ELISABETH
HERRMANN
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ISBN 978-3-641-17297-8
V002
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Für Shirin,
die mich über all die Jahre und
Bücher hinweg so liebevoll begleitet hat.
1
Ich hatte Johnny bis zu dem Tag, an dem er mir vor die Füße fiel, nur ein paar Mal aus der Ferne gesehen.
Eigentlich hieß er Johannes Paul Maximilian von Curtius, ein Name, mit dem man vielleicht jenseits der Dreißig ein erstauntes Heben der Augenbrauen ernten kann, aber nicht, wenn man kurz vor dem Abi steht und zur coolsten Clique der ganzen Schule gehört. Wie er sich selbst nannte, habe ich nie erfahren. Die anderen riefen ihn Johnny. Viel mehr wusste ich nicht von ihm und seinen Freunden, die alle so etwas wie ein geheimnisvolles dunkles Leuchten umgab. Keiner kam an sie ran, und ich hatte in der kurzen Zeit, in der wir dasselbe ehrwürdige Schulportal durchschritten, tatsächlich andere Sorgen.
Vielleicht ist es an dieser Stelle ganz gut, wenn ihr wisst, mit wem ihr es zu tun habt. Ich heiße Lana und ich dachte bis zu diesem Moment, in dem Johnny vor mir auf dem Kopfsteinpflaster lag, dass es mein einziger Wunsch wäre, so normal wie die anderen zu sein. Später sollte sich das relativieren. Da wollte ich eigentlich nur noch am Leben bleiben, aber der Reihe nach.
Ich habe in meinen kaum zwanzig Jahren öfter die Schule gewechselt als andere ihre Zahnbürste. Mein Vater arbeitete für ein großes Energieunternehmen, und erst als es so richtig krachte mit Russland und den Pipelines, war auch für mich endlich Schluss mit dem ganzen Zirkus. Internationale Schulen, das möchte ich hier mal allen sagen, die damit angeben wie eine Tüte Mücken, sind sch… schwierig. Kaum lernst du neue Freunde kennen, verschwinden sie auch schon wieder. Kaum hast du dir die Namen deines Sitznachbarn gemerkt, heißt es beim Abendessen: In drei Wochen geht es nach Moskau, Houston oder Kapstadt. Klingt irre. Ist es auch. Was ich gelernt habe in dieser Zeit, ist, sein Herz nicht an große Kuscheltiere und Menschen zu verschenken. Beide passen nicht in Koffer.
Dann kam irgendetwas mit Finanzkrise, mein Dad verlor den Job, und wir zogen zurück nach Hause. Oder wie man diese Kleinstadt irgendwo zwischen Oberhessischer Tiefebene und Sauerland nennen soll. In L. sprachen die Menschen nicht deutsch, sondern einen Dialekt, den ich zunächst für eine Fremdsprache hielt. Wenn man fünfmal nachfragte und an jemanden mit Geduld geriet, erfuhr man, dass »Schtuhl de raa hiho«« übersetzt bedeutete: »Stell dein Fahrrad bitte woanders hin«, oder so ähnlich. Ich bekam mit siebzehn ein Auto. »Schtuhl de aa hiho« konnte ich dann schon selbstständig zu einem sinnergebenden Satz ergänzen.
Ich war die Einzige aus meinem Jahrgang mit einem eigenen Auto, also ließ ich es zu Hause stehen. Richtig viel half das auch nicht. Ich kam mit den Leuten nicht zurecht. Vielleicht lag es daran, dass mir das Abschiednehmen leichter fällt als das Ankommen. Dass ich nie echte Freunde hatte. Dass die meisten schüchternen Leute als arrogant wahrgenommen werden … Ich weiß es nicht. Das Auto war nach sechs Monaten sowieso weg, weil mein Dad die Leasingraten nicht mehr bezahlen konnte. Er setzte sich immer öfter Richtung Frankfurt ab und eines Tages war er völlig von der Bildfläche verschwunden. Für meine Mutter tat es mir leid. Sie hat ziemlich darunter gelitten. Der Klatsch in der Kleinstadt, das falsche Mitleid der Leute, die sie noch von früher kannte … Und vielleicht fehlte ihr Dad auch tatsächlich. Sie hat nicht darüber gesprochen und ich habe nicht gefragt. Er war früher nie dagewesen und jetzt war er auch nicht da. So groß war der Unterschied für mich nicht.
Um die Sache abzukürzen: Ich kämpfte mich durch bis zum Abi, um danach den ersten besten Studienplatz zu ergattern und abzuhauen. Einfach dahin, wohin das Schicksal mich trug.
Es war ausgerechnet Berlin.
Irgendwann nach diesen Erstsemesterwochen, in denen du nicht mehr weißt, wie du heißt (»Lana.« – »Aber hier steht Helena, Helena Thalmann.« – »Ich weiß, was da steht. Aber ich heiße Lana.«), wenn du deine Tasche im Studentenwohnheim ausgepackt hast und dir deine vier kahlen Wände schöner vorkommen als jeder Palast, wenn du dich auf dem Weg von der Cafeteria zum Hörsaal nicht mehr verläufst und sich aus der Masse langsam das eine oder andere bekannte Gesicht herausgeschält hat, irgendwann, wenn du begreifst, dass du Teil dieses riesigen Ameisenhaufens bist und du dich nicht verloren, sondern in der Anonymität der Masse aufgehoben fühlst, darin verschmilzt … Mittendrin in diesem Hochgefühl des Anfangs kommt der Moment, in dem du wieder bist, was du bist: ein Nichts.
Johnny ging an mir vorbei.
Ich wollte noch so etwas Geistreiches wie »Hallo! Du bist auch hier?« sagen, da sah ich ihn nur noch von hinten. Eine hohe, düstere Gestalt, umgeben von der Aura des Unantastbaren, der die Leute im Gang auswichen. Er trug einen bodenlangen schwarzen Mantel und die Haare fast bis auf die Schulter, und er sah aus wie ein Vampir aus verarmten rumänischen Adelskreisen. Er hatte mich nicht erkannt. Blödsinn. Er hatte mich noch nicht einmal wahrgenommen.
Wir begegneten uns noch ein paar Mal. Eines Mittags setzte ich mich in der Mensa an seinen Tisch, weil um ihn herum die einzigen freien Stühle waren. Er sah gar nicht hoch, hing an seinem Smartphone, aß gedankenverloren ab und zu eine Gabel Kartoffelbrei, die er in der Linken hielt und die er selbst bei einer so banalen Tätigkeit – man stelle sich vor! Kartoffelbrei essen! – bewegte wie ein ermatteter Dirigent seinen Stab nach der dritten Zugabe. Also alles in allem eine ebenso elegante wie erschöpfte Erscheinung. Ich wollte gerade den nächsten großartigen Satz aus meinem internationalen Repertoire anbringen, »Long time no see«, als er wortlos aufstand und ging. Das Tablett ließ er stehen.
So viel zu Johnny.
Ich weiß noch, wie ich ihm nachsah, als er mit seinem wehenden schwarzen Mantel die Mensa verließ. Fast alle Frauen sahen ihm hinterher. Und auch eine Menge Männer, die wissen wollten, warum die Frauen sich auf einmal die Hälse verrenkten. Johnny schien das alles nicht zu bemerken. Er war wie von einem anderen Stern. Noch lange nachdem die Tür hinter ihm zugefallen war, sah ich ihn vor mir in L. mit den anderen. Keine grandiose Erinnerung, ehrlich gesagt. Es musste kurz nach meiner Aufnahme dort gewesen sein, denn ich wusste noch nicht, dass diese Clique so etwas wie Außerirdische waren. Johnny ging mit ihnen über den Hof zu den Tannen, unter denen ein paar Bänke standen. Jemand sagte etwas und er lachte. Dieses Lachen war wie das Aufreißen des Himmels nach wochenlangem schwerem Regen. Es ließ die Sonne durch. In seinem Gesicht stand noch nichts von der Düsternis, die ihn ein paar Jahre später in Berlin umwölken sollte. Dunkle schmale Augen, in denen Klugheit und Witz blitzten (dachte ich, allerdings nur bis zu dem Moment, in dem er den Mund aufmachte …), hohe Wangenknochen, ein fein gezeichneter Mund. Schon damals wirkte er wie aus einem russischen Roman entstiegen: geheimnisvoll, mit einer freundlichen Aufmerksamkeit, die einen trotzdem auf Abstand hielt. Ich stand da und sah ihn an, ihm fiel es auf, ich wurde rot, die anderen drehten sich zu mir um, und er sagte: »Dein Schnürsenkel ist auf.«
Das waren die einzigen Worte, die er je an mich gerichtet hatte. Bis zu diesem Moment, in dem er vor mir am Fuß der Treppe lag, die er gerade hinuntergestürzt war.
»Verdammte Scheiße!«, fluchte er.
Wahrscheinlich war er über seinen Mantel gestolpert. Mir wäre das in seinen Klamotten ein Dutzend Mal am Tag passiert. Seine Aktentasche war aufgegangen. Bücher, Stifte, Zettel und ein Schlüsselbund lagen malerisch drapiert auf den Pflastersteinen. Ich ließ meine Tasche fallen und wollte ihm die Hand reichen, um ihn hochzuziehen, aber er stöhnte auf und betrachtete mit schmerzverzerrtem Gesicht sein Bein.
»F***!«
»Kann ich irgendwie helfen?«
Er war blass. Seine dunklen Augen lagen tief in den Höhlen, und ich erschrak, als ich ihn aus der Nähe sah. Der Paradiesvogel hatte ziemlich Federn gelassen, seit er aus dem Nest gefallen war. Er schien mir dünner und irgendwie durchsichtig, trotzdem sah er atemberaubend gut aus.
Ein paar andere Studenten, fast alles junge Mädchen in meinem Alter, blieben erschrocken stehen. Die meisten mussten den Sturz mitbekommen haben, ich nicht. Ich hatte wie immer mit der Nase im Vorlesungsverzeichnis gesteckt, um noch einen der begehrten Forschungssemesterplätze für Pupillenreaktion oder Zeitbezüge im menschlichen Gedächtnis zu ergattern. Ach so: Ich studiere kognitive Psychologie. Niemand hatte mir bis zu diesem Moment erklären können, wie Menschen ticken. Aber naiv, wie ich war, redete ich mir ein, vielleicht an der Uni die Antwort finden zu können.
Johnny röchelte. Er verdrehte die Augen. Sein Kopf fiel nach hinten und dann zur Seite.
»Ist er ohnmächtig?«, fragte eines der Mädchen und fiel vor ihm auf die Knie. Das würde ihm gefallen, wenn er es mitbekommen würde, dachte ich.
Die anderen drängten sich wild spekulierend um sie herum, ich rief den Notarzt.
Er war erstaunlich schnell da. Mittlerweile hatten sich ein paar Dutzend Schaulustige versammelt und Johnny war noch nicht wieder bei Bewusstsein. Ich begann, mir gelinde Sorgen zu machen. Er wurde auf eine Trage verfrachtet, die Mädchen, die sich mittlerweile aufführten, als hätten sie einen jungen Hund aus dem Tierheim adoptiert, trugen ihm alles hinterher.
Alles, nur eines nicht. Als ich meine Umhängetasche hochnahm, klirrte es. Johnnys Schlüsselbund. Ich hatte meine Tasche in der Hektik direkt darauf abgestellt. Der Krankenwagen fuhr schon los. Ich sprintete hinterher, konnte ihn aber nicht mehr einholen.
»Wohin bringen sie ihn?«, fragte ich das Mädchen, das vor Johnny auf die Knie gegangen war.
»In die Charité, glaube ich.«
»Nein«, sagte die, die ihm die Sachen hinterhergetragen hatte. »ins St.-Hedwigs, wenn er katholisch ist.«
»Und wenn nicht?« Die Gruppe ging weiter und diskutierte, ob und wie man Ohnmächtigen die Konfession ansehen konnte. Ich blieb mit dem Schlüsselbund in der Hand vor den Stufen stehen. Immerhin. Nach »Dein Schnürsenkel ist offen« hatte sich unsere Konversation auf »F***!« und »Verdammte Scheiße!« erweitert. Das war doch ein Anfang, oder?
Ich dachte, dass es eine gute Idee wäre, am Nachmittag bei ihm vorbeizusehen und ihm den Schlüssel zu bringen. Ich war neugierig und wollte wissen, warum er offenbar ohne seine Freunde in die von L. am weitesten entfernte Großstadt gezogen war. Dann aber fiel mir der Schlüsselanhänger auf: eine kleine Plakette. Auf ihr stand die Ziffer III/24. Ich hatte einen ganz ähnlichen Anhänger an meinem Schlüssel. Ich wohnte in Haus II, Zimmer 15.
Den ganzen Vormittag über versuchte ich, nicht daran zu denken. Aber immer wieder holte ich meinen Zufallsfund heraus und betrachtete ihn. Es war ein seltsames Gefühl, etwas zu besitzen, das im wahrsten Sinne des Wortes die Schlüssel zu Johnny waren. Ich ließ das letzte Seminar sausen und wollte in die Charité, ich hatte es wirklich vor!, fand mich dann aber in der U-Bahn Richtung Wedding und fuhr nach Hause.
Mein Kopf war wie leer gefegt, als ich nicht in meinen, sondern in seinen Wohnblock ging. Jede einzelne Stufe hinauf in den zweiten Stock wusste ich, dass ich das nicht tun sollte. Vor seiner Tür blieb ich stehen und sah mich um. Niemand war zu sehen. Ich steckte den Schlüssel ins Schloss, drückte die Klinke runter und trat ein.
2
Die Tür ließ sich genauso leicht öffnen wie meine ein Haus weiter. Die Flure sahen sich zum Verwechseln ähnlich, nur dass sie in einer anderen Farbe gestrichen waren. Johnnys Block erstrahlte in einem dezenten Himmelblau. Weiß der Geier, was sich die Erbauer dieser Schuhkartons dabei gedacht hatten.
Ein klitzekleiner Vorraum mit eingebautem Schrank, Dusche und Klo rechts statt links, ansonsten hätte ich mich hier auf Anhieb zu Hause fühlen können, wenn … wenn es denn ein Zuhause gewesen wäre. Vorsichtig öffnete ich die Tür zu dem einen Zimmer, das zum Wohnen, Schlafen, Lernen, Essen, Lieben herhalten musste. In der Ecke standen zwei aufgerissene Umzugskartons, aus denen Klamotten quollen. Das Bettzeug war zerwühlt, also lebte Johnny hier, und auf dem Tisch lagen Zettel und Bücher wie bei jedem anderen Studenten wild durcheinander. Obwohl das Semester schon seit einigen Wochen lief, schien es so, als ob er noch gar nicht angekommen wäre.
Draußen auf dem Flur näherten sich Schritte. Ich hielt den Atem an. Zeit, sich umzusehen und zu begreifen, dass ich ab jetzt ein Geheimnis über mich kannte, das ich mit niemandem in meinem ganzen Leben teilen würde: Lana, die Stalkerin. Was, wenn Johnny frühzeitig entlassen wurde und er gerade jetzt zur Tür hereinkäme? Der zweite Stock war nicht hoch genug, um sich in letaler Absicht aus dem Fenster zu stürzen. Außerdem war das Fenster geschlossen und die Riegel hatten einen komplizierten Mechanismus. Ich würde es ertragen müssen, unter Johnnys Blick zu einem rauchenden Fleck auf dem Laminatboden zu mutieren.
Die Schritte verharrten vor der Tür. Ich kniff die Augen zusammen und schloss den Mund. Als ob das helfen würde!
»Johnny?«
Eine Männerstimme. Jemand klopfte. Wenn dieser jemand jetzt die Klinke hinunterdrückte und die Tür öffnete …
»Bist du da?«
Ich war versucht, den Kopf zu schütteln, blieb aber nur wie schockgefroren stehen. Sekunden dehnten sich zu einer Ewigkeit. Endlich, endlich entfernte sich der Unbekannte.
Ich atmete auf und trat einen Schritt zurück – genau gegen einen Papierkorb aus Blech. Er fiel scheppernd um und zerstreute seinen Inhalt auf dem Boden. Es gab nichts, aber auch gar nichts in diesem Zimmer, hinter dem ich mich hätte verstecken können. Aber Johnnys Kumpel war wohl schon zu weit weg oder er hatte etwas an den Ohren, jedenfalls blieb es still, und das lange genug, dass ich mich leise verfluchen und den Papierkorb wieder aufrichten konnte.
Als ich den verstreuten Inhalt einsammelte, hielt ich auf einmal ein zerknülltes Gruppenfoto in der Hand, und ein kurzer Blick darauf genügte, um es auseinanderzufalten. Ich wusste, dass das falsch war. Mit jedem Gesicht, das aus den Knitterfalten auftauchte, wusste ich es mehr. Denn es war, als stünden sie hinter mir oder hätten die ganze Zeit unsichtbar in diesem Zimmer auf mich gewartet. Das war es, was mich hergetrieben hatte. Die Neugier auf die Vergangenheit, die so viel treibender sein kann als die auf die Zukunft.
Ein elfenzartes, wunderschönes Mädchen – die Eisprinzessin hatte ich sie heimlich getauft. Siri, war das ihr Name? Dann der King, Joshua. Er hatte immer alle um sich geschart. Sie angezogen wie ein Magnet die Eisenfeilspäne. Wie ein Licht die Motten. Wie ein König seinen Hofstaat … Der Court, jetzt fiel es mir ein. So hatte jemand einmal diese Gruppe genannt. Neben Joshua erschien das Bürokratengesicht eines Jungen, an dessen Namen ich mich nicht erinnern konnte. Weitere Bilder, noch mehr Gesichter. Sie waren sieben. Sieben, als hätten sie sich bewusst diese magische Zahl ausgesucht.
Es war nur ein zerknülltes Gruppenfoto, aus dem Müll gefischt. Und es schien so, als ob Johnny nichts mehr von ihrer Magie hielt. Oder er hatte einfach mit ihnen abgeschlossen. Während ich mit klopfendem Herzen in seinem Zimmer stand und das Gefühl nicht loswurde, dass für mich gerade etwas begann.
Sie mussten an einem See sein, im Hintergrund glitzerte Wasser. Sie hatten es irgendwie geschafft, sich alle gegenseitig zu umarmen und trotzdem in die Kamera zu lachen. Die Abendsonne vergoldete ihre Gesichter. Eine leichte, flatterhafte Fröhlichkeit lag über dieser Gruppe, ein so unangestrengtes Selbstbewusstsein, dass ich im ersten Moment mit nichts anderem als Neid und Eifersucht reagieren konnte. Sie hatten alles, was mir fehlte. Sie sahen blendend aus, jeder Einzelne von ihnen, und sie hatten im Drachenblut der Freundschaft gebadet, das unverwundbar machte, Lindenblatt hin oder her. Mit brennenden Augen starrte ich auf das Foto, und ich begriff zum ersten Mal, wie es Johnny gehen musste. Wo waren sie hin, die Freunde? Warum studierte keiner von ihnen in Berlin? Sie wären mir aufgefallen, irgendwann, irgendwo. Aber alles, was mir an Johnny bis jetzt bemerkenswert vorkam, war eine eisige Aura der Unantastbarkeit und Isolation. Er war gestrandet, allein. Vorsichtig knüllte ich das Foto zusammen und legte es zurück in den Papierkorb.
Auch die anderen Papiere sammelte ich wieder ein: vollgekritzelte Blätter, eine Wanderkarte in einer Sprache, die ich nicht kannte, Prospekte, zerfetzte leere Briefumschläge, und was man sonst noch so alles wegwirft. Ich fühlte mich wie einer dieser Paparazzi, die die Mülltonnen hinter den Häusern von Filmstars durchsuchen, und wünschte mir, so schnell wie möglich verschwinden zu können. Ich wollte gerade aufstehen, da sah ich den Briefumschlag. Er war unter den Schrank geschlittert. Zu meiner Ehrenrettung sei hier gesagt, dass er offen war und die Karte halb herauslugte. Auf den ersten Blick las ich nur seinen ewig langen Namen.
Hiermit erlauben wir uns,
Johannes Paul Maximilian von Curtius
zu einer Reunion des Freundeskreises von L. nach
Karlsbad, Grandhotel Pupp, am
Freitag, den 13. dieses Monats,
einzuladen.
U.A.w.g.
an die Rezeption des Hotels
Keine Unterschrift. Ich wendete die Karte – nichts. Freitag, der 13. dieses Monats war – heute. Da musste jemand ordentlich Asche haben! Zudem war der Text der Karte bis auf den Namen in Lettern auf schweres Bütten gedruckt, und der »Freundeskreis von L.« bestand, wenn man das Gruppenfoto als Vorlage nahm, aus sieben Personen. So ein Aufwand für sieben Leute? Und dann landete alles unter einem halben Kubikmeter Trash im Papierkorb?
Grandhotel Pupp in Karlsbad. Ich muss gestehen, dass europäische Geografie nicht gerade mein Steckenpferd ist. Tschechien, oder? Wenn man Jahre seines Lebens in den Arabischen Emiraten oder Südafrika verbracht hat, fühlt sich der Coolnessfaktor von Tschechien vielleicht etwas unterdurchschnittlich an. Trotzdem hatte der Absender es verdient, nicht so rüde behandelt zu werden. Allerdings – weder auf der Karte noch dem Umschlag war er vermerkt.
Nicht deine Baustelle, Süße.
Der Schlüssel musste zurück zu seinem Eigentümer. Und der konnte mit seinen Fotos und seinen Einladungen machen, was er wollte.
Dachte ich wenigstens.
3
Man muss es ihnen lassen: Sie sind auf Zack in den Krankenhäusern. Keine Auskunft, keine Zimmernummer. Aber wenigstens ließ sich der Mann am Empfang der Charité dazu herab, Johnny anzurufen. Das Zauberwort »Schlüssel« gab sein Übriges: Ich durfte zu ihm. Rauf in den achtzehnten Stock.
Er lag zusammen mit zwei anderen jungen Männern, die offenbar gerade gemeinsam einen mittelschweren Verkehrsunfall überstanden hatten. Für einen Schwerkranken sah Johnny ziemlich angezogen aus: Er trug dieselben Klamotten wie am Morgen, bis auf den Mantel und die Schuhe natürlich. Schwarze Jeans, ein T-Shirt in einem ausgewaschenen Braunton, dessen Aufdruck nicht mehr zu erahnen war. Als ich hereinkam, wandte er mühsam den Kopf und versuchte ein schwaches Lächeln.
»Hi«, sagte er.
»Hallo«, erwiderte ich. Vor seinem Bett stand ein Stuhl.
»Setz dich.«
»Ich hab nicht viel Zeit.« Vorsichtig legte ich den Schlüsselbund auf seinem Nachttisch ab. Ich hatte ihn die ganze Fahrt mit dem Lift in der Hand gehabt. Er schien zu glühen. »Ich muss gleich wieder. Wollte nur wissen, wie es dir geht.«
»Wir kennen uns, oder?« Er musterte mich.
Jetzt glühten auch meine Ohren. Wenn Johnny einen ansah, hatte man das Gefühl, der einzig wichtige Mensch auf dieser Welt zu sein.
»Aus L. Ihr wart zwei Klassen über mir.« Ich setzte mich. »Nach dem Abi wart ihr weg. Und dann laufe ich dir ausgerechnet in Berlin über den Weg.«
Strategische Pause. Seine Chance, die Dinge geradezurücken und Sachen zu sagen wie: Ja, klar! An der Uni, nicht? Aber die Pause dehnte sich zu einem etwas peinlichen Schweigen, bis ich mich dezent räusperte und sagte: »Wir studieren beide an der Humboldt.«
»Ach ja?«
Ja, Trottel.
Er griff nach einer Fernbedienung, um das Kopfteil seines Bettes hochzufahren. Dabei ließ er mich nicht aus den Augen. Sein Blick vermittelte immer noch ein Höchstmaß an Interesse, aber das schien sich jetzt mehr auf sein eigenes Erinnerungsvermögen zu beziehen.
»Ist auch egal«, unterbrach ich seine Suche nach mir in den abgelegenen Regionen seines Langzeitgedächtnisses. »Was ist aus den anderen geworden?«
»Welchen anderen?«
»Deinen Leuten. Die, mit denen du in L. immer zusammen warst.«
Er presste die Lippen aufeinander und wandte den Kopf ab Richtung Fenster. »Vom Winde verweht«, sagte er schließlich. Es sollte vielleicht cool wirken, aber in Wirklichkeit klang es traurig.
»Das tut mir leid.«
»Muss es nicht.« Er sah mich wieder an. Ich wusste, dass er braune Augen hatte, aber in diesem Moment schienen sie von innen heraus zu glühen. Vielleicht war es auch nur ein Lichtreflex der Sonne, die draußen schien. Wir hatten gerade einen Traumherbst, mit warmen Tagen, an die sich eine lange, dunstige Dämmerung schmiegte. Nicht mehr lange, wie die Meteorologen immer wieder mit unheilvollem Unterton prophezeiten. Irgendwo über dem Atlantik braute sich wohl gerade eine Gewitterfront zusammen, die sich gewaschen hatte. Hagel, Blitz und Donnerschlag. Orkanartige Böen, Sturmwarnungen, Temperaturstürze um zwanzig Grad und noch eine Menge mehr aus der meteorologischen Waschküche. Bis es so weit war, genossen wir die Verlängerung des Sommers wie einen geschenkten Eisbecher.
Er sagte: »Wir wollten uns eigentlich bald wieder mal treffen.«
Ich weiß, wäre es mir um ein Haar herausgerutscht. Heute. In einem Grandhotel in Tschechien, ihr Glückskekse. Aber ich hielt den Mund.
»Wie geht es dir?«, fragte ich stattdessen. »Irgendwelche bleibenden Schäden?«
Sein Lächeln war schwach wie ein verletzter Vogel. »Ein blauer Fleck am Knie und eine Gehirnerschütterung. Sie wollen mich ein paar Tage zur Beobachtung hier lassen. Es ist …« Er suchte nach Worten. »… ärgerlich.«
»Wie ist das passiert?«
»Keine Ahnung. Ich bin gestolpert. Kopf in den Wolken. Wie auch immer. Seltsam, dass du nach meinen Freunden fragst.«
Mein Herz setzte für einen Schlag aus. »Warum?«
»Ich kann mich … kaum … an dich erinnern.«
Ich zuckte mit den Schultern und hoffte, dass es so belanglos aussah, wie es wirken sollte. »Ich war neu an der Schule und ihr wart so etwas wie … Götter.«
»Götter …« wiederholte er. »Und zwei Klassen unter uns. Dann warst du fünfzehn, sechzehn damals, nicht wahr? Das entschuldigt vieles.«
»Es ist lange her.«
»Du hast uns wirklich für Götter gehalten?«
Der Typ vom Bett nebenan ließ kurz sein Smartphone sinken und schielte zu uns herüber. Wahrscheinlich brachte er Johnnys blasse Gestalt mit meiner einstigen Verehrung nicht auf einen Nenner. Wenn er das Wort Götter noch einmal erwähnte …
»Ich wiederhole nur, was mir zugetragen wurde«, antwortete ich spitz. Der Nerd kümmerte sich wieder um seine Nachrichten oder Youporn-Videos. »Ein paar Monate später habt ihr den Abgang gemacht und wart Geschichte. Für mich zumindest. Im Übrigen sind wir uns an der Uni ein paar Mal begegnet.«
»So?«
Für dieses »So« allein hätte er schon die nächste Gehirnerschütterung verdient.
»Gute Besserung.«
Ich wollte aufstehen. Seine Hand hielt meinen Arm fest. »Geh noch nicht. Bitte. Wie heißt du?«
»Lana.«
»Lana. Es ist wirklich seltsam. Jahrelang habe ich diese Zeit verdrängt, und jetzt, auf ein Mal, taucht sie aus allen Ecken wieder auf. Bitte. Bleib noch.«
Ich wollte fragen, wie man so eine Zeit verdrängen kann, wo sie doch offenbar glücklicher gewesen war als seine momentane Existenz. Aber dann dachte ich, dass er sich bestimmt wieder über mich lustig machen würde, Göttergefasel und so, und fragte lieber: »Das heißt, ihr habt euch völlig aus den Augen verloren?«
»Ja.«
»Keine … Adresse? Keine Handynummer? E-Mail? WhatsApp? Kein Kontakt?«
»Nichts.«
»Das verstehe ich nicht.« Vor meinen Augen tauchte das zerknitterte Foto wieder auf: diese in Gold getauchte Reinkarnation ewiger Freundschaft. Sie hatten gelacht, als ob sie sich einander für die Ewigkeit versprochen gewesen wären.
»Musst du auch nicht. Warst du schon mal in Karlsbad?«
»Nö. Warum?«
»Weil ich heute Abend eigentlich dort sein sollte. Mit dem Zug um vier wäre es noch zu schaffen gewesen.«
Er zog die Schublade seines Nachttisches auf und holte eine Fahrkarte hervor, die er nachdenklich betrachtete. Ich versuchte währenddessen, dieses Gefühl von ausdrucksloser Leere in mir hervorzurufen, wie ich es montagsmorgens um neun nach einem durchgemachten Wochenende in der Vorlesung empfand, dabei schlug mir das Herz bis zum Hals. Auf meiner Stirn mussten scharlachrote Buchstaben erscheinen, die aneinandergesetzt das Wort Stalkerin ergaben.
»Ich kann sie noch nicht mal anrufen«, fuhr er fort. Die Fahrkarte legte er auf der Bettdecke ab. »Im Hotel sind Zimmer gebucht, aber offenbar als Kontingent und nicht auf unsere Namen.«
»Welches Hotel?«, fragte ich. Ein wenig Neugier erschien mir nun doch angebracht.
»Das Grandhotel Pupp. Nie gehört. Du?«
»Auch nicht. Klingt aber klasse. Ist nur leider nicht meine Flughöhe. Macht ihr das öfter? Klassentreffen an der Côte d’Azur oder in St. Moritz?«
»Nein.«
Schweigen.
»Wir haben uns seitdem nicht mehr gesehen«, sagte er schließlich. »Seit dem Abi, meine ich.« Er spielte mit der Fahrkarte, als wäre sie der Einsatz an einem Pokertisch. Betrachtete sie, drehte sie um, hielt sie nachdenklich in den Händen. »Die große Reunion. Irgendjemand von der Gang hat sich das ausgedacht. Und nun sieht es so aus, als ob ich mit ihnen nichts zu tun haben wollte. Ich werde unentschuldigt fehlen und das nehmen sie einem sehr übel. Wo sie sich doch so eine Mühe gegeben haben.«
»Ruf sie morgen an. Dann werden sie ja wohl ihre Zimmer haben.«
»Warst du schon einmal in einem Grandhotel?«
Als wir noch eine Familie gewesen waren, hatten wir Urlaub miteinander gemacht. In Ferienhotels irgendwo an überlaufenen Stränden. In den letzten Jahren war das nicht mehr drin gewesen. Für mein Studium würde ich in den Semesterferien jobben müssen.
»Nein. Klingt gut. Ich beneide dich, irgendwie. Vielleicht kannst du ja morgen schon zu ihnen nachkommen.«
Er nickte und wollte die Fahrkarte wieder zurücklegen, doch dann sagte er: »Fahr du.«
»Ich?«
»Ja. Oder hast du heute schon was vor?«
»Nei… nein«, stotterte ich überrumpelt. Freitagabends ging ich manchmal ins Kino und danach vielleicht noch in einen Club in Friedrichshain, wo jeder Versuch der Konversation vergeblich war. »Aber ich bin doch gar nicht eingeladen.«
»Du kannst mein Zimmer haben. Sag den anderen, was passiert ist und … enjoy.«
Er wollte mir die Karte reichen, aber ich schüttelte den Kopf. »Sorry, aber ich kenne euch doch gar nicht.«
»Eben hast du noch von uns gesprochen wie die Schäferin von der Marienerscheinung. Natürlich kennst du uns.«
»Aber doch nicht so! Vom Sehen, höchstens. Mehr nicht. Was sollen die denn von mir denken? Wenn ich für dich einspringe, würde das ja bedeuten …« Ich brach ab.
Er sah mich abwartend mit seinen seltsamen leuchtenden braunen Augen an. Wieder spielte dieses Lächeln um seine Lippen, und dieses Mal sah es verboten und gefährlich aus. »Ja?«
»Ich muss gehen. Tut mir leid. Bring das selbst in Ordnung.«
Er nickte. Wie er die Karte zurück in die Schublade legte und sie schloss, hatte etwas Endgültiges.
»Gute Besserung.«
»Danke.«
Ich ging zur Tür und drehte mich noch einmal zu ihm um. Er blickte aus dem Fenster, und wie er da in seinen Klamotten auf dem Bett lag, sah er irgendwie total verloren aus. Genau wie auf dem Campus. Ein erschöpfter Wanderer aus einer fernen Galaxie, den es durch Zufall in dieses aseptische Zimmer mit zwei Freaks verschlagen hatte. Der eine von den beiden sah hoch und grinste mich an. Er hatte für seine Jugend erschreckend schlechte Zähne.
»Ich tu’s«, sagte ich.
Johnny wollte etwas erwidern, dann nickte er nur.
Langsam kam ich wieder zurück. Er gab mir die Fahrkarte und fragte mich dann, ob ich etwas zum Schreiben dabei hätte.
»Hier.« Ich gab ihm einen Kugelschreiber.
Er überlegte einen Moment, ließ sich dann noch einmal die Karte geben und schrieb eine Handynummer darauf. Ich begriff nicht. Das kam alles viel zu schnell. Jahre war ich Luft für ihn gewesen oder ein Sicherheitsrisiko wegen meiner Schnürsenkel. Und jetzt gab er mir sogar seine Nummer.
Er reichte mir alles wieder zurück und beobachtete mit einem Lächeln, wie es mir aus der Hand fiel. Während ich auf dem Boden nach meinem Kuli suchte, der natürlich weit unters Bett gerollt war, sagte er: »Melde dich mal.«
»Klar.«
»Wenn irgendwas ist …«
Ich kam wieder hoch. »Danke.«
»Da nicht für.«
Sein Lächeln war immer noch da. Ein Abglanz des früheren Johnny tauchte dahinter auf, und ich weiß noch, dass es mir ins Herz schnitt. Es war wie der Anblick einer staubigen Postkarte aus glücklicheren Zeiten.
Keine Ahnung, ob das der Moment war, von dem ich jetzt behaupten würde, dass er mein Leben verändert hat. Es gab noch ein paar andere, bei denen ich mich im Nachhinein frage, warum ich nicht einfach gegangen bin. Ich weiß noch, dass plötzlich eine wilde Freude wie warmes Mineralwasser in mir hochsprudelte. Prickelnd, aber unberechenbar. Vielleicht war es das brennende Leuchten in Johnnys Augen, das mich unter diesem Blick zu etwas Besonderem machte. Vielleicht auch die Aussicht, nach all den Jahren die anderen wiederzusehen und herauszufinden, was von ihrer Aura übrig geblieben war. Neugier und Hochmut, so würde ich es heute beschreiben.
Mein Therapeut ist gnädiger. Er sagt: Nichts funkelt verräterischer, nichts bringt uns mehr in Gefahr, als unseren Erinnerungen zu vertrauen.
4
Ich musste mich beeilen, um den Zug noch zu erwischen. Keine Zeit, um einen Koffer zu packen. Karlsbad oder Zahnbürste – da gab es nicht viel zu entscheiden.
Der Zug war witzig. Die tschechische Staatsbahn hat offensichtlich einen Hang dazu, nichts wegzuwerfen. Noch nicht mal die Vorhänge an den Fenstern. Alles wirkt plüschig im Vergleich zu unseren durchgestylten, abwaschbaren Waggons.
Bis Usti nad Labem war alles in Ordnung. Das ist eine Stadt in Böhmen, kein Hustenbonbon. Man fährt durchs Erzgebirge und über einen breiten Fluss. Hohe Felsen schieben sich ganz nah ans Ufer, die Landschaft ist wild und schön und leer, genauso, wie ich es mag. Manchmal sitzt eine Burg auf den Gipfeln, und ich stellte mir vor, was hier wohl vor ein paar Jahrhunderten zwischen Raubrittern und unschuldigen Reisenden in Kaleschen so los war … Dass ich ziemlich romantisch veranlagt bin, hatte ich wahrscheinlich noch nicht erwähnt?
Zwischendurch ging ich in den Speisewagen und bekam ein Gulasch mit böhmischen Knödeln, die aussahen wie gekochte Brötchen. Glücklicherweise nahm der Kellner nicht nur Kronen. Europäisch sozialisiert wie ich war, hatte ich völlig vergessen, dass die Tschechische Republik noch ihre eigene Währung hatte. Als der Zug am Bahnhof ankam, musste ich nur das Gleis wechseln und kam eine knappe Stunde später in Karlsbad an.
Der Bahnhof war eine Enttäuschung. Ein riesiger Betonklotz, quer über die Unterführung einer mehrspurigen Schnellstraße gebaut. Auf dem Weg nach draußen kam ich an den heruntergelassenen Rollgittern der Geschäfte vorbei – Schnaps, Zigaretten, Kristall. Schon im Zug war bei mir immer mal wieder der Gedanke aufgeblitzt, ob Johnnys Einladung auch wirklich für mich gelten konnte. Was, wenn man mir rundheraus zu verstehen gab, dass die Teilnahme an diesem Treffen nicht so einfach übertragbar war? Meine Kreditkarte würde ins Koma fallen, wenn ich ihr die Rechnung eines Grandhotels vorlegen würde. Aber nicht nur deshalb war ich nervös. Ich fühlte mich wie eine Hochstaplerin. Alle würden denken, Johnny und ich wären die besten Freunde. Vielleicht sogar noch mehr … Dabei war er nur zufällig direkt vor meine Füße gefallen. Ich hatte wirklich keine Ahnung, was mich erwarten würde. Und das war wahrscheinlich auch das Beste. Denn hätte ich es gewusst, wäre ich nicht nach Karlsbad, sondern nach Peking gereist, weil das die am weitesten entfernte Stadt auf der anderen Seite der Erdkugel ist, mit einem One-way-Ticket und dem unbedingten Willen, nie mehr wiederzukommen.
Der Taxistand war leer. Die wenigen Reisenden, die mit mir ausgestiegen waren, wurden entweder von Hotelbussen abgeholt oder schlugen sich in die Dunkelheit, die nur von einigen wenigen Straßenlaternen auf dem Vorplatz schummerig erhellt wurde. Ich hatte gerade die Adresse des Hotels in das Navi meines Handys eingegeben, als ich die Kutsche bemerkte. Sie stand etwas abseits, auf dem Bock saß ein Mann mit einem hohen Hut. Sein Gesicht lag fast vollständig im Schatten der Krempe. In der Hand hielt er eine lange Peitsche. Die beiden Pferde, Rappen, malmten in ihrem Futtersack herum. Bevor dem Kutscher auffiel, dass ich ihn unverhohlen anstarrte – das Gespann wirkte vor diesem grottenhässlichen Bahnhof wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt – gab mir mein Handy die beruhigende Auskunft, dass ich zu Fuß keine halbe Stunde brauchen würde. In einer Stadt, in der ich noch nicht einmal die Straßennamen aussprechen konnte, war so ein Fußweg vielleicht nicht die schönste Aussicht. Aber ich würde hinfinden und es wartete ein Zimmer auf mich und vielleicht auch noch eine warme Mahlzeit. Weiter wollte ich nicht denken, denn dann hätte ich mir klarmachen müssen, was für eine Idiotin ich war.
Ich checkte die Route und wollte gerade die Straße überqueren, als sich die Tür der Kutsche öffnete und ein junger Mann ausstieg. Wir waren, außer dem Kutscher und seinen zwei Pferden, mittlerweile die einzigen Lebewesen am Bahnhof, wenn man mal von den Rasern in der Unterführung absah. Der seltsame Passagier war mindestens einen Kopf größer als ich, ein breitschultriger, athletischer Typ in ausgewaschenen Jeans und einem lässig fallenden T-Shirt. Wenn Johnny ein dunkler Engel war, dann kam gerade sein absolutes Gegenteil auf mich zu und musterte mich mit einem prüfenden Blick.
Er war der Zeus auf dem Olymp der Götter, wenn wir bei diesem etwas überstrapazierten Begriff bleiben wollen. Blaue Augen, römische Nase, ein energisches Kinn mit einem Grübchen in der Mitte. Die blonden Haare hatte er damals kurz getragen. Nun fielen sie ihm in leicht gewellten Strähnen in die Stirn und auf die Schulter. Er sah einschüchternd gut aus, noch besser als auf dem Foto, und mir fiel nichts ein, womit ich die Gräben, die uns trennten, überbrücken konnte. Ein schüchternes Lächeln vielleicht. Ich versuchte es, hatte aber sofort das Gefühl, dass eine schiefe Grimasse dabei herauskam.
»Joshua?«, fragte ich.
Er hob die Augenbrauen und musterte erst mich und dann den leeren Eingang zum Bahnhof, bevor er wieder mich mit der Ehre seiner Aufmerksamkeit bedachte.
»Wer will das wissen?«
Ich streckte ihm kindischerweise meine Hand entgegen, die er ignorierte. »Ich bin Lana. Johnny schickt mich. Er kann nicht kommen. Und da er euch nicht erreichen konnte, hat er mich gebeten, euch das auszurichten.«
Die Chassis quietschte, als die nächste Person ausstieg und auf mich zukam. Es war Siri. Sie hatte immer noch diesen wiegenden, hüftbetonten Gang, mit dem sie entweder schon laufen gelernt hatte oder den sie sich über zehn Staffeln Germany’s Next Topmodel antrainiert hatte. Die glatten Haare flossen wie Gold über ihre Schultern, sie trug Jeans, eine Lederjacke und einen kleinen Hut, der bei jeder anderen affig ausgesehen hätte. Irgendeine miese kleine Fee musste beim Verteilen der optischen Vorzüge unserer Jahrgänge einen über den Durst getrunken haben. Warum sonst hatte Siri diese attitude mitbekommen, die in jedem Mann den Beschützer- und Besitzerinstinkt wecken musste? Während andere, Studentinnen ohne Zahnbürste am Bahnhof einer wildfremden tschechischen Stadt beispielsweise, sich eigentlich nur noch in ihren Komplexen suhlen konnten?
Okay, ich bin gehässig. Aber schöne Menschen haben die Pflicht, von diesem Lottogewinn etwas abzugeben. Indem sie nett sind, beispielsweise. Oder wenigstens freundlich. Siri war schon immer ein Biest gewesen, und der Blick, den sie Joshua zuwarf, erstickte jede Hoffnung im Keim, dass sich daran etwas geändert haben könnte.
»Was will die denn hier? Wo ist Johnny?«
Sie hatte mich sofort erkannt. Frauen haben ein anderes Gedächtnis, einen irgendwie geschulteren Blick. Über ihr schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen legte sich ein Hauch von Herablassung.
»Er kann nicht kommen.« Sogar meine Stimme klang im Vergleich zu Siris hohem, leicht nasalem Singsang kratzig. »Deshalb hat er mir seine Einladung überlassen.«
Sie sah Joshua mit gespieltem Erstaunen an. »Geht das denn?«
Der fuhr sich nun etwas ratlos über sein hübsches Kinn. »Keine Ahnung. Da bin ich überfragt. Eigentlich, glaube ich, nicht.«
Ich hängte meine Tasche von der einen über die andere Schulter. »Ich kann auch laufen, kein Problem.«
»Zurück nach Berlin?« Siri hob die Augenbrauen. »Das ist aber ein langer Weg.«
Ich beschloss, ab sofort nur noch mit Joshua zu reden, und wandte mich direkt an ihn. »Eigentlich wollte er nur, dass ihr Bescheid wisst.«
»Dann hätte er doch anrufen können«, mischte Siri sich ungefragt wieder ein.
Ich wollte den Mund öffnen und sagen: »Wenn er deine Nummer gehabt hätte«, schloss ihn dann wieder. Was wusste ich von den Beziehungen dieser Leute untereinander? Ehrlich gesagt, nach diesem Empfang hatte nicht nur meine Begeisterung, sondern auch meine Neugierde einen ziemlichen Dämpfer erhalten.
»Also dann …«
»Warte«, sagte Joshua schnell. »Das ist doch Blödsinn. Jetzt sind wir schon mal hier, dann nehmen wir dich auch mit. Vielleicht wissen sie im Hotel mehr.«
»Und wenn nicht?«, fragte Siri. »Und was wird das überhaupt? Sie kommt einfach mit Johnnys Fahrkarte hierher, schläft in Johnnys Bett …«
»… und wird auch von Johnnys Tellerchen essen, wenn es das ist, was dich umtreibt«, unterbrach ich sie. »Ich bin an seiner Stelle hier, und ich habe keine Lust, den Rest der Nacht im Bahnhof zu verbringen. Es hat ihm etwas daran gelegen, euch Bescheid zu sagen. Keine Ahnung, warum.«
Siri warf mir ein verächtliches Lachen zu. Der Kutscher ließ die Peitsche schnalzen. Die Pferde schnaubten und scharrten mit den Hufen.
»Da lang?«, fragte ich und ging, ohne eine Antwort zu erwarten, über die Straße.
Zwei Autos brausten an mir vorbei, und als sie um die Ecke waren, hörte ich hinter meinem Rücken das Schlagen von Hufen und die Räder auf dem Asphalt. Ich befand mich in einer breiten Fußgängerzone, die ihr Angebot von Schnaps, Zigaretten und Kristall um Klamotten erweitert hatte, wo aber weit und breit in keinem Laden mehr Licht brannte.
Die Kutsche kam näher. Als sie mich eingeholt hatte, kurbelte Joshua die Scheibe hinunter und gab dem Mann mit der Peitsche ein Zeichen, langsamer zu werden. Ich stapfte weiter, ohne meinen Blick zu wenden.
»Steig ein.«
Ich reagierte nicht.
»Jetzt stell dich nicht so an.«
Ich lief weiter.
»Um zehn ist das Restaurant zu. Dann gibt es nichts mehr zu essen. Wäre doch schade. Oder?«
Ich habe eine Schwäche für gute Argumente. In eisigem Schweigen, das nur von meinem Magenknurren unterbrochen wurde, stieg ich in die Kutsche.
Joshua rückte zur Seite und ich plumpste in ein weiches, bequemes Polster. Siri saß mir gegenüber und dachte nicht daran, ihre langen Fohlenbeine zurückzuziehen. Der Kutscher rief etwas, die Peitsche knallte, und mit einem Ruck setzte sich der Wagen in Bewegung.
Die Fahrt verlief schweigend. Ich sah aus dem Fenster, und mit jeder Ecke, um die wir bogen, verstärkte sich das Gefühl, in einer unwirklichen Geschichte gelandet zu sein. Die Häuser schmiegten sich an Felswände und gewundene Gassen, sie wurden immer größer und schöner, und als wir in das Tal einbogen, stockte mir der Atem. Paläste standen am Wegesrand und thronten auf Felsengipfeln. Reich verzierte Bürgerhäuser, Schlösser, Prachtbauten einer vergangenen Ära, die sich gegenseitig an Eleganz und Ehrwürdigkeit zu überbieten schienen, tauchten auf wie Perlen an einer Schnur. Ein kleiner Fluss schlängelte sich zwischen den beiden Seiten des Boulevards, der eine Mischung aus Disneyland und Zuckerbäckerkulisse war. Vergoldete Zinnen, verspielte Türmchen, Kolonnaden, Brunnen, steile, enge Treppen, die zu verträumten, efeuüberwucherten Villen führten. Dann wieder enge Gassen, die sich unversehens zu Plätzen öffneten, um die herum sich der Wohlstand einer untergegangenen Epoche versammelt hatte. Eine Stadt für Zaren und Zocker. Für Millionäre und Melancholiker. All das ohne einen einzigen Neubau. Nichts störte diese steinerne Vision einer vergangenen Zeit, die hier den Höhepunkt ihrer betörenden Schönheit überschritten hatte.
Am Ende des Tals stand ein gewaltiger Jugendstilbau. Ganz in Weiß, hell erleuchtet, mit zwei riesigen Gebäudeflügeln links und rechts, die wie ausgebreitete Arme wirkten, wie: Hier seid ihr richtig, kommt rein und lasst es euch gut gehen. Grandhotel Pupp stand in goldenen Lettern über dem Empfang. Die Kutsche verließ den Boulevard und bog ab auf ein Rondell, wo sie vor dem Eingang zum Halten kam. Stumm stieg ich aus und ging hinter den anderen über einen dicken roten Teppich mehrere Stufen hinauf zu einer Drehtür, wo uns bereits ein Mitarbeiter erwartete.
Doch bevor ich hineinging, wandte ich mich noch einmal um und betrachtete die angestrahlte Fassade, die goldenen Buchstaben über dem Portal und das enge Flusstal vor mir, das mit seinen wunderschönen Häusern aussah wie im Märchen.
»Kommst du?«, fragte Joshua.
Ich nickte und folgte ihm.
Ich hatte völlig vergessen, dass Märchen im Grunde genommen die grausamsten Geschichten sind, die es gibt.