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Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe München 2022
© 2022 arsEdition GmbH, Friedrichstraße 9, D – 80801 München
Alle Rechte vorbehalten
Text: Karin Müller
Karin Müller wird vertreten von Agentur Brauer (Agentin: Ulrike Schuldes)
Covergestaltung: Max Meinzold
Innenvignetten: Epine/shutterstock.com
ISBN eBook 978-3-8458-4898-3
ISBN Printausgabe 978-3-8458-4458-9
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Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Für Leo. Danke für alles.
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Die fünf Türme der Ashwood Academy
Was in und um Ashwood wächst, kreucht, schwimmt und fleucht
Und so geht es weiter …
Die Autorin
Über mir flirrt ein Meer aus lichten Gelb- und Grüntönen. Hier unten ist es dunkel. Nur Wald, nur Bäume, seit Stunden schon. Wir rauschen mitten hindurch. Es duftet fremd, nach Moos, Holz und Regen. Ich strecke den Kopf noch weiter hinaus, lege ihn in den Fahrtwind und schließe die Augen. Jetzt ist da flackerndes Orangebraun, immer noch so hell, dass meine Augen tränen. Zumindest kann ich es darauf schieben. Hinter meinen geschlossenen Lidern träume ich mich weit hinauf. Ganz hoch. Noch über die Baumwipfel, wo man den Himmel sehen kann, auf Wolken reiten, fliegen. Zurück zu meinen Freundinnen. In die Stadt, die wir heute Morgen verlassen haben, die Schule an der Grand Street, mein Zuhause.
Dachte ich zumindest.
Aber es ist vorbei. Der Mietvertrag ist gekündigt, die Schränke geleert, mein ganzes Leben in Kisten und Kartons gepackt, die Hälfte davon eingelagert, weil in der neuen Hausmeisterwohnung nicht so viel Platz sein wird, hat mein Vater gesagt. Er könne noch gar nicht sagen, wie lange wir bleiben, und möbliert sei sie außerdem bereits.
Und wenn ich die Möbel nicht mag?
Ich wollte nicht weg. Als ich klein war, sind wir schon einmal so Hals über Kopf umgezogen. Es ist nicht mehr als eine flüchtige Erinnerung. Ich habe keine Bilder dazu abgespeichert, nur Gefühle. Einsamkeit, Verlust und Sehnsucht. Ich weiß nicht mal genau, wonach.
Die kalte Luft zerrt an meinen Haaren. Vogelzwitschern begleitet uns, es verschwimmt mit dem Surren von Dads Kleinwagen zu einem verzerrten Geräuschbrei. Reifen auf Asphalt und eine Straße, die niemals endet.
Schön wäre es.
Entschlossen hebe ich meinen Kopf zurück ins Wageninnere und drücke den kleinen Knopf, mit dem sich die Scheibe elektrisch nach oben bewegt.
Mein Vater fährt uns beide ans Ende der Welt, so fühle ich mich. Weltuntergangsstimmung.
»Sind wir bald da?«
Er sieht mich durch den Rückspiegel an und die Fältchen um seine Augen zeigen mir, dass er lächelt. »Du kannst es wohl kaum erwarten, wie? Bist du aufgeregt?«
»Geht so«, sage ich leise, knibbele an meinen Fingernägeln und zupfe mit den Zähnen ein loses Hautfetzchen ab.
»Eine halbe Stunde noch, vermute ich.«
Ich nicke stumm, rolle meinen Pulli zusammen und klemme ihn als Kissenersatz zwischen meinen Kopf und die Autoscheibe. Aber ich kann nicht einschlafen. Also krame ich mein Handy aus dem Rucksack neben mir auf der Rückbank und sehe nach, was in meiner alten Welt, bei meinen Freundinnen Mia und Amy, so los ist. Aber die beiden sind offline.
Wahrscheinlich schlafen sie noch, die Glücklichen, und genießen den letzten offiziellen Ferientag in der Grand Street. Wo wir hinfahren, beginnt der Unterricht morgen erst zwei Stunden später, weil es heute Abend irgendeine Festveranstaltung zum Auftakt gibt. Die beiden beneiden mich darum, als ob das eine Rolle spielen würde. Ich bin nur froh, dass ich nicht mitten im Schuljahr auf eine neue Schule wechsle. Das wäre so ziemlich das Ätzendste, was ich mir gerade vorstellen kann. Es wird nur noch getoppt von unbekannter Schule am Ende der Welt. Ach warte … wir fahren ja ans Ende der Welt – alles cool, läuft bei mir.
Dad und ich haben keine engen Verwandten. Außer meinen Freundinnen interessiert sich niemand dafür, dass wir fortziehen. Bis vor ein paar Tagen war mir gar nicht klar, dass Hausmeister versetzt werden können, von einer Schule an die andere, noch dazu so weit weg und quasi von jetzt auf gleich.
Aber alles Diskutieren hat nichts genutzt. Weil er nämlich von der Regierung angestellt sei und einen wirklich wichtigen Geheimauftrag bekommen habe, hat Dad gesagt und mir dabei mit dem linken Auge zugezwinkert. Ich weiß nie, wann er mich veräppelt und wann er die Wahrheit sagt. Mein Vater hat manchmal einen schrägen Humor. Nur der Jobwechsel war leider kein Witz.
Ich fasse es immer noch nicht, dass er mir nicht früher davon erzählt und mich überhaupt nicht gefragt hat, was ich von einem Umzug halten würde. Gar nichts nämlich!
Normalerweise entscheidet Dad nie etwas ohne mich. Wir sind ein Team, das hat er mir wieder und wieder eingeschärft, seit Mama uns verlassen hat. Da war ich noch ein Baby.
Wenn Erwachsene übrigens sagen: Sie hat uns verlassen – dann ist das in der Regel eine Umschreibung für: Sie ist gestorben. Das hat mir unsere Nachbarin in der Grand Street erklärt, als wir dort eingezogen sind, und mich dabei ganz mitleidig angesehen. Da war ich sieben und hatte keine Ahnung. Jetzt bin ich dreizehn. Ich kann den Schulserver rebooten, den Schneeräumer fahren und weiß nicht nur, wo der FI-Schalter im Hauptsicherungskasten sitzt, sondern auch, wie man ins schuleigene Schwimmbad kommt, ohne dass die Alarmanlage anspringt. Ich habe ein gespaltenes Verhältnis zu Wasser, aber das konnte ich damit gut kaschieren. Ich gehörte zu den coolen Kids! Wir wären mit dem neuen Schuljahr in die Mittelstufe aufgestiegen. Und was nützt es mir jetzt? Gar nichts.
Das Ende der Sommerferien hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt. Mein Leben passt in zwei Koffer, die auf dem Dach eines Hybridwagens festgezurrt sind.
Neustart also. Na gut. Ich hoffe nur, dass Mia und Amy mich wirklich bald besuchen kommen.
»Du wirst es mögen, Lenya«, durchbricht Dad meine Gedanken.
»Muss ja«, brumme ich und sehe wieder zum Fenster hinaus. »Wann sind wir endlich aus dem Wald raus?«
Mein Vater lacht. »Wir fahren gerade erst richtig hinein. Lass dich überraschen. Der Ort ist ein Traum!«
In den vergangenen Tagen habe ich Nachfragen tunlichst vermieden. Ich wollte um keinen Preis den Eindruck erwecken, dass ich mit der Gesamtsituation einverstanden wäre. Aber jetzt, da das Unabänderliche nur noch ein paar Kilometer entfernt liegt, siegt mein Wissensdurst doch. Neugierig lehne ich mich nach vorn.
»Gibt es dort auch ein Schwimmbad?«
»Also, das weiß ich jetzt ehrlich gesagt nicht. Ich war schon sehr lange nicht mehr dort. Aber ganz in der Nähe ist ein See. Die Ashwood Academy liegt wirklich sehr idyllisch.«
»Idyllisch ist eine Umschreibung für ›absolut abgelegen‹.«
Mein Vater lacht. Ich runzle die Stirn – es kommt kein Widerspruch, das ist sehr verdächtig.
»Also ist es ein Internat?«, bohre ich weiter.
Er holt Luft, um zu antworten.
»Aber nicht so eine Eliteschule, oder? Was für Sportangebote gibt es denn?«
»Es ist eine ökologisch orientierte, internationale Waldschule. Der Unterricht findet überwiegend draußen statt. Das habe ich dir doch alles schon erzählt.«
»Das habe ich verdrängt«, gebe ich zu. Hätte ich nur nicht gefragt. Ich habe vage Erinnerungen an einen Waldkindergarten, einen glitschigen Salamander in meiner Hand und an schreiende Kindergesichter. Das muss vor der Grand Street gewesen sein. Ich glaube, wir waren nicht besonders lange dort. Also müssen wir damals öfter umgezogen sein – als Mama noch bei uns war. Komisch, dass mir das in diesem Moment wieder einfällt.
»Hast du mal die Internetadresse von der Schule? Ich habe sie beim Googeln nicht gefunden.«
»Nein, so etwas passt nicht zur …« Er zögert kurz und sucht nach Worten. »… zur Politik der Schule. Die Klassen haben unterschiedliche Schwerpunkte, nach Eignung und Neigung, und der Unterricht …«
»O nein!«, unterbreche ich ihn und stöhne auf. Also doch eine Eliteschule. Womöglich mit lauter zickigen, verwöhnten und schwerreichen Promikindern? Gibt es deswegen keine Informationen darüber im Netz? »Heißt das etwa, ich muss einen Einstufungstest machen?«
»Ehrlich gesagt weiß ich das gar nicht. Es ist …«
Ich hänge mich so schwungvoll an die Lehnen der Vordersitze, dass mein Vater kurz gegenlenken muss. »Bitte nicht! Wann kannst du kündigen? Du hast doch sicher eine Probezeit. Du musst kündigen, wenn ich es nicht aushalte, versprichst du es? Bitte!«
»Du wirst dich dort wohlfühlen, nur Mut.« Er zwinkert mir über den Rückspiegel zu.
Ich presse die Lippen aufeinander. Da bin ich mir nicht so sicher. »Und wie sieht’s da aus? Sind die Schuluniformen erträglich?«
»Also, ich …« Wieder ist da dieses Zögern.
»Du warst doch schon mal da, hast du gesagt?«, frage ich alarmiert.
»Ja. Das war allerdings … eine Weile vor deiner Geburt.«
»Soll das heißen, du schleppst mich ins Nirgendwo und hast nicht mal eine Ahnung, wie deine neue Einsatzstelle so ist?« Erschöpft lasse ich mich gegen die Rückenlehne fallen. »Trashclub Academy. Na wunderbar.«
Mein Vater ignoriert geflissentlich die Ironie in meiner Stimme. »Ja, Helena. Das wird es. Ganz sicher, vertrau mir. Und die Schule heißt Ashwood Academy.«
Ich verschränke die Arme und sehe zum Fenster hinaus. Es interessiert mich nicht mehr die Bohne, wie wunderschön die Sonnenstrahlen den Waldboden anstrahlen und wie sommerlich grün die Blätter glänzen. Ich sehe nur noch die wabernde Masse dunkler Baumstämme, denen die Geschwindigkeit unseres Autos jede Kontur nimmt.
»Ach, komm schon, Lenya. Gib der Sache eine Chance. Der Job ist eine faszinierende Herausforderung für mich. Diese Einladung ist – einzigartig. Ich musste einfach zusagen. Bitte sei nicht böse. Das Geld, das ich verdiene, ist die …«
»… Grundlage für das Leben von uns beiden«, beende ich den Satz, den ich schon tausendmal gehört habe. »Aber du bist Hausmeister, Dad, kein Unternehmensberater. Nicht falsch verstehen, ich finde deinen Beruf super, aber – Moment mal! Ich dachte, du bist versetzt worden?! Wenn es dir in der Grand Street nicht mehr gefallen hat, dann hätten wir doch auch irgendwo in der Nähe was finden können.«
Mein Vater seufzt. »Nein, das hätten wir nicht. Es ist kompliziert und ich kann dir das jetzt nicht erklären. Ich muss mich auf den Verkehr konzentrieren.«
Von wegen. »Uns ist seit Stunden kein Auto mehr begegnet.«
»Ich will nicht mit dir darüber diskutieren, okay?«
»Nicht okay«, schnaube ich.
»Wimpernmilchling«, murmelt mein Vater.
Danach schweigen wir eine ganze Weile. Ich starre auf das Display meines Handys. Ein einsamer Balken, das ist so gut wie offline. Kein Wunder, dass nichts aktualisiert wird. Missmutig lege ich das nutzlose Ding beiseite.
»Ich bin gar nicht böse. Nicht richtig jedenfalls. Gibt es dort wenigstens 5-G-Abdeckung? Unter den Bäumen hier ist ja so gut wie gar kein Empfang. Das Internet ist langsamer als eine Schnecke bei Frost.«
»Also, was das angeht …« Mein Vater zögert und irgendwas am Ton seiner Stimme gefällt mir überhaupt nicht. Aber bevor ich nachfragen kann, steigt er heftig auf die Bremse. »Festhalten!«
Mit beiden Händen packe ich die Kopfstütze des Vordersitzes und stemme mich gegen die Kräfte, die mich trotz Sicherheitsgurt nach vorn ziehen und wieder zurückschleudern wollen.
»Was ist denn los?«
»Büscheliger Risspilz!«
»Satansröhrling!«
Ich muss das erklären: Mein Dad hat einen ziemlich einzigartigen Spleen. Als ich sprechen lernte, ging er dazu über, Pilznamen zu fluchen. Er meinte, wenn Kleinkinder schon etwas nachplappern, dann sollten sie dabei auch etwas lernen. Das habe ich: Der Büschelige Risspilz zum Beispiel heißt lateinisch Inocybe assimilata. Das ist ein unscheinbarer Lamellenpilz, der gruppenweise an trockenen Stellen im Wald auftritt. Er ist giftig, wie fast alle von Dads Fluchpilzen. Aber die meisten sehen wunderschön aus – zumindest in den Augen eines Nerds, wie mein Vater einer ist. Und irgendwann habe ich seine Art zu fluchen übernommen. Es ist ein Familieninsider, sozusagen.
Zwischen den Autositzen hindurch erspähe ich vor uns eine rot gestreifte Schranke. Sie steht mitten auf der Straße und ist der Grund für Dads Vollbremsung. Zehn Meter weiter ist die Straße zu Ende. Punkt. Als ob jemand einfach keine Lust mehr gehabt hätte weiterzubauen: Da sind nur noch Bäume, Sträucher, Unterholz.
Auf den zweiten Blick erkenne ich, dass es sich bei der Absperrung um einen rot-weiß gestrichenen Stamm handelt, der auf zwei Baumstümpfen liegt. Die drei Laternen, die an ihm hängen, flackern seltsam und schaukeln im Wind. Ich kneife die Augen zusammen, denn ich könnte schwören, dass sie nicht batteriebetrieben sind. Irgendwas Lebendiges flirrt und flattert hinter den milchigen Glasscheiben dieser Lampen. Motten? Glühwürmchen? Aber ich kann es nicht genau erkennen, und dann ist plötzlich Dads Gesicht ganz nah vor meinem, weil er sich umgedreht hat und an mir vorbei durch die Heckscheibe sieht.
»Ich habe den Abzweig verpasst«, knurrt er, legt den Arm um die Beifahrerlehne und setzt so schnell zurück, dass ich mich schon wieder festhalten muss.
»Wieso sagt dir denn nicht das Navi, wo du abbiegen musst?«
»Weil ich es gar nicht angeschaltet habe. Hier draußen verlasse ich mich lieber ganz altmodisch auf Straßenkarten.« Ohne hinzusehen, zeigt er mit dem Kinn neben sich. Dort nimmt ein vielfach auseinandergefaltetes Riesenstück Papier den gesamten Platz vom Beifahrersitz bis zum Armaturenbrett ein.
Durch die Seitenscheibe sucht er den Straßenrand ab. »Das müsste es sein. Ich glaube, hier müssen wir rein.«
Ich höre, wie der Blinker losklackert, und denke kurz, wie albern das ist, hier im Nirgendwo einen Richtungswechsel anzuzeigen, während ich weiter von der Karte gebannt bin. Der Wagen rumpelt, die Fahrgeräusche werden lauter. Mein Vater hat mir beigebracht, Papierkarten zu lesen, aber diese sieht anders aus als alles, was ich kenne. Detailreich ausgeschmückte Bäume finden sich neben sonderbaren Zeichen, Schlangenlinien und Gitternetzen. Einerseits wirkt sie antik, aber weder wie die Schatzkarten in Piratenfilmen noch wie die Bilder, die man manchmal in Geschichtsbüchern sieht. Sie sieht dicker aus als gewöhnliches Papier, aber nicht wie Karton. Außerdem ist sie beschichtet und jemand hat mit einem roten Stift nachträglich Linien und Kreuze darauf markiert. Vermutlich ist das unsere Streckenführung, aber ich habe trotzdem nicht den leisesten Schimmer, wo wir uns befinden. In der Nähe eines roten Kringels scheint es einen See zu geben. Wie in Trance strecke ich meinen Arm durch die Lücke zwischen den beiden Sitzen, um die Zeichnung zu berühren. Was bedeuten diese vier Säulen, die auf einer Kreislinie miteinander verbunden sind? Wieso ist eine fünfte nur schraffiert? Ist der breite graue Streifen weiter oben eine Straße? Welcher Maßstab ist das? Und wo ist die nächste Stadt? Oder wenigstens ein Dorf?
Das Auto holpert erneut. Die Karte rutscht vom Sitz in den Fußraum und ich blicke auf und muss mich erst einmal orientieren. Mein Vater schaltet einen Gang herunter. Wir haben die befestigte Straße verlassen und sind auf einen schmalen Weg eingebogen, nur etwas breiter als unser Wagen. Blätter und heruntergefallene Zweige liegen an den Rändern.
An einer Gabelung biegt mein Vater zielsicher nach links ab. Die Fahrspur ist nun nicht viel mehr als ein Pfad aus weichem Waldboden. Über uns bilden die Baumkronen ein dichtes, sommergrünes Dach, durch das ab und an ein Stück blauer Himmel blitzt. Doch die Atmosphäre verändert sich. Der Wald um uns herum wird lichter. Hunderte von Sonnenstrahlen fallen wie Sternenregen auf den Boden und tauchen die gewaltigen Buchen in ein verwunschenes, hellgrün schimmerndes Licht. Aber das ist es nicht allein. Teppiche aus orangerotem Vorjahreslaub, dunkelgrüne Moosflecken, selbst die umgestürzten Bäume und das überwachsene Totholz, sie scheinen von innen heraus zu leuchten.
Ich recke mich in der Hoffnung, Tiere zu erspähen, und bin versucht, die Scheibe wieder herunterzufahren. So gern möchte ich baden in diesem Licht. Waldbaden. Es ist wunderschön, magisch. Aber etwas hält mich davon ab und macht mich traurig. Wir gehören nicht hierher, wir sind Fremdkörper. Wir machen zu viel Lärm, selbst in unserem kleinen Öko-Auto, und obwohl wir ganz still sind, stören wir.
Außer ein paar Vögeln, die im Auffliegen krächzen, kann ich kein Leben entdecken. Trotzdem keimt in mir das Gefühl, dass wir aus tausend Verstecken beobachtet werden.
Aus dem Augenwinkel nehme ich eine Bewegung wahr, ein Huschen, ein flatterndes Stoffglitzern. Aber als ich hinsehe, ist da niemand, erst recht nicht im Glitzerkleid. Natürlich nicht, nur undurchdringliches Dickicht. Vielleicht ist es der Wald selbst, der uns beäugt? Im nächsten Moment, auf der anderen Seite diesmal, blitzt ebenso plötzlich ein steingrauer Pelz hinter einem Baumstamm auf. Die Erinnerung an einen Besuch im Zoo schwappt in mir hoch, als ich noch klein war. Im Freigehege saß eine Braunbärenmutter und kuschelte mit ihren zwei Jungtieren. Ihr Fell sah so dicht und weich aus und ihr Blick so traurig, ich wollte am liebsten zu ihr hinkrabbeln und mich hineinwühlen. Dann warf ein Wärter ein Stück Fleisch über den Zaun und ein anderer Bär wagte sich heran, um ihr das Futter streitig zu machen. Die Bärin richtete sich auf, öffnete den Rachen, zeigte ihre Reißzähne und die messerscharfen Krallen und brüllte. Da war ich dann doch ganz froh, dass uns ein Wassergraben trennte. Seitdem war ich nie wieder im Zoo.
Zweige streifen schabend und quietschend über die Seitenwände unseres Autos und lassen mich aufschrecken. Waren die Büsche eben auch schon da? Die tausend verborgenen Augen brennen sich immer stärker in meinen Nacken. Ruckartig drehe ich mich um und halte einen Moment lang die Luft an. Durch die Heckscheibe ist von dem Pfad, den wir gekommen sind, nichts mehr zu erkennen. Wo ist die Fahrrinne hin? Gestrüpp und tief hängende Äste wuchern aufeinander zu. Da passt nicht mal ein Spielzeugauto durch. Mein Blick fliegt nach vorn. Hier ist alles frei. Nach wie vor. Klar zu erkennen, einladend und lockend – eine normalbreite Fahrspur. Ich drehe mich noch mal um – und sehe, wie die Zweige hinter uns zusammenschlagen.
»Dad?«, frage ich heiser.
»Was ist denn?«
»Kommt dir hier gar nichts komisch vor?«
»Du meinst außer den Einhörnern, die mir ständig fast auf die Kühlerhaube springen?«
»Ha, ha.«
Er fängt meinen Blick auf. »Es ist alles in Ordnung, Erdsternchen. Du warst nur lange nicht mehr … im Wald.«
»Wenn du meinst.« Ich schiele skeptisch im Außenspiegel nach hinten. Es wirkt, als ob der Wald uns versteckt, wie ein Geheimnis, das er mit niemandem teilen mag. Der Weg verschwindet hinter uns, wird unsichtbar, als ob es ihn nie gegeben hätte. Das bilde ich mir doch nicht ein? Ich muss an Hänsel und Gretel denken und an die Bärin im Zoo und schlucke trocken.
»Gibt es hier Bären?«
»Nicht dass ich wüsste. Du bist hier sicher, versprochen.«
Mein Handy zeigt jetzt keinen einzigen Balken mehr an. Ich versuche, einen Blick auf die Tankanzeige zu erhaschen. Sie steht kurz vor Reserve. Wir brauchen jetzt entweder bald eine Ladestation für den Akku oder aber eine schnöde Tankstelle, und beides halte ich mitten im Nichts für eher unwahrscheinlich.
»Die Hecke könnte mal jemand schneiden, oder?« Mein Vater lacht über seinen Witz.
Ich starre den Ausschnitt seines Gesichts im Rückspiegel an und verziehe die Mundwinkel. Nicht komisch. Wie kann er so gelassen sein, wo wir hier weit und breit die einzigen Menschen sind und es nicht mal Empfang gibt?
»Findest du das nicht ein bisschen unheimlich?« Verstohlen streiche ich mir über die nackten Unterarme und ziehe die Ärmel meines Schlabberpullis darüber.
»Was? Den Wald?«
»Nein, nur … Ach nichts, schon gut.« Ich komme mir albern vor und drücke das mulmige Gefühl weg. »Bist du sicher, dass wir noch richtig sind?«
»Wäre gut, oder?« Mein Vater lächelt gut gelaunt in meine Richtung. »Wir werden gegen sechzehn Uhr erwartet, das ist in zwanzig Minuten.«
Wieder schabt etwas Unsichtbares am Auto entlang. Jetzt reicht’s. Ich löse meinen Sicherheitsgurt und klettere über die Mittelkonsole nach vorn auf den Beifahrersitz.
»Vorsicht mit der Karte«, mahnt Dad.
»Jaja. Die Trashclub Academy geht schon nicht kaputt«, murmle ich und falte das enorme Papier provisorisch zusammen, wobei mein Blick aufs Neue von dem Bild der viereinhalb Säulen gefangen genommen wird. Die Kreislinie um sie herum glänzt goldbraun und es gibt eine zweite Linie, welche die oberen Enden im Zickzack miteinander verbindet. Nein, das ist ein beinahe unsichtbares, sternenförmiges Muster, das silbern schimmert, wenn ich das Papier bewege. Es war mir vorhin gar nicht aufgefallen.
»Ashwood Academy. Und jetzt schnall dich wieder an.«
»Was soll denn hier draußen …?«
»Bleiweißer Trichterling!«, ruft Dad und ich kann gerade noch die Schließe einrasten und mich mit beiden Händen am Armaturenbrett abstützen. Die Karte rutscht mir in den Fußraum.
»Kannst du ein bisschen vorsichtiger fahren?«, schimpfe ich und bücke mich, um sie aufzuheben. »Das ist das zweite Mal in einer halben Stunde. Was ist denn los?«
»Beschwer dich bei dem Hirsch«, sagt er und grinst mich an.
Verwirrt folge ich seiner Kopfbewegung und sehe gerade noch die Hinterbeine eines ziemlich großen Tiers mit einem weißen Fleck unter einem wedelnden kleinen Schwänzchen im Dickicht verschwinden.
»Wo kam der denn her?«
»Von links.«
»Ha, ha«, mache ich. Aber mein Herz schlägt schneller, und das nicht nur wegen des Hirschs, sondern weil ich im nächsten Moment etwas noch viel Größeres zwischen den Bäumen entdecke: einen Turm. Und dahinter kommt ein zweiter in Sicht. Sie passen überhaupt nicht zusammen – und sie sehen exakt so aus wie die Säulen auf der Karte.
»Da wären wir«, sagt Dad leise. Und es klingt ziemlich feierlich.
Mit offenem Mund lasse ich die Autotür hinter mir zufallen, nehme meinen kleinen Tagesrucksack auf den Rücken und blicke mich um. So etwas habe ich noch nie gesehen. Wir befinden uns auf einer Lichtung, auf einem sandigen Vorplatz zu einer gewaltigen Anlage mit drei völlig verschiedenen Türmen. Die vielen Bäume machen es unmöglich, alles zu überschauen. Von einem Turm zum nächsten führen breite, mit Laternen gesäumte Wege, die mit Holzfasern und Hackschnitzeln aufgefüllt und mit Natursteinen begrenzt sind. Sonst gibt es keine Gebäude, nicht einmal einen geteerten Parkplatz, der die organische Harmonie stören würde. Links von uns, unterhalb einer kleinen Böschung, schimmert Wasser durch die Bäume. Das muss der See sein, den ich auf der Karte entdeckt habe.
»Willkommen in der Ashwood Academy!« Eine quirlige Frau mit lockigen roten Haaren, die unter einer geringelten Strickmütze hervorquellen, tritt aus der Tür eines von üppig blühenden zartlila Clematis überwucherten Turmes und breitet die Arme aus, noch bevor sie die drei Stufen zu uns heruntergekommen ist.
»Hallo, Peggy, schön, dich zu sehen! Das ist ewig her.« Mein Vater erwidert die Umarmung und die beiden halten sich ganz schön lange fest für Fremde – oder Arbeitgeberin und Angestellter. Ich krause die Stirn und komme mir ein bisschen verloren vor.
Endlich löst sich mein Dad und zeigt auf mich. »Peggy, darf ich dir meine Tochter vorstellen? Lenya, das ist Peggy Ringwald, die Leiterin der Ashwood Academy.«
»Tag«, sage ich.
Sie lächelt mich herzlich an und streckt mir eine Hand hin. Ihr Händedruck ist warm und angenehm fest. »Ich freue mich, dich kennenzulernen, Lenya. Ich habe schon viel von dir gehört.«
»Aha?« Man hat mir offensichtlich ein paar Informationen vorenthalten. Fragend ziehe ich die Augenbrauen hoch und sehe zu meinem Dad. Aber der ist mit seinen Gedanken offenbar bereits ganz woanders. Er hat den Kofferraum geöffnet und wuchtet als Erstes seinen Werkzeugkoffer heraus.
»Also, wo ist unser Patient, Peggy? Du sagtest, es brennt?«
Ich spüre den Blick der Rektorin eine Sekunde lang auf mir ruhen, bevor sie ihm antwortet. »Ja, das tut es in der Tat – sozusagen – im Heizungsraum unter der Mensa. Es sieht nicht gut aus. Das … Hauptaggregat bricht zusammen. Ich bin sehr besorgt, ob wir das überhaupt repariert bekommen. Die Leitungen wirken fürchterlich marode, aber ich bin nur Laie.« Sie unterdrückt ein Schluchzen. »Ich weiß nicht, was ich tun soll, Corb!«
Mein Vater runzelt die Stirn. »Das klingt nicht gut. Aber jetzt bin ich ja da. Alles wird gut, Peggy.«
Ernsthaft? Wir sind noch nicht mal angekommen und schon will mein Vater sich defekte Heizrohre, Stromkabel und Wasserleitungen ansehen? Noch vor dem Auspacken? Als ob die nicht einfach in der Zwischenzeit einen Installateur aus dem Dorf hätten rufen können. Wie dringend kann so ein Schaden wohl sein? Und was wird mit mir? Ich straffe die Schultern und strecke mich. »Soll ich mitkommen?«
»Nein, das ist nicht nötig, Liebes«, kommt die Rektorin meinem Vater zuvor. Sie hat sich wieder gefangen, aber ihr Lächeln wirkt nervös auf mich. Ihr Blick streift suchend die Bäume, dann hellt sich ihre Miene auf und sie winkt jemanden in meinem Rücken zu uns.
»Du kannst in der Hausmeisterwohnung auf deinen Vater warten. Dein Gepäck brauchst du nicht mitzunehmen, wir müssen heute Abend erst sehen, welcher Turm dich haben möchte.«
»Peggy, bitte. Wir hatten doch darüber gesprochen, dass Lenya auf gar keinen Fall …«
»Ja, ich weiß, aber die Wohnung ist nicht groß genug für zwei und der Schlafsaal für die Erstsemester ist …«
»Was? Schlafsaal? Dad!« Ich funkle meinen Vater an. Das hatten wir anders abgesprochen! Keine Gruppenunterkünfte! Keine Schlafsäle! Keine Gemeinschaftsduschen!
»Ich wohne bei ihm!«, erkläre ich der verdutzten Rektorin.
»… abgebrannt«, beendet sie ihren Satz und schneidet eine bedauernde Grimasse. »Vor den Ferien schon. Deswegen haben wir in diesem Jahr auch keine neuen Schüler aufgenommen. Sie kann das schaffen, Corb. Gib ihr die Chance, eine von uns zu werden.«
»Peggy!«, schimpft Dad. Er öffnet den Mund, als ob er noch etwas ergänzen will, klappt ihn wieder zu und zieht stattdessen die Augenbrauen zusammen. »Wie lange besteht denn dieses Problem mit dem Hauptaggregat schon?« Wieder diese komische Betonung. Aber er soll jetzt nicht vom Thema ablenken, Warziger Drüsling noch eins!
»Dad!«, protestiere ich.
»Macht das untereinander ab, später. Jetzt müssen wir uns beeilen.«
Ihr Blick streift suchend die Bäume, dann hellt sich ihre Miene auf und sie winkt jemanden in meinem Rücken zu uns.
»Benu! Wunderbar. Zeigst du Helena bitte die Hausmeisterwohnung? Der Neubau am roten Turm, neben der Ruine. Hinten rum, du weißt schon«, fügt sie hinzu. »Beeilt euch bitte.«
Etwas an der Art, wie sie das betont, ist sonderbar. Und das nicht nur weil sie meinen Taufnamen verwendet hat, den niemand benutzt außer Dad, wenn er sauer auf mich ist. Woher kennt sie den überhaupt? Aber sie lässt mir keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie hat sich bereits umgedreht und schlägt quer über die Lichtung den Weg zu einem runden, beigefarbenen Turm ein. »Kommst du bitte?«
»Das kläre ich, mach dir keine Sorgen«, flüstert Dad mir zu, indem er sich noch mal zu mir herunterbeugt. Dann schultert er seine braune Ledertasche, hebt den Werkzeugkoffer vom Boden auf und hetzt Peggy Ringwald hinterher, die mit wehendem Rock über einen mit Hackschnitzeln gestreuten Weg auf die andere Seite der Lichtung eilt. Und mich lassen sie einfach stehen.
Mit extra viel Schwung knalle ich die Kofferraumklappe zu. In den Baumkronen fliegen krächzend ein paar Krähen auf.
»Das fängt ja super an!« Ich bin echt sauer. Stinksauer sogar.
Hinter mir lacht jemand. Ich fahre herum und blicke in dunkelbraune Augen mit goldgrünen Sprenkeln, die zwischen blauschwarzen Haarfransen hervorblitzen. Das muss dann wohl Benu sein. Der Typ ist etwa so alt wie ich. Die Hände hat er in die Taschen eines etwas ausgeblichenen, übergroßen schwarzen Hoodies geschoben. Seine Beine stecken in einer dunkelgrauen, engen Jeans und knöchelhohen Outdoorschuhen. Und auf seiner Schulter, gut getarnt durch die Farbe seines Pullis, sitzt eine handtellergroße, schwärzlich grün-braun marmorierte Kröte.
»Hallo, Helena.«
»Ich heiße Lenya!«, stelle ich ein bisschen pampig klar. »Gehst du immer mit einer Wechselkröte spazieren?«
Behutsam schiebt er seine Finger unter den Bauch des Tierchens und lässt es auf seine Handfläche kriechen. »Hmm? Nein, Wechselkröten mögen Wälder nicht so gern, sie brauchen Sonne. Das ist eine Kreuz-… Oh, nein, du hast recht, es ist tatsächlich eine Wechselkröte, äh … Lenya.«
Entwaffnend lächelt er mich an und mein Zorn verraucht. Seine Zähne wirken beneidenswert weiß zu der ockerfarbenen Tönung seiner Haut. »Ich wollte nur verhindern, dass jemand drauftritt. Sie kroch hier über den Turmhof, ich schätze, sie war neugierig auf die Neuankömmlinge. Kröten spüren Erderschütterungen schon von Weitem.«
»Turmhof?«
»Du wirst es sehen, wenn es so weit ist.« Mit federnden Schritten trägt er die Kröte ein paar Meter weiter, geht in die Hocke und setzt sie unter einem Busch ab.
»Und hier hat’s gebrannt?« Vielleicht bilde ich es mir ein, aber jetzt, wo Peggy Ringwald davon gesprochen hat, nehme ich tatsächlich einen leicht verkohlten Geruch wahr.
»Ja, aber es ist nicht viel passiert. Um den Neubau war es eh nicht schade, wenn du mich fragst. Schlafsäle werden überbewertet und die Mensa hat kaum etwas abbekommen. Die dürfte bald wieder geöffnet werden. Die Hausmeisterwohnung also, ja?«
Ich nicke. Seine Einstellung zu Massenunterkünften gefällt mir, aber hat er den Beruf meines Vaters eben auch so komisch betont? Trotzig schiebe ich die Unterlippe vor. »Ist irgendwas nicht in Ordnung mit der Arbeit meines Dads?«
Benus Mundwinkel zucken vergnügt. »Ganz im Gegenteil. Ich würde gern alles darüber erfahren. Ich finde es nur ungewöhnlich, dass du mitten … Aber ich sollte keine Fragen stellen.« Er zwinkert mir zu. »Ringel hat es streng verboten, damit du dir nicht komisch vorkommst. Also halte ich mich besser daran. Sie hat ihre Augen überall.«
»Aha?«
Benu grinst. »Na, dann komm. Stör dich nicht an den Wegen, die sind nur für heute Abend so schick gemacht. Normalerweise sind wir hier sehr gechillt.«
»Wo sind denn alle Schüler?«, will ich wissen, während er mich über das Gelände führt. Solange wir uns auf dem Hackschnitzelpfad befanden, ging es ja, aber den verlassen wir recht schnell und er führt mich sozusagen querwaldein. Bei jedem Schritt sinken meine Füße tief in feuchtes, weiches Moos. Schon nach wenigen Metern spüre ich Nässe durch meine Socken dringen. Ich hätte keine Stoffsneaker anziehen sollen. Aber das ist jetzt auch schon egal.
»Das ist sicher alles neu und komisch für dich. Wir haben nie Neuzugänge mitten im Jahr. Die …«
»Wie meinst du das?«, falle ich ihm ins Wort. »Die Sommerferien sind doch gerade erst zu Ende? Morgen ist der erste Schultag, richtig?«
Er lacht. »Ja, aber bei uns beginnt das Schuljahr im Frühling. Wir gehen mit den Jahreszeiten, verstehst du? Dem Zyklus entsprechend. Wusstest du das nicht?«
Ich schüttle den Kopf. Am Ende der Welt und mitten im Schuljahr! Worst case also! Der Albtraum wird immer schlimmer! Was tust du mir hier an, Dad?
»… jedenfalls trudeln die meisten im Lauf des Nachmittags ein. Spätestens bei Sonnenuntergang sind alle da«, sagt Benu und mustert mich. »Mit den Sommerferien ist die Orientierungsphase abgeschlossen. Das nächste Quartal beginnt mit dem Ritual für die neuen Turmschläfer. Daran teilzunehmen, ist Pflicht für alle. Aber das will sich ohnehin niemand entgehen lassen.«
Also doch, von wegen traditionelle Festveranstaltung. »Ritual, ja? Mehr so Harry-Potter-sprechender-Hut oder Handschlag, dunkle Magie und Ohrfeige wie bei Krabat?«
Das sollte ein Scherz sein, aber Benu neigt den Kopf und sieht mich stirnrunzelnd an. Entweder er denkt gerade ernsthaft darüber nach, oder aber er hat keine Ahnung, wovon ich spreche.
»Harry wer?«
Oder beides.
»Nicht wichtig«, sage ich und seufze leise.
»Das erste Quartal dient den Erstsemestern quasi als Orientierungsphase«, erklärt Benu unverdrossen. »Grundkurse, Gruppendynamik, oben oder unten, Taglauscher oder Nachtauge, du weißt schon.«
»Klar«, behaupte ich. »Mehr oder weniger.«
Benu lächelt und mir wird ganz warm. »Ja, so geht’s mir auch.«
»Wieso bist du dann schon hier?«, frage ich schnell und räuspere mich. »Als Einziger?«
Er hebt die Schultern und lacht wieder. »Mein Zuhause ist zu weit weg, um in sämtlichen Ferien nach Hause zu reisen, aber der Einzige bin ich nicht, ein paar andere sind auch schon da.«
Verborgen von dichtem Strauchwerk und Bäumen taucht ein halb verfallener Turm in unserem Sichtfeld auf. In den oberen Stockwerken gibt es kleine Erker, aber die Fensterscheiben sind blind und teilweise zerbrochen.
»Da sollen wir wohnen? Das ist ja wirklich eine Ruine!«
»Der eigentliche Turm steht seit Jahrzehnten leer.« Benu grinst. »Aber der erste Eindruck täuscht. Unten ist alles hübsch. Es gibt einen Anbau. Ringel hat das veranlasst, nachdem …«
»Ringel?«, unterbreche ich ihn.
»Die Rektorin.«
Ich erwidere sein Grinsen. Peggy Ringwald. Der Name passt.