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»Noch einen Kaffee, Herr Kommissar?«
Frau Schröter stand mit der dampfenden Kanne neben ihm am Frühstückstisch und sah ihn freundlich an. Krumme bemerkte, dass sie zwar noch einen Bademantel trug, ihre Haare aber bereits frisch frisiert waren. Sie musste extra früher aufgestanden sein. Dabei waren sie beide am letzten Abend doch erst nach Mitternacht wieder zu Hause gewesen.
Krumme lächelte. »Nein danke, Frau Schröter«, sagte er, »ich habe noch.«
»Wie sieht’s mit Brot aus? Soll ich Ihnen noch eine Scheibe abschneiden?«
»Nicht nötig, ich habe keinen Hunger mehr. Ihre selbstgemachte Marmelade schmeckt übrigens köstlich.«
Frau Schröter nickte zufrieden und ließ ihn dann allein in der Küche zurück. Krumme blickte seiner Vermieterin lächelnd hinterher. Die Gute, er hatte ihr schon mehrmals gesagt, dass sie sich seinetwegen keine Mühe machen sollte. Er konnte sich auch allein sein Frühstück zubereiten. Schließlich war er nicht ein Feriengast, sondern ihr Untermieter. Aber so beharrlich, wie sie bei der Anrede »Herr Kommissar« blieb, stand sie jeden Morgen vor ihm auf und sorgte dafür, dass der heiße Kaffee und das frische Brot schon auf dem Tisch standen.
Mit einem entspannten Seufzer lehnte er sich auf dem Stuhl zurück und sah hinaus auf den nach dem Gewitter der letzten Nacht wieder blauen nordfriesischen Himmel. Im Hintergrund lief das Morgenradio mit den Lokalnachrichten aus Schleswig-Holstein. Und durch das offene Fenster konnte er ein Rotkehlchen hören und die frische, salzige Luft des nahen Meeres riechen. Herrlich.
Sein neues Zuhause. Seit vier Wochen wohnte er jetzt schon in dem kleinen Haus am nördlichen Rand der Husumer Altstadt zur Untermiete. Zwei Zimmer, Bad, keine eigene Küche. Die teilte er sich mit Frau Schröter.
Schon nach so kurzer Zeit dachte er kaum noch an Berlin. Seine dunkle Wohnung in Neukölln, der Schmutz und der ständige Lärm, das muffige Büro im Polizeipräsidium in der Sonnenallee – alles nur noch trübe Erinnerungen.
Wer hätte gedacht, dass ihm der Wechsel von der Großstadt ins kleine Husum so leichtfallen würde?
Er schaute auf seine Uhr und seufzte. Zeit, zur Arbeit zu gehen. Krumme trank seinen Kaffee aus, schnappte sich seine Jacke und machte sich auf den Weg.
Die Küche im dritten Stock des Polizeipräsidiums an der Poggenburgstraße, gegenüber vom Husumer Hauptbahnhof, sah so aus wie alle Büroküchen, die von vielen Mitarbeitern genutzt wurden. Schmutzige Tassen im Spülbecken. Auf der Ablage benutzte Teebeutel. Der Mülleimer quoll über, und die Spülmaschine war nicht ausgeräumt.
Eigentlich genau wie in Krummes alter Küche in Berlin. Jetzt war er bemüht, Ordnung zu halten, vor allem, um sich vor Frau Schröter nicht zu blamieren. Gedankenverloren goss er sich einen Kaffee ein, als Hauke Friedrichs und Karsten Ludwig sich ebenfalls in die kleine Küche drängten.
»Ah, der Berliner Kollege. Alles frisch?«, erkundigte sich Friedrichs. Er war fast zwei Meter groß und hatte lange, spinnenartige Arme und Beine. Trotzdem hing ihm ein strammes Bäuchlein über die Bundfaltenhose.
Sein Kumpel Karsten ›Katsche‹ Ludwig war das genaue Gegenteil: klein und untersetzt. Sein dicker haarloser Kopf saß praktisch ohne jeglichen Hals auf dem Oberkörper, insgesamt hatte er große Ähnlichkeit mit einer Kugel.
»Moin«, sagte Krumme nur und nickte den Kollegen zu. Er konnte die beiden nicht leiden.
»Und? Wie geht’s mit Ihrer neuen Kollegin?«, erkundigte sich Ludwig. Er grinste.
»Gut, sehr gut«, erwiderte Krumme tonlos und wich seinem Blick aus.
»Wie schön. Ich bin sicher, bei Ihnen kann sie noch einiges lernen«, sagte Friedrichs. Auch ihm war die Schadenfreude deutlich anzumerken.
Krumme nickte wieder. Er nahm den Kaffee und machte sich auf den langen Weg zu seinem Büro.
Diese Idioten. Er wusste genau, dass es hier in der Polizeidirektion einige gab, die ihn nicht besonders mochten. Die ihm unterstellten, dass er sich nur deshalb aus Berlin nach Husum hatte versetzen lassen, um schon mit 55 Jahren einen entspannten Vorruhestand einzuleiten.
Dann diese Geschichten aus Kleebüll und der Hallig Hooge. In beiden Fällen, einmal als aktiver Berliner Kommissar und einmal als Urlauber, hatte Krumme die Initiative ergriffen und insgesamt drei gefährliche Mörder überführt. Und dabei die Kollegen von der Kriminalpolizei in Husum nicht gut aussehen lassen, die besonders auf der Hallig nicht sorgfältig genug gearbeitet hatten.
Nun saß er selbst in der Polizeidirektion an der Poggenburgstraße. Krumme war sicher, dass es noch eine Weile dauern würde, bis er sich hier eingelebt hatte und von allen akzeptiert wurde. Solange würden einige bestimmt alles tun, um ihm das Leben so schwer wie möglich zu machen.
Dazu gehörte, dass seine Vorgesetzten ihm vor ein paar Tagen ausgerechnet eine junge Absolventin der Polizeischule ins Zimmer gesetzt hatten.
Er hatte das Büro erreicht. Durch die halboffene Tür konnte er seine neue Kollegin sehen. Sie saß hinter ihrem Computer, aber wie so oft blickte sie nur auf ihr Handy. Sie hieß Patrizia Reichel, war gerade mal 24 Jahre jung und groß gewachsen. Wie Hauke Friedrichs überragte sie Krumme fast um anderthalb Köpfe. Auch sonst war sie von eher kräftiger Statur. Nicht direkt dick, aber stämmig.
Die riesenhafte Absolventin der Polizeischule und der zerzauste Kommissar aus der Hauptstadt – Krumme wusste, dass sie beide ein ungewöhnliches Paar abgaben. Krumme holte tief Luft und ging hinein.
»War was?«, erkundigte er sich.
Patrizia schüttelte den Kopf, ohne dabei wenigstens kurz aufzuschauen.
Viel geredet hatten sie bisher nicht. Krumme war kein Meister des Smalltalks, hatte aber am Anfang ein paar Mal probiert, mit ihr zu plaudern. Über das Wetter, natürlich. Über die Qualität des Mittagessens. Über sein altes Büro in Berlin. Über den Zugverkehr auf der Bahnlinie gegenüber dem Präsidium.
Offensichtlich nicht unbedingt Themen, für die sich eine junge Frau wie Patrizia erwärmen konnte. Sie hatte stets nur knapp geantwortet und ihn dabei mit einer Mischung aus Unverständnis und Langeweile angesehen. Ob sie ihn für einen Idioten hielt? Für einen alten Mann, kurz vor der Rente, von dem man nicht mehr allzu viel erwarten sollte?
Dass er neu in Husum war, freiwillig aus der Hauptstadt in die friesische Provinz gekommen war, all das schien sie kein Stück zu interessieren. Lieber spielte sie mit ihrem Handy herum oder hackte hektisch in die Tastatur ihres Computers. Wusste der Teufel, was genau sie dort den ganzen Tag anstellte. Kriminaldirektor Krüger, ihr gemeinsamer Chef, hatte ihr irgendwelche Rechercheaufgaben im Internet gegeben. Krumme hatte kurz nachgefragt, worum genau es dabei ging. Darauf hatte sie mit einigen Fachwörtern geantwortet, in einem Ton, der wohl suggerieren sollte, dass er sowieso keine Ahnung von diesem Thema hatte. Stimmte ja auch. Aber woher sollte sie das wissen? Also nickte er betont lässig und fragte nicht weiter nach.
Na schön, er teilte sein Zimmer mit einer praktisch Fremden. Und wenn er die grinsenden Mienen der Kollegen sah, allen voran Hauke Friedrichs’ und Katsche Ludwigs, war klar, dass sie ihm eins auswischen wollten. Sollte er sich darüber aufregen? Krumme beschloss, cool zu bleiben. Er hatte schon schlimmere Situationen gemeistert. Er war eben neu hier. Mit der Zeit würden sich die Dinge von allein zurechtrücken.
Also beließ er es bei »Moin, Mahlzeit, Schönen Feierabend«, ignorierte das große Mädchen hinter dem Computerbildschirm und kümmerte sich ansonsten nur um seinen Kram. In Berlin hatte er am liebsten allein gearbeitet. Patrizia schien jetzt auch kein Interesse an Teamarbeit zu haben. Darauf immerhin konnten sie sich einigen.
Ihr gemeinsames Telefon klingelte. Bevor er reagieren konnte, hatte Patrizia bereits abgenommen.
»Ja?«, sagte sie mit überraschend tiefer, tonloser, gelangweilter Stimme ins Telefon. Sie verzog keine Miene, als sie Krumme während des Gesprächs anschaute. Dann legte sie auf und fuhr sich erst einmal durch die Haare.
»Und?«, fragte er ungeduldig.
»Das war der Chef. Ein Toter. Draußen in Eiderstedt. Sie haben ihn heute Morgen gefunden. Wir sollen uns darum kümmern.«
Krumme atmete tief durch. Schluss mit den blöden Statistiken. Er schnappte sich seine Jacke von dem windschiefen Garderobenständer und freute sich. Endlich wieder echte Polizeiarbeit.