SCHAU HEIMWÄRTS, ENGEL
«Einstmals war die Erde vermutlich

ein weißglühender Himmelskörper wie die Sonne.»

Tarr and McMurry

Für A. B.

40

Der Platz lag in gleißendem Mondlicht. Der Brunnen plätscherte mit stetem, unverwehtem Strahl: Das Wasser fiel mit pünktlichem Klatschen ins Becken. Niemand kam auf den Platz.
Von der Uhr bei der Bank schlug es Viertel nach drei, als Eugene ihn über die Academy Street am Nordrand betrat.
Er ging langsam an der Feuerwehrhalle und am Rathaus vorbei. An Gants Ecke fiel der Platz steil gegen Niggertown ab, als wäre er an der Kante abgeknickt worden.
Eugene sah den Namen seines Vaters, verblasst, auf der alten Backsteinmauer im Mondlicht. Auf der steinernen Veranda der Werkstatt bewahrten die Engel ihre marmorne Haltung. Sie waren wie eingefroren im Mondlicht.
An das Eisengeländer der Veranda über dem Gehsteig gelehnt stand rauchend ein Mann. Verwirrt und ein wenig ängstlich trat Eugene näher. Langsam stieg er die breiten Holzstufen hinauf, den Blick neugierig auf das Gesicht des Mannes gerichtet. Es war halb im Schatten verborgen.
Ist da jemand?, fragte Eugene.
Niemand antwortete.
Doch als Eugene die oberste Stufe erreicht hatte, sah er, der Mann war Ben.
Ben starrte ihn einen Augenblick lang wortlos an. Obwohl Eugene sein Gesicht im Schatten des grauen Filzhuts nicht besonders gut erkennen konnte, wusste er, dass seine Miene finster war.
Ben?, sagte Eugene ungläubig, ein wenig schwankend auf der obersten Stufe. Bist du das, Ben?
Ja, sagte Ben. Und fügte sogleich mit missmutiger Stimme hinzu: Was dachtest du denn, wer’s wär, du kleiner Idiot?
Ich war mir nicht sicher, sagte Eugene ein wenig scheu. Ich konnte dein Gesicht nicht erkennen.
Sie schwiegen einen Augenblick. Dann räusperte Eugene sich verlegen und sagte: Ich dachte, du seist tot, Ben.
Aaah!, sagte Ben verächtlich und warf brüsk den Kopf in den Nacken. Jetzt hör dir mal das an. Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette: Die Rauchspiralen kringelten sich und verwehten in der mondhellen Stille.
Nein, sagte er nach einer Weile ruhig: Nein, ich bin nicht tot.
Eugene betrat die Veranda und setzte sich auf einen umgekippten Kalksteinsockel. Ben wandte sich sogleich um, schwang sich auf das Geländer und machte es sich über seine Knie gebeugt bequem.
Eugene tastete mit steifen, zittrigen Fingern in seinen Taschen nach einer Zigarette. Er war nicht erschrocken: Er war sprachlos vor Staunen und Aufregung und fürchtete, seine Gedanken der Lächerlichkeit preiszugeben. Er steckte sich eine Zigarette an. Gleich darauf sagte er mühsam, zögernd, entschuldigend: Ben, bist du ein Geist?
Ben machte sich nicht über ihn lustig. Nein, sagte er, ich bin kein Geist.
Wieder trat Stille ein, während Eugene befangen um Worte rang. Dann hoff ich, begann er unvermittelt mit einem rauen, dünnen Lachen, dann hoff ich, das heißt nicht, dass ich verrückt bin?
Warum nicht?, sagte Ben mit einem kurzen, irrlichternden Grinsen: Natürlich bist du verrückt.
Dann, sagte Eugene langsam, bilde ich mir das alles bloß ein?
Um Himmels willen!, rief Ben gereizt. Woher soll ich das wissen? Was meinst du mit Einbildung?
Na ja, sagte Eugene, ich meine – reden wir hier und jetzt miteinander oder nicht?
Frag nicht mich, sagte Ben. Woher soll ich das wissen?
Mit lautem Marmorrauschen und einem kalten Seufzer der Mattigkeit bewegte der Engel neben Eugene seinen steinernen Fuß und hob seinen Arm, weiter oben ein neues Gleichgewicht suchend. Der schlanke Lilienstängel wippte steif in seinen eleganten kalten Fingern.
Hast du das gesehen?, rief Eugene aufgeregt.
Was gesehen?, sagte Ben ärgerlich.
D-d-den Engel dort! Eugene klapperten die Zähne, sein ausgestreckter Zeigefinger zitterte. Er hat sich bewegt, hast du das gesehen? Er hat seinen Arm gehoben.
Na und?, meinte Ben gereizt. Das ist sein gutes Recht, oder? Es gibt kein Gesetz, weißt du, fügte er mit beißendem Sarkasmus hinzu, das es einem Engel verbietet, den Arm zu heben, wenn er das will.
Nein, vermutlich nicht, räumte Eugene nach kurzem Schweigen zögernd ein. Bloß hab ich immer gehört, dass …
Ach, und du glaubst also alles, was du hörst, du Dummkopf?, schnaubte Ben. Denn wenn du das tust, fügte er nach einem Zug an seiner Zigarette ruhiger hinzu, steht es schlecht um dich.
Wieder trat Stille ein, während sie rauchten. Dann sagte Ben: Wann gehst du, Gene?
Morgen, antwortete Eugene.
Weißt du, warum du gehst, oder machst du bloß eine Bahnfahrt?
Ich weiß es! Natürlich … weiß ich, warum ich gehe!, sagte Eugene ungehalten und irritiert. Er unterbrach sich jäh, verunsichert, ernüchtert. Ben blickte ihn mit unverändert finsterer Miene an. Dann sagte Eugene ruhig, demutsvoll: Nein, Ben. Ich weiß nicht, warum ich gehe. Vielleicht hast du ja recht. Vielleicht will ich bloß eine Bahnfahrt machen.
Wann kommst du zurück, Gene?, sagte Ben.
Na – wenn das Jahr um ist, denke ich, antwortete Eugene. Nein, sagte Ben, das wirst du nicht tun.
Wie meinst du das, Ben?, sagte Eugene bestürzt.
Du kommst nicht zurück, Gene, sagte Ben sanft. Bist du dir darüber im Klaren?
Es ergab sich eine Pause.
Ja, sagte Eugene, ich bin mir darüber im Klaren.
Und warum kommst du nicht zurück?, sagte Ben.
Eugene zerrte mit Krallenfingern heftig an seinem Hemdkragen. Ich will gehen! Hörst du!, schrie er.
Ja, sagte Ben. Das wollte ich auch. Warum willst du gehen?
Es gibt hier nichts für mich, knurrte Eugene.
Wie lange empfindest du schon so?, sagte Ben.
Immer schon, sagte Eugene. Solange ich denken kann. Aber ich wusste es nicht, bis du... Er verstummte.
Bis ich was?, sagte Ben.
Es entstand eine Pause.
Du bist tot, Ben, murmelte Eugene. Du musst tot sein. Ich hab dich doch sterben sehen, Ben. Er wurde plötzlich laut. Ich hab dich sterben sehen, hörst du? Weißt du denn nicht mehr? Das Vorderzimmer im oberen Stock, das die Frau des Zahnarzts bewohnt hat? Erinnerst du dich nicht, Ben? Coker, Helen, Bessie Gant, die dich pflegten, Mrs Pert? Die Sauerstoffflasche? Ich hab versucht, deine Hände festzuhalten, als sie dir Sauerstoff gaben. Seine Stimme schwang sich zu einem Schrei auf: Weißt du das nicht mehr? Ich sage dir, du bist tot, Ben.
Du Dummkopf, sagte Ben grimmig. Ich bin nicht tot.
Stille trat ein.
Dann frage ich mich, sagte Eugene sehr langsam, wer von uns das Gespenst ist.
Ben antwortete nicht.
Ist das der Hauptplatz, Ben? Bist du es, mit dem ich rede? Bin ich tatsächlich hier oder nicht? Und ist das Mondlicht, dort auf dem Platz? Ist all dies geschehen?
Woher soll ich das wissen?, sagte Ben wieder.
In Gants Werkstatt trampelten Marmorfüße. Eugene sprang auf und spähte durch die große Scheibe von Jannadeaus schmutzigem Fenster. Auf seinem Tisch blinkten die verstreuten Eingeweide einer Uhr tausendfach als bläuliche Lichtpunkte auf. Und hinter dem abgeteilten Bereich des Juweliers, dort, wo das Mondlicht durch das hohe Seitenfenster in den Lagerschuppen fiel, schritten die Engel auf und ab wie riesige steinerne Aufziehpuppen. Die langen, kalten Falten ihrer Gewänder tönten mit brüchigem Klang, ihre sittsamen vollen Brüste wogten in steinernem Takt, und im Mondenschein flogen die marmornen Cherubim mit klirrenden Flügeln immer im Kreis. Mit kaltem Blöken nach der Aue grasten die Steinlämmer steif im monddurchfluteten Mittelgang.
Siehst du das?, schrie Eugene. Siehst du das, Ben?
Ja, sagte Ben. Na und? Das ist ihr gutes Recht, oder?
Nicht hier! Nicht hier!, ereiferte sich Eugene. Hier ist es nicht recht! Mein Gott, das ist doch der Hauptplatz! Da ist der Brunnen! Da ist das Rathaus! Da ist die Imbissbar des Griechen.
Die Uhr am Bankgebäude schlug die halbe Stunde.
Und da ist die Bank, rief er.
Das macht keinen Unterschied, sagte Ben.
Doch, sagte Eugene, doch!
Ich bin deines Vaters Geist: verdammt auf eine Zeitlang, nachts umzugehen... 605
Aber nicht hier! Nicht hier, Ben!, sagte Eugene.
Wo denn?, sagte Ben müde.
In Babylon! In Theben! Überall sonst. Aber nicht hier!, erwiderte Eugene mit wachsender Erregung. Es gibt einen Ort, wo alles geschieht! Aber nicht hier, Ben!
Meine Götter, gleich Vögeln rufend in der Sonne, hängen am Himmel. 606
Nicht hier, Ben! Es ist nicht recht!, sagte Eugene wieder.
Die vielgestaltigen Götter Babylons. Dann starrte Eugene einen Augenblick lang auf die dunkle Gestalt am Geländer und murmelte aufbegehrend und ungläubig: Geist! Geist!
Dummkopf, sagte Ben wieder. Wenn ich dir doch sage, dass ich kein Geist bin.
Was bist du denn?, sagte Eugene aufgewühlt. Du bist tot, Ben. Dann fügte er ruhiger hinzu: Sterben Menschen denn überhaupt?
Woher soll ich das wissen, sagte Ben.
Sie sagen, dass Papa bald sterben wird. Hast du das gewusst, Ben?, fragte Eugene.
Ja, sagte Ben.
Die haben seine Werkstatt gekauft. Sie wollen sie abreißen und einen Wolkenkratzer hier hinstellen.
Ja, sagte Ben, ich weiß.
Wir werden nicht wiederkommen. Wir werden nie wiederkommen.
Alles vergeht. Alles verändert sich und vergeht. Morgen werde ich nicht mehr sein und dieses... Er unterbrach sich.
Dieses – was?, sagte Ben.
Dieses Ganze hier wird nicht mehr sein oder … o Gott! Ist all das überhaupt je geschehen?, schrie Eugene.
Woher soll ich das wissen, du Dummkopf?, rief Ben ärgerlich. Was geschieht überhaupt, Ben? Was geschieht wirklich?, sagte Eugene.«Kannst du dich an ein paar von denselben Dingen erinnern wie ich? Ich habe die alten Gesichter vergessen. Wo sind sie, Ben? Wie lauteten ihre Namen? Ich vergesse die Namen von Leuten, die ich jahrelang kannte. Ich bringe ihre Gesichter durcheinander. Ich setze ihre Köpfe auf die Leiber anderer Leute. Ich verwechsle, wer was gesagt hat. Und ich vergesse … vergesse. Da ist etwas, was ich verloren und vergessen habe. Ich kann mich nicht erinnern, Ben.
Woran willst du dich erinnern?, sagte Ben.
Ein Stein, ein Blatt, eine nie gefundene Tür. Und die vergessenen Gesichter.
Ich habe Namen vergessen. Ich habe Gesichter vergessen. Aber Kleinigkeiten, die weiß ich noch, sagte Eugene. Ich erinnere mich an die Fliege auf dem Pfirsich, die ich verschluckt hab, und an die kleinen Jungen in Saint Louis auf dem Dreirad und an Grovers Muttermal im Nacken und an den Güterwagon des Zugs nach Lackawanna mit der Nummer 16356, der auf einem Rangiergleis bei Gulfport stand. Einmal hat mich in Norfolk ein australischer Soldat, der auf dem Weg nach Frankreich war, gefragt, wo der Lokus ist; ich erinnere mich an das Gesicht dieses Mannes. Er forschte im Schatten von Bens Gesicht nach einer Antwort, dann wandte er seine mondglänzenden Augen wieder dem Platz zu.
Und für einen Augenblick war der ganze silberhelle Raum von tausend Gestalten seiner selbst und Bens belebt. Da, von der Ecke an der Academy Street her, sah Eugene sich selbst näher kommen; da, neben dem Rathaus, schritt er stelzbeinig einher; da, auf den Stufen über dem Pflaster, stand er und bevölkerte die Nacht mit der großen verlorenen Legion seiner selbst – den tausend Gestalten, die kamen, die gingen, die webten und wirkten in endlosem Wechsel und die doch unverwechselbar er selbst blieben.
Und über den Platz, der verlorenen Zeit entflochten, spann auch eine hitzige helle Schar von Bens in emsigem Hin und Her ihr unsterbliches Gewebe. Ben in tausend Momenten ging über den Platz: der Ben der verlorenen Jahre, der vergessenen Tage, der unerinnerten Stunden; streunte an den mondbeschienenen Fassaden entlang; verschwand, kam zurück, ging und trat wieder neben sich, war einer und viele – unsterblicher Ben, auf der Suche nach verlorenem, totem Begehren, der vollbrachten Tat, der nie gefundenen Tür – unverwechselbarer Ben, der sich selbst in einer Unzahl von Gestalten vervielfachte, vor all den Backsteinfassaden verschwand er und tauchte wieder auf.
Und während er die Heerscharen von Eugenes und Bens beobachtete, die keine Geister und doch verloren waren, sah Eugene sich selbst – seinen Sohn, seinen Jungen, sein verlorenes und jungfräuliches Fleisch -, wie er am Brunnen vorbeiging, gegen seine schwere Segeltuchtasche gestemmt, näher kam und rasch an Gants Werkstatt vorbei im jungen, vorgeburtlichen Morgen nach Niggertown humpelte. Und als er an der Veranda vorbeikam, wo er saß und schaute, sah er sein verlorenes Kindergesicht unter der löchrigen Mütze im Bann ungehörter Musik, lauschend auf den Hörnerschall aus fernen Wäldern, das sprachlose, beinahe erhaschte Zauberwort. Die flinken Jungenhände falteten die frischen Blätter, aber das märchenhafte verlorene Gesicht ging vorüber, in seine Beschwörungen versunken.
Eugene sprang zum Geländer.
Du! Du! Mein Sohn! Mein Kind! Kehr zurück! Kehr zurück! Seine Stimme erstarb ihm in der Kehle: Der Junge war vorüber, hatte nur die Erinnerung an sein entrücktes und lauschendes Gesicht zurückgelassen, das der verborgenen Welt zugewandt war. O verloren!
Und nun wimmelte der Platz von ihren verlorenen hellen Gestalten, und all die Minuten der verlorenen Zeit sammelten sich und standen still. Dann, mit Geschossesschnelle, schrumpfte der Platz ein, die Geleise des Schicksals hinab und war verschwunden, mit all dem Tun und Treiben, mit all den vergessenen Gestalten seiner selbst und Bens.
 

Und in seiner Vision schaute er die märchenhaften verlorenen Städte, begraben im Treibsand der Erde – das siebentorige Theben und alle Tempel Dauliens 607 und der Phocis 608 und ganz Oenotria 609 bis zum Tyrrhenischen Golf. Ins Urnengrab der Erde hinabgesunken sah er die untergegangenen Kulturen: die seltsame schriftlose Pracht der Inkas, die Fragmente verlorener Epen auf einer minoischen Tonscherbe, die verborgenen Gräber der Könige von Memphis, 610 und Herrscherstaub, umwunden mit Gold und verrottendem Leinen, tot mitsamt ihren tausend Tiergöttern, ihren stummen, ungeweckten Ushabti 611 in ihren vollendeten Ewigkeiten.
Er schaute die Milliarde Lebender und Milliarden von Toten: Meere trockneten aus, Wüsten wurden zu Meeren, Berge ertranken; Götter und Dämonen kamen aus dem Süden, herrschten über das mickrige Feuerwerk der Jahrhunderte und versanken – kamen zu ihren Polarlichtern des Todes, der murmelnden, todflackernden Dämmerung der abgelebten Götter.
Doch inmitten des stolpernden Zuges der Geschlechter in den Untergang blieben die gewaltigen Zyklen der Erde. Die Jahreszeiten lösten sich in majestätischer Prozession ab, und der sprossende Frühling zog ewig wieder ins Land – neue Saat, neue Menschen, neue Ernten und neue Götter.
Und dann die Abenteuer, die Suche nach dem Land der Glückseligkeit. In diesem Augenblick seiner schrecklichen Vision sah er, auf den verschlungenen Pfaden tausend fremder Orte, seine missglückte Suche nach sich selbst. Und sein gepeinigtes Gesicht war besessen von jener unbegreiflichen und leidenschaftlichen Sehnsucht, die ein Schiffchen aufs Meer gesetzt, die den Einschlagfaden zwischen den Deutschen Pennsylvanias hindurchgezogen, die die Augen seines Vaters verschattet hatte mit dem unfassbaren Verlangen nach behauenem Stein und einem Engelskopf. Heimgesucht von den Hügeln, die ihm die Erde als Bergfestung erscheinen ließen, sah er die goldenen Städte vor seinen Augen ermatten und die üppige dunkle Pracht zu schäbigem Grau verblassen. Sein Gehirn war krank von den Millionen von Büchern, sein Auge von den millionenfachen Bildern, sein Leib angewidert von den hundert fürstlichen Weinen.
Und emportauchend aus seiner Vision, rief er: Ich bin nicht dort in den Städten. Ich habe unzählige Straßen abgesucht, bis der Bocksschrei in meiner Kehle erstarb, und wo ich war, habe ich keine Stadt gefunden, wo ich eintrat, keine Tür, wo ich stand, keinen Ort.
Dann, von den Rändern der mondhellen Stille, antwortete Ben: Du Dummkopf, warum suchst du auf den Straßen?
Dann sagte Eugene: Ich habe die Erde gekostet und getrunken, ich ging verloren und wurde geschlagen, und jetzt mag ich nicht mehr.
Dummkopf, sagte Ben, was willst du denn finden?
Mich selbst und ein Verschwinden der Sehnsucht und das Reich der Glückseligkeit, antwortete er. Denn ich glaube an die Häfen am Ziel. O Ben, Bruder und Geist und Fremder, der du nie zu Wort kamst, antworte mir jetzt!
Dann, wie er gedacht hatte, sagte Ben: Es gibt kein Reich der Glückseligkeit. Es gibt kein Verschwinden der Sehnsucht.
Und ein Stein, ein Blatt, eine Tür, Ben? Sprach, fuhr ohne zu sprechen fort zu sprechen. Der du der Schatten meines Gehirns bist und nie warst, Ben, wie ich des deinen, mein Geist, mein Fremder, der starb, der nie lebte, wie ich? Aber, verlorener Schatten meines träumenden Gehirns, vielleicht hast du, was ich nicht habe – eine Antwort?
Die Stille sprach. Ich kann nicht von Reisen sprechen. Ich gehöre hierher. Ich bin nie weggekommen, sagte Ben.
So bin ich dein Schemen, Ben? Dein Fleisch ist tot und in diesen Bergen begraben: Meine ungefangene Seele geistert durch die millionenfachen Straßen des Lebens, lebt ihren gespenstischen Alptraum der Sehnsucht und des Begehrens. Wo, Ben? Wo ist die Welt?
Nirgends, sagte Ben. Du bist die Welt.
Unausweichliche Katharsis an den Fäden des Chaos. Fadengerade Genauigkeit des Zufalls. Apexischer Kulminationspunkt des aus den tausend Toden des Möglichen aufsummierten Tuns.
Ich werde ein Land unbesucht lassen, sagte Eugene. Et ego in Arcadia. 612
Und während er sprach, sah er, dass er die millionenfachen Gebeine der Städte, die Stränge der Straßen verlassen hatte. Er war allein mit Ben, und ihre Füße gründeten in Dunkelheit, ihre Gesichter waren erhellt vom kalten hohen Schrecken der Sterne.
Am Rand der Finsternis stand er und träumte nur noch von den Städten, den Millionen Büchern, den geisterhaften Bildern der Menschen, die er geliebt hatte, die ihn geliebt hatten, die er gekannt und verloren hatte. Sie werden nicht wiederkommen. Sie werden nie wiederkommen.
Mit den Füßen auf der Klippe der Finsternis schaute er und sah die Lichter keiner Städte. Es war, dachte er, die starke und heilsame Medizin des Todes.
Ist dies das Ende?, sagte er. Habe ich das Leben gekostet und ihn nicht gefunden? Dann werde ich keine Reise mehr unternehmen.
Dummkop, sagte Ben, dies ist das Leben. Du bist nirgends gewesen.
Immerhin in den Städten?
Es gibt keine. Es gibt nur eine Reise, die erste, die letzte, die einzige.
An Küsten fremdartiger als die von Cipango 613, an Orten ferner als Fez 614 werde ich ihn jagen, den Geist, der mich umtreibt. Ich habe das Blut verloren, das mich genährt hat; ich bin die hundert Tode gestorben, die zum Leben führen. Das Grollen der Trommeln, die Fackeln der sterbenden Städte haben mich zu diesem finsteren Ort gewiesen. Und dies ist die wahre Reise, die gute, die beste. Und nun rüste dich, meine Seele, für die Jagd, die jetzt beginnt. Ich werde in Meere tauchen, fremdartiger als jene, die der Albatros heimsucht.
Er stand nackt und allein im Dunkeln, weit weg von der verlorenen Welt der Straßen und der Gesichter; er stand auf den Wällen seiner Seele, vor dem verlorenen Land seines Selbst; hörte landeinwärts das Murmeln verlorener Meere, fernen Hörnerschall in der Tiefe. Die letzte Reise, die längste, die beste.
O flüchtiger und unfassbarer Faun, im Dickicht meines Innern verloren, ich will dich hetzen, bis du aufhörst, meine Augen mit Hunger heimzusuchen. Ich habe deine Schritte in der Wüste vernommen, ich habe deinen Schatten in begrabenen alten Städten gesehen, ich habe dein Lachen durch Millionen von Straßen hallen gehört, aber ich habe dich dort nicht gefunden. Und kein Blatt hängt für mich im Wald; ich werde keinen Stein in den Bergen heben; ich werde in keiner Stadt eine Tür finden. Aber in der Stadt meines Selbst, auf dem Kontinent meiner Seele, werde ich die vergessene Sprache finden, die verlorene Welt, eine Tür, durch die ich gehen kann, und Musik so seltsam, wie sie nur je erklang; ich werde dich hetzen, Geist, auf den labyrinthischen Wegen, bis – bis? O Ben, mein Geist, eine Antwort?
Doch während er sprach, rollten die Geisterjahre ihre Offenbarung ein, und nur noch Bens Augen glühten schrecklich im Dunkeln, ohne Antwort.
Und der Tag erschien und das Lied der erwachenden Vögel und der Platz, in das zarte, perlgraue Licht des Morgens getaucht. Und ein Wind säuselte über den Platz, und Ben, wie ein Räuchlein, verschwamm vor seinen Augen im Morgengrauen.
Und die Engel auf Gants Veranda erstarrten zu hartem Marmorschweigen, und in der Ferne erwachte das Leben, und schmale Räder ratterten, und langsam klapperten Hufe. Und er hörte das klagende Pfeifen am Fluss.
Doch als er nun zum letzten Mal neben den Engeln auf seines Vaters Veranda stand, schien es, als wäre der Platz schon weit entfernt und verloren; oder vielleicht sollte ich sagen, er glich einem Mann, der auf einem Hügel steht über der Stadt, die er verlassen hat, jedoch nicht sagt:«Die Stadt ist nah», sondern seine Augen emporhebt zu den in weiter Ferne aufragenden Gebirgszügen.

ANMERKUNGEN

Bei Thomas Wolfes Buchtitel Look homeward, Angel handelt es sich um ein Zitat aus der 1637 entstandenen Pastoralelegie Lycidas. A Lament for a Friend Drowned in His Passage from Chester on the Irish Seas des engl. Dichters John Milton (1608- 1674): «Look homeward Angel now, and melt with ruth. / And, O ye Dolphins, waft the haples youth.» (Vers 163 f.)
Das dem Buch vorangestellte Motto (engl. «At one time the earth was probably a white-hot sphere like the sun.») stammt aus dem Lehrbuchklassiker Tarr and McMurry Common School Geographies (1900), benannt nach den beiden amerik. Verfassern, dem Geographen Ralph Stockman Tarr (1864-1912) und dem Pädagogen Frank Morton McMurry (1862-1936).
Die Initialen A. B. der Widmung stehen für Aline Bernstein (1880-1950), der Thomas Wolfe 1925 auf der Überfahrt von England zurück in die USA begegnete. Es war der Beginn einer leidenschaftlichen Beziehung, die bis 1930 dauern sollte. Die aus jüdischer Familie stammende Kostümbildnerin war zwanzig Jahre älter als Wolfe, mit einem erfolgreichen New Yorker Geschäftsmann verheiratet und Mutter zweier erwachsener Kinder. Während eines gemeinsamen Aufenthalts in England im Juni 1926 begann Thomas Wolfe mit der Arbeit an Look homeward, Angel. Ihre – auch finanzielle – Unterstützung erlaubte es ihm, den Roman 1928 in New York fertigzustellen.
1. Engl. «Then, as all my soules bee, / Emparadis’d in you, (in whom alone / I understand, and grow and see,) / The rafters of my body, bone / Being still with you, the muscle, sinew, and veine, / Which tile this house, will come againe.» Zitat aus dem Gedicht A Valediction: Of My Name in the Window von John Donne (1572-1631). Zur etwas vertrackten«metaphysischen»Metaphorik der Dichtung: Die Geliebte steht für das Haus des Paradieses, in dem sich allzeit (so die zeitgenössische Bedeutung von «still») die Seele des Liebenden befindet, ebenso wie dessen physische Essenz (die «rafters», die Dachsparren, also das Gerippe bzw.«Gebein»). Deshalb wird er unweigerlich in seiner vollen körperlichen Präsenz (mit «muscle, sinew, and veine», die wie Ziegel – «tiles» – über den Dachsparren liegen) zur Geliebten zurückkehren.
2. Jonathan Swifts (1667-1745) ironische Auseinandersetzung mit den sittlichen Grundlagen menschlichen Verhaltens wird im Lauf des Romans noch mehrfach zitiert.
3. Der Essayist, Literaturkritiker und Herausgeber des Dictionary of the English Language Samuel Johnson (1709-1784) ist eine der bedeutendsten literarischen Figuren im England des 18. Jh., über dessen Leben wir dank James Boswells zeitgenössischer Biographie gut unterrichtet sind.
4. «Pennsylvania Dutch»werden die Nachkommen der Auswanderer aus dem Südwesten Deutschlands und aus der Schweiz genannt, die im 17. und 18. Jh. Pennsylvania besiedelten.
5. Der engl. Schauspieler Edmund Kean (1782-1833) brillierte im Londoner Drury Lane Theatre in Shakespeare-Rollen und ging auch in den USA auf Tournee.
6. Bei Gettysburg wurde 1863 die Konföderierten-Armee unter General Robert Edward Lee (1807-1870) in einer für den Ausgang des Amerikanischen Bürgerkriegs entscheidenden, verlustreichen Schlacht geschlagen.
7. Straße im Südosten Londons, in der Nähe des Towers gelegen, nach der auch der 1841 eröffnete Bahnhof benannt ist.
8. Edwin Booth (1833-1893) war der berühmteste amerik. Schauspieler seiner Zeit, der wie der Italiener Tommaso Salvini (1829-1915) vor allem mit Rollen aus den Dramen Shakespeares Erfolge feierte; in den USA traten die beiden auch gemeinsam auf.
9. Umgerechnet etwa 1,95 m.
10. Armageddon ist nach Offb 16,13-19 der Ort, an dem sich der endgültige Kampf zwischen Gut und Böse abspielen wird.
11. Hügelland in North Carolina, zwischen den Appalachen im Westen und der Küste im Osten.
12. Der amerik. Industrielle George W. Vanderbilt (1862-1914) ließ in Asheville, North Carolina, dem Altamont des Romans, kurz vor der Jahrhundertwende ein riesiges Landgut nach dem Vorbild des Schlosses von Blois errichten (vgl. Anm. 128).
13. In den«Seven Days Battles»vom 25. Juni bis zum 1. Juli 1862 wurden bei Richmond, Virginia, sechs Entscheidungsschlachten im Amerikanischen Bürgerkrieg geschlagen. Den Truppen von Robert Edward Lee gelang es dabei, den Angriff der Unionisten unter General George Brinton McClellan (1826-1885) zurückzuschlagen.
14. Im Jahr 1862 Kriegsschauplatz in Tennessee während des Amerikanischen Bürgerkriegs.
15. William Tecumseh Sherman (1820-1891), General der Unionstruppen im Amerikanischen Bürgerkrieg.
16. Haut- und Lymphknotenerkrankung (von lat. Scrofula, Halsdrüsengeschwulst) bei Kindern (heute selten) mit vielfältigen chronischen Entzündungen, z. B. der Nasenschleimhaut, der Augenlider, der Bindehaut sowie der Halslymphknoten.
17. Lautlicher Hintersinn:«L. E. Gant»spricht sich «el-e-gant» und meint«erlesen»,«vornehm».
18. Unübersetzbares Wortspiel, hier deshalb im engl. Wortlaut wiedergegeben.
19. Der Demokrat Stephen Grover Cleveland (1837-1908) war von 1885 bis 1889 und von 1893 bis 1897 Präsident der USA.
20. Benjamin Harrison (1833-1901) war von 1888 bis 1893 Präsident der USA.
21. Der unersättliche Gargantua, ursprünglich eine Figur des kelt. Volksmärchens, ging dank François Rabelais’ (um 1494-1553) Romanzyklus Gargantua und Pantagruel (1532-1552) in die Weltliteratur ein.
22. Schwerblütige Elegie im Stil von The House of the Rising Sun: In der traditionellen Fassung der berühmten Folk-Ballade (etwa von Alan Lomax, 1941) heißt es über das dort besungene Bordell: «It’s been the ruin of many a poor girl, / And me, o God, for one.»
23. Gant vermischt hier zwei Passagen aus der berühmten Rede des Antonius in William Shakespeares (1564-1616) Julius Caesar, III, 2, zitiert nach der deutschen Übersetzung von August Wilhelm Schlegel (1767-1845):«Undank, stärker als Verräterwaffen»und«O Urteil, du entflohst zum blöden Vieh».
24. Paraphrase des 5. Gebots nach 2 Mose 20,12, in vollständigem engl. Wortlaut: «Thou shalt honor thy father and thy mother that thy days may be long upon the land which the Lord thy God giveth thee.»
25. Zitat aus der Rede des Antonius im Julius Caesar von William Shakespeare, III, 2, nach der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel.
26. Der engl. König Charles II. (1630-1685) soll der Überlieferung nach um Entschuldigung dafür gebeten haben, dass er so«unverschämt lange»brauche, um zu sterben.
27. Im Griech. bedeutet eugenios«der Hochwohlgeborene».
28. Der amerik. Maler James A. McNeill Whistler (1834-1903) war wie der engl. Dichter Oscar Wilde (1854-1900), den er zeitweise protegierte, in den Salons der guten Gesellschaft für Esprit und Schlagfertigkeit bekannt.
29. Gemeint ist die Niederschlagung des chin. Boxeraufstands, jener in den Kampfkunstschulen entstandenen Erhebung gegen Japan, die USA und die Kolonialmächte Europas in den Jahren 1900/01: Dabei wurde Peking, wo sich Diplomaten, Missionare und chin. Christen im Gesandtschaftsviertel verschanzt hatten, vom alliierten Expeditionskorps mit Waffengewalt eingenommen und geplündert und das Takufort unter dt. Beteiligung einer Kanonade unterzogen.
30. William McKinley (1843-1901) wurde 1897 Präsident der USA; 1900 für eine zweite Amtsperiode wiedergewählt, wurde er jedoch am 5. September 1901 vom Anarchisten Leon Czolgosz angeschossen und erlag wenige Tage später seiner schweren Verwundung.
31. Im Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898 wurde die veraltete span. Flotte mehrfach von der US-Marine geschlagen, so dass die Kolonialmacht Spanien aus der Karibik abziehen musste.
32. Von 1899 bis 1902 führte Großbritannien einen Krieg gegen die Burenrepubliken Transvaal und Oranje-Freistaat, in dessen Verlauf Transvaal 1900 vom engl. Oberkommandierenden Frederick Sleigh Roberts (1832-1914),«Little Bobs»genannt, annektiert wurde. Im Friedensvertrag von Vereeniging (1902) wurde den Burenrepubliken die Selbstverwaltung und die Anerkennung der Landessprache Afrikaans zugestanden, sie blieben aber brit. Kolonien.
33. Ende des 19. Jh. wurde das politische System Japans durch eine«Revolution von oben»nach preuß. Vorbild modernisiert. Das Land bekam eine neue Verfassung, 1890 fanden erstmals Parlamentswahlen statt.
34. Ein Konflikt um Korea führte 1894 zum Krieg zwischen China und Japan, den Japan aufgrund seiner militärischen Überlegenheit rasch für sich entschied und in Folge dessen die Kontrolle über Formosa (das heutige Taiwan) und bald auch Korea gewann.
35. Warren Hastings (1732-1818), erster Generalgouverneur von Indien, gilt als einer der Begründer des British Empire. Nach seiner Rückkehr nach Großbritannien wurde er von einigen Parlamentariern, denen die«East India Company»zu mächtig geworden war, wegen Amtsmissbrauchs vor Gericht gebracht, nach einem jahrelangen Prozess aber freigesprochen.
36. Sixtus V. (1529 -1590), Papst ab 1585, setzte in den fünf Jahren seiner Amtszeit etliche innerkirchliche Reformen durch.
37. Im Jahr 8 n. Chr. wurde der letzte große Aufstand der illyr. Provinz Dalmatien gegen Rom vom späteren Kaiser Tiberius (42 v. Chr.-37 n. Chr.) niedergeschlagen.
38. Der oström. Feldherr Flavius Belisarius (505-565) soll von Kaiser Justinian I. (um 482-565) wegen einer angeblichen Verschwörung gegen ihn geblendet worden sein.
39. Caroline von Brandenburg-Ansbach (1683-1737) nahm als Königin erheblichen Einfluss auf die Regierungsgeschäfte ihres Gemahls George II. (1683- 1760), dem zweiten brit. König aus dem Hause Hannover.
40. Berengaria von Navarra (um 1165-1230), Tochter von König Sancho VI. von Navarra und Margherete von Le Aigle, wurde 1191 die Gemahlin von Richard I. (1157-1199), des legendären«Richard Löwenherz», der von 1189 bis 1199 König von England war; er nahm am 3. Kreuzzug teil und wurde auf seiner Rückkehr aus dem Heiligen Land von Herzog Leopold V. von Österreich gefangen genommen. Nach seiner Freilassung musste er den Thron gegen seinen Bruder Johann verteidigen.
41. Diokletian (245-313) herrschte als röm. Kaiser von 284 bis 305; Karl V. (1500- 1558) war als König von Spanien und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches der mächtigste Herrscher seiner Zeit; Viktor Amadeus I. (1666-1732) wurde 1720 zum ersten König von Sardinien-Piemont gekrönt.
42. Henry James Pye (1745-1813) verdankte seine Ernennung zum Hofdichter 1790 eher seinem politischen Geschick als seinen poetischen Fähigkeiten.
43. Cassiodorus (um 485-um 580), röm. Staatsmann und Geschichtsschreiber in Diensten des Gotenkönigs Theoderich; Marcus Fabius Quintilianus (um 35-95), röm. Redner vor Gericht und Lehrer der Rhetorik; Decimus Junius Juvenalis (um 60-140), röm. Satiriker, der die Dekadenz des Kaiserreichs unter Trajan und Hadrian in seinen Schriften rhetorisch brillant geißelte; Titus Lucretius Carus (um 96-um 55 v. Chr.), röm. Dichter, der sich in seinem Lehrgedicht De rerum natura mit dem griech. Philosophen Epikur auseinandersetzt; Marcus Valerius Martialis (um 40-104), röm. Dichter und Meister der Kurzform des Epigramms; Albrecht, genannt«der Bär», (um 1100-1170), dt. Reichsfürst und Eroberer der Mark Brandenburg, die er in das Deutsche Kaiserreich eingliederte.
44. Antietam: 1862, Amerikanischer Bürgerkrieg, an einem Nebenfluss des Potomac; Smolensk: 1812, Napoleonische Kriege, Stadt in Westrussland; Drumclog: 1679, Scharmützel während des Aufstands der«Covenanters», der schott. Presbyterianer, gegen die Rekatholisierung Schottlands; Inkerman: 1854, Krimkrieg zwischen den Russen und Briten; Marengo: 1800, Napoleonische Kriege, bei der ital. Stadt Alessandria; Cawnpore (ind. Kanpur): 1857, während ihres Aufstands gegen die brit. Kolonialmacht von ind. Truppen belagerte Stadt; Killiecrankie: 1689, Sieg der Anhänger des schott. Königs James II. gegen die Truppen Wilhelms von Oranien während des Jakobiteraufstands; Sluys: 1340, Hundertjähriger Krieg, Sieg der Engländer über eine frz.-genues. Flotte vor einer niederl. Hafenstadt; Actium: 31 v. Chr., Sieg Octavians, des späteren röm. Kaisers Augustus, über Antonius und Cleopatra, Stadt in Griechenland; Lepanto: 1571, berühmte Seeschlacht vor der Bucht von Korinth, die mit dem Sieg einer span.-venezian.-päpstlichen Allianz über die türk. Flotte endete; Tewkesbury: 1471, während der«Rosenkriege»zwischen den Lancasters und den Tudors um den brit. Thron, in Gloucestershire; Brandywine: 1777, während des Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs gegen die Briten, in Philadelphia; Hohenlinden: 1800, Napoleonische Kriege, in Oberbayern; Salamis: 480 v. Chr., nahe dieser Insel vor der Küste Attikas schlug Themistokles die zahlenmäßig überlegene Flotte des Perserkönigs Xerxes; Wilderness: 1864, raues Gelände in Virginia, wo die Truppen des Unionsgenerals Ulysses Simpson Grant und die des Generals der Konföderierten Robert Edward Lee zum ersten Mal aufeinandertrafen (vgl. Anm. 6).
45. Tyrann von Athen zwischen 527 und 510 v. Chr., vom alten Athener Adelsgeschlecht der Alkmäoniden, das seinerseits von Hippias’ Vater verbannt worden war, mit Hilfe der Lakedämonier (Spartaner) aus der Stadt vertrieben.
46. Simonides von Keos (556-468 v. Chr.), griech. Lyriker, bekannt für seine Elegien und Hymnen; Menander, griech. Menandros (342 – 290 v. Chr.), griech. Komödiendichter, dessen Werke primär in den lat. Bearbeitungen von Plautus und Terenz erhalten sind; Strabo, griech. Strabon (um 63 v. Chr.-19 n. Chr.), griech. Geschichtsschreiber und Geograph, dessen siebzehnbändiges Hauptwerk eine der Hauptquellen für die Geographie der Antike darstellt; Moschos, griech. Grammatiker und Idyllendichter des zweiten vorchristlichen Jh.; Pindar, griech. Pindaros (um 522- 446 v. Chr.), griech. Lyriker aus Theben, der unter anderem Preislieder auf die Sieger bei den Olympischen Spielen verfasste.
47. Eusebius von Caesarea (um 260 -340), Bischof und Kirchenhistoriker; Athanasius der Große (um 298-373), Kirchenvater und Bischof von Alexandria, der die Wesensgleichheit von Gott Vater und Gott Sohn gegenüber dem Arianismus verteidigte; Johannes Chrysostomos (344-407), Erzbischof von Konstantinopel, als Asket verehrt und einer der größten christlichen Prediger.
48. Ägypt. Pharao der 4. Dynastie im 3. vorchristlichen Jahrtausend, der die dritte Pyramide von Gizeh erbauen ließ.
49. Ägypt. (nub.) Pharao der 25. Dynastie des 7. vorchristlichen Jh., dessen Reich bis in den heutigen Sudan reichte.
50. Die Niederlage der von Philipp II. (1527-1598) zur Eroberung Englands ausgeschickten Flotte leitete im Jahr 1588 den Niedergang der span. Weltmacht und den Aufstieg Englands unter Königin Elizabeth I. ein.
51. Abraham Lincoln (1809-1865) wurde kurz nach dem Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs und seiner Wiederwahl vom Südstaatler John Wilkes Booth erschossen.
52. In Halifax an der kanad. Ostküste, einem traditionellen Flottenstützpunkt der Briten, wurden vom sog.«Fisheries Award»seit Ende des 19. Jh. Fangrechte im Atlantik und entsprechende Ausgleichszahlungen zwischen Alter und Neuer Welt ausgehandelt; worauf sich der hier genannte Vorgang bezieht, konnte nicht mehr eruiert werden.
53. Der poln. Pianist und Komponist Ignacy Paderewski (1860-1941) feierte auf seinen Konzertreisen durch die USA große Erfolge.
54. Lat.«Ich kam, ich sah, ich siegte.»Gaius Julius Cäsar (100 -44 v. Chr.) zugeschriebenes Diktum, mit dem der röm. Feldherr 47 v. Chr. seinen Sieg über Pharnakes II. kommentiert haben soll.
55. Die drei Parzen (röm. Schicksalsgöttinnen) werden auch als«Töchter der Nacht»bezeichnet.
56. Daisy ist der engl. Name für Gänseblümchen bzw. Maßliebchen.
57. Umgerechnet etwa 5,50 m.
58. Starkes Abführmittel bei hartnäckiger Obstipation: Nur zehn Tropfen bewirken choleraähnlichen Durchfall, zwanzig Tropfen können bereits zum Tode führen.
59. Die Weltausstellung von Saint Louis, Missouri, war die dritte auf amerik. Boden und stand unter dem Motto«Leben und Bewegung, Farbe und Harmonie».
60. Einer der ältesten Vergnügungsparks von Saint Louis.
61. Dieser Absatz war in der Originalausgabe von 1929 den Streichungen des Verlags zum Opfer gefallen (vgl. Editorische Notiz). Da für das Verständnis der Episode und die Empfindungen des Protagonisten von zentraler Bedeutung, ist er für die vorliegende Neuübersetzung aus der Langfassung ergänzt worden.
62. Die Weltausstellung«Louisiana Purchase Exposition», auch als«The Saint Louis World’s Fair»bekannt, fand vom 30. April bis zum 1. Dezember 1904 in Saint Louis, Missouri, statt und zog fast 20 Millionen Besucher an.
63. Erotischer Schleiertanz, der dem Bauchtanz der Türken und Araber nachempfunden war und seit den siebziger Jahren des 19. Jh. als anrüchige Schaubudenunterhaltung in amerik. Vaudevilles und Burlesque Shows Verbreitung fand.
64. History of the World. Comprising Evolution of Mankind and Story of All Races (1894), eigentlich vierbändig, des amerik. Historikers John Clark Ridpath (1840-1900).
65. Gründer des altpers. Weltreichs im 6. Jh. v. Chr., der nach großen Eroberungszügen über ganz Vorderasien herrschte.
66. Alexander der Große (356-323 v. Chr.), König von Makedonien, gilt als der größte Eroberer aller Zeiten und herrschte über ein Weltreich, das sich vom Mittelmeer bis nach Indien erstreckte.
67. Arnold Winkelried soll gemäß der Legende in der Schlacht bei Sempach 1386 den Sieg der Schweizer über ein österr. Ritterheer ermöglicht haben, indem er die Lanzen seiner Gegner packte, sie sich in die Brust stieß und den Eidgenossen dadurch eine Gasse bahnte.
68. Gaius Julius Cäsar machte Gallien nach einem langjährigen Feldzug ab 58 v. Chr. zur röm. Provinz.
69. Julius Caesar, III, 2; Hamlet III, 1; Macbeth, III, 4: Macbeth erscheint der Geist des von ihm ermordeten Banquo; Othello, V, 2.
70. O Why Should the Spirit of Mortal Be Proud, Elegie des schott. Dichters William Knox (1789-1825), die Abraham Lincoln in einem Brief an den befreundeten Anwalt Andrew Johnston zu seinem Lieblingsgedicht erklärt.
71. Engl. «‹We are lost›, the captain shouted, / As he staggered down the stairs» aus dem Gedicht The Captain’s Daughter des amerik. Verlegers und Schriftstellers James T. Fields (1817-1881).
72. I Remember, I Remember, Gedicht des engl. Autors Thomas Hood (1799-1845).
73. Engl. «Eighty and nine with their captain, / Rode on the enemy’s track, / Rode in the gray of the morning, / Nine of the ninety came back» aus dem Gedicht The Charge by the Ford des amerik. Politikers und Schriftstellers Thomas Dunn English (1819-1902), einem Intimfeind Edgar Allan Poes.
74. Engl. «The boy stood on the burning deck» aus dem Gedicht Casabianca der brit. Dichterin Felicia Hemans (1793-1835).
75. Engl. «Half a league, half a league, half a league onward» aus Alfred Lord Tennysons (1809-1892) Gedicht The Charge of the Light Brigade.
76. Engl. «Still sits the schoolhouse by the road,/ A ragged beggar sunning; / Around it still the sumachs grow,/and blackberry vines are running» aus dem Gedicht Still Sits the Schoolhouse des amerik. Quäkers und Kämpfers gegen die Sklaverei John Greenleaf Whittier (1807-1892).
77. Anspielung auf Percy Bysshe Shelleys (1792-1822) Essay A Defence of Poetry, geschrieben 1821, veröffentlicht 1840, wo es heißt: «the mind in creation is a fading coal...».
78. Engl. «Await alike th’ inevitable hour, / The paths of glory lead but to the grave» aus Thomas Grays (1716-1771) Elegy Written in a Country Churchyard (1750), zitiert nach der zeitgenössischen Übersetzung von Johann Gottfried Seume.
79. Umgerechnet etwa 1,83 m.
80. Engl.«Danksagung»; von US-Präsident Abraham Lincoln 1863 zum nationalen Feiertag erklärt, hat das traditionelle Verwandtschaftstreffen im Unterschied zum europ. Erntedankfest keinen religiösen, sondern säkularen Charakter und wird alljährlich am vierten Donnerstag im November an der reich gedeckten Familientafel begangen; obligatorisch dabei: der gefüllte Truthahn.
81. D. h. riesig nach Art des unersättlichen Gargantua, vgl. Anm. 21.
82. Lat.«Kleinkind-»bzw. »Säuglingscholera».
83. Die kursivierten Passagen dieses Absatzes waren in der Originalausgabe von 1929 den Streichungen des Verlags zum Opfer gefallen (vgl. Editorische Notiz). Hinter der Entscheidung, die delikaten, stellenweise explizit libidinösen Gewaltphantasien Gants partiell zu entschärfen, auch wenn dadurch die Textlogik perforiert, Sinnbezüge verunklart und Zweck und Aussage des Ganzen vernebelt wurden, standen offenkundig nicht ästhetische, sondern vielmehr handfeste moralische Motive. Für die vorliegende Neuübersetzung ist im Rückgriff auf die Langfassung der innere Monolog in ursprünglicher Gestalt wiederhergestellt worden.
84. Fitzhugh Lee (1835-1905), Neffe von General Robert Edward Lee, befehligte die konföderierte Kavallerie in Virginia.
85. Schauplätze der Schlacht von Gettysburg 1863, einer der blutigsten Schlachten des Amerikanischen Bürgerkriegs.
86. Belle Boyd (1843-1900), die schöne Spionin aus Virginia, informierte den Südstaatengeneral«Stonewall»Jackson über die feindlichen Truppenbewegungen. Sie wurde jedoch nicht hingerichtet, sondern starb an den Folgen eines Herzinfarkts.
87. Am 7. September 1892 bezwang«Gentleman Jim»Corbett (1866-1933) in einem legendären Weltmeisterschaftskampf den seit zehn Jahren ungeschlagenen Champion im Schwergewicht John L. Sullivan (1858-1918) vor über 10000 begeisterten Zuschauern durch K.o. in der 21. Runde. Corbetts Sieg markierte den Übergang in eine neue Box-Ära: In der Wahrnehmung der amerik. Öffentlichkeit war quasi über Nacht aus einer brutalen Hinterhofschlägerei zwischen Halbkriminellen ein unterhaltsamer, salonfähiger Kampfsport geworden.
88. Würziges Eintopfgericht der Cajun-Küche Louisianas.
89. Kurzform für San Francisco.
90. Engl. «Heav’n has no rage like love to hatred turn’d, nor hell a fury like a woman scorn’d.» Zitat aus dem Theaterstück The Mourning Bride (1697) des engl. Dramatikers William Congreve (1670-1729).
91. Henry Morton Stanley (1841-1904), brit.-amerik. Journalist und Afrikaforscher, der durch seine Suche nach dem verschollenen schott. Missionar David Livingstone (1813-1873) berühmt wurde.
92. Die Berichte des amerik. Weltreisenden und Reiseschriftstellers John Lawson Stoddard (1850-1931), den man auch wegen seiner Vorträge schätzte, erschienen ab 1874.
93. Brasil. Luftfahrtpionier (1873-1932).
94. Engl. Chemiker und Physiker (1832-1919).
95. Das 1902 erbaute«Bügeleisen»ist eines der ältesten Hochhäuser New Yorks.
96. Dem schweren Erdbeben von San Francisco im Jahr 1906 fielen nach heutigen Schätzungen rund 4000 Menschen zum Opfer, die meisten Bewohner wurden durch die anschließenden Feuersbrünste obdachlos.
97. Palaces of Sin, or, The Devil in Society (1902) von Robert Seth McCallen (1846 – 1922) unter dem Pseudonym Col. Dick Maple verfasst.
98. Der frz. Maler Gustave Doré (1832-1883) illustrierte neben John Miltons Paradise Lost auch die Bibel, Dantes Divina Commedia, Cervantes’ Don Quijote und La Fontaines Fables.
99. Schweißstahl, der durch Verrühren mit oxidhaltiger Schlacke aus Roheisen gewonnen wird.
100. Eine tropische Stechwindenart.
101. Engl. «Merrily, merrily, merrily, merrily, / Life is but a dream», Schlusszeilen des oft im Kanon gesungenen Kinderreims Raw, Raw, Raw Your Boat; die Melodie wird Eliphalet Oram Lyte (1843-1913) zugeschrieben.
102. Engl. «Waken, lords and ladies gay, / On the mountain dawns the day», ein von Beethoven vertontes Jagdlied des schott. Schriftstellers Sir Walter Scott (1771-1832).
103. Engl. «I envy no man, no, not I, / And no one envies me», ein Kinderreim nach dem traditionellen engl. Volkslied The Miller of Dee aus der Gegend von Chester.
104. Frances Hodgson Burnetts (1849-1924) märchenhafte Geschichte, in der aus einem amerik. Jungen ein kleiner engl. Lord wird, war als Kinderbuch (1886) ebenso erfolgreich wie später als Film.
105. Aus dem pers.-arab. Kulturkreis stammender leichenfressender Dämon. Der Ghul kann in verschiedene Gestalten schlüpfen, behält aber immer seine Eselsbeine.
106. Von ir. Auswanderern in die Vereinigten Staaten mitgebrachter heidnischer Brauch, der am Vorabend von Allerheiligen mit schaurigen Maskeraden begangen wird und im Lauf des 19. Jh. zu einer landesweiten Volksbelustigung geworden ist.
107. Gemeint ist das Märchen Das Feuerzeug von Hans Christian Andersen (1805- 1875), in dem ein armer Soldat von einer Hexe gebeten wird, ihr Feuerzeug aus einem hohlen Baum zurückzuholen. Der Soldat tut, wie ihm geheißen, und findet in dem Baum drei Hunde vor, die Truhen mit Kupfer, Silber und Gold bewachen. Er überwindet die Bestien, stopft sich die Taschen mit Gold voll und behält auch das Feuerzeug der Hexe, der er, wieder zurück, kurzerhand den Kopf abschlägt. Nach einigen Irrungen und Wirrungen endet das Märchen damit, dass der arme Soldat die Tochter des Königs heiratet, nachdem er sie mit Hilfe der durch das magische Feuerzeug herbeigerufenen Höllenhunde zuvor schon einige Male in sein Wirtshauszimmer hatte entführen lassen.
108. Im griech.-röm. Mythos von Proserpina und Ceres (Persephone und Demeter) spiegelt sich das Absterben und Wiederaufleben der Pflanzenwelt im Lauf der Jahreszeiten: Pluto hat Proserpina geraubt und zur Herrscherin der Unterwelt gemacht. Auf Bitten ihrer Mutter Ceres, der Göttin des Ackerbaus, erlaubt Jupiter ihr jedoch, zwei Drittel des Jahres in der Oberwelt zu verbringen.
109. Lautliche Nachäffung des Hebräischen und Jiddischen; möglicherweise ein grammatikalisch fehlerhaftes Kauderwelsch aus engl. «Vee-» (ein slanghaftes «we»), «-(e)shamad-» (was entweder auf das hebr. Verb «shamad» zurückgeht und«zerstören»,«vertilgen»heißt oder sich von «shamed»,«taufen», herleitet) sowie «-ye» (das dialektale engl. Wort für «ihr» bzw. «euch»). Demnach bieten sich folgende gleichermaßen plausible Interpretationen des verballhornten Wortlauts an:«Wir vernichten (bzw. taufen) euch.»oder«Und ich werde euch vernichten (bzw. taufen).»
110. Jidd. Bezeichnung für Nichtjuden.
111. Gemeint: an einer Geschlechtskrankheit Leidenden.
112. Der 26. Präsident der USA (1858-1919) führte von 1901 bis 1909 Reformen in den Bereichen Verwaltung, Wirtschaft und Umweltpolitik durch und wirkte auf eine Monopolkontrolle der Wirtschaftsunternehmen (Trusts) hin. 1901 stellte er sich bei einem Arbeitskampf auf die Seite der 150000 streikenden Bergleute in Pennsylvania und setzte sich für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, einen geregelten Achtstundentag sowie für bessere Arbeitsschutzbedingungen ein.
113. Die Abenteuer des Waisenkinds, das von seinem Adoptivvater John West «Young Wild West» genannt wurde, erschienen unter dem Pseudonym «An Old Scout» zwischen 1902 und 1927 wöchentlich als Groschenromane. Der Held verliebt sich in die«schöne Arietta»und bekommt sie schließlich zur Frau.
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