Titel
Impressum
Vorwort
Tür an Tür
Die Farben von Rügen
Die Sache mit den Hühnergöttern
Steinmännchen
Der Miesepeter
Der König von Rügen
Putbus, die Stadt der Rosen
Große Steine
Das rote Schloss
Rügenblicke
Rund ums Kap Arkona
Romantisches Rügen
Unsere Postbotin
Mein kleines Rügen-ABC
Ein Rügengedicht
Nachwort
Ach, fast hätte ich es vergessen … und mehr zum Lesen von John Barns
John Barns
Im Schatten der
Kreidefelsen,
wo Steinmännchen wohnen
und Möwen kreischen
Die schönsten Orte und Geschichten
der Insel Rügen
DeBehr
Copyright by: John Barns
Fotos © by John Barns und Marianne Linge AdobeStock © Rico Ködder
Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg
Erstauflage: 2022
ISBN: 9783957539694
Alle Handlungen und Namen sind frei erfunden, die Orte jedoch gibt es hier auf der Insel Rügen. Für die namentliche Nennung der Plätze des Geschehens wurde das Einverständnis der Eigentümer bzw. Betreiber eingeholt.
Sofern andere Fotos hier zu sehen sind, habe ich mich der Zustimmung der Urheber versichert.
Vorwort
Rügen, allein die Nennung dieses Namens klingt bereits nach Urlaub.
Insel der Sehnsucht, der Freude und Ruhe, damit wird die Ostseeinsel gerne in Verbindung gebracht. Strand, Wald, Wiesen, Kreidefelsen, Bodden und Meer gehören zu Rügen wie die besonders jodhaltige Luft. Viele verbinden die Insel mit dem Sommerurlaub und kennen daher nicht das besondere Flair und die Stimmung im Winter, Frühling und Herbst.
Winter am Bodden
Wenn im Winter am Strand die auslaufenden Wellen zu Eis erstarren und die Luft schneidend kalt und klar ist. Wenn man wirklich die Abgeschiedenheit schätzt, dann kommen jene hierher, die genau das suchen. Wenn der Wind das Salz der Ostsee regelrecht aus den Wellen fegt, um daraus lange, weiße Schlangen aus Meerschaum zu formen, dann spürt man, was den Reiz dieser Jahreszeit ausmacht.
Frühjahr in der Krepnitzer Heide
Im Frühjahr spürt man die Erwartung. Die Tage werden länger und langsam auch wärmer. Erste Knospen an den Bäumen und Sträuchern bilden die Vorboten auf die warme Jahreszeit. Tag für Tag verändert sich nun die Insel und dank des besonderen Lichts verstärken sich die Farben. Es ist die Zeit, für die schönsten Fotos, die Zeit, da sich auf der Insel der erste Höhepunkt ereignet, die Rapsblüte. Innerhalb weniger Tage legt Rügen sein gelbes Gewand an und der Duft nach Honig erfüllt die Luft. Blauer Himmel, gelber Raps, was für ein Farbenspiel. Und dann passiert es: An immer mehr Stellen auf der Insel erscheinen rote Flecken. Es ist die Zeit der Mohnblüte. Im Kontrast mit dem Gelb des Rapses ergibt sich ein Farbenspiel, das seinesgleichen sucht. Jemand sagte mal:
„Erst legt Rügen sein gelbes Kleid an, um danach zu erröten aus Verlegenheit über die eigene Schönheit“. Wie recht er doch damit hat.
Der Sommer bildet traditionell den Höhepunkt des Jahres. Die Insel lebt und Tausende von Erholungssuchenden bevölkern die Orte und Strände. Kinderlachen erfüllt die Luft und die Menschen folgen dem stillen Ruf der Insel.
Lavendelblüte in Sellin
„Sonneninsel“ wird Rügen genannt und das vollkommen zurecht, denn Kap Arkona hat mehr Sonnenstunden als Freiburg im Breisgau. Dank des fast ständig wehenden Windes sind die Temperaturen hier erträglich. Zugleich bieten sie den Kitern und Surfern ideale Bedingungen, um ihrem Hobby nachzugehen. Bunte Kites zieren den Himmel an Bodden und See. Wanderer und Radfahrer durchstreifen die Natur, um sich an ihr zu erfreuen. Sicher, der Jasmund, Deutschlands kleinster Nationalpark, ist mit seinen Kreidefelsen immer einen Ausflug wert, doch lockt gerade zu dieser Zeit die Stadt Puttbus mit seiner unvergleichlichen Rosenblüte. Wer einmal rund um den Zirkus in dieser Zeit flaniert ist, wird es immer wieder wollen. Dass diese nur einige von vielen Ausflugszielen auf der Insel sind, kann man sich denken. Sie alle aufzuführen, würde ein Buch mit Tausenden von Seiten füllen.
Ab Mitte September wird es langsam ruhiger auf Rügen. Immer mehr Verkaufsstände schließen bis zur nächsten Saison ihre Pforten und doch kommen auch jetzt noch viele Gäste. Sie folgen der Verheißung der noch wenigen Sonnentage und sich leerender Strände. Wie im Frühjahr verändert sich das Licht, um nun dem Farbenspiel des Herbstes jene Kulisse zu bieten, die es braucht, um das Wunder der Vergänglichkeit in Szene zu setzen. Abschied ja, und doch zugleich das Versprechen auf einen Neubeginn, so könnte man es wohl formulieren.
Wenn der Winter dann Einzug mit Kälte und Schnee das Finale des Jahres einläutet, dann fragt mancher sich, wo ist das Jahr geblieben? Doch halt, da sind ja noch die Tage nach Weihnachten. Noch einmal erwacht das Leben auf Rügen und erneut kommen sie zu Tausenden, um hier den Jahreswechsel zu begehen. Erst danach fällt Rügen in einen kurzen Schlaf, um schon bald wieder zu erwachen.
Stürmische Ostsee im Dezember
Für mich als Schriftsteller, hat jede Jahreszeit ihren Reiz. Oft finde ich den Inhalt für meine Geschichten ganz spontan. Manchmal ist es eine Begegnung, mal eine Beobachtung, mal eine spontane Szene, irgendwo hier auf Rügen, die ausreicht, um mich zu jenen Worten zu inspirieren, aus denen dann die Geschichten werden. Oft weiß ich nicht, ob sie von Freud oder Leid, von Ankunft oder Abschied handeln, da sich die Inhalte während des Schreibens ergeben. Ich lasse mich einfach gedanklich treiben und sehe vor meinem geistigen Auge jene Bilder, die ich zu Worten, Absätzen und Handlungen zusammenführe. Erst am Ende weiß ich somit um den Inhalt der Geschichten. Aber genau das reizt mich am Schreiben. So wie jene, die hier auf Rügen ihren Urlaub verbringen, gebe ich mich der Stimmung hin. Auch wenn sich in einigen der Geschichten sehr viel schriftstellerische Freiheiten und auch Fantasie befinden, so hat doch jede einzelne einen wahren Kern. Welcher das ist, das überlasse ich Ihnen, meine verehrten Leser, herauszufinden. Es sei aber angemerkt, dass sich dieser oft dort verbirgt, wo man ihn nicht vermutet.
In diesem Sinne wünsche ich Euch und Ihnen viel Freude beim Lesen.
Ihr und Euer John Barns
Tür an Tür
Wohnblock in Dranske
Wer über die Insel fährt, sieht sie überall. Die Rede ist von den Plattenbauten. Einst gedacht, um günstigen Wohnraum zu schaffen, galten sie nach der Wende als Zeichen des untergehenden Sozialismus. Sicher, auch in der BRD gibt es solche Wohnsilos. Meist befinden sie sich am Rande der großen Städte und bieten jenen eine Unterkunft, die nicht zur Ober- oder Mittelschicht der Gesellschaft gehören. Oft bilden sie, bis heute, einen sozialen Brennpunkt.
Völlig anders sieht das auf Rügen aus. Aus den Relikten einer vergangenen Epoche wurde Wohnraum geschaffen, der es auch jenen ermöglicht, hier zu leben, die nicht im Rampenlicht stehen. Viele der Plattenbauten wurden und werden aufwendig saniert und bieten einen gewissen Luxus für kleines Geld. Viele der Mieter haben Schlimmes erlebt und sind privat oder beruflich abgestürzt. Hier, im Schmelztiegel der verlorenen Seelen, kommt es jedoch vor, dass sie, wie der Phönix aus der Asche ein neues, lebenswertes Leben finden. So erging es auch Sandra und Heinz.
Über viele Jahre lebte Sandra auf der Überholspur des Lebens. Beruflich stieg sie in jene Sphären auf, von denen sie immer geträumt hatte, bis hin zur stellvertretenden Geschäftsführung eines großen Unternehmens. Nichts schien ihren Drang nach Erfolg aufhalten zu können. Ein Privatleben kannte sie nicht. Wozu auch, wenn sie hier ihre Erfüllung fand. Täglich arbeitete sie bis zu 18 Stunden und ab und zu auch mal länger. Ohne Rücksicht auf ihren Körper verbrauchte sie jede Reserve. Dann kam jener Tag, der sie daran erinnerte, wie gedankenlos sie mit ihrem Leben umging.
Es geschah während einer Konferenz mit den anderen Geschäftsführern. Wie so oft hatte sie eine Präsentation für ein neues Produkt und dessen Vermarktung in den Tagen zuvor über Tage und Nächte vorbereitet. Schließlich war sie eine Perfektionistin und Fehler waren für sie ein Graus. Das taube Gefühl im linken Arm und die stechenden Schmerzen am Herzen hatte sie, wie den Schwindel im Kopf, einfach ignoriert. Hätte sie es doch besser nicht getan. So stand sie nun vor der Leinwand und befand sich mitten in ihrem Referat, als sich ihr Körper erneut meldete. Der stechende Schmerz am Herzen schlug unvermittelt und mit brutaler Gewalt zu. Sie begann zu schwanken und legte reflexartig eine Hand auf ihr Herz. Doch es war zu spät. Von einer Sekunde auf die andere wurde ihr schwarz vor Augen. Dass sie zu Boden stürzte, bekam sie schon nicht mehr mit.
Als sie erneut die Augen öffnete, sah sie sich verwirrt um. Wo war sie und was war passiert?, fragte sie sich. Sie drehte ihren Kopf zur Seite, um sich zu orientieren. Da war nicht mehr der Konferenzraum, da waren nicht mehr ihre Kollegen in Anzug und Krawatte. Stattdessen sah sie Ärzte und Krankenwestern in ihren weißen Arbeitskitteln. Also war sie im Krankenhaus, stellte sie für sich fest. Wie aber konnte das sein? Ihre Erinnerung an den Schmerz kehrte zurück. War sie etwa noch so gerade dem Tod entronnen? Als sie den Arzt sah, wurde aus ihrem Gedanken Gewissheit, denn er sah sie sehr besorgt an.
„Schön, dass sie wieder bei uns sind“, hörte sie ihn mit beruhigender Stimme sagen. Sandra sah ihn fragend an. „Das war nicht nur knapp, sondern fast schon zu spät“, deutete der Mann an. „Wir mussten sie reanimieren und hätte der Notarzt nicht sofort gehandelt, wären sie wohl nicht mehr hier, sondern in der Leichenhalle“, erklärte er ihr weiter. Erst jetzt wurde sich Sandra des Ernstes ihrer Lage bewusst. Wie aber konnte das sein? Ihr ging es doch gut. Sie spürte, dass es an der Zeit war, über ihr bisheriges Leben nachzudenken. Diese Zeit hatte sie jetzt, denn so schnell würde man sie sicher nicht aus der Klinik entlassen.
Während Sandra so versuchte, ihr Leben zu verändern, machte sich das Schicksal daran, einem ihr völlig unbekannten Mann das eigene zu verändern.
Heinz gehörte zu jenen Menschen, denen das Leben nicht so wohlgesonnen war. Zwar tat er alles, um beruflich und privat jenen Status zu erreichen, den er sich immer wünschte, doch schien es so, als wäre sein Lebensweg mit Steinen und Dornen übersät. Unscheinbar lebte er sein Leben, auch wenn er alles versuchte, es zu ändern. Er gehörte zu jenen, die als Pechvögel vom Leben selbst gezeichnet waren. Sicher, manchmal schien es so, als würde sich endlich jener Erfolg einstellen, den er sich wünschte, doch nur um kurze Zeit später wieder in jenen Abgrund gestoßen zu werden, aus dem er so mühsam hervorgekrochen war. Gezeichnet durch diese Misserfolge hatte er irgendwann aufgegeben. Wozu kämpfen, wozu unnötige Energie aufwenden, wenn es sich nicht lohnte. Er würde stets in der Rangfolge ganz unten stehen, so wie das Heer der Verlorenen. Hier, im Schatten einer unbarmherzigen Gesellschaft, war sein Platz. Hier gehörte er hin. Zwar träumte auch er, wie jeder Mensch, von Erfolg, Reichtum und Anerkennung, doch schien es ein Traum zu bleiben.
Zu Zeiten des Sozialismus gehörte er zu den vielen Landarbeitern, die in den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften dafür sorgten, dass die Versorgung der Bevölkerung gesichert war. Mit Wehmut erinnerte er sich an die Zeit, bevor, mit der Wende und Vereinigung der beiden deutschen Staaten, das grausame Gesicht des Kapitalismus im Lande Einzug hielt. Zunächst von vielen als Befreiung gefeiert, sollte das Volk schnell spüren, dass fortan ein anderer Wind durch das Land zog. So wie ein Orkan ganze Landstriche verwüstete, fegte die Abwicklung ganzer VEB's unzählige Arbeitsplätze fort. Große und kleine Betriebe wurden einfach aufgelöst, nur weil sie nicht dem gewinnorientierten Denken der neuen Herren im Land entsprachen. Auch Hans fiel diesem Denken zum Opfer. Zwar glaubte er lange noch, dass er irgendwann wieder über eine Anstellung und damit ein erträgliches Einkommen verfügen würde, doch so sehr er sich auch bemühte, für ihn schien es in der neuen Ordnung keinen Platz zu geben. Die LPG's wurden privatisiert und auf Ertrag und Gewinn umgestellt. Diese Umstellung sollte sich binnen kürzester Zeit auch auf die Preise für die Grundbedürfnisse der Menschen in der untergegangenen Republik auswirken. Alles wurde teurer. Die Idee, dass alle Grundbedürfnisse für alle Menschen erschwinglich waren, gehörte fortan der Vergangenheit an. Den neuen Besitzern war es völlig egal, ob sie Arbeitsplätze vernichteten. Sie nahmen es als Kollateralschaden der Umstellung stillschweigend in Kauf.
Für Heinz begann die Zeit zwischen Hoffen und Bangen. Immerhin konnte er, trotz steigender Mieten, seine kleine Wohnung halten, auch wenn die Ausgaben einen Großteil seiner wenigen Einnahmen, regelrecht auffraßen. Im Grunde vegetierte er nur noch dahin und wurde zum Schatten seiner selbst. Dass es nicht nur ihm so erging, konnte er feststellen, sobald er vor die Türe trat. Die Gemeinschaft der Verlierer einer neuen Zeit schien hier versammelt. Sicher, er hätte nun endgültig aufgeben können, doch instinktiv spürte er, dass sein Leben noch einen Sinn hatte. Den Grund dafür kannte er jedoch nicht. Wie eine Vorahnung begann er auf jene Dinge zu warten, die noch in der Zukunft, unerkannt im Verborgenen, lagen.
Viele hundert Kilometer entfernt begann für Sandra die Zeit der Genesung. Langsam und mühsam nahm sie den Kampf ihres Lebens wieder auf. Die Ärzte warnten sie eindringlich davor, es wie bisher fortzuführen. Diese Erkenntnis stürzte sie anfangs in eine tiefe Verzweiflung, denn schließlich war ihr Beruf ihr Leben. Das alles sollte sie nun aufgeben? Nein, nein und nochmals nein! Mit aller Kraft versuchte sie, sich gegen die Wendung ihres Schicksals zu wenden. Vergebens. Diesen Kampf konnte sie nicht gewinnen, es sei denn, sie würde den Tod in Kauf nehmen. Es sollte Monate dauern, bis sie erkannte, dass ihr ihr Leben wichtiger als ihr Beruf war. So wie sie einst spontan Entscheidungen fällte, begann sie damit, die Weichen für ihre Zukunft zu stellen.
Als erste Maßnahme trat sie von ihrem Posten in der Firma zurück. Zwar versuchte man, sie umzustimmen, doch in der Hinsicht gab es für Sandra keinen Kompromiss. Entweder der Beruf und damit ein kurzes Leben, oder das Leben und damit verbunden eine Zukunft ohne die Firma. Ein Dazwischen gab es für sie nicht. Um auch räumlich eine Distanz zu ihrem alten Leben zu gewinnen, sah sie sich auf Rügen um. Sicher, sie hätte sich in den besten Wohnlagen in Binz, Sellin, oder den anderen bekannten Seebädern an der Ostküste ein Eigentum leisten können, doch genau das wollte sie nicht. Wenn, dann ein radikaler Schnitt, oder gar nicht. So fand sie letztendlich eine Wohnung in den Plattenbauten von Dranske. Früher, in ihrem alten Leben, hätte sie vermutlich mit Bedauern auf jene geschaut, die hier lebten, doch dieses Leben wollte sie nicht mehr. Unerkannt und ohne großes Aufsehen beschloss sie den Schritt zu wagen, nicht ahnend, dass sie hier ein Leben finden sollte, das ihr zeigte, dass es noch etwas anderes gab als den beruflichen Erfolg.
Als Heinz sah, dass wieder einmal ein großer Umzugswagen vor dem Eingang seines Blocks stand, wunderte er sich zunächst nicht. Schließlich zogen hier oft Mieter ein oder aus. So war das eben in den Bauten und daher nichts Ungewöhnliches. Einzig allein, dass der neue Mieter wohl in die größere Wohnung, direkt neben ihm, einzog, machte ihn etwas nervös. Schließlich wusste man ja nie, wie der Nachbar war. Zwar gab es in den verschiedenen Aufgängen meist eine recht gute Nachbarschaft, aber bereits ein neuer Mieter, der seine ganz eigenen Ansichten hatte, reichte aus, um dieses Verhältnis zu stören. Als er sah, dass eine sehr elegante, modisch gekleidete Frau im besten Alter, dazu noch sehr gut aussehend, wohl die neue Mieterin war, wurde er doch etwas misstrauisch. Wieso zog gerade solch eine Person hier ein, die sich, zumindest vom äußeren Erscheinungsbild, etwas Besseres leisten konnte? War es etwa nur ein Trugbild, das sie nach außen hin repräsentierte, während sich hinter dieser Fassade ein ganz anderer Mensch verbarg? Er beschloss, sich zunächst im Hintergrund zu halten. Da er davon ausging, dass diese Frau bewusst die Anonymität suchte.
In dieser Hinsicht hatte er völlig recht, denn genau das wollte Sandra. Niemandem aus ihrem ehemaligen Umfeld oder ihren besten Freunden hatte sie von ihrer Absicht erzählt, da sie davon ausging, dass man ihr davon abraten würde. Nach außen hin wirkte der Eingangsbereich ihrer neuen Bleibe eher schmuck- und farblos. In ihrem neuen Domizil aber zeigte sich das Gegenteil. Hier richtete sie sich ganz nach ihrem Geschmack ein, und jeder der ein wenig von Luxus verstand, würde sofort bemerken, dass sie einst ganz oben in der Hierarchie der Gesellschaft gestanden hatte. Das aber würde nie passieren, denn zukünftig sollte dieses Refugium, ihr kleines Königreich, nur ihr allein zugängig sein.
Wenn sie Besuch erwartete, so verabredete sich Sandra stets in einem der bekannten Bäder an der Ostküste. Um sicher zu sein, dass niemand sie ausgerechnet in Dranske suchte, hatte sie sich hier ein kleines Haus gekauft, das ausschließlich nur diesem Zweck der Verschleierung diente. Hier wurde sie zum Schein zu jener Frau aus ihrem alten Leben. Ja, es ging so weit, dass sie sich ein regelrechtes Doppelleben aufbaute, von dem niemand etwas ahnte. Dabei fühlte sie immer stärker, dass ihr all der Luxus, all das, was man in der Gesellschaft als angemessenen Lebensstil bezeichnete, völlig egal war. Zunächst wunderte sie sich selbst über diese Einsicht, aber mit der Zeit fand sie Gefallen daran. Sie hätte ihr Leben wohl weiterhin so geführt, hätte das Schicksal nicht eingegriffen.