen, wie Atemluft, die durch die Lungen kreist.

Der Vorhang fiel. Man klatschte. Ich klatschte mit. Gehen wir etwas trinken? fragte Sigismund. Ich schüttelte den Kopf, wollte allein sein. Vor der Damentoilette stand eine lange Schlange. Hier hatte ich meine Ruhe. Glaubte ich. Eine Frau mit kupferrotem Flitterschmuck im blondgesträhnten Haar redete unablässig über meinen Kopf hinweg mit der Frau hinter mir und kritisierte Stück und Schauspieler mit einem Hagel von Fragen, deren Beantwortung sie nicht im mindesten erwartete. Ihr mißfiel alles. Im breiten Singsang der Düsseldorfer tat sie ihren Abscheu vor den Kostümen, den Kulissen, den Schauspielern kund. Un dat Stück, sagte sie gedehnt – sie hatte gemerkt, daß man ihr zuhörte, und genoß es, während die Frau hinter mir mit eingezogenem Kopf zu Boden sah –, Un dat Stück, nä, was soll denn unsereins in der modernen Welt mit so ›nem alte Jüd un Tempelherrn, und dann auch noch mit nem Scheisch! Wat meinst du, Therese? Un wie die rumlaufen! Dä Schlabber! Konnt mer denen nit wenijstens wat Anständijes anziehen? Dat is doch nit zeitjemäß. Oder? Therese, sag doch auch mal wat dazu? Und dann dat Mobilijar. Wo se dat nur herhan? Einfach schäbbisch! Dabei hat der doch Jeld, der Nathan, denk isch, Jüttsche han doch immer jet an de Föß, Pinkepinke, wat Theresjen? Nä, da fahr isch doch lieber nächstes Jahr wieder nach Bad Kissingen. Da jab et dieses Jahr die ›Gräfin Marrizza‹. Die Kostüme! Ein Jedischt! Un die Stimmen! ›Jern hab ich die Fraun jeküßt‹, wat Therese? Am liebsten jing isch hier jetz nach Hause. Wie lange dauert et dann noch? Therese?! Meinst du, isch halt dat noch aus? Dat Abbo hier, dat wird jekündischt, dat kann meine Mann morjen seiner Sekretärin sagen. Wat, Therese?

Ich floh. Draußen wartete Sigismund. Er hielt ein Glas Limonade für mich in der Hand. Neben ihm Lieschen Bormacher. Wie sie so dastanden, die beiden schwarzen, nicht sehr großen Gestalten, das zarte alte Fräulein, der junge Mann, beide befangen in der ungewohnten Umgebung, schienen sie mir sekundenlang zwei Buchstaben, Zeichen einer Sprache, die auf meine Entschlüsselung warteten, hofften, daß ich sie las und verstand.

Juten Tach, Hildejard, sagte Lieschen. Isch hab disch vorhin schon im Bus jesehen, aber du hast misch wohl nit erkannt. Schön, dat wir uns hier treffen. Sie reichte mir ihre Hand, von der ich so oft die süßen Schrumpeläpfel gegriffen hatte. Berührt hatte ich sie noch nie. Ihre Hand war nicht größer als meine. Anders als andere Erwachsenenhände zwang sie sich meiner nicht auf, preßte, spreizte, vergewaltigte sie nicht. Legte sich einfach in die meine hinein wie ein Geschenk, ein warmes, trockenes, federleichtes Stück von ihr. Anianas Augen sahen mich an. Augen, in die man sich fallen lassen konnte, ohne Angst, immer tiefer, bis man sich selbst spürte, was so wohl tat, daß man beinah weinen mußte.

Erst als Sigismund mir die Limonade fast vor die Brust stieß, ließ ich Lieschens Hand los. Danke, Siggi, sagte ich. Danke. Wie leicht mir dieses ›Danke‹ fiel. Jahrelang, nachdem ich das Alpenveilchen vor des Bürgermeisters Füße hatte fallen lassen, hatte ich das Wort nicht mehr herausbringen können. Danke, sagte ich und sah in Sigismunds Augen. Glatt und glänzend gaben sie mir mein Bild zurück, den hohen Spiegel und die vielen Lichter hinter mir.

Es klingelte zum zweiten Mal. Isch muß noch eine Treppe höher, sagte Lieschen. Mit kurzen schnellen Schritten eilte sie zum Aufgang.

Sigismund hatte eine Rolle Drops gekauft. Sie klebten, und ich brauchte beide Hände, um eines abzulösen. Berührte er meine Linke mit Absicht? Zog er die Süßigkeit absichtlich ein wenig zurück, so, daß meine Hände seiner Hand folgen mußten? Das Licht erlosch. Das Gemurmel erstarb. Der Vorhang rauschte auseinander. Ich verschwand. Jemand rüttelte an meinem Ellenbogen. Ruhe, zischte man rings um mich her. Ich schlug mir die Hand vor den Mund, hörte die Stimme der Mutter, ihren Leit- und Lebenssatz: Wat solle de Lück denke? Ich hatte die ›Ringparabel‹, zunächst nur die Lippen bewegend mitgesprochen, dann aber, ohne es zu merken, war ich lauter und lauter geworden, bis ich die Verse von der Bühne unten mit erhobener Stimme begleitete. Sigismund tätschelte meinen Arm. Auf der Bühne ging die Rede von den drei Ringen weiter. Ich kannte jede Silbe. Aber es waren nicht mehr meine Wörter. Ich war eine Zuhörerin. Ich lebte nicht mehr mit. Warum fuchtelte der Schauspieler so wild herum, warum rannte er sinnlos, planlos auf und ab, wo es doch gar nichts zu laufen gab, nur zu sprechen, diese schönen Worte zu sprechen, warum tat er so wichtig, setzte sich derart in Szene, strich den Bart und rückte den Gürtel zurecht?