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Aus dem Englischen von Kristof Kurz
© Simon Scarrow, 2021
Titel der englischen Originalausgabe: »Blackout« bei Headline Publishing, London 2021
© Piper Verlag GmbH, München 2022
Karte: TimPetersDesign.co.uk
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
Covergestaltung: zero-media.net, München, nach einem Entwurf von Patrick Insole
Covermotiv: Donald Jean/Arcangel; Shutterstock (Markov Oleksiy; New Africa); Visual Studies Workshop/Getty Images
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Für meinen Sohn Nick.
Du warst und bist mein ganzer Stolz.
In Liebe, Dad
Berlin, 19. Dezember 1939
Die Weihnachtsfeier hatte gerade angefangen, als Gerda Korzeny und ihr Begleiter um halb acht eintrafen. Der Schnee lag so hoch auf den Straßen, dass sie ihre Stiefel abklopfen mussten, bevor sie die Eingangshalle betraten und dem Dienstmädchen ihre Mäntel und Pelzmützen reichten. Gerda zog die Stiefel aus und stellte sie neben die Tür, dann nahm sie ein Paar Abendschuhe mit Barockabsatz aus einer mitgebrachten Tasche und schlüpfte hinein. Sie betrachtete sich in einem Wandspiegel, strich ihr Abendkleid glatt und richtete mit den Fingerspitzen vorsichtig ihr brünettes Haar. Als sie bemerkte, dass ihr Begleiter hinter ihr schmunzelte, zog sie einen Schmollmund.
»Schon besser«, sagte sie. »Jetzt fühle ich mich wieder wie ein richtiger Mensch.«
Er nahm sie grinsend am Arm und stellte sich neben sie. In der akkurat gebügelten Uniform mit den glänzenden schwarzen Stiefeln gab er eine beeindruckende Figur ab.
»Was für ein hübsches Paar«, sagte er und kratzte sich mit einem behandschuhten Finger das Kinn. »Zu schade, dass wir nicht verheiratet sind. Jedenfalls nicht miteinander.« Sein Lächeln verblasste. Dann führte er sie in den großen Saal. Wenigstens die Hälfte der Gäste war bereits eingetroffen. Über einhundert Mitglieder der vornehmsten Kreise Berlins standen in Trauben unter dem funkelnden Kronleuchter, der den riesigen Saal mit seinem Licht erfüllte. Kellner in weißen Jacketts und beschürzte Kellnerinnen trugen Tabletts mit Champagnergläsern von Gruppe zu Gruppe.
Gespräche und Gelächter hallten von den hohen Wänden wider. Gerda sah sich in der Menge nach vertrauten Gesichtern um. Sie entdeckte einige ehemalige Kollegen aus ihrer Zeit als UFA-Star, darunter auch Emil Jannings, den beleibten Schauspieler mit hoher Stirn, der gerade wiehernd lachte, sowie mehrere Regisseure, Produzenten, Drehbuchschreiber und Komponisten. Leider waren viele von denen, die sie näher gekannt hatte, schon längst emigriert. Die meisten nach Hollywood, einige in europäische Länder, in denen sie nicht befürchten mussten, wegen ihrer politischen Einstellung oder Religionszugehörigkeit von der dortigen Regierung schikaniert zu werden.
Zu den Gästen zählten neben den Filmschaffenden auch Künstler und Schriftsteller, bekannte Sportler und ihre vermögenden Gönner wie beispielsweise der rennsportbegeisterte Graf Harstein, der früher ein leidenschaftlicher Anhänger der Silberpfeile gewesen war und den Rennstall finanziell unterstützt hatte. Dazwischen waren zahlreiche Uniformen von Heer, Marine und Luftwaffe sowie der Partei zu sehen. Ein Vertreter der letzteren Gruppe – ein SS-Offizier – bedachte Gerda mit einem kühlen Blick.
Sie drehte sich zu ihrem Begleiter um. »Mein Gott, dieser schmierige Fegelein ist auch hier. Tu mir einen Gefallen, und halt ihn mir vom Leibe.«
»Weshalb?«
»Weil er ein widerlicher Heuchler ist, mein lieber Oberst Karl Dorner. Er bringt es fertig, mich für meine Affäre zurechtzuweisen und im selben Atemzug zu versuchen, mich zu verführen. Bitte sei so nett, und sorge dafür, dass er mich heute Abend nicht belästigt.«
»Und wie soll ich das anstellen?«
»Wenn er mir unverschämt kommt, gebietet dir der Anstand, ihn in seine Schranken zu verweisen.«
»Ich weiß nicht, ob es besonders klug für einen Armeeoffizier wäre, sich mit einem Vertrauten Himmlers zu prügeln.«
»Es wäre doch vielmehr so, dass ein Kavalier einem impertinenten Emporkömmling eine Lektion erteilte.«
»Früher wäre ich deiner Bitte mit Freuden nachgekommen«, sagte Dorner. »Doch inzwischen beherrschen die Emporkömmlinge dieses Land und lassen keine Gelegenheit aus, alle anderen ständig an diese Tatsache zu erinnern. Aber ich werde ihn beschäftigen, so gut ich kann.«
Gerda lächelte. »Nur eine Stunde, dann können wir von mir aus wieder gehen. Ein Bekannter hat mir den Schlüssel zu seiner Wohnung überlassen. Er kommt vor Neujahr nicht nach Berlin zurück, wir haben also den Rest der Nacht ganz für uns.«
Der Offizier nahm lächelnd ihre Hand und küsste sie. »Ich kann es kaum erwarten.« Sie zitterte unter seiner Berührung.
»Wärst du denn nicht gerne jede Nacht mit mir zusammen, mein Schatz?«, fragte sie so leise, dass nur er es hören konnte. »Haben wir dieses Glück nicht verdient?«
Er seufzte. »Darüber haben wir doch schon gesprochen. Du weißt doch, dass ich es mir noch nicht leisten kann, mich von meiner Frau scheiden zu lassen. Und wenn du diesen Trottel, mit dem du verheiratet bist, jetzt verlässt, wirst du keinen roten Heller von ihm bekommen. Wovon sollen wir dann leben?«
Sie sah ihm in die Augen. »Aber wir haben uns. Reicht dir das denn nicht?«
»Nein, das reicht mir nicht. Und dir erst recht nicht. Nicht bei deinen Ansprüchen. Warum belassen wir nicht alles so, wie es ist, und erfreuen uns an dem, was wir haben?«
»Aber ich will mehr als nur den gelegentlichen gemeinsamen Nachmittag oder Abend. Ich will dich. Für dich bin ich nicht mehr als ein guter Fick. Stimmt doch, oder?«
Er erstarrte, dann lächelte er kalt. »Womöglich noch nicht einmal das. Aber zumindest leicht zu haben.«
»Scheißkerl.« Sie löste sich von ihm. »Glaubst du, dass du der einzige Mann bist, der mich begehrt? Dann pass nur auf.« Sie knipste ein strahlendes Lächeln an und ging auf eine Traube von Filmleuten zu. »Leni!«, rief sie.
Eine Frau im Hosenanzug mit schulterlangen Haaren und maskulinen Gesichtszügen erwiderte das Lächeln und breitete die Arme aus, um sie willkommen zu heißen. Sie gaben sich Küsse auf die Wangen, dann begrüßte Gerda die anderen, die sie kannte, und ließ sich diejenigen vorstellen, die sie nicht kannte.
Dorner beobachtete sie einen Augenblick lang vom Rand des Saales aus, dann ging er zu zwei Offizieren hinüber, die vor der breiten Treppe standen, die zur Galerie über dem großen Saal führte.
Er nickte den beiden Männern zu. Bei einem handelte es sich um seinen Adjutanten, der ebenso wie Dorner bei der Abwehr – dem militärischen Nachrichtendienst – tätig war. Der andere, General von Tresckow, trug den roten Kragenspiegel des Generalstabs. Obwohl er noch keine vierzig war, lichtete sich das Haar des ansonsten gut aussehenden Mannes bereits.
»Guten Abend, Herr General.« Dorner deutete eine Verbeugung an.
»Freut mich, Sie wiederzusehen, Dorner«, sagte von Tresckow. »Sagen Sie mal – die Dame, mit der Sie hier sind … die kommt mir irgendwie bekannt vor.«
»Gut möglich, Herr General. Sie ist Schauspielerin. Oder war es zumindest. Gerda hat sich vor ein paar Jahren aus dem Filmgeschäft zurückgezogen.«
»Ach, die Gerda! Ich dachte, sie wäre blond.«
»War sie damals auch. Brünett ist ihre Naturhaarfarbe.«
Der General blickte auf die Menschentraube, die sich, wie magnetisch von ihrem Charme angezogen, um Gerda gebildet hatte. »Ein Prachtweib, ganz gleich, ob blond oder brünett. Sie Glücklicher!«
»Ja, ich Glücklicher.« Dorner hob sein Glas, nahm einen Schluck und stellte sich so hin, dass er seinem Vorgesetzten die Sicht auf Gerda versperrte. »Also, Herr General, was hat der Generalstab nach Polen denn für die Westfront geplant?«
Von Tresckow hob den Zeigefinger. »Ich darf selbstverständlich keine Einzelheiten preisgeben, mein Lieber«. Der General lachte. »Sagen wir nur so viel: Wenn die Zeit reif ist, werden unsere französischen und britischen Freunde eine gehörige Überraschung erleben …«
Der General setzte zu einem Loblied auf die Überlegenheit der deutschen Waffentechnik und Militärtaktik an, doch Dorner konnte sich kaum darauf konzentrieren. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu Gerda zurück. Dass er stets in ihr warmes Bett schlüpfen konnte, wenn es seine Bedürfnisse verlangten, war ihm nicht genug. Er war ein eifersüchtiger Mann und konnte die Vorstellung, sie mit einem anderen zu teilen, nicht ertragen. Sie waren zwar beide verheiratet, doch sie hatte ihm versichert, dass sie nicht länger mit ihrem Mann – einem Anwalt und hochrangigen Nazi – schlief. Dorner selbst hatte in jungen Jahren eine Bauerntochter geheiratet, deren Familie große Ländereien im Harz besaß. Bedauerlicherweise war sie eine sterbenslangweilige Person – ganz besonders im Vergleich mit einem ehemaligen Filmstar wie Gerda. Und so stand er vor dem Dilemma, sich zwischen den Annehmlichkeiten, die der Reichtum seiner Frau mit sich brachte, und Gerdas Weltgewandtheit entscheiden zu müssen. Und dabei wollte er doch beides.
Weitere Gäste trafen ein, und es wurde immer voller, sodass er bald Schwierigkeiten hatte, sich über den Gesprächslärm hinweg verständlich zu machen. Aus einem Grammofon auf der Galerie tönte das muntere Lied einer vorerst von der Partei tolerierten Künstlerin, die früher Chansons gesungen hatte. Endlich hatte der General seinen Vortrag beendet und ging los, um sich noch etwas zu trinken zu holen.
Dorners Adjutant verdrehte die Augen. »Ich dachte schon, der hört nie auf. Der Mann hat keine Ahnung vom Sinn und Zweck gesellschaftlicher Zusammenkünfte. Wer hat ihn überhaupt eingeladen?«
»Keine Ahnung, Schumacher. Aber ich habe nicht vor, mich noch länger von ihm langweilen zu lassen. Entschuldigen Sie mich bei ihm, wenn er zurückkommt? Ich muss jemanden sprechen.«
»Ihre Freundin Gerda etwa? An Ihrer Stelle würde ich damit nicht zu lange warten.«
Schumacher deutete mit dem Kinn an seinem Vorgesetzten vorbei.
Dorner drehte sich um. Sein Blick fiel auf das gegenüberliegende Ende des Saales, wo mehrere Paare zur Musik tanzten. Auch Gerda war darunter. Sie hatte die Arme um einen schlanken, jungen Mann im Samtjackett geschlungen. Ihre Körper schmiegten sich aneinander. Sie sah Dorner über die Schulter ihres Tanzpartners hinweg an und gab diesem einen Kuss auf den Hals. Er zog sie noch näher an sich, und seine Hand glitt von ihrer Schulter zur Hüfte hinunter.
»Diese verdammte …«, knurrte Dorner, drückte dem Adjutanten das Glas in die Hand und bahnte sich einen Weg durch die Menge auf sie zu. Wütend zerrte er sie aus dem Griff des Mannes, packte Gerda bei den Armen und beugte sich vor, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Ihr Tanzpartner stand unschlüssig in zwei Schritten Entfernung da. Als sich das Paar weiter stritt, ohne ihn zu beachten, kehrte er zu den anderen Gästen aus der Filmbranche zurück, die inzwischen eine größere Gruppe bildeten. Einen Augenblick später riss sich Gerda von Dorner los und marschierte zum Ausgang. Dorner sah ihr hinterher, dann folgte er ihr.
Zur gleichen Zeit erschien von Tresckow mit einer Champagnerflasche in der einen und einem Glas in der anderen Hand am Fuße der Treppe. »Oh, wo ist Dorner denn hin? Ich war ja noch gar nicht fertig.«
»Ich glaube, er ist bereits im Aufbruch begriffen, Herr General.« Schumacher deutete mit seinem Glas in Richtung Eingangsbereich. Die beiden Männer beobachteten Gerda dabei, wie sie in ihren Mantel schlüpfte und die Stiefel wieder anzog. Dorner redete dabei mit ernster Miene auf sie ein. Er wollte ihre Hand nehmen, doch sie schüttelte ihn ab und ging zur Tür. Dorner ballte die Hände zu Fäusten, ließ sich Mantel und Hut geben und lief ihr hinterher. Ein Lakai schloss die Tür hinter ihnen.
»Was hatte das denn zu bedeuten?«, fragte von Tresckow.
»Das weiß ich auch nicht so genau, Herr General.« Schumacher hob sein Glas und trank. »Sieht aber ganz so aus, als ob es heute Nacht noch Ärger gibt …«
Sobald sie Dorner aus dem Gebäude stürmen sah, beschleunigte Gerda ihre Schritte. Die Stiefel knirschten auf dem dünnen Neuschnee, der mittlerweile gefallen war. Jetzt war der Himmel klar, und die Sterne leuchteten kalt vor der samtigen Schwärze.
»Warte!«, rief er. »Wo willst du denn hin? Gerda!«
Sie hörte seine schnellen Schritte hinter sich. Als sie das Ende der Straße erreichte, hatte er sie eingeholt, ergriff ihren Arm und drehte sie zu sich herum. Er sah sie wütend an, den Mund zu einer dünnen Linie zusammengepresst. »Wie kannst du es wagen, mich so zu demütigen?«, zischte er mit leiser, zornerfüllter Stimme.
Sie roch den Weinbrand in seinem Atem. »Wie ich es wagen kann?« Sie lachte bitter. »Für wen zum Teufel hältst du dich? Ich habe dir mein Herz zu Füßen gelegt. Dir angeboten, alles für dich aufzugeben, weil ich dachte, dass du dasselbe empfindest.«
»Ich habe dir überhaupt nichts versprochen. Niemals.«
Sie sah ihn an und schüttelte traurig den Kopf. »Karl, wie die meisten Männer, deren Bekanntschaft ich gemacht habe, bist du nichts weiter als ein Lügner und ein Ehebrecher. Du hast mich verführt und mich Pläne für eine Zukunft schmieden lassen, die du nie mit mir teilen wolltest. Ich verachte dich.«
Er schlug so schnell zu, dass sie völlig überrumpelt war. Sein Handrücken knallte so heftig gegen ihre Wange, dass ihr Kopf zurückflog. Weiße Sterne tanzten Gerda vor den Augen. Sie taumelte und schmeckte Blut.
»Du Arschloch …«
Dorner erstarrte, offenbar erschüttert darüber, dass er die Beherrschung verloren hatte. Er verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Gerda … vergib mir.«
»Bleib mir vom Leib!«, rief sie und trat ein paar Schritte zurück. Dann zeigte sie auf ihn. »Es ist vorbei. Mit uns beiden ist es zu Ende, hörst du?«
»Aber nein, mein Schatz. Nichts ist vorbei.« Er ging mit einem gequälten Lächeln auf sie zu und breitete die Arme aus. »Es tut mir so leid. Bitte verzeih mir.«
»Niemals! Wenn du noch näher kommst, schreie ich um Hilfe. Das ist mein Ernst. Die Leute sollen ruhig wissen, dass du mich angegriffen hast. Dass du mich belästigt hast.«
Er hielt erschrocken inne. »Das wagst du nicht.«
»Willst du es darauf ankommen lassen?«, erwiderte sie trotzig. »Dann wird ganz Berlin erfahren, was für einer du wirklich bist.«
»Lass das doch. Bitte.«
Gerda sah ihn voller Verachtung an, trat noch ein paar Schritte zurück, drehte sich um und rauschte in Richtung der U-Bahn-Haltestelle Papestraße davon. Jetzt konnte sie auf direktem Weg nach Hause fahren, ohne auf Dorners Pläne Rücksicht nehmen zu müssen. Ihr Herz raste, ihre eine Wange brannte. Wenn von dem Schlag ein Bluterguss zurückblieb, musste sie sich eine Erklärung für ihren Mann ausdenken, bevor sie nach Hause kam. Immerhin war es sein Vorrecht, ihr blaue Flecken zu verpassen, dachte sie bitter. Und davon machte er auch des Öfteren Gebrauch.
Sie hörte ihren Liebhaber nicht länger hinter sich. Keine verzweifelten Bitten mehr, doch stehen zu bleiben und sich das Ganze noch einmal zu überlegen. Mit jedem Schritt wuchs ihre Wut darüber, dass Dorner nicht Manns genug war, um sie zu kämpfen. Noch während ihres Streits hatte sie die vage Hoffnung gehegt, er werde versuchen, sie umzustimmen. In Wahrheit wollte sie mit ihm zusammen sein, mit niemandem außer ihm. Aber nur, wenn er das auch wollte. Deshalb hatte sie versucht, ihn auf der Feier eifersüchtig zu machen.
Gerda folgte der breiten Straße zur Haltestelle. Die Nacht war bitterkalt, und nur wenige Passanten waren unterwegs; dunkle, tief in ihren Mänteln eingemummte Gestalten, die sich deutlich vor dem grauen Schimmer von Schnee und Eis abzeichneten. Als sie die Haltestelle erreichte, sah sie rotes Zigarettenglimmen im Schatten eines Bogengangs, der in eine Einkaufspassage führte. Instinktiv machte sie einen weiten Bogen um den Raucher.
»Wie viel?«, fragte eine heisere Stimme.
Sie ignorierte den Mann geflissentlich und ging schneller. Bis zur Haltestelle waren es noch beinahe hundert Meter. Mit wachsender Panik bemerkte sie, dass weit und breit niemand zu sehen war, und verfluchte Dorner, weil er ihr nicht gefolgt war.
Dann hörte sie hinter sich ein leises Husten, warf einen Blick über die Schulter und sah das schwache Glühen der Zigarettenspitze. Der Mann hatte den Bogengang verlassen und folgte ihr. Sie ging noch schneller, doch er holte auf. Voller Angst rannte sie los. Am Eingang des Bahnhofs sah Gerda einen Uniformierten.
»He!«, rief sie und wedelte mit dem Arm. »Sie da!«
Der Uniformierte kam ihr über die Straße hinweg entgegen. Es war ein Schaffner. »Was gibt’s denn, gute Frau?«
»Der Mann da.« Sie deutete hinter sich, doch es war niemand mehr zu sehen. Selbst die verräterische Zigarettenglut war verschwunden.
»Welcher Mann?«
»Gerade eben war er noch hier. Er ist mir gefolgt.«
»Ich sehe niemanden.« Der Schaffner starrte sie an. »Sind Sie sich sicher, dass Sie ihn wirklich gesehen haben?«, fragte er.
»Ich …« Gerda holte tief Luft. »Ach, egal. Nicht so wichtig.«
»Machen Sie sich keine Gedanken, gute Frau.« Er kicherte. »In so einer finsteren Nacht wie heute sehen viele Leute Gespenster. Das kenne ich.«
»Ich habe mir den Mann nicht eingebildet«, empörte sie sich. »Wenn Sie gestatten.« Sie rauschte an ihm vorbei zur Haltestelle, betrat den Bahnsteig für die Züge Richtung Anhalter Bahnhof und ging in den Wartesaal. Der Raum war angenehm warm, im gusseisernen Ofen lagen glimmende Kohlen. Außer ihr befanden sich nur ein dicker Mann in Arbeitskleidung und eine dürre, verhärmte Frau im Wartesaal. Seine Gattin, vermutete sie und nickte den beiden stumm zu. Gerda warf alle paar Sekunden einen Blick auf den Bahnsteig, aber von dem Mann, der ihr gefolgt war, war nichts mehr zu sehen.
Zehn Minuten später fuhr der Zug ein, und sie verließen den Wartesaal. Das Ehepaar stieg in den vorletzten Waggon, Gerda selbst setzte sich mit dem Rücken zur Tür in den letzten. Mehrere Türen wurden geschlossen, ein Pfiff ertönte, und der Zug fuhr ruckartig an. Während sie den Bahnhof verließen und durch die nächtlichen, verdunkelten Vororte ratterten, machte es sich Gerda auf ihrem Sitz bequem, schob die Jalousien vor dem Fenster beiseite und spähte durch den Spalt in die Finsternis. Sie war immer noch wütend auf Dorner und schwor sich, ihn entweder zurückzugewinnen oder sich für ihren verletzten Stolz zu rächen.
Es klickte, dann traf sie ein kalter Luftstoß, bevor sich die Türen zum Abteil wieder schlossen. Sie ließ die Jalousie los und drehte sich um. Ein Mann hatte den Waggon betreten und ging direkt auf sie zu. Als sie ihn erkannte, riss sie vor Überraschung die Augen auf. »Sie …«