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© Piper Verlag GmbH, München 2022

Sprachredaktion: Uwe Raum-Deinzer

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Giessel Design

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

 

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Aequat omnis cinis. Inpares nascimur, pares morimur.

Die Asche macht alle gleich. Ungleich werden wir geboren, gleich sterben wir.

Seneca, Briefe an Lucilius (Epistulae morales ad Lucilium), 62 n. Chr, 91. Brief

Kapitel Eins

Santo

Von allen Göttern verfluchte, beschissene Hölle.

Meine Kehle liegt in Fetzen, während ich dem Helikopter nachstarre, der immer höher hinaufsteigt und bald zu einem winzigen Punkt zwischen den wabernden Rauch- und Aschewolken zusammenschrumpft. Ich schreie weiter ihren Namen. Immer und immer wieder, weil ich einfach nicht begreifen kann, was gerade passiert ist. Ascheflocken tanzen durch die Luft wie grauer Schnee und legen sich auf mein Gesicht. Mit jedem Atemzug inhaliere ich die ätzende Mischung aus Gasen und Schwefel, die der erwachte Vesuv ausspuckt.

Wo kam dieser Helikopter so plötzlich her? Warum habe ich wider besseres Wissen alle Ratschläge in den Wind geschlagen und zugestimmt, mich den Immortali mit Aliqua allein entgegenzustellen? Ich hätte sie mir über die Schulter werfen und weglaufen sollen, solange es noch ging.

Und jetzt ist sie fort, während um uns herum der Vulkan brodelt wie ein überkochender Teekessel. Hier fliegt uns jeden Moment alles um die Ohren, aber ich kann mich nicht bewegen. Nicht, solange ich den kleinen dunklen Punkt am Himmel noch sehen kann, der kaum mehr als Helikopter zu erkennen ist. Aliqua ist dort drinnen, zusammen mit Marcellus, und er hat unmissverständlich klargemacht, was er von ihr will. Er beansprucht sie als sein Eigentum und wird ihre besondere Gabe dazu nutzen, um die Welt ins Chaos zu stürzen. Meine Augen tränen in den Vulkandämpfen, während ich den Weg des Hubschraubers in der Ferne zu verfolgen versuche. Wohin bringen sie sie?

Ich weiß, dass es irgendwann zwecklos ist, ein Flugobjekt mit den bloßen Augen verfolgen zu wollen. Aber wenn ich es nicht versuche, dann gebe ich auf. Dann muss ich aufgeben und mir eingestehen, dass die Immortali gerade den Sieg davongetragen haben. In doppelter Sicht.

Gerade ist es ihnen gelungen, Marcellus zu befreien, nachdem er, wie Aliqua, seit dem Jahr Neunundsiebzig unter den erkalteten Vulkanmassen geruht hat. Er, der damals in der Antike die Idee hatte, die Götter um Hilfe zu bitten, als eine Seuche alles und jeden in Rom dahingerafft hat. Überraschenderweise gingen die Götter, die gemeinhin nicht für ihre gütige Natur bekannt waren, auf die Hilfegesuche unserer beiden Familien ein und boten uns etwas noch viel Besseres an als ein bloßes Heilmittel für die grassierende Krankheit: einen Trank, der Unsterblichkeit verleiht. Das erschien uns allen fast zu gut, um wahr zu sein (Spoiler: das war es auch), aber wir griffen natürlich trotzdem zu. Doch seitdem wir die Götter nachhaltig verärgert haben, sind sie von der Erde verschwunden und haben uns mit einem Leben in Unsterblichkeit allein gelassen.

An Marcellus hat seitdem kaum jemand einen Gedanken verschwendet, denn er galt seit dem Weggang der Götter als verschollen, und ehrlich gesagt bin ich davon ausgegangen, dass sie ihn vernichtet hätten. Aber damit komme ich zurück zur wahren Natur der Götter: Sie wären niemals so gnädig gewesen, ein Aas wie Marcellus mit dem Tod zu belohnen.

Stattdessen hat er die Jahrhunderte quicklebendig unter der Erde überdauert, bereit, mir einen weiteren, vernichtenden Stoß zu versetzen, sobald er aus dem Dreck gekrochen war.

 

Gelblich graue Nebelschwaden bedecken inzwischen den Himmel, zu dem ich noch immer hinaufstarre, aber ich habe den dunklen Punkt am Horizont endgültig aus den Augen verloren. Marcellus könnte Aliqua überall hinbringen. Die Möglichkeiten sind schier endlos.

Am Rande nehme ich wahr, dass rund um mich herum das Chaos ausgebrochen ist. Immortali und Damnati haben aufgehört, einander an die Kehle zu gehen, seit der Helikopter abgehoben ist und der Vulkan immer deutlicher signalisiert, dass er jeden Moment ausbrechen wird. Gestalten rasen an mir vorbei, verschwimmen zu Schatten in meinem Augenwinkel, während sie panisch versuchen, ihre Haut zu retten. Was witzlos ist, denn wir sind alle unsterblich und würden sogar ein Bad in frischer Lava überstehen. Wir Damnati genauso wie die abtrünnigen Immortali.

Eine Hand, die mit voller Wucht auf meine Schulter kracht, reißt mich aus meinen Gedanken. Mein Cousin Adone ist hinter mich getreten. Seine Statur würde Herkules Konkurrenz machen, und eine schwächere Person als ich wäre unter dem Schlag seiner Pranke in die Knie gebrochen. Nur jahrhundertelanges Training verhindert, dass er mich in den Boden rammt wie einen stumpfen Pflock.

»Beweg dich hier schleunigst weg, oder du erlebst am eigenen Leib, wie es sich anfühlt, pochiert zu werden«, grunzt er. Sein Gesicht ist gerötet, und Schweiß läuft ihm über die Stirn.

Ich reagiere nicht. Der Gedanke, einfach hier zu bleiben und mich dem Vesuv auszuliefern, fühlt sich genau nach der richtigen Art von Buße an. Fast kommt es mir vor wie ein Zeichen des Schicksals. Aliqua wurde im Jahr Neunundsiebzig während des großen Ausbruchs unter den Vulkanmassen begraben. Sie hat sich in Herculaneum aufgehalten, einer der Städte, die damals zerstört wurden, und das war zum größten Teil meine Schuld. Und auch knapp zweitausend Jahre später bin ich nun wieder daran beteiligt, dass ihr Gewalt angetan wurde. Ich konnte sie nicht beschützen – nicht vor den Immortali und nicht vor sich selbst. Aber am allerwenigsten vor mir.

»Santo!« Adones Gebrüll dröhnt in meinen Ohren. »Beweg jetzt endlich deinen Arsch zu den Autos, oder ich werfe dich über meine Schulter wie ein Kleinkind. Such es dir aus.«

Ich blinzle durch die ätzenden Dämpfe, die jeden einzelnen Atemzug zur Qual machen. Ein Erdstoß lässt die Knochen in meinem Leib erzittern, und brodelnde Hitze steigt aus dem Untergrund auf. Die Hölle, die in mir tobt, bricht auch um mich herum aus. Ich heiße sie willkommen.

Jeden Moment … jeden Moment.

Adone flucht laut, dann – schneller, als ich reagieren kann – geht er in die Knie und hebt mich hoch. Er schnauft vor Anstrengung, als er mich wie angedroht über seine Schulter wirft und mit seiner Beute in Richtung der Autos stapft, die mit laufendem Motor auf uns warten. Seine massige Schulter gräbt sich in meinen Magen, und mein komplettes Blut scheint mir in den Kopf zu schießen, als ich rücklings über seinem breiten Rücken hänge.

Das ist … aber ich bin viel zu apathisch, um zu registrieren, wie entwürdigend das gerade ist.

»Lass mich hierbleiben«, verlange ich gepresst.

Er kichert nur böse. »Träum weiter, Kleiner. Meinst du ernsthaft, wir lassen dich hier seelenruhig verschmoren und ersparen es dir, mit uns die Karre aus dem Dreck zu ziehen?«

Stimmen werden um uns laut, und im nächsten Moment lande ich unsanft auf der Rückbank eines Wagens. Alles dreht sich, mein Magen zieht sich zuckend zusammen. Trotzdem rapple ich mich auf, Adone springt neben mich auf den Sitz und schlägt die Tür hinter sich zu.

»Wir sind da. Gib Gas!«

Meine Augen sind noch immer gereizt und tränen, doch ich kann Giulia hinter dem Steuer des Jeeps erkennen. Ihre dunkelrote Lockenmähne ist unverwechselbar. Auf dem Platz neben mir sitzt Scuro, mein anderer Cousin, der sich wie so oft in Schweigen hüllt, und ich habe keine Ahnung, wer sich vorne auf dem Beifahrersitz befindet.

Kalte, klimatisierte Luft wirbelt durch den Innenraum des Jeeps, und allmählich klärt sich meine Wahrnehmung. Was dazu führt, dass ich registriere, wie viele Stellen meines Körpers schmerzen. Vorhin, beim Kampf gegen Marcellus’ Entourage, habe ich einiges abbekommen und eine Reihe heftiger Schläge einstecken müssen. Besonders mein Kopf dröhnt, Blut verstopft meine Nase und füllt noch immer meinen Mund. Wahrscheinlich versaue ich die Ledersitze, bis wir in Rom sind.

Der Wagen rast zusammen mit zwei anderen den steilen Weg zum Fuß des Vulkans hinunter, so schnell wie möglich über klaffende Risse und bebenden Untergrund hinweg. Die Stoßdämpfer leisten Höchstarbeit, trotzdem fühlt sich jeder Ruck so an, als würde jemand in aller Ruhe meinen Schädel mit einer Axt spalten. Mit zusammengebissenen Zähnen starre ich durch die mit Ruß und Aschestaub bedeckte Frontscheibe.

Verdammt, mir ist kotzübel.

Auf halbem Weg den Abhang hinunter fällt mir etwas ein, und ich ramme die Füße in die Mittelkonsole vor mir, als würde ich versuchen, auf die Bremse zu treten.

»Meine Moto Guzzi!«, krächze ich. »Wir mussten sie kurz vor dem Parkplatz stehen lassen. Giulia, halt an!«

Der Motor heult auf, als sie genau das Gegenteil tut. In halsbrecherischem Tempo schlittert der Jeep um eine Kurve, was Geröll und Äste gegen die Karosserie prasseln lässt.

»Dein Motorrad ist das Letzte, worum du dir gerade Gedanken machen solltest, Mann«, rügt eine Stimme vom Beifahrersitz. Jetzt erkenne ich auch, wer da vorne sitzt.

Massimo Pomponio. Barbesitzer, ebenfalls ein Damnatos und einer der Spitzenkandidaten auf meiner persönlichen Abschussliste. Ich kann den Kerl einfach nicht ausstehen.

»Was, du bist hier und nicht direkt zu deinem alten Kumpel Marcellus zurückgekrochen?«, höhne ich.

Er dreht sich nicht zu mir um, was mir den Anblick seiner arroganten Visage erspart. Allerdings genügt seine gedehnte Stimme allein vollkommen, um mich zur Weißglut zu bringen.

»Stell dir vor, ich habe noch immer nicht beschlossen, die Abtrünnigen zu unterstützen, die die Welt ins Chaos stürzen wollen. Schockiert dich das wirklich so sehr?«

»War das eine ernst gemeinte Frage?«

Massimo seufzt, als hätte er es mit einem Kleinkind zu tun. »Ich an deiner Stelle wäre etwas freundlicher zu mir.« Ich kann sehen, wie er eine seiner sauber manikürten Hände inspiziert.

»Ach ja?«

»Wie du richtig festgestellt hast, war Marcellus einmal mein Freund. Wenn du mich lieb bittest, könnte ich versuchen, Kontakt zu ihm herzustellen, um der alten Zeiten willen. Du weißt, dass ich von dieser festgefahrenen Feindschaft zwischen den Damnati und den Immortali nicht viel halte.«

Ich brumme, damit er weiter spricht.

»Wenn Marcellus mir wieder vertraut, kann ich vielleicht herausfinden, wo er deine Perle hingebracht hat.«

Ein großer Teil von mir will genau wie das Kleinkind reagieren, das offenbar gerade alle in mir sehen, und ihn einfach aus dem fahrenden Auto schleudern. Sein anzüglicher Tonfall, als er Aliqua erwähnt, erinnert mich an den Abend in seiner Bar, als die beiden getanzt haben. Und ich wie ein eifersüchtiger Idiot die Tanzfläche gestürmt habe, um Aliqua von ihm wegzureißen.

»Das klingt doch super!«, zwitschert Giulia und lässt den Jeep über einen dicken Ast springen, der quer über der Fahrbahn liegt. Meine Schädeldecke platzt gleich auf!

»Ja, klasse Idee«, brumme ich. Ich kann die Selbstzufriedenheit geradezu schmecken, die Massimo vom Beifahrersitz ausdünstet.

 

Es dauert eine Ewigkeit, bis wir die Autobahn in Richtung Rom erreichen. Inzwischen wimmelt es rund um den Vesuv von Einsatzkräften und Regierungsleuten, die hektisch auf den erwachten Vulkan reagieren. Sirenengeheul dringt durch die Scheiben aus Panzerglas. Als einer der potenziell gefährlichsten Vulkane wird der Vesuv rund um die Uhr überwacht, um mögliche Ausbrüche frühzeitig zu erkennen, aber kein Messinstrument der Welt kann die Einmischung von Ewiglichen voraussehen. Da gibt es keine Vorboten oder Warnungen.

Seit uns die Götter vor einer halben Ewigkeit zum unsterblichen Leben verflucht haben, tragen wir alle noch einen Rest göttlicher Macht in uns, die aber normalerweise keinen großen Schaden anrichtet. Ein so epochales Ereignis wie Marcellus’ Befreiung direkt am Vulkan war aber wohl gewaltig genug, um dem Vesuv eine spontane Reaktion zu entlocken, auf die sich kein Sterblicher vorbereiten konnte. Ich bete, dass sie es irgendwie schaffen, so viele Menschen wie möglich aus der Gefahrenzone zu bekommen, bevor es zu spät ist. Die verstopften Autobahnen sprechen zumindest dafür, dass sich alle bemühen, schnell das Weite zu suchen.

Während wir uns quälend langsam durch den Verkehr kämpfen, wünsche ich mir verzweifelt meine Moto Guzzi. Mit meinem Motorrad könnte ich mich spielend durch den Stau schlängeln und Rom in der Hälfte der Zeit erreichen. Allerdings sehe ich inzwischen ein, dass es Wahnsinn gewesen wäre, wegen der Maschine noch einmal umzudrehen.

Irgendwann schaltet Giulia das Radio ein und durchsucht das Programm, bis sie einen Lokalsender aus dem Großraum Neapel findet. Die aufgeregten Stimmen zweier Moderatoren schallen aus den Lautsprechern, und wir lauschen angespannt auf Neuigkeiten. Zuerst gibt es nur Hinweise für die Bevölkerung, Informationen zu Evakuierungen und Staumeldungen (haha!). Es werden weder Werbe-Jingles noch Schlager gesendet, was den Ernst der Lage unterstreicht.

Dann sprechen die Moderatoren im Studio endlich mit einer Außenreporterin, die in unmittelbarer Nähe des Vulkans positioniert ist.

»Gerade konnte ich mit dem Generaldirektor des Vesuv-Observatoriums reden, und er hat uns bestätigt, dass trotz dieser Beben kein Ausbruch unmittelbar bevorsteht. Die Experten vor Ort sind noch dabei, alle Daten auszuwerten, aber sämtliche Sensoren bestätigen einen Druckabfall in den Magmakammern Nach der Rauchentwicklung aus dem Krater und dem Aufbrechen der Caldera deuten alle Zeichen auf eine massive Eruption hin, aber dabei scheint es zu bleiben. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es jedoch noch keine Erklärung für dieses Phänomen.«

Einer der Moderatoren schnappt aufgeregt nach Luft. »Das bedeutet, wir können bereits Entwarnung geben?«

»Dafür ist es noch zu früh. Denn das vollkommen untypische Verhalten des Vulkans lässt momentan keine definitiven Aussagen und Prognosen zu.«

Es geht noch eine Weile weiter hin und her, aber das Gespräch beginnt sich im Kreis zu drehen, und Massimo stellt die Lautstärke runter.

Im Wagen herrscht verblüfftes Schweigen.

»Hab ich das gerade richtig verstanden?«, sagt Adone irgendwann. »Der Vulkan wird nicht ausbrechen?«

»Scheint so.« Giulia wirft einen Blick in den Rückspiegel, und ich sehe, wie sie die Stirn runzelt. Auch ich drehe mich um und spähe aus dem Heckfenster. Wir haben schon einen ordentlichen Abstand zwischen uns und den Vulkan gebracht, aber in der Ferne sehe ich noch immer eine schmale Rauchsäule in den dunstigen Himmel aufsteigen.

»Meint ihr, Vulcanus hat …«, setzt Giulia an, wird aber sofort von energischen Protestrufen zum Verstummen gebracht.

»Ganz sicher nicht«, zischt Massimo, der so angefressen klingt, als hätte sie gerade seine Mutter beleidigt. »Als hätte dieser feuerspuckende Bastard jemals einen Vulkan zurückgepfiffen. Außerdem haben die Götter die Erde verlassen, schon vergessen?«

Giulia zieht die Schultern hoch. »Aber ihr stimmt mir zu, dass es nicht normal ist, dass der Vesuv plötzlich beschlossen hat, doch nicht auszubrechen. Wir alle haben es gespürt, er stand ganz kurz davor.«

Ja, das haben wir alle gespürt. Und es ist ein Rätsel. Aber eines, um das wir uns später kümmern können.

Ich bin froh, dass Neapel wahrscheinlich vor einem Ausbruch verschont bleibt, aber das war zu keinem Zeitpunkt meine größte Sorge. Ja, womöglich macht mich das zum größten Arschloch überhaupt, aber mein komplettes Sein ist gerade auf einen einzigen Gedanken ausgerichtet: Aliqua von Marcellus zurückzuholen.

Koste es, was es wolle.

Aliqua

Glühende Hitze umgibt mich von allen Seiten.

Mein Atem verbrüht mit jedem hastigen Zug meine Lippen, und Feuerzungen perlen anstatt Schweiß aus allen Poren. Ich kann mich nicht bewegen, sosehr ich es auch versuche. Eine Schwere, die sich nicht abschütteln lässt, lähmt meine Glieder, und ich muss ausharren, während sich Schicht um Schicht von flüssiger Hitze über mir auftürmt. Sie kriecht meine Beine hinauf, erreicht meine Hüften und den Bauch, bis sie Sekunden später meine Brust bedeckt.

Jeder Atemzug ist eine Qual, und mir wird bewusst, dass ich es nicht mehr lange schaffen werde, meinen Brustkorb zu heben, um ein weiteres Mal Luft zu holen. Meine Sekunden sind gezählt, denn mein Atmen wird immer schwächer, und Panik bricht in mir aus, als ich begreife, dass es mir nicht mehr oft gelingen wird, Luft in mich zu saugen.

Ein, aus.

Ein, aus.

Ein, aus.

Asche klebt an meinem Rachen, aber ich schließe meinen Mund nicht. Stattdessen reiße ich ihn so weit wie möglich auf, um das Unabwendbare aufzuhalten. Nur noch einmal. Nur noch ein weiterer Zug …

Im hintersten Winkel meiner Gedanken ist mir bewusst, dass ich das hier verdient habe, es sogar freiwillig auf mich genommen habe, aber eine Strafe zu akzeptieren und sie dann tatsächlich anzunehmen, sind zwei unterschiedliche Dinge. So entschlossen ich auch war, jetzt regiert in mir nur noch nackte Angst, und ich drehe beinahe durch, weil ich flüchten will, aber nicht kann.

Tränen lösen sich aus meinen Augenwinkeln, und sie sind so heiß wie pures Feuer, als sie sich einen Weg über meine Wangen bahnen. Die brennenden Spuren auf meiner Haut fühlen sich nach Bedauern und Trauer an. Aber so ist es mit den schweren Entscheidungen im Leben. Auch wenn man weiß, dass man gerade das Richtige tut, schmerzt es deshalb nicht weniger.

 

Als ich aufwache, dauert es einige Minuten, bis ich die Bilder des Traums abschütteln kann. Sie fühlen sich zu real an, zu sehr nach etwas, das nicht nur ein Produkt meiner Fantasie ist, sondern das ich schon einmal erlebt habe. Aber mein Kopf ist zu benommen, um herauszufinden, was Wahrheit und was Einbildung ist. Am liebsten will ich die Augen fester zusammenkneifen und wieder in den Schlaf abdriften. Die Dunkelheit lockt mich mit dem Versprechen von Vergessen und Frieden. Doch in meinem Hinterkopf lauern Erinnerungen, die mich mahnen, dem Sog nicht nachzugeben, sondern jetzt endlich aufzuwachen und mich der Realität zu stellen.

Mit einem Kraftakt bäume ich mich auf und werfe die Benommenheit von mir ab. Noch immer greift der Schlaf mit lockenden Fingern nach mir, will mich zurück in die friedvolle Dunkelheit ziehen, aber ich widerstehe ihm mit aller Kraft.

Allmählich beginne ich meinen Körper wieder zu spüren. Die Schwere meines eigenen Gewichts, das mich in eine weiche Unterlage niederdrückt. Das dumpfe Pochen hinter meinen Schläfen.

O ihr Götter, habe ich gestern mit Adone einen über den Durst getrunken? Ich fühle mich ganz danach. Schwer und träge, als hätte ich den Kater meines Lebens. Wenn ich die Augen öffne, überrollt es mich bestimmt mit voller Wucht.

Also taste ich zuerst mit geschlossenen Augen meine Umgebung ab und stelle fest, dass ich wohl auf einem Bett liege. Meine Fingerspitzen gleiten über Laken, deren Stoff leicht kratzt, als wäre er schon zu oft gewaschen worden. Die Matratze unter mir ist etwas hart, aber komfortabel. Definitiv nicht vergleichbar mit dem Bett, dass ich in der Wohnung der Omodeos in Rom hatte.

Ich kann mich nicht erinnern, wie ich hierhergekommen bin.

Es vergehen noch einige weitere Minuten, ehe mein Gedächtnis wieder die Arbeit aufnimmt. Mir wird allmählich klar, dass ich in der vergangenen Nacht nicht ausgegangen bin. Weder mit Adone noch mit irgendjemand sonst. Etwas anderes ist dafür verantwortlich, dass ich mich so miserabel fühle. Eine Mischung aus unbegreiflichen Erinnerungen und einer Hand, die so lange meinen Nacken umklammert hielt, bis mir schwarz vor Augen wurde.

Mit einem Keuchen, das von den Zimmerwänden hallt, schnelle ich hoch und erwarte fast, mich gefesselt vorzufinden. Aber meine Gliedmaßen sind frei, als ich mir die zerzausten Haare aus dem Gesicht wische und mich umschaue. Der Raum, in dem ich mich befinde, ist schlicht und nur spärlich möbliert, aber keinesfalls die Art von Gefängniszelle, die ich im ersten Moment erwartet habe. Hohe, weiß getünchte Wände, zwei Fenster, die allerdings mit Läden verschlossen sind und keinen Blick nach draußen erlauben. Schmale Lichtstreifen dringen durch die Lamellen und verraten mir, dass es Tag sein muss. Auch wenn ich keine Ahnung habe, wie spät es ist oder wie viel Zeit vergangen ist, seit der Helikopter mich vom Vesuv weggebracht hat.

Die Bilder stehen mir jetzt wieder gestochen scharf vor Augen. Alles, was sich von dem Moment an ereignet hat, als Santo im Morgengrauen vor der Villa in Tivoli aufgetaucht ist und den Anruf bekam, dass Marcellus aus dem Vesuv befreit werden sollte.

Die Augen weit aufgerissen starre ich die Wand an, ohne irgendetwas wahrzunehmen.

Santo und ich. Der Zorn darüber, dass er gelogen und mir so viel verheimlicht hat. Unsere halsbrecherische Fahrt nach Neapel, um den Vulkan zu erreichen, bevor die Immortali ihr Vorhaben umsetzen und Marcellus befreien konnten.

Wir haben es nicht rechtzeitig geschafft.

Und mir ist es auch nicht gelungen, den Vulkan zu stoppen, der nur Augenblicke vor einem gewaltigen Ausbruch stand. Mittlerweile muss es passiert sein, und alles in mir zieht sich vor Schmerz zusammen, wenn ich mir vorstelle, was das für die Großstadt Neapel und die umliegende Umgebung bedeutet. All die Menschen, die nicht mehr rechtzeitig fliehen konnten. Tausende müssen unter den Vulkanmassen begraben worden sein, tot in der Sekunde, als die Mischung aus unbegreiflich heißer vulkanischer Asche und giftigen Gasen die Hänge hinunterraste und sie einhüllte. Ein solcher Strom zerstört alles auf seinem Weg, und es gibt keine Chance, ihm zu entkommen.

Blinzelnd zwinge ich mich dazu, dieses Horrorszenario beiseitezuschieben und mich stattdessen wieder auf meine direkte Umgebung zu konzentrieren. Marcellus hat mich verschleppt, und irgendwie muss ich herausfinden, wo ich bin.

In meinem Zimmer befinden sich neben dem Bett, auf dem ich sitze, nur ein Kleiderschrank und ein altertümlicher Waschtisch mit Porzellangeschirr und einem Stuhl davor.

Meine Glieder sind noch immer schwer, aber ich steige aus dem Bett, um mich genauer umzuschauen. Meine Beine zittern, und die Jeans ist an mehreren Stellen aufgerissen und voller Staub. Ein Blick zurück aufs Bett verrät mir, dass auch die weißen Laken und Kissen von einem grauen Schleier bedeckt sind, den ich darauf hinterlassen habe. Immerhin scheint mich während meiner Bewusstlosigkeit niemand angerührt zu haben, um mich auszuziehen.

Zuerst tappe ich zur Tür und drücke probehalber die Klinke nach unten. Abgeschlossen, keine große Überraschung. Wenn ich bisher noch Zweifel hatte, dann ist mir spätestens jetzt klar, dass ich eine Gefangene bin. Ich habe es nicht geträumt, dass Marcellus mich verschleppt hat.

Der Kleiderschrank ist leer, es hängen nicht einmal Bügel auf der Kleiderstange – wahrscheinlich war es ihnen zu riskant, mich mit Gegenständen aus Metall alleine zu lassen, mit denen ich mich selbst verletzen oder sie als Waffe benutzen könnte. Das Geschirr auf dem Waschtisch stellt sich auf den zweiten Blick als Emaille heraus, was mich ebenfalls enttäuscht. Porzellan hätte ich zerbrechen und die Scherben als Klingen benutzen können.

Ich entdecke eine weitere Tür neben dem Schrank, die in ein angrenzendes Badezimmer führt. Es ist winzig, ohne Fenster und wie das Zimmer äußerst spartanisch eingerichtet. Aber gut, ich sollte wohl froh darüber sein, ein WC zu haben und keinen Nachttopf benutzen zu müssen.

Als Nächstes untersuche ich die Fenster. Meine Mundwinkel sinken nach unten, als ich entdecke, dass ich auch diese nicht öffnen kann. Neben den Griffen befinden sich winzige Schlüssellöcher, und sie sind gewissenhaft abgeschlossen. Frustriert schlage ich mit der geschlossenen Faust gegen den Rahmen, aber nichts tut sich.

Ein Laut bildet sich in meiner Kehle, mehr ein animalisches Knurren als ein menschliches Seufzen, und ich lasse es bewusst in mir aufsteigen. Die Erkundung des Zimmers hat mir ein wenig Zeit gegeben, um mich von den Gedanken und Gefühlen abzulenken, die sich wie ein Scheiterhaufen in mir auftürmen, der jeden Moment in Flammen aufgehen kann. Aber sie drohen mich noch immer zu überwältigen. Meine Kehle schmerzt von dem rohen Schmerz, der in mir wütet. Es ist zu viel, das auf mich einstürmt.

Es ist genau das passiert, wovor die Damnati mich unbedingt beschützen wollten. Ich bin in den Fängen der Immortali, die weiß die Götter was mit mir vorhaben, um ihre Ziele zu erreichen. Und ich zweifle nicht daran, dass sie vor nichts zurückschrecken werden, um mich zu zwingen, ihnen behilflich zu sein. Auch wenn ich unsterblich bin und der Tod keine Drohung für mich darstellt, gibt es genug andere Methoden, um mich gefügig zu machen, und ich bin mir sicher, dass sie sie alle beherrschen. Mehrere Hundert Jahre dürften mehr als genug gewesen sein, um ihre Fähigkeiten als Foltermeister zu vervollkommnen.

Ich zwinge einen abgehackten Atemzug in meine widerstrebenden Lungen, und meine Gedanken wandern zu Santo, Orela, Adone und Scuro. Innerhalb weniger Tage sind sie zu meinen Freunden und Vertrauten geworden. Was ist mit ihnen geschehen? Haben sie es rechtzeitig vom Vulkan heruntergeschafft, oder wurden sie unter den Lavamassen begraben?

Obwohl ich noch immer bis in die letzte Faser von Wut auf Santo erfüllt bin, ist die Vorstellung zu viel für mich, dass er dasselbe Schicksal wie ich erlitten haben könnte. Als Ewiglicher würde er so etwas überleben und bei vollem Bewusstsein in einem Gefängnis liegen, das ihn wie eine zweite Haut umschließt und zu absoluter Bewegungslosigkeit verdammt.

Das Bild, wie er zerschlagen auf dem Parkplatz am Vesuv steht und unaufhörlich meinen Namen brüllt, während ich mit dem Helikopter immer höher steige, ist wie mit Säure in meine Seele gebrannt.

Das kann es noch nicht gewesen sein, beschließe ich mit einer Entschlossenheit, die von Zorn und Sturheit genährt wird. Ich werde mich sammeln und dann von hier entkommen, koste es, was es wolle. Ich werde zu Santo zurückkehren und ihm die Abreibung verpassen, die er verdient hat. Und dann kann ich mich mit der Frage auseinandersetzen, warum da trotz allem noch immer diese brennende Sehnsucht in meiner Brust sitzt, die genauso dringend danach verlangt, ihn zu küssen, wie ihn zu schlagen.

Ich stehe noch immer am Fenster, die Stirn gegen das glatte Glas gepresst, als ich ein Geräusch höre, das eine eisige Welle durch meinen Körper schickt.

Das Knirschen eines Schlüssels im Schloss.

Mir bleibt keine Zeit, um zu überlegen, wie ich mich verhalten soll. Welchen Gegenstand aus dem kargen Zimmer ich mir schnappen soll, um zumindest das Gefühl zu haben, mich verteidigen zu können.

Die Tür schwingt auf, und eine Person tritt in mein Zimmer, deren Lächeln von Grausamkeit und Schmerz spricht.

Marcellus ist hier.