Die Autorin
Kim Nina Ocker, aufgewachsen im beschaulichen Büren in Nordrhein-Westfalen, zeigte schon früh ein großes Interesse am Schreiben. Ihr erstes literarisches Meisterwerk bestand aus einer beinahe wortgetreuen Abschrift von Magdalena Nabbs »Zauberpferd«, bei der sie lediglich die Protagonistin in »Kim« umbenannte. Leider war die Welt noch nicht bereit für diese Sternstunde der Kreativität, und so musste der große schriftstellerische Durchbruch noch ein wenig warten. Letztendlich schaffte Cornelia Funke den Durchbruch und holte sie ganz und gar in die Welt der Buchstaben. Heute lebt sie zusammen mit ihrer Familie in Wennigsen.

Das Buch
Mona Grey hat sich geschworen, niemandem mehr zu vertrauen, zu lange leidet sie schon unter den Schlägen ihres Vaters und der Apathie ihrer Mutter, die es nicht schafft, sich und ihre Tochter zu schützen. Als dann auch noch ihre beste Freundin Jenny bei einem tragischen Unfalls ums Leben kommt, ist Mona ganz auf sich allein gestellt.
Jude Carter ist neu in Delmont. Eigentlich hat er nicht vor, sich zu verlieben – bis er an seinem ersten Schultag Mona Grey begegnet. Mit ihrer blassen Haut und ihrem schwarzen Haar sieht sie aus wie Schneewittchen, ein trauriges Schneewittchen, das irgendetwas zu verbergen scheint. Doch Jude ist gerade davon fasziniert. Kein Wunder, denn auch Jude hat ein Geheimnis, das weit über Monas Verstand hinausgeht …

Kim Nina Ocker

Dark Smile

Lächle, Mona Lisa

Roman

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

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Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Digitalverlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Oktober 2014 (3)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014
Umschlaggestaltung:
ZERO Werbeagentur, München
Titelabbildung: © Finepic®
Autorenfoto: © privat

ISBN 978-3-95818-018-5

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Mona, 15. Oktober, 17.20 Uhr

Meine Hand rutschte von dem eiskalten Stahl und ratschte über den rauen Stein. Verdammt! Ich spürte den Schmerz in den Fingerspitzen und wickelte mir meinen viel zu langen Ärmel um die Hand. Mittlerweile waren meine Klamotten bis auf die Haut durchnässt, da würden ein paar Tropfen Blut nichts mehr ausmachen. Außerdem hatte ich nicht vor, meiner Mom heute Abend die Kleider zum Waschen zu bringen.

Ein paar Sekunden hielt ich inne, lehnte meine Stirn an den glatten Stahl und schloss die Augen. Außer dem Tropfen des Regens und dem Rascheln vereinzelter Waldtiere war nichts zu hören. Nicht einmal mein Herzschlag. Auch mein Atem machte kein Geräusch. Es war still und friedlich. Vielleicht die Ruhe vor dem Sturm, mir war das jetzt egal. Ich wäre so ziemlich allem entgegengetreten, wenn ich diese Stille dadurch nur noch länger hätte festhalten können. Doch kaum hatte ich den Gedanken zu Ende gedacht, durchriss ein Hupen die Luft und ich zuckte zusammen. Autos sind meiner Meinung nach mit weniger Feingefühl ausgestattet als Motorsägen. Vorsichtig atmete ich ein, lautlos, dann umklammerten meine Hände erneut die Stange. Ich zog mich eine Stufe höher, immer höher in den Himmel. Nur nicht nach unten sehen, sagte ich mir immerzu, auch wenn mir klar war, dass der laubbedeckte Boden nur knapp zwei Meter unter meinen Füßen lag. Stufe um Stufe kämpfte ich gegen mein Gewissen an, bis ich schließlich schwer atmend den fausthohen Rand umklammerte und mich wieder auf festen Grund zog. Die Kiesel unter mir waren nass, aber das macht nichts, wenn man selbst bereits vom Regen trieft. Die Tropfen platschten mir ins Gesicht und ich kniff die Augen zusammen. Einen Moment gestattete ich mir, einfach auf dem Rücken zu liegen und mir den Schmutz der Stadt vom Gesicht waschen zu lassen. Dann rappelte ich mich wieder auf und betrachtete mein Werk.

Ich saß auf dem höchsten Punkt der Stadt, dem Wasserturm. Im Grunde hatte ich keine Ahnung, welche Funktion dieses Gebäude tatsächlich hatte – im Dorf nannten sie es alle einfach nur den Wasserturm. Unten, am Fuß des Zylinders, gab es eine Tür, die schon seit Jahren verschlossen war. Efeu und andere Kletterpflanzen hatten im Laufe der Zeit ihren Platz beansprucht, so dass sich jetzt ein grünbrauner Pflanzenteppich über den gesamten Fuß des Turmes zog. Es gab keine Fenster und auch keine anderen Türen, nur die silbern glänzende Leiter an der Nordseite. Das Dach war flach. Man konnte darauf sitzen. Vorsichtig kroch ich auf allen Vieren zum Rand, um hinunterzusehen. Ein Teil meiner regennassen schwarzen Haare klebte an meiner Stirn, der Rest hing mir in Strähnen über die Schultern. Wie Finger, die mich nach hinten zogen, um mich aufzuhalten. Aber ich war nicht hier, um zu springen. Nein, ich wollte nicht testen, ob meine Arme zu Flügeln würden, wenn ich sprang. Wahrscheinlich würde Mom genau das denken, wenn sie mich hier oben sehen könnte, und dabei ihre Liste meiner angeblichen psychischen Störungen um ein paar Punkte ergänzen.

Ich seufzte und wischte mir die Haare aus dem Gesicht. Der Boden unter mir war ein einziges matschiges Mischmasch aus Braun und Grün. Es regnete in letzter Zeit einfach zu viel, das Laub hatte gar keine Möglichkeit zu trocknen. Und das konnte man meinen Stiefeln ansehen, wie mir gerade auffiel. Als Jenny und ich sie damals gekauft hatten, waren sie noch schwarz gewesen. Jetzt waren sie braun und rochen nach Dreck.

Jenny! Der Name hallte durch meinen Kopf und meinen leeren Brustkorb wie ein unerwünschtes Echo. Ich konnte es nicht zum Verstummen bringen, egal, ob ich die Augen zusammenkniff, bis mir die Äderchen platzten, oder ob ich so laut ich konnte dagegen anschrie. Das Echo war immer lauter, heller und schneller als ich. Es knallte von innen gegen meine Schädeldecke, machte Kopfschmerzen und griff mit eiskalten Händen um mein Herz, dass mir die Luft wegblieb.

Meine Mom meinte, dass ich Zeit brauche. Dass die Zeit alle Wunden heilt. Doch das stimmte nicht. Es war nur eine neue, beschissene Lüge, die man erzählte, um die heile Welt zu retten, die seit Langem nur noch in den Köpfen meiner Eltern existierte. Vielleicht waren sie tatsächlich der Meinung, alles würde wieder gut, dass wir in einem Märchenbuch lebten und die letzte Seite mit dem Happy End jeden Moment aufgeschlagen werden konnte. Allerdings haben sie nicht gesehen, was ich gesehen habe. Nicht gehört, was ich gehört habe. Nicht verloren, was ich verloren habe. Für sie waren meine Probleme einfach ein unschöner Fleck in ihrem schillernden Leben, der schnellstmöglich entfernt werden musste. Nur ein Schritt und ich wäre weg. Nur noch eine Erinnerung, genau wie das Laub hier, das bald verfault und vergessen sein würde.

Würden meine Eltern überhaupt bemerken, wenn ich verschwinden sollte? Mit Sicherheit. Spätestens wenn sich das Geschirr in der Spüle stapelte. Oder wenn die Schule wieder anfing. Ja, sie würden es mit Sicherheit bemerken. Ich sah jedoch nicht ein, warum ich es ihnen so einfach machen sollte. Ich war ihr Fleck. Also mussten sie sich auch darum kümmern.

Ich seufzte noch einmal, tiefer diesmal, und ließ die eiskalte Luft durch meine Lunge strömen. Es tat gut, die Kälte in meinem Inneren zu spüren. Ein Beweis, dass ich doch nicht komplett hohl war.

Als ich Stunden später wieder Laub unter den Füßen spürte, hatte die Sonne sich so weit verzogen, dass alles um mich herum wie von schwarzer Tinte verschluckt wurde. Ich konnte die Hand vor Augen nicht sehen, aber ich hatte keine Angst mich zu verlaufen. Ich kannte diese Wälder besser als die Straßen der Stadt. Das Schlimmste, was mir passieren konnte, war, dass ich gegen einen Baum rannte. Und das würde ich überleben. Neben mir raschelte es. Im nächsten Moment schoss etwas Kleines vor meinen Füßen über den Trampelpfad. Wahrscheinlich ein Kaninchen oder ein Eichhörnchen. Nur manchmal begegnete mir auch eine Ratte. Noch ein Rascheln. Diesmal war es gleichmäßiger. Knack, knack. Knack, knack. Knack, knack.

Schritte! Das waren eindeutig Schritte! Ich blieb stolpernd stehen und schlug mit den Händen auf meine Jackentaschen, obwohl ich wusste, wo ich mein Pfefferspray hatte: zu Hause in der Nachttischschublade. Mit klopfendem Herzen lauschte ich in die Dunkelheit. Es war nichts mehr zu hören, außer den Geräuschen des Waldes. Verfluchte Scheiße, das hier war mein Wald! Meine Zufluchtsstätte! Ich würde nicht zulassen, dass ein zugedröhnter Junkie mir einredete, dass ich mich hier fürchten musste!

»Hey!«, rief ich zwischen die Bäume. Ich zuckte zusammen, als ich meine eigene Stimme hörte. Sie war brüchig und rau und klang nach brechendem Holz.

»Was auch immer Sie da machen, ich habe keine Angst!«

Okay, das war vielleicht nicht ganz die Wahrheit aber ich würde diesem Jemand mit Sicherheit nicht auf die Nase binden, dass mir das Herz mittlerweile in der Kehle pochte.

»Hallo?«, rief ich noch einmal. Keine Antwort. Vielleicht war der Junkie an seiner Überdosis verreckt? Sollte ich jemanden holen? Die Polizei vielleicht? Ich kramte mein Handy aus meiner Hosentasche und hielt das Display hoch, damit das spärliche Licht den Waldboden erhellte. Nichts. Links von mir waren ein paar Pflanzen zertrampelt, sonst war nichts zu sehen. Also gut, kein Junkie. Gott sei Dank!

Ich konnte mir wirklich Besseres vorstellen, als mir selbst die Cops auf den Hals zu hetzen. Ich lief zögernd weiter und verfluchte mich selbst, weil ich meinen MP3-Player zu Hause gelassen hatte. Wenn ich nichts hören konnte, hätte ich auch keine Angst vor unsichtbaren Schritten haben müssen.

Gerade einmal fünfundzwanzig Schritte schaffte ich, bis ich sie wieder hörte. Knack, knack. Erschrocken wirbelte ich herum, versuchte so viel wie möglich gleichzeitig zu sehen. Langsam wich ich auf dem schmalen Pfad zurück, bis meine Hände feuchte Blätter berührten. Ich ging in die Knie und tastete hinter mir auf dem Waldboden herum. Meine Finger fanden einen dicken Ast und umklammerten ihn. Ich richtete mich wieder auf, meinen improvisierten Knüppel an die Brust gepresst.

»Hallo?«, flüsterte ich. Meine Stimme war nur noch ein Hauch. Die Angst erstickte jeden Ton, bevor ich ihn aussprechen konnte. »Ist da jemand?« Wieder keine Antwort, kein Zeichen, kein Rufen oder neue Schritte. Wäre ich ein etwas fantasievollerer Mensch gewesen, ich hätte begonnen, an Wahnvorstellungen zu denken. Mir entfuhr ein trockenes Lachen, als ich an meine Mom dachte. Ihr würden Wahnvorstellungen gut gefallen. Die waren immerhin besser als akute Suizidgefahr. Oder Essstörungen. Ich hatte in den letzten zwei Jahren so einiges ausprobiert.

Noch immer stand ich wie erstarrt im Wald und umklammerte meinen Stock. Keine Ahnung, was ich damit vorhatte. Würde ich jemandem tatsächlich einen Knüppel überziehen können? Zusehen, wie sich das Blut allmählich in seinem Haar ausbreitet und es dunkelrot einfärbt? Wie sich Augen zuckend schließen und ein Körper nach und nach kapituliert? Wie das Leben aus einem Menschen hinaussickert, wie sein Blut aus der Kopfwunde? Mir wurde schwindelig. Ich klammerte mich an einen Baumstamm, bis die Welt aufhörte, sich nach dem Kommando des Echos zu drehen. Das war doch alles totaler Schwachsinn! Hier war niemand! Und wenn doch, dann war er offensichtlich zu feige, um mich anzugreifen. Oder es war einer dieser Perversen, die sich damit zufrieden gaben, Mädchen aus der Ferne zu beobachten. Damit kam ich schon klar.

Entschlossen warf ich meine großartige Waffe in die Büsche und rannte nach Hause. Ganz kurz dachte ich, einen Laut aus der Dunkelheit zu hören, doch ich hielt nicht an, bevor ich das Licht unserer Veranda entdeckte.

Jude, 15. Oktober, 23.17 Uhr

Es waren drei Jungen, noch Kinder, die das Mädchen – hinter Bäumen versteckt – beobachteten. Gelangweilt beobachtete ich ihr Treiben. Himmel! Diese Kerle mussten echt noch einiges dazulernen, wenn sie ihren Vätern nacheifern wollten. Sie waren viel zu laut, sollte das eine ernstzunehmende Verfolgung sein? Einer der Jungs – ein hageres, strohblondes Muttersöhnchen – verhedderte sich mit dem Fuß in einem Brombeerzweig und strauchelte eine Weile. Es knackte überall. Ich verdrehte die Augen. Diese Kerle waren nicht wert, dass ich ihnen Beachtung schenkte. Wahrscheinlich würden sie sofort in Ohnmacht fallen, sobald sie die Schwarzhaarige hatten. Das hier war eindeutig ihr erster Versuch, einen auf harte Jungs zu machen.

Das Mädchen bekam allmählich Angst. Sie begriff, dass sie nicht mehr allein im Wald war. Die Jungs waren einfach zu laut. Im Grunde sollte es mich nicht kümmern. Ich meine, wenn man nachts allein im verlassenen Wald herumrennt, dann soll man sich nicht wundern, wenn man nicht wieder heil zurückkommt, oder? Was wollte sie auch hier? Mädchen wie sie sollten um diese Zeit im Bett liegen und von Robert Pattinson oder Brad Pitt träumen.

Seufzend sprang ich von meinem Baum. Im Gegensatz zu diesen Idioten da vorne konnte ich mich vollkommen lautlos durch das tote Laub bewegen. Nicht ein Knacken, kein Knistern, nichts – und bei Nacht war ich nahezu unsichtbar. Als ich näher kam, hatte sich das Mädchen an den äußersten Rand des kümmerlichen Trampelpfades gedrängt, als könnten die Bäume hinter ihr sie schützen. Vor dem Körper umklammerte sie einen Ast, als wollte sie jeden Moment losrennen und jemanden erschlagen. Ich musste ein Lachen unterdrücken. Was hatte sie vor? Wollte sie diese armen kleinen Trottel umbringen? Das waren sie wirklich nicht wert.

Ich wandte mich von der verängstigten Schwarzhaarigen ab und suchte in der Dunkelheit nach den drei Kindern. Zusammengepfercht wie eine Herde Schafe starrten sie immer noch auf den Lichtkegel, den das Handy des Mädchens auf den Waldboden warf. Einer murmelte irgendwas, was ich nicht verstehen konnte. Da erst erkannte ich, dass der Menschenhaufen vor mir lediglich aus zweien bestand. Wo war der dritte?

Leise drehte ich mich im Kreis und entdeckte den Großen, der fast erwachsen und ein wenig bedrohlich wirkte. Er schien entschlossener zu sein als seine beiden Schoßhunde. Zielstrebig pirschte er durchs Unterholz und war dabei beinahe so geschickt wie ich. Wäre ich allein gewesen, hätte ich anerkennend durch die Zähne gepfiffen. Normalerweise verhalten sich Menschen weitaus trampeliger und rücksichtsloser, wenn es um ihre Umwelt geht. Aber mir blieb keine Zeit, mich über die Fähigkeiten meines Gegenübers zu wundern, denn in diesem Moment bewegte das Mädchen ihre Hände und das Licht des Displays wurde für Sekundenbruchteile von etwas Glänzendem reflektiert, das der Große in der Hand hielt. Der schien nichts zu merken, war immer noch unterwegs, direkt auf Schneewittchen zu – mit einem Messer in der Hand.

Gut, das ging zu weit. Wenn die drei sich ein bisschen in den Büschen verstecken und einsame Mädchen anstarren wollten, dann bitte! Aber ganz offensichtlich wollte der Große sich nicht mehr mit dem bloßen Beobachten zufrieden geben. Schnell und absolut lautlos schlängelte ich mich durch die herabhängenden Äste und pirschte auf den Kerl zu. Er war inzwischen kaum einen Meter von dem kleinen Pfad entfernt, nur noch wenige Schritte von dem Mädchen, das jetzt keuchend einen Baum umklammerte. Mein Kopf fuhr zu ihr herum. Was war passiert? Hatte der Kerl das Messer geworfen? Nein, er hielt es noch in der Hand. Und was hatte die Schwarzhaarige? Einen Moment konnte ich mich nicht entscheiden, wen ich beobachten sollte – das Mädchen oder den Brocken, der ihr auf den Fersen war. Dann entschied ich, dass der Kerl im Moment wichtiger war als ein Mädchen, das offensichtlich mehr Probleme hatte als ein paar hartnäckige Verfolger.

Bevor der Typ einen weiteren Schritt machen konnte, hatte ich einen Arm um seinen Hals geschlungen. Seine Augen wurden kugelrund. Natürlich wollte er schreien, doch meine Hand auf seinem Mund verhinderte jeden Ton. Hinter mir hörte ich die anderen Jungen nervös flüstern. Sehen konnten sie uns nicht. Der Große wehrte sich heftig gegen meinen Klammergriff. Keine Chance. Ein Zucken und ich würde ihm das Genick brechen können. Ich hatte das Gefühl, dass auch er das wusste. Nein, heute würde ich ihn nicht töten. Ich knurrte frustriert und drückte dem Schwein meinen Daumen unter den Kieferknochen. Es dauerte ein paar Herzschläge lang, bis seine massige Gestalt unter mir erschlaffte. Mit einem angewiderten Laut stieß ich ihn von mir und konnte ein Grinsen nicht verhindern, als er mit dem Gesicht genau in einem Haufen Hasenscheiße landete. Wieder hörte ich die beiden anderen hinter mir. Anscheinend wurden sie allmählich nervös. Hastig zog ich mich zurück zwischen die Büsche. Um ehrlich zu sein, war ich nicht begeistert von der Aussicht, mich jetzt auch noch um ein völlig panisches Teeniemädchen kümmern zu müssen. Als ich mich umdrehte, war der Pfad leer. Das Mädchen war verschwunden. Es hatte sich aufgelöst in der Nacht, ohne zu wissen, wer es verfolgt und wer es gerettet hatte.

Mona, 18. Oktober, 5.00 Uhr

Drei Tage später war Montag. Ich hasste Montage, nicht nur wegen der Tatsache, dass die Schule wieder losging. Montags hatte ich Sport und Geschichte, meine beiden Hassfächer. Meine Laune war bereits auf dem Nullpunkt, als ich meine Schultasche packte. Mom hatte gestern Abend das Essen anbrennen lassen und Dad war sauer geworden. Ich wollte nicht sehen, was seine Wut angerichtet hatte, nachdem ich in mein Zimmer geflohen war. Und ich wollte ihm mit Sicherheit auch nicht begegnen, denn sonst würde ich etwas zu hören bekommen. Ich hatte mich gestern Abend während des Streits in meinem Zimmer eingeschlossen – ein absolutes Kapitalverbrechen in diesem Haus. Dad versperrte man nicht einfach den Weg. Das war Respektlosigkeit in ihrer schlimmsten Form. Also stellte ich meinen Wecker eine Stunde zu früh und schlich aus dem Haus, bevor meine Eltern aufwachten. Wenn ich Glück hatte, würden sie nicht bemerken, dass ich mich aus dem Staub gemacht hatte.

Auf dem Weg zu meinem Wagen zog ich die Kapuze über den Kopf und drückte mir die Stöpsel des MP3-Players in die Ohren. Es hatte schon wieder angefangen zu regnen. Mittlerweile wurden auch die Tage immer kürzer. Es war nicht mehr zu leugnen, der Winter war auf dem Vormarsch. Hastig schloss ich die Fahrertür auf, warf meine Tasche auf den Rücksitz und hüpfte hinein. Die Heizung brauchte jedes Mal eine Ewigkeit, um warm zu werden, also beeilte ich mich, den Motor zu starten. Das Problem bei meinem ansonsten treuen Auto war, dass es selbst entschied, ob es fahren wollte oder nicht. Jeden Morgen musste ich mich fragen, ob ich wohl mit dem Wagen zur Schule käme, oder nicht. Der Bus fuhr nur ein paar Straßen weiter, aber ich hasste den Bus. Er war mir zu voll. Und solange sich meine Noten nicht besserten, kaufte Dad mir keinen neuen Wagen.

Ich kniff betend die Augen zusammen, als ich den Zündschlüssel rumdrehte. Der Motor röchelte ein paar Mal, dann sprang er mit einem wütenden Knurren an. Erleichtert grinste ich vor mich hin, als ich rückwärts aus der Einfahrt fuhr und meinen Honda Richtung Stadt lenkte.

Nach und nach füllte sich der Innenraum mit warmer Luft, und meine Muskeln entspannten sich ein wenig. Ich war viel zu früh dran, fuhr aber trotzdem sofort zur Schule. Von früheren Aktionen wie dieser wusste ich, dass der Hausmeister bereits um fünf aufschloss und man sich mit ein wenig Glück hineinschleichen konnte. Immerhin wäre es drinnen warm. Ich schob mir die Tasche wieder über die Schulter und sah mich kurz auf dem Schulparkplatz um. Einige Lehrerautos standen schon in den Parklücken, doch die Lehrer würden nur kaffeesaufend im Lehrerzimmer hocken. Keine Gefahr also.

Unsere Schule war ein farbloser rechteckiger Bunker. Wer hier nach selbstgebasteltem Fensterschmuck oder Bildern suchte, brauchte sich erst gar keine Hoffnungen zu machen. Alles in diesem Gebäude war grau, selbst das Licht der Neonröhren. Die Flure waren kalt und dunkel, genau wie die Klassenzimmer, und passten wunderbar zu meiner Stimmung.

Leise schlich ich über die Flure in den westlichen Teil der Schule. Dort waren die naturwissenschaftlichen Räume untergebracht, und der Kunstraum, auf den ich es jetzt abgesehen hatte. Seit der Sache mit Jenny war es mit meinen Noten drastisch bergab gegangen, nur in Kunst hatte sich nichts verändert. Wenn es etwas Sicheres, Eigenes, für mich auf dieser Welt gab, dann war es das Zeichnen. Niemand konnte meine Bleistiftstriche lenken, sie gehorchten allein mir. Ein kleines bisschen Kontrolle in einem Leben, das sonst von anderen bestimmt wurde.

Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich noch mehr als eine Stunde hatte, bis die anderen Schüler eintrudeln würden. Genug Zeit, um mich meinem neusten Werk zu widmen. Ich schlüpfte aus meiner Jacke und stellte die Schultasche auf einen der heruntergekommenen Stühle an der Wand. Mein Schrank war ganz hinten. Ich ging hinüber und räumte meine Sachen auf den Tisch neben der Staffelei. Mr. Winter, mein Kunstlehrer, wusste, dass ich öfters herkam, deshalb schloss er die Materialschränke nur noch selten ab. Insgeheim war ich mir sicher, dass der Mann eine Ahnung von dem hatte, was bei mir zu Hause ablief. Natürlich sprachen wir nicht darüber. Überhaupt wechselten Mr. Winter und ich kaum ein Wort, er sah sich einfach nur meine Bilder an und wenn er etwas zu sagen hatte, tat er das mit Worten, die er unter meine Bewertungen kritzelte.

Stirnrunzelnd stellte ich meine neue Leinwand auf die Staffelei und starrte sie an. Ich war noch nicht weit gekommen, konnte jedoch schon jetzt sehen, dass das nichts wurde. Ich hatte versucht, den Blick vom Wasserturm einzufangen, jedoch mit miserablem Ergebnis. Die Skizze hatte nichts von dem Gefühl der Freiheit, nichts von der unendlichen Sicht über die Baumwipfel und vor allem nichts von der Stille eingefangen, die ich so liebte. Meine Striche waren zu kurz, zu unruhig, sie wollten einfach nicht zum Leben erwachen. Sie waren einfach nur Grau auf Weiß. Keine Perspektive. Und auch die Schatten waren zu dunkel. Genervt griff ich nach meiner Federmappe und nahm den rosafarbenen Radiergummi, den mein Vater mir geschenkt hatte. Ich feuerte wütende Blicke auf ihn ab, aber es schien ihn nicht sonderlich zu stören. Nicht einmal hier konnte mein Vater mir meinen Frieden lassen. Einen Moment überlegte ich, ob ich versuchen sollte, das Bild zu retten. Dann schüttelte ich frustriert den Kopf. Ich hatte schon dutzende Male versucht, den Wasserturm zu zeichnen und nie hatte ich es hinbekommen. Es war einfach nur dämlich, dass ich es immer wieder versuchte.

Ein Rumpeln riss mich aus meinen Gedanken und hielt mich davon ab, meine Faust durch die Leinwand zu schlagen. Die Tür flog auf und knallte gegen die Wand, wo die Klinke einen dunklen Abdruck hinterließ. Ich wollte gerade den Mund aufmachen und den Hausmeister zur Sau machen – doch es war nicht der Hausmeister, der da in der Tür stand.

Es war eine Junge, perfekt gestylt und mit einer knallgelben Schultasche über der Schulter. Verwirrt schaute ich auf die Uhr. Es war immer noch viel zu früh, als dass meine lieben Mitschüler guten Gewissens zur Schule gehen konnten. Ich hatte diesen Typen noch nie gesehen. Unsere Highschool hatte etwa fünfhundert Schüler, da war es ganz selbstverständlich, dass man jeden und alle wenigstens vom Sehen kannte. Der Junge – oder war er schon ein Mann? – sah mich mindestens genauso verblüfft an wie ich ihn, sagte aber nichts.

»Kann ich dir helfen?«, fragte ich so unfreundlich wie möglich und versuchte mich unauffällig vor meine Staffelei zu schieben. Wenn der Kerl auch malte, war ich nicht wirklich scharf darauf, dass er meine Katastrophe in Schwarzweiß allzu genau betrachtete.

»Ich suche das Sekretariat«, antwortete er langsam. Seine Stimme war tief und klang ein bisschen rau, als hätte er lange nicht mehr gesprochen oder zu viel geraucht, was wohl wahrscheinlicher war. Ich betrachtete ihn genauer. Er wirkte älter als ich zuerst gedacht hatte. Er musste mindestens einen Kopf größer sein als ich und locker doppelt so breit. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich mich mit Sicherheit hinter ihm verstecken können. Seine Haare waren von einem dunklen, schmutzigen Blond. Straßenköterblond, wie meine Mom sagen würde. Ich zwang meine Augen wieder zurück auf sein Gesicht. Er musterte mich.

»Wie du siehst, bist du hier falsch«, murmelte ich und drehte mich wieder zu meiner Staffelei um. Er schien den Wink nicht zu verstehen.

»Was machst du hier? Hast du mal auf die Uhr geguckt?«

»Was interessiert es dich?«, fauchte ich über die Schulter. »Du bist doch auch hier, oder nicht?«

»Ich suche das Sekretariat«, sagte er wieder, als wäre ich schwer von Begriff. »Das hast du schon gesagt.«

Ich hörte etwas rascheln, dann einen leisen Rums, als er seine Tasche auf den Boden stellte. Er sollte gar nicht erst auf die Idee kommen, sich hier häuslich einzurichten. Wütend warf ich den Radiergummi zurück in die Federmappe.

»Und?«, fragte der Typ hinter mir. Ich fuhr herum. Er stand immer noch an derselben Stelle. Der verwirrte Gesichtsausdruck war verschwunden. Ohne die Falte auf seiner Stirn sah er zugegebenermaßen gar nicht schlecht aus.

»Und was?«, zischte ich.

»Zeigst du mir den Weg?«, fragte er.

Ich schnaubte entrüstet: »Geh den Gang zurück. Am Ende des Flurs ist ein Schild. Geh rein, wenn du Sekretariat liest. Das solltest du hinkriegen.« Es sei denn, du hast dir das Hirn kaputtgekifft.

Dann wäre er an dieser Schule wenigstens in bester Gesellschaft. Bevor er mich noch mehr vollquatschen konnte, packte ich Jacke und Tasche und stürmte an ihm vorbei in die leeren Flure. Leider hatte der Typ aus dem Kunstraum Recht gehabt, es war einfach zu früh für die Schule. Von den anderen Schülern war noch keiner da, und die Lehrer hatten sich wie Ratten in ihren Löchern verkrochen. Meine Hausaufgaben machte ich schon seit Langem nicht mehr, also war ich irgendwie arbeitslos. Ich verfluchte den unbekannten Jungen, der mich aus meinem sicheren Refugium vertrieben hatte. Vielleicht sollte ich einfach zurückgehen und mich wieder in den Kunstraum schleichen. Aber ich wollte das Risiko nicht eingehen, ihm noch einmal über den Weg zu laufen. Im Gegensatz zu unseren Mitschülern schien er nicht zu wissen, wer ich war. An der Schule war ich das sonderbare Mädchen aus dem Haus oben am Wald. Und ich hatte mir in letzter Zeit auch keine Mühe gegeben, an diesem Ruf etwas zu ändern. Mir war es nur recht, wenn die Leute mich für seltsam hielten, denn mit seltsamen Menschen redete man nicht. Das Verrücktsein bewahrte mich vor aufdringlichen Schülersprechern und Vertrauensschülern, also nahm ich es hin. Immerhin hatten die Leute irgendwann genug davon gehabt, wilde Geschichten über mich zu erfinden und ließen mich einfach in Ruhe. Ich war langweilig geworden und dafür war ich dankbar.

Das Gesicht des Jungen tauchte wieder in meinem Kopf auf. Wie eindringlich er mich gemustert hatte. Angestarrt, könnte man fast sagen. Vorsichtig hob ich die Hand und klappte die Sonnenblende herunter, damit ich mein Spiegelbild sehen konnte. Ich versuchte mich nüchtern zu betrachten. Ja, ich sah wirklich aus wie eine Verrückte. Was dachten fremde Leute wohl, wenn sie mich sahen? Was hatte der Junge gedacht?

Na ja, wahrscheinlich hatte auch er mich für bescheuert gehalten, immerhin stand ich Stunden vor Unterrichtsbeginn in einem Kunstraum und malte windschiefe Türme auf Leinwände. Wie erbärmlich. Wahrscheinlich hatte er sich innerlich gekrümmt vor Lachen, was seinen verkniffenen Gesichtsausdruck wenigstens erklären würde. Aber ich hatte schon vor einer ganzen Weile aufgehört, mir Gedanken über andere Leute zu machen.

Jude, 18. Oktober, 7.47 Uhr

Es war das Mädchen aus dem Wald. Das hatte ich erkannt, sobald ich den Kunstraum betreten hatte. Ihre Haare waren trocken und nicht mehr ganz so dunkel wie gestern Nacht, es waren ihre Augen und es war ihre Statur. Sie erkannte mich natürlich nicht. Sie hatte ja nicht einmal mitbekommen, dass sie in dieser Nacht Hilfe bekommen hatte. Eigentlich war ich nicht der Mensch für Lobeshymnen, aber ein bisschen mehr Freundlichkeit hätte ich mir schon erhofft.

Wenigstens hatte ich den Weg zum Sekretariat gefunden und mich für den Unterricht in diesem Bunker eingetragen. Das würde ein sehr deprimierendes letztes Highschooljahr werden. Welcher Architekt entwarf solche Bauten mit dem Hintergedanken, Schüler dort hinein zu schicken?

Ich hatte noch fünfzehn Minuten, bis die erste Stunde beginnen und der Startschuss für ein weiteres Jahr in der Hölle fallen würde. Der Parkplatz füllte sich allmählich mit schwatzenden und gähnenden Schülern. Fast noch Kinder, kaum älter als sechzehn, und sie alle hielten sich für die Könige der Welt. Ein Mädchen mit rotbemalten Lippen und blauem Lidschatten stöckelte an mir vorbei und ließ ihre künstlichen Wimpern klimpern. Blondie musterte mich von oben bis unten, schenkte mir noch ein strahlendes Lächeln und verschwand dann im Schulgebäude. Ich unterdrückte nur mit Mühe ein Stöhnen. Das konnte ja noch interessant werden. Als ich mich umdrehte, sah ich Schneewittchen aus ihrem Wagen klettern. Die schwarzen Haare wurden vom Wind nach vorne geweht, sodass ich ihr Gesicht nicht sehen konnte. Ich wollte ihre Augen sehen. Im Kunstraum waren sie hellblau erschienen – so hell, dass es beinahe ein bisschen gruselig ausgesehen hatte. Ich wollte wissen, ob die ungewöhnlich helle Farbe bloß Resultat des ätzenden Neonlichts gewesen war. Aber sie drehte sich nicht um, sondern zog die Kapuze ihres schwarzen Shirts über den Kopf und tauchte in der Flut der Schüler unter. Eines war sicher: Unsichtbar machen konnte sie sich ausgezeichnet.