Ich bin nicht da

Inhalt

and you did your living around me

would you undress me repeatedly in public

to show how very noble and naked you can be

 

what would it sound like if you were the songwriter

and loving me was your unsung masterpiece

 

J. Tillman

Als der erste Anruf eingeht, knie ich mitten im Laden über dem großen Karton mit Mänteln, den der Kurier vorhin abgeliefert hat. Der Bildschirm meines Handys muss aufgeleuchtet sein, aber ich merke nichts, es liegt ein paar Meter von mir entfernt auf der Ladentheke, auf einem Stapel Seidenpapier. Nicht einmal die Vibrationen sind zu hören.

Ich habe nicht die leiseste Ahnung davon, was sich gerade, keinen Kilometer entfernt, im Büro von Think Out Loud abgespielt hat, noch von der panischen Nachricht, die Lotte gerade einspricht.

 

Dieser neue Laden gehört zu einer französischen Kette, die ungefähr siebzig Filialen über die ganze Welt verstreut betreibt. Neben mir auf dem nagelneuen Fliesenboden liegt ein Skript mit detaillierten Anweisungen: welches Kleidungsstück in welches Regal gehört, welcher Pulli mit welcher Hose kombiniert werden muss. Von jedem Modell darf nur eine Größe aufgehängt werden und erst, nachdem es sorgfältig gedämpft worden ist. Es gibt sogar Zeichnungen, wie die Schals und Ponchos zu falten sind. Es ist gut, dass ich in dieser Art von Arbeit aufgehen kann, einfach ausführen, was da geschrieben steht, die Welt draußen vergessen, alles, was mir im Kopf herumgeht, von mir schieben. Mich so weit wie möglich an den beruhigenden Gedanken klammern, dass an siebzig anderen Orten der Welt Männer und Frauen die gleichen Handgriffe verrichten, mit genau den gleichen Stoffen hantieren, in

Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich Teil einer Kette, und auf eine bestimmte Weise fühlt sich das nach Geborgenheit an – ich stehe buchstäblich weniger allein da.

 

Eine Figur, die in irgendetwas völlig aufgeht, sich des auf sie zurückenden Unheils nicht bewusst ist, mehr braucht es nicht, um die Spannung zu steigern. Das war eines der ersten Drehbuchprinzipien, die wir an der Filmakademie lernten: Gib den Zuschauern einen kleinen Wissensvorsprung gegenüber der Figur, mit der sie emotional mitgehen sollen, und sie werden vorn auf der Stuhlkante sitzen, werden laut rufen wollen, um sie zu warnen.

Ich sehe ihn noch vor mir, unseren Dozenten im Fach Drehbuchschreiben, der uns dieses Prinzip erklärte. Auf Beinen so dünn wie die eines Stativs stand er vorn im Saal und führte auf der weißen Leinwand hinter sich Filmszenen vor, die seine Theorie stützten – den Karton, den Detective Mills am Ende von Sieben öffnet und der, wie der Zuschauer bereits weiß, den abgehackten Kopf von Mills’ schwangerer Frau enthält. Oder Halloranns in die Länge gezogenes Betreten des Overlook Hotels in Shining, bei dem die Figur schließlich von Jack mit einer Axt umgebracht wird.

»Manchmal«, sagte er, »genügt die Bildführung. Seht euch an, wie die Kamera Hallorann von hinten folgt, während er den ausgestorbenen Gang betritt, man spürt, dass jeden Moment jemand hervorspringen wird.«

Nachdem wir den Ausschnitt betrachtet hatten, gab er uns die Aufgabe, bis zum nächsten Mal selbst eine ähnliche Szene zu schreiben, maximal fünf Seiten lang, in der wir diese Technik anwandten. »Es muss nicht jedes Mal jemand

 

Diese Szene hätte Maestro Stativbein garantiert entzückt: Eine junge Frau arbeitet in einem Laden, es ist Freitag, der 22. Februar 2019, wie auf dem Bildschirmschoner an der Kasse zu sehen ist, draußen ist es mild für die Jahreszeit. Es ist ihr erster Arbeitstag bei neuen Betreibern, sie will sich von ihrer besten Seite zeigen, sich nicht ständig mit ihrem Telefon beschäftigen, und deshalb hat sie es außer Reichweite auf den Ladentisch gelegt. Der Bildschirm mit dem eingehenden Anruf wird so gezeigt, dass klar wird: Dieser Anruf ist dringend, es geht um etwas Wichtiges, etwas, das man nicht ignorieren darf, ihn zu beantworten kann über Leben und Tod entscheiden, doch die Figur – verschwommen im Hintergrund – macht konzentriert mit ihrer belanglosen Aufgabe weiter.

Die Kamera gleitet langsam vom aufleuchtenden Bildschirm weg durch den Laden, vorbei an der Frau, die Plastikverpackungen aufreißt, Striche auf einer Liste macht, Preisetikette auf Schilder klebt, die verkaufsfertig gemachten Mäntel auf eine Kleiderstange hängt – wattierte Modelle, nach Farbe sortiert und von Small bis Extra Large laufend. Auch die wiederholte Meldung der Voicemail entgeht ihr.

Die Szene endet mit einem Top-Shot auf die Kartonstapel, die noch ausgepackt werden müssen, einem Detail der Mäntel, die alle auf exakt die gleiche Weise zusammengelegt sind, die Ärmel vorn zueinander zeigend, als wüssten die Mäntel, was gleich geschehen wird – sie beten bereits.

Mitten in der Nacht war Simon damit nach Hause gekommen. Er knipste das Licht über unserem Bett an. »Schau mal …!«

Ich schreckte aus tiefem Schlaf auf, gerädert, als hätte Simon mich mit dem Betätigen des Lichtschalters aus einer fernen Vergangenheit zurückkatapultiert und mein Körper sich in einer halben Sekunde durch ein ganzes Jahrhundert gepresst.

Daan, unsere Schildpattkatze, die zwischen meinen Knien auf der Decke geschlafen hatte, flitzte davon. Ihre scharfen Krallen kratzten über das Parkett. Das Kratzen war ein vertrautes Geräusch, plötzlich wusste ich wieder, wo ich mich befand und wer ich war, der Raum ringsum fiel auf seinen Platz zurück, die Zimmerdecke mit ihren Zierleisten, der Porzellanharlekin unter dem Glassturz auf dem Kaminsims, mein Pferdeschwanz, der mir am verschwitzten Rücken klebte, die Pappkrone auf meinem Kopf. Fünf Uhr vierzig zeigte der Radiowecker an. Hinter den Verdunkelungsvorhängen würde es gleich zu dämmern beginnen. Der Sommer war im Anzug, draußen zwitscherte der ehrgeizigste Vogel bereits. Vor einer Stunde hatte ich eine Schlaftablette genommen, das erklärte meine Benommenheit.

»Schau doch, Leo …!«, sagte Simon noch einmal. Er kam näher. »Wie findest du das?« Er hatte lange, dichte Locken, auffällig widerborstig, als würde ein unsichtbarer Föhn permanent einen kräftigen Luftstrom an seinen Hinterkopf blasen. Seine Haare waren gerade lang genug für einen kleinen Zopf, doch so trug er sie nur, wenn es windig war oder wenn er sich stundenlang ungestört über einen Entwurf beugen wollte.

Die Schuhe noch an den Füßen, kroch er aufs Bett. In der Hand hielt er ein abgezogenes Pflaster, das er neben mich aufs Kissen legte, die sterile Seite nach oben. Darauf waren

»Paul hat das gemacht. Das ist ein Stück Körperfläche, die einem nichts bringt, die Rückseite der Ohren, hast du dir die mal richtig im Spiegel angeschaut, die Stelle ist super geeignet für ein Tattoo, du selbst brauchst es nicht den ganzen Tag anzuschauen, du kannst es auch unter der Frisur verstecken, da war Paul ganz meiner Meinung, ich hatte auf einem Bierdeckel einen Entwurf gezeichnet und ihm die ganze Geschichte dahinter erzählt, und er war sofort einverstanden, das ist ein kleines Kunstwerk, hat er gesagt, ich bin ein Tattookünstler, Simon Spruyt, dein Spruitje, dein Rosenkohl, ein echter Künstler, Paul hat solche Tattoos bisher noch nie gestochen, ihm hat es richtig leidgetan, dass er dies hier nicht selbst entworfen hat.«

»Wer ist Paul?«, fragte ich.

Simon war sich der Dutzende entgangener Anrufe auf seinem Handy offensichtlich nicht bewusst. Er redete weiter, ohne meine Frage zu beantworten. Lange Sätze, fast ohne Atempausen. »Und Paul hat gesagt: ›Soll ich deinen Entwurf gleich verewigen, für fünfzig Euro?‹ Und ja, warum eigentlich nicht, hab ich mir sofort gedacht … Und sei es nur als Andenken an diesen tollen Abend, ich war noch nie so glücklich wie heute Nacht, glaube ich – ein Künstler! –, Paul hätte das nicht sagen müssen, ich wusste selber schon, als ich das Motiv gezeichnet habe, dass es gut war, was sag ich da, dass es genial war, dass ich damit weitermachen muss, es ist auf jeden Fall besser als alles, was Coen oder irgendeinem von den Kollegen einfallen würde, jetzt schau doch endlich!«

Simon zog seine Ohrmuschel so weit wie möglich vom Kopf weg und strich sich die Haare nach hinten, damit ich das Resultat bewundern konnte. Ich sah noch immer nichts.

Als er vierzehn war, hatte man Simons Segelohren

Bevor Simon die Operation hatte machen lassen, war er jahrelang gemobbt worden. Er hatte mir einmal davon erzählt, bevor wir in diese Wohnung zogen, danach hatte er nie mehr darüber sprechen wollen. Er hatte versucht, diesen Teil der Vergangenheit in einem verschlossenen Karton bei den übrigen abgenutzten Möbelstücken aus seinem Kinderzimmer zu lassen. Einzelheiten kannte ich nur von einigen dieser Mobbingaktionen: dass ein paar Jungs aus seiner Klasse einen riesigen Rosenkohl mit Segelohren auf die geflieste Wand in der Mädchentoilette gemalt hatten. Dass sie ihn auf dem Weg ins Gymnasium manchmal in den unterirdischen U-Bahn-Gängen festhielten und mit einem Finger, den sie erst in ihren Po steckten, Duftspuren hinter seinen Ohren auftrugen und ihn dann in der Schule daran hinderten, sich vor der ersten Stunde zu waschen. Und auf dem Karnevalsfest der Jugendorganisation hatte sich die ganze Gruppe abgesprochen, als Elefant verkleidet zu kommen. Simon lief den ganzen Tag im Super-Mario-Kostüm – blauer Overall und bemalte rote Kappe – mit hängenden Schultern in der Herde herum, umringt von einer Unmenge Elefantenohren aus grauem Karton.

Simon hatte auf eine Operation gespart. Für einen geringen Betrag hatte er begonnen, Visitenkarten, Werbeposter und -flyer für die kleinen Selbständigen im Viertel zu entwerfen, weil er seine Eltern nicht um das Geld hatte bitten wollen. Seine Mutter hatte gemerkt, dass Simon nachts durcharbeitete, um neben den Schularbeiten auch die bezahlten

Der korrigierende Eingriff hatte dem Mobbing kein Ende gemacht. Die Zeichnung hatte sich nie ganz von der Fliesenwand entfernen lassen, der Rosenkohl hatte ein korrigiertes Ohrenpaar erhalten, von Zeit zu Zeit wurde ein Netz Rosenkohl in seinen Turnbeutel ausgeleert.

Mit fünfzehn hatte Simon die Schule gewechselt. Er ging vom Sint-Pieterscollege in Jette zum Atheneum in Schaarbeek, wiederholte dort die vierte Gymnasialklasse, schmiedete neue Freundschaften und erzielte gute Noten. Dass er jemals gemobbt worden war, merkte ich nur noch an seinem eiligen Schritt, wenn wir zusammen durch U-Bahn-Gänge liefen, an der Tatsache, dass er andere Menschen mit großen oder merkwürdig geformten Ohren auf Anhieb sympathisch fand und dass er sichtlich getroffen sein konnte, wenn er Leute kennenlernte, die ein Jahr jünger waren als er, aber schon mehr im Leben erreicht hatten.

 

»Und? Siehst du’s? Was sagst du dazu?«

Ich rückte näher, sehr vorsichtig, als könnte jeden Moment jemand hinter seinem Ohr hervorspringen, um mir einen Schreck einzujagen.

Die Haut zwischen der Ohrmuschel und dem Haaransatz sah schmerzhaft gerötet aus. Unter einer Schicht vaselinartiger Salbe war eine Zeichnung zu erkennen, eine feine gepunktete Linie dicht entlang des Haaransatzes, die dem Umriss der Ohrmuschel ungefähr folgte, eine Art suggerierter Linie mit einer kleinen Schere daneben – wer hier schneiden würde, könnte ein zweites Ohr aus der Haut herausklappen.

Dieses Stückchen Haut war niemals, wie Simon gerade behauptet hatte, überflüssig gewesen. Es hatte bisher

Die Käserei hatte ich mir in der Hoffnung ausgedacht, Simon bei der Überwindung seiner Scham wegen der vielen kleinen Hautfalten zu helfen, die durch die Operation entstanden waren, und wegen des leicht säuerlichen Geruchs, den seine Ohren manchmal verströmten, weil sich dort so leicht Schweiß und Schmutz ansammelten.

»Sag was, Leo, reagier doch!«

Ich saß tatsächlich sprachlos da und sah ihn an. Nicht nur weil er sich ein Tattoo genau auf unserer Käserei hatte stechen lassen, sondern vor allem wegen der Art und Weise, wie er damit nach Hause gekommen war, wegen des merkwürdigen Gefühls, das mich beschlich, als ich ihn jetzt auf dem Bett sitzen sah.

Betrunken war er nicht, das hätte ich sofort gemerkt. Dann bewegte er sich wie Balu, der Bär aus dem Dschungelbuch, ein bisschen schlackrig und tollpatschig, der Körper wie ein zu großes Leihkostüm. Jetzt bewegte er sich zackig, mit knappen, spannungsgeladenen Bewegungen.

Auch Daan schaute ihn befremdet an in dem vergeblichen Versuch, sich mit ihrem plumpen gefleckten Körper hinter dem schmalen weißen Bein des Brabantia-Wäscheständers zu verstecken. Dieses Metallgestell stand schon seit ungefähr zwei Jahren permanent aufgeklappt in der Zimmerecke, ein verandaartiger Anbau an unserem riesigen Pax-Kleiderschrank. Wir zogen fast immer das an, was auf dem Ständer zu finden war, selten falteten wir etwas zusammen, selten landete etwas im Schrank.

»Simon, wer ist Paul? Und mach dir bitte das Pflaster wieder drauf.«

 

Um achtzehn Uhr dreißig – ich war schon eine Stunde von der Arbeit zu Hause – hatte ich nachgefragt, wo er denn bliebe. Und eine halbe Stunde später, beim Kochen, hatte ich ihm eine Nachricht mit der Frage geschickt, ob er eigentlich zum Essen käme. Noch immer keine Reaktion. Um zehn Uhr hatte ich gefragt, ob sie vielleicht noch an diesem Auftrag für die Oper arbeiteten, dessentwegen er seit Wochen Stress hatte, und erst da schrieb er zurück, dass er nicht zum Essen käme, dass sie den Termin locker geschafft hätten und das jetzt in einer Kneipe feierten. Um elf Uhr hatte ich geschrieben, ob sie ordentlich am Feiern seien, ob es nett sei, ob sie noch lange in der Kneipe bleiben würden, dass ich eine gefüllte Paprika für ihn aufgehoben hätte. Es war still geblieben.

Ich hatte Lotte eine SMS mit der Frage geschickt, ob Coen ebenfalls nach der Arbeit mit den Tollers, den Kollegen von Think Out Loud, in der Stadt hängengeblieben sei.

»Nein, der hängt neben mir auf dem Sofa, groggy.«

»Mit wem bist du unterwegs? Und weißt du, wo der Zettel mit dem WLAN-Passwort liegt?«, hatte ich gegen Mitternacht der Reihe meiner Nachrichten an Simon hinzugefügt, um aus der Qualität seiner Antwort ableiten zu können, ob und wie viel er schon getrunken hatte, doch auch auf diese Frage hatte er nicht reagiert. Erst viel später, um zwei Uhr: »Bin im Au Soleil mit Leuten! Hdl!« Danach war sein Handy

 

Den Rest der Nacht über hatte ich, obwohl ich mir vorgenommen hatte, es nicht zu tun, doch alle zehn Minuten in der Erwartung auf mein Handy geschaut, dass eine unbekannte Nummer mich kontaktiert hatte, jemand, der ihn am Straßenrand gefunden hatte, oder die Polizei, die ihn aus dem Kanal in Molenbeek gefischt hatte. Er würde unter einem weißen Laken am Uferrand liegen, auf der Höhe von Le Chien Vert, bei den unermüdlich ratternden grellbunten Windmühlen, die man entlang des gesamten Ufers hingesetzt hatte, um das Viertel herauszuputzen. Ich entschied, welche Krankenhäuser ich als Erstes anrufen würde, falls er bei Sonnenaufgang noch nicht zu Hause wäre, ich suchte mir schon mal die Telefonnummern heraus und machte Screenshots davon. Ich googelte »Was tun, wenn der Partner nicht nach Hause kommt«, begann, in allen möglichen Foren herumzuklicken. Jedes Verschwinden ist beunruhigend, bis feststeht, dass es nicht mehr beunruhigend ist!!! Ich suchte heraus, wie viele Sekunden man bei Bewusstsein bleibt, wenn man ertrinkt. Sah mir ein How-to-Video an, in dem jemand erklärte, wie man aus einem versinkenden Wagen herauskommt, als könnte das Simon noch irgendwie retten, obwohl er nicht mit dem Auto, sondern per Fahrrad unterwegs war. Ich schaute auf den Stadtplan, lokalisierte alle gefährlichen Kreuzungen, die, an denen Taxifahrer nach Mitternacht über rote Ampeln rasten, weil Brüssel dann ihnen gehörte.

Ich blieb im Bett, obwohl ich Hunger hatte und die Zeit langsamer verstrich, wenn ich nichts machte. Ich wollte nicht mit irgendwas Läppischem beschäftigt sein – angenommen, Simon stieß etwas zu, dann hätte ich für den Rest meines Lebens dieses Bild vor Augen: Ich, die ich gerade eine

Still, reglos lag ich da und lauschte den Rettungswagen, deren Sirenengeheul ununterbrochen über dem dunklen Brüssel lag, wie das Zirpen von Grillen in einem italienischen Tal. Sie waren allesamt wegen Simon unterwegs.

Ich hatte eine viertel Zopiclon eingenommen. Aufgezählt, was ich am meisten an ihm vermissen würde.

Wie er abwaschen konnte, die Spülbürste schwingend wie ein Dirigent, der ein Sinfonieorchester dirigiert, Schaumflocken, die bis an die Decke spritzen. Wie er hinter mir auftauchen konnte, wenn ich unter der Dusche stand, und dass er Big Bill Krakkebaas imitierte, lauthals »Ene me hesp of ene me kees« singend mit einem Finger zwischen meinen Pobacken entlangstrich, zwei Hälften eines Brötchens, die er großzügig belegte. Wie er nackt durch die Wohnung tapsen konnte, nachdem er sich geduscht hatte, mit seinem wohlgeformten Hintern und den schlanken Schenkeln. Die Wassertropfen auf seinem Rücken, seine nassen Fußstapfen auf dem Boden, die die Katze aufschleckte, das war das allerleckerste Wasser. Wie die ganze Wohnung von seinem Seufzer der Erleichterung erfüllt wurde, wenn er morgens sein dringendes Pinkelbedürfnis gestillt hatte, und wie gut das roch – Honey Pops, die einen Tag lang in Milch gelegen hatten. Dass ich jedes Mal, wenn er mit der Wange auf meiner Hand einschlief, über das Gesamtgewicht seines Kopfs erschrak und dass sein Hals den den ganzen Tag lang hatte tragen können.

Dass ich genau wusste, wie sein Steak gebraten sein musste – leicht blutig, nur ein Mal wenden. Dass wir es beide im Falle von Deckenbezügen mit unterschiedlichen Farben auf der Ober- und Unterseite angenehmer fanden, mit der helleren Seite nach unten zu schlafen. Dass wir, wenn wir völlig erledigt auf der Couch hingen und keine Lust hatten,

Wie hielten andere Leute es für gewöhnlich bei Trauergottesdiensten mit ihrer Abschiedsrede? Erst durch das Erzählen der intimsten Anekdoten würden andere verstehen können, wie viel Simon und mich verband, wie unersetzlich er war, wie kümmerlich ein Leben ohne ihn wäre.

Eine zweite viertel Zopiclon.

Seine Harnröhrenöffnung, die breiter war als alle anderen Harnröhrenöffnungen, die ich je gesehen hatte (nicht dass es schon so viele gewesen wären, er war mein zweiter Freund), und dass ich manchmal, während er Nachrichten schaute, seinen Pimmel aus der Hose nahm, die Eichelspitze so zusammendrückte, dass die Harnröhrenöffnung die Form eines Mundes bekam, ein erregt plappernder kleiner Mann, der sehr gut zur Stimme des Wetteransagers Frank Deboosere passte.

Dass er das alles zuließ, dass ich, egal wann, meine Hand in seine Hose stecken durfte. Dass ich auch seine erste lange Beziehung war. Dass wir uns im Bett gegenseitig Wasser in den Nabel träufelten, es warm werden ließen und den kräftigen Schnaps, den Wundertrank, danach ausschlürften.

Dass er so gut mit Kindern umgehen konnte, dass er wusste, wie ich meinen Tee mochte (zwei Canderel, den Beutel nur ein paar Sekunden lang eintunken und dann auf einer Untertasse aufheben, um ihn ein weiteres Mal benutzen zu können) und wie ich meine Butterbrote am liebsten aß (zusammengeklappt, beide Seiten mit Butter bestrichen, eine dicke Käsescheibe mit Senf). Sein Gesicht am Morgen beim Aufwachen, wie ein Ballon, in den erst noch ein bisschen Luft gepustet werden musste, der leichte Kompostgeruch

Ein drittes Viertel.

Und was wäre mit unseren Kosenamen, Pluis und Spruit? Die würde ich in einer Trauerrede nicht ohne weiteres preisgeben, andere könnten auf die Idee kommen, sie zu klauen.

Das letzte Viertel der Schlaftablette. Es war meine vorletzte Zopiclon aus einer Zwanzigerpackung, deren Verfallsdatum schon eine Weile zurücklag. Ich hatte sie verschrieben bekommen, kurz nachdem ich nach Brüssel umgezogen war, in einer Zeit, als ich wochenlang nicht hatte schlafen können, weil ich jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Autos auf mich zurasen sah und aufschreckte, doch seit ich Simon kannte, hatte ich sie kaum noch gebraucht. Seine Anwesenheit machte mich ruhig, und der Gedanke, dass die Pillen im Schrank lagen, die Möglichkeit, dass ich notfalls eine nehmen könnte, hatten bisher genügt.

Ich hatte die Geburtstagskrone genommen, die schon seit Jahren auf einem der Regalbretter über dem Bett lag, und hatte sie im Licht der Bettlampe ganz aus der Nähe betrachtet. Diese fröhliche, wunderschöne Krone hatte Simon vor acht Jahren, als wir gerade hierhergezogen waren, zu meinem Geburtstag aus einem Papierstreifen gebastelt. Er hatte mit Aquarellfarbe eine graue Brüsseler Straßenbahn daraufgemalt, die unendliche Runden um meinen Kopf drehte, die Nummer der Bahn hatte er jedes Jahr mit Tipp-Ex meinem neuen Alter angepasst.

Ich hatte mir die Krone aufgesetzt, das Licht im Zimmer ausgeknipst, und so hatte ich mich hingelegt. Wenn Simon gleich auf dem Nachhauseweg von einem Raser angefahren würde und bis zum Hals gelähmt wäre, würde ich die

 

Ich nahm die Krone ab und strich sie glatt. Mein Geburtstag war erst Ende Oktober, doch Simon schien sich nicht zu fragen, was das Ding auf meinem Kopf sollte.

»Paul ist der Tätowierer, den ich heute Abend im Au Soleil kennengelernt habe. Er hat einen Laden am Kolenmarkt, schräg gegenüber von der Kneipe. Paul & Friends.« Sein Ton hatte etwas Verärgertes – ich hätte das wissen müssen, das hätte man jederzeit parat haben müssen. Er saß noch immer mit Schuhen auf dem Bett, für die Uhrzeit zu laut sprechend.

»Seit wann wolltest du das denn, so eine Tätowierung? Ich hab nie was davon gehört.«

»Schon mein ganzes Leben lang«, sagte Simon. »Wie findest du es? Sag was!«

Ich war sauer, zu sauer, um eine Meinung zu diesem Tattoo zu haben. Die Erleichterung darüber, dass Simon lebend und wohlauf nach Hause gekommen war, war nach wenigen Sekunden bereits umgeschlagen – natürlich lebte er noch, was hatte ich denn gedacht? Es war seine Schuld, dass ich hier unnötigerweise stundenlang seine Beerdigung organisiert hatte. Und warum musste er sich so übertrieben lebhaft und aufgedreht benehmen – um mein vorheriges Gegrübel noch besonders lächerlich zu machen? Schau sie dir bloß an: das Nicht-Geburtstagskind, die Anstellerin.

»Weißt du, warum ich mir das Tattoo von Paul auf die rechte Seite habe setzen lassen?« Umständlich begann

»Weil du immer auf der linken Seite schläfst und es dich so weniger stören wird?«

»Ach was.« Er verdrehte ärgerlich die Augen. »Du kennst doch Coen, oder?«

»Natürlich kenne ich Coen.«

»Er hat neulich einen Auftrag von der Patisserie Paul reingeholt – das wusstest du schon, eigentlich sollte ich dir das nicht noch einmal erzählen müssen, aber egal –, er darf also die neuen Brottüten entwerfen, und jetzt habe ich ein Tattoo gezeichnet, das mir jemand gestochen hat, der auch Paul heißt, ist doch kaum zu glauben, oder? Das wusste ich nicht, als ich den Mann im Au Soleil kennengelernt habe, dass er Tätowierer ist, dass er Paul heißt, das Universum hat einfach ein bisschen mitgeholfen.« Er sprach schnell und ohne Pause.

»Und warum dann genau hinter dem rechten Ohr?«

»Weil ich Rechtshänder bin, tiens, und Coen sitzt im Büro rechts hinter mir, und dass es in his face ist, war auch ein guter Grund, fand ich.«

Ich verstand nichts, fragte aber nicht weiter. Das war ein Fremder, der Simon zu sein versuchte, jemand, der in Simons Haut geschlüpft war, aber nicht richtig hineinpasste und sich mordsmäßig anstrengte, sich wie Simon zu bewegen, ohne dass die Haut riss, daher die zackigen Bewegungen.

»Machst du das Licht aus?« Ich fragte im Flüsterton, in dem Versuch, Simons Stimme zu dämpfen.

»Ein bisschen Begeisterung würde dich nicht umbringen, Pluis.«

»Tut mir leid. Ich habe vor zwei Stunden eine Zoppi geschluckt, ich bin müde und groggy.«

Er nickte. Er ging nicht darauf ein, fragte nicht, warum ich nach dieser ganzen Zeit wieder eine Pille genommen hatte. Es

»Warum lagst du eigentlich im Bett und das Licht war noch an?«, fragte er.

»Du hast es selbst angemacht.«

»Echt?« Im Dunkeln legte er sich neben mich. Er hatte feuchtkalte Füße, die er an meine drückte.

»Simon, habt ihr den Termin am Ende geschafft?«

»Den Termin?«

»Die Werbekampagne für die Oper, die heute fertig sein musste?« Wochenlang hatte Simon seine gesamte Zeit darauf verwendet, war um seinen Computer gekreist wie eine Fruchtfliege um ein Stück überreifer Banane, jeden Tag hatte er mir Zwischenstadien seiner Entwürfe gezeigt, ich hatte ihn weitestgehend von allen Haushaltspflichten befreit, damit er sich voll konzentrieren konnte. Vorgestern hatte er sich entschlossen, die Schrift doch noch zu ändern, und mich bestimmt zehn Mal nach meiner Meinung gefragt.

»Ach so, das. Ja, hat geklappt. Die haben sofort reagiert, sie finden es toll.«

»Und wie fanden sie die Schrift, für die du dich zum Schluss entschieden hast? Haben sie sich persönlich bei dir bedankt für die ganzen Nachtschichten? Willst du mir das nicht kurz erzählen?«

»Sie fanden es toll, Pluis, das hab ich dir doch schon gesagt. Und jetzt lass mich mal in Ruhe mit dieser ganzen kritischen Fragerei.«

Wir lagen eine Weile stumm im Bett. Ich lag näher am Rand als sonst. Unter einem Glassturz auf dem Kaminsims im Wohnzimmer stand die zusammengeklebte Porzellanfigur, ein kleiner Violine spielender Harlekin, der einst meiner Mutter gehört hatte. Die Atmosphäre im Raum war angespannt.

»Simon, hast du irgendwelche Drogen genommen?«

Im Halbdunkel setzte er sich wieder auf und beugte sich über mich. »Meinst du das ernst, Leo? Ich bin einfach glücklich, dafür brauche ich nichts.« Er klang so enttäuscht, dass ich wusste, er sagte die Wahrheit.