Text zum Buch
Ein grausamer Mord ereignet sich im Berliner Tierpark. Eine der Ersten, die am Tatort eintrifft, ist die junge Streifenpolizistin Sanela Beara: ehrgeizig, voller Tatendrang und entschlossen, dem Fall auch gegen den Willen ihres Vorgesetzten auf den Grund zu gehen. Denn die Schuldige ist schnell gefasst – zu schnell, wie Sanela glaubt. Während der Öffentlichkeit die geständige Mörderin Charlie Rubin präsentiert wird, hat Beara Zweifel. Zweifel, die auch den Psychologen Jeremy Saaler plagen, der ein Gutachten über Charlies Zurechnungsfähigkeit erstellen soll. Unabhängig voneinander haben beide den gleichen Verdacht: Der Mord im Tierpark hängt mit Charlies Kindheit in einem kleinen Dorf in Brandenburg zusammen. Ein dunkles, mörderisches Rätsel lockt sie nach Wendisch Bruch – direkt ins Visier eines Gegners, der die Totenruhe im Dorf um jeden Preis bewahren will …
Elisabeth Herrmann
Das Dorf
der Mörder
Roman
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Originalausgabe
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ISBN 978-3-641-09287-0
V003
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Für Shirin
Es fordert Blut, sagt man: Blut fordert Blut.
Man sah, dass Fels sich regt’ und Bäume sprachen;
Auguren haben durch Geheimnisdeutung
Von Elstern, Kräh’n und Dohlen ausgefunden
Den tief verborgnen Mörder. – Wie weit ist die Nacht?
William Shakespeare
Macbeth
Hilf mir.
Der Hund hob den Kopf und lauschte. Doch außer ihm schien niemand etwas gehört zu haben. Das große Haus blieb still. Ein Mond mit milchweißem Hof erleuchtete die Nacht und warf kalte Schatten. Über die Ufer des kleinen Flusses war der Nebel gekrochen und hatte sich in der Senke gesammelt. Die Bäume ragten wie abgeschnitten aus dem Dunst, in den kahlen Ästen hingen die Misteln.
Der Hund legte den Kopf wieder auf die Vorderläufe. Er schloss die Augen und schlief ein. Im Traum jagte er bunte Bälle oder junge Eichhörnchen. Seine Pfoten zuckten, der Schwanz streifte über den Boden. Vielleicht sprang er gerade über einen Graben, oder eine der Dorfkatzen erschreckte ihn – er fuhr zusammen, heftig, als sei er beim Spielen unversehens an den Rand eines Abgrunds getollt, riss die Augen auf und kam auf die Beine. Der Ruf, der ihn geweckt hatte, war für niemanden hörbar, nur für ihn und die Ohren der anderen Hunde – doch die schliefen. Oder sie waren taub. Oder sie spürten nicht, was diesen Ruf begleitete. Etwas, das uralt war, so alt wie die Geschichten der Menschen über ihre treuesten und tapfersten Gefährten.
Hilf mir!
Suchend, nervös, unruhig lief er durch das Zimmer. Dann zwängte er sich durch den schmalen Türspalt in den Flur und lief zur Haustür. Er schnupperte, spitzte die Ohren, scharrte auf den Dielen. Ein leises Winseln drang aus seiner Kehle. Schließlich versuchte er ein kurzes Bellen. Vergeblich.
Alles schlief. Und dennoch hörte er, dass jemand seinen Namen flüsterte. Dennoch spürte er, dass etwas geschah. Dennoch wusste er, dass man ihn brauchte. So sehr.
Der Hund war noch jung. Gemessen in Menschenjahren befand er sich gerade in der Zeit, in der die Welt ein buntes Bilderbuch ist und alle Wesen das Vertrauen wert sind, das er ihnen entgegenbrachte. Er wusste, wer ihn rief. Es war das Mädchen. Und noch etwas klang mit in diesem stummen Hilfeschrei. Eine zweite Stimme. So dünn, so leise, so hilflos.
Wieder spitzte er die Ohren, um gleich darauf, von Unruhe getrieben, zur Gartentür zu laufen. Er hatte schnell gelernt, wie einfach sie zu öffnen war. Trotzdem misslangen mehrere Versuche, bis er die Klinke im richtigen Winkel erwischt hatte. Es waren viele Leute im Haus, doch nirgendwo brannte Licht. Sie lagen in den Betten, rochen schlecht und schliefen. Er achtete nicht darauf, leise zu sein. Das Einzige, worauf er achtete, war das angstvolle Flüstern und das Wimmern in seinen Ohren und der schmale Pfad durch das erfrorene Unkraut, der ihn hinaus auf die Straße führte.
Er nahm die Mitte der Straße und raste los. Pfeilschnell, sein Ziel vor Augen. Hätte man ihn gerufen – er wäre nicht mehr umgekehrt. Nicht der Jagdinstinkt, etwas anderes hatte ihn gepackt und trieb ihn an. Das trübe Licht der Straßenlaternen brauchte er nicht. Er sah alles. Aber er nahm nicht alles wahr. Er achtete nicht auf die heruntergelassenen Rollläden, nicht auf die kleinen Autos, die am Straßenrand abgestellt worden waren. Nicht auf das gelbe Licht der Laternen, deren Schein die Welt noch trostloser machte als jede gnädige Dunkelheit. Nicht auf die grauen Häuser, nicht auf das entlaubte Gebüsch, die berstenden Betonplatten, die schiefen Zäune. Er hechtete durch das Dorf, als sei ein ganzes Rudel fauchender Dorfkatzen hinter ihm her. Erst als er die letzten, dunklen Häuser hinter sich gelassen hatte und an die Mauer des Aussiedlerhofes kam, verlangsamte er sein Tempo. Genauso wie er die Stimme gehört hatte, die ihn gerufen hatte, vernahm er jetzt eine zweite, tief aus seinem Inneren: Gefahr, flüsterte sie. Eine unbekannte, beängstigende Gefahr. Er kroch in den Straßengraben und blieb geduckt liegen.
Er kannte die Gestalt, die aus dem Tor trat und sich vorsichtig umsah. Sie trug etwas in der Hand – einen Eimer, der ihr die Schulter auf einer Seite nach unten zog. Sie wickelte sich einen Schal um das Gesicht. Vielleicht wollte sie sich maskieren und die Menschen täuschen, bei dem Hund gelang ihr das nicht. Er erinnerte sich an ihren Geruch und daran, dass er oft schwanzwedelnd auf sie zugelaufen war. Nun witterte er etwas, das ihn davon abhielt, es jetzt wieder zu tun. Etwas, das ihn auf der einen Seite rasend, geradezu wütend neugierig machte und auf der anderen ängstigte. Einen Geruch, der ihn magisch anzog – er witterte ihn vorm Haus des Metzgers, wenn er vorüberschnürte, er witterte ihn, wenn er auf den zerrissenen Kadaver eines Vogels stieß oder die plattgefahrenen Überreste eines Fuchses auf der leeren Landstraße. Doch diese Gestalt vor ihm war nicht geschlachtet, überfahren oder zu Tode gehetzt worden – sie lebte. Sie schlich in der Dunkelheit mit ihrer geheimnisvollen Last vom Hof und roch, als hätte sie in Blut gebadet.
Angst …
Das Flüstern war wieder da. Die Gestalt lief die Straße hinab ins Dorf. Der Hund machte einen Satz und rannte hinter ihrem Rücken auf das Tor zu, das noch einen Spalt breit geöffnet war. Er war noch jung und wusste nicht, wie laut das Scharren seiner Pfoten in der stillen Winternacht zu hören war. Und er sah nicht, wie die Gestalt erschrocken zusammenfuhr und sich umdrehte, ins Taumeln geriet, fast die Balance verlor. Aber er hörte, dass sie ihn rief – zornig und leise, denn sie wollte niemanden wecken. Doch wer leise war, war machtlos. Der Hund lief weiter.
Die beiden Hofhunde kannten ihn. Knurrend stellten sie sich ihm in den Weg. Er benutzte eine List und raste auf die Ställe zu. Die alten Kämpfer waren zu langsam. Er schlug einen Haken und entkam ihnen. Die Hofhunde waren zu müde und zu oft geschlagen worden, ihr Protest beschränkte sich auf ein böses Grollen. Die Tür zum Haus stand halb offen. Er war so schnell, dass er auf den Fliesen ins Schlittern kam.
Im ersten Stock brannte Licht. Er rannte die Treppe hoch und sah sie fast zu spät: die Frau, die ihn schon einmal getreten hatte. Sie kam aus dem Zimmer mit den gelben Kacheln. Ihre Stimme war böse. Sie roch nach der Flüssigkeit, die die Leute oft gemeinsam tranken, bevor sie laut und grob wurden. Er hasste diese Flüssigkeit und den Geruch. Sie rief ihm etwas hinterher, aber er war schon an ihr vorbei und sie zu langsam, um ihm noch einen Tritt zu versetzen. Auch sie roch nach Blut. Die Treppe, das ganze Haus roch so. Sie hielt einen Schrubber in der Hand. Der Geruch peinigte ihn, er machte ihm Angst.
Die Hofhunde bellten nun doch. Vielleicht fürchteten sie sich auch. Vielleicht spürten sie ebenfalls, dass etwas nicht stimmte. Ihr Bellen wurde leiser, sie schnupperten, witterten, nahmen die Fährte auf. Er hörte, wie sie ins Haus kamen. Die böse Stimme der Frau gellte in seinen Ohren.
Der junge Hund raste hoch zum Dachboden und blieb winselnd vor Angst vor einer schmalen Tür stehen. Er jaulte, fiepte, scharrte. Er versuchte ein zaghaftes Bellen, hörte aber sofort auf, als die Frau mit schweren, schleppenden Schritten die Treppe hochkam, den Schrubber drohend erhoben. Er drehte sich einmal um sich selbst in der Hoffnung, einen Fluchtweg zu finden, versuchte ein lächerliches Knurren, das sie niemals davon abgehalten hätte, ihm wieder in den Bauch zu treten. Hektisch tanzte er vor der Tür auf und ab. Die Frau kam näher.
Da ging endlich die Tür auf. Er schlüpfte hinein, das Mädchen warf sie hinter ihm zu. Der Hund hechelte.
»Schschsch. Sei still!«, flüsterte sie.
Die Schritte auf der Treppe verharrten. Schließlich drehte sich die Frau um und ging wieder hinunter. Das Mädchen fiel auf die Knie und vergrub sein Gesicht im Fell des Hundes.
»Bruno«, flüsterte sie.
War das sein Name? Er wedelte mit dem Schwanz und leckte ihr tränennasses Gesicht ab. Das Kind zitterte. Unten kehrten die Hofhunde nach draußen zurück, unzufrieden, nervös. Und dann geschah etwas Seltsames, das der junge Hund noch nie erlebt hatte: Die Hunde im Dorf begannen zu heulen. Erst die auf dem Hof. Dann die anderen. Fast jedes Haus hatte einen Hund. Und plötzlich schienen alle auf einmal zu erwachen.
Der junge Hund wand sich aus den Armen des Mädchens und rannte ans Fenster. Er richtete sich auf. Seine Vorderpfoten erreichten gerade mal das Fensterbrett. Er konnte nicht sehen, was vor sich ging. Doch er konnte es hören.
Ein vielstimmiger Klagegesang schwoll an. Er war wie eine Nachricht, die sich verbreitete. Wie ein uraltes Lied von Grauen und Angst. Das Heulen setzte sich fort, kroch durch das Dorf wie ein Lauffeuer. Etwas war geschehen, etwas, das nie hätte geschehen dürfen.
Der junge Hund sah das Mädchen. Es spürte dieselbe namenlose Furcht wie alle Wesen dort draußen, die von dem Verderben geweckt worden waren, das das Dorf heimgesucht hatte. Er zog den Schwanz ein. Das Mädchen ging zurück ins Bett, ein schmales Bett unter der Dachschräge, und schlüpfte unter die Decke. Der Hund folgte ihr. Er legte sich neben sie und spürte ihr Zittern. Sie roch nicht nach Blut, sondern nach Seife. Sie hatte lange, dunkle Haare und zarte Hände, mit denen sie ihn hinter den Ohren kraulte. Es sollte ihn beruhigen. In Wirklichkeit beruhigte sie sich selbst.
Das schreckliche Heulen ebbte ab, erstarb. Totenstille senkte sich über das Dorf. Es war vollbracht. Was auch immer es gewesen war.
Zwanzig Jahre später
1
Es war ein warmer Tag im Mai.
Als Vorbote des Sommers war er gekommen, mit dem Duft von Heckenrosen und einem Himmel wie zerlaufenes Vanilleeis. Aber nach zwei Stunden Streife entlang der Frankfurter Allee sehnte sich Polizeimeisterin Sanela Beara nur noch nach Wasser und einer Festnahme im Kühlraum einer Eisfabrik. Sie holte die Flasche aus der Seitenablage des Wagens, wollte sie ansetzen und schrie:
»Da vorne!«
Sven Rösner, Polizeiobermeister und Loser der Woche – Sanela wusste, wie man die Kollegen nannte, die mit ihr zusammenarbeiten mussten –, trat auf die Bremse. Sie flog nach vorne, der Gurt spannte sich mit einem Ruck, das Wasser schwappte über.
»Wo denn?«, fragte Sven irritiert, denn vor dem Wagen war weder eine hilflose Person noch ein Krater aufgetaucht.
Sanela wischte sich das Wasser aus dem Gesicht und betrachtete die dunklen Flecken, die sich auf dem Uniformhemd ausbreiteten. Sie wusste bei Sven nie so genau, ob er solche Dinge mit Absicht oder einfach nur aus Dummheit tat. Es gab Kollegen, die provozierten diese kleinen Zwischenfälle. Nur um endlich die Gelegenheit zu haben, die Worte »Sanela« und »nass machen« in einem Satz unterzubringen. Sven war anders. Bei ihm tendierte sie gelegentlich zur zweiten Annahme.
»Rechts. Absolutes Halteverbot.«
Ein Toyota, obere Mittelklasse, parkte halb auf der Fahrbahn, halb auf dem Seitenstreifen. Mit einem Seufzen setzte Sven den Blinker.
»Der ist in der Bäckerei«, sagte er und wies mit dem Kopf auf eines dieser kleinen Ladenlokale, die Zeitungen, Kaffee, Brötchen und staubtrockenen Streuselkuchen anboten. »Der kommt doch gleich wieder raus.«
»Muss ich das jedes Mal diskutieren?«
Der Streifenwagen rollte an den Straßenrand. Sanela löste den Gurt, verstaute die Wasserflasche, stieg aus und prüfte den Sitz von Dienstwaffe und Erfassungsgerät.
Die Luft schmeckte nach Schwermetall und Sprit, Abgasen und Feinstaub. Ein Laster donnerte vorbei, bestimmt schneller als die erlaubten fünfzig Stundenkilometer. Noch während sie auf den falsch geparkten Wagen zuging, hörte sie das Funkgerät plärren. Hoffentlich war der Einsatz in der Nähe und endlich mal etwas Spannendes. Mit Strafzetteln alleine würde sie kaum den begehrten Aufstiegsvermerk in ihrer Personalakte erhalten. Sie müsste Kinder aus brennenden Häusern retten, U-Bahn-Hooligans in Schach halten, alten Damen die gestohlene Handtasche samt Geldbeutel zurückbringen, Wirtshausschlägereien schlichten, prügelnde Ehemänner abführen … all diese Dinge, mit denen man sich nach vorne durchschlug, um unter den Ersten zu sein, wenn es um Weiterbildung und Beförderung ging.
Sie sah, wie Sven mit der Einsatzleitstelle sprach. Das sah gut aus. Könnte sogar etwas Wichtiges sein. Je wichtiger, desto besser. Sie war versucht, die Verwarnung Verwarnung sein zu lassen und zu Sven zurückzukehren, doch in diesem Moment stürzte der Besitzer des Wagens aus der Bäckerei. In der einen Hand die Brötchentüte, in der zweiten den Autoschlüssel. Ein gelackter Anzugträger mit dem typischen Das-könnt-ihr-mit-mir-nicht-machen-Ausdruck im Gesicht.
»Entschuldigung!«
Alle Empörung des rechtschaffenen, steuerzahlenden Bürgers, der in die gierigen Klauen der Exekutive geraten war, lag in diesem Wort. Wenn sie jetzt umkehren würde, wäre das das völlig falsche Signal. Sie prüfte die grüne Umweltplakette und widmete sich dann TÜV und ASU. Dazu musste sie den Wagen umrunden.
»Ich war nur zwei Minuten da drin. Zwei Minuten! Wo soll man denn sonst hier parken?« Er lief ihr hinterher. Sanela tippte das Kennzeichen in das Erfassungsgerät und wartete darauf, dass der Strafzettel ausgedruckt wurde.
»Ich bin doch da. Herrgott! Ich stehe direkt vor Ihnen. Ich habe es sogar eilig. Können Sie nicht ein Auge zudrücken?«
Die Charmebolzen-Offensive. Er war nur ein paar Jahre älter als sie. Aber er hatte studiert, arbeitete irgendwo im mittleren Management und hatte diesen treuherzigen Augenaufschlag wohl nächtelang vor dem Spiegel geprobt.
»Absolutes Halteverbot. Ich könnte den Wagen auch abschleppen lassen.«
»Jaja«, knurrte er. Den Charme knipste er aus wie eine Lampe. Er sah auf sie herab. Sie war knapp einen Meter sechzig groß. Den halben Zentimeter, der ihr für die Mindestgröße fehlte, hatte ihr der Amtsarzt im Hinblick auf ihre Qualifikation als Quotenmigrantin geschenkt. Sie schminkte sich nur sehr dezent, und ihre Haare trug sie, zu einem nachlässigen Pferdeschwanz gezwirbelt, unter der Mütze. Weil sie sehr auf ihr Äußeres achtete, wusste sie, dass das senfgelbe Hemd sie noch blasser machte, als sie es ohnehin schon war. Die ganze Uniform war eine Zumutung für Frauen und wohl auch für ihr Gegenüber.
»Was anderes bleibt Ihnen wohl auch nicht übrig.«
»Wie meinen Sie das?« Witze übers Abschleppen konnte sie mittlerweile im Schlaf erzählen. Vielleicht war ihm ein neuer eingefallen. »Und während Sie sich die Antwort überlegen, zeigen Sie mir bitte Ihre Ausweis- und Fahrzeugpapiere.«
Sie riss den Papierstreifen ab. Der Mann nahm ihn, zerknüllte den Verwarnungsbescheid kopfschüttelnd und ließ ihn vor Sanela auf die Straße fallen.
»Aber gerne doch.« Er suchte seine Brieftasche.
Sie warf Sven einen schnellen Blick zu, der das Gespräch beendet hatte und nun ebenfalls das Fahrzeug verließ.
»Wir müssen!«, brüllte ihr Kollege gegen den Verkehrslärm an. »Ein dringender Einsatz im Tierpark.«
»Moment!«
Sie betrachtete den Personalausweis des Mannes, las den Namen und die ausstellende Behörde und verglich die Nummernkombination des Fahrzeugscheins mit den Kennzeichen, und das tat sie gründlich. Erst dann reichte sie die Papiere dem Mann zurück, der sie wieder einsteckte und zu seinem Wagen marschierte.
»Herr Saaler, einen Augenblick.«
»Was ist denn noch?«, fragte er ungeduldig.
Das Erfassungsgerät spuckte einen zweiten Verwarnungsbescheid aus. »Paragraph einundsechzig Absatz zwei.«
Fassungslos starrte der Mann auf den nächsten Strafzettel. »Noch mal fünfundzwanzig Euro?«
Sie deutete auf das zusammengeknüllte Papier im Rinnstein. »Sie haben außerhalb einer zugelassenen Abfallbeseitigungsanlage Gegenstände des Hausmülls unbedeutender Art entsorgt.«
Oh ja. Es gab die Gesetze. Man musste sie nur anwenden.
2
Der Pekari-Eber, ein gedrungenes Paket aus Muskeln, mit breitem Kopf und kleinen dunklen Augen, scharrte mit den Klauen. Er schob etwas vor sich her, schnüffelte, ließ es liegen und trampelte es beim Abwenden in den Mulch. Es war hell, blutverschmiert und hatte fünf Finger.
Die Frau, die den Notruf abgesetzt hatte, hieß Katharina Spengler. Sie war Erzieherin und verlor offenbar gerade die Kontrolle über ein Dutzend Kinder im Vorschulalter. Sanela hatte sie in der Menge bei dem verzweifelten Versuch entdeckt, ihre Schützlinge zusammenzutreiben und irgendwo ein Stück weiter weg zu versammeln.
»Machen Sie den Weg frei!«, rief Sanela. Ein paar Leute reagierten, der Rest rottete sich noch dichter vor dem Gehege zusammen. Einige hielten Handys hoch und fotografierten. Für wen? Für was? Sanela wusste, dass die Bilder Sekunden später auf ewig im Internet herumgeistern würden.
Sie schnappte dem Nächstbesten, einem jungen, dicklichen Mann mit teigiger Gesichtsfarbe, der um diese Tageszeit entweder in der Schule oder am Ausbildungsplatz zu sein hatte, sein Handy weg.
»Hallo?«, fuhr er sie an. Er trug die Uniform des Ostberliner Prekariats: Baseballkappe, Turnschuhe mit offenen, verdreckten Schnürsenkeln und eine weite, auf den Knöcheln schleifende Jeans. Moonwashed. Das war im Westen schon wieder out.
»Sie können es sich auf der Wache abholen, nachdem wir es gecheckt haben.«
»Ey, Alte …«
»Ey, Junge«, pfiff Sanela ihn an. »Ich kann auch anders. Papiere?«
Sie konnte gar nicht so schnell Hallo rufen, wie der Mann in der Menge untertauchte. Einige der Leute, die die Szene mitbekommen hatten, steckten ihre Apparate weg und suchten ebenfalls das Weite. Unschlüssig hielt sie das Handy in der Hand. Ein iPhone der neusten Generation, erst seit ein paar Wochen auf dem Markt. Wahrscheinlich hatte er es irgendwo in der U-Bahn einer verschüchterten Vierzehnjährigen weggenommen. Sie sah Sven in der Menge auftauchen.
»Auseinander bitte! Hier gibt es nichts zu sehen!«, rief er.
Sie steckte das Handy ein und wandte sich an Katharina Spengler. Eine große, kräftige Frau – zumindest in Sanelas Augen, denn sie wurde von der Erzieherin um eine Haupteslänge überragt.
»Kommen Sie. Wir suchen uns einen Platz, wo wir uns in Ruhe unterhalten können, bis die Kollegen kommen«, sagte Sanela.
Ein schnelles Protokoll, ein kurzer Blick in den Ausweis, dann wäre die Frau erlöst und könnte sich darum kümmern, ihre Schar einzusammeln und zurück in den Hort zu bringen.
»Ich hab’s gesehen!«
Ein Mädchen, fünf oder sechs Jahre alt, drängte sich zu ihnen durch. Eine kleine orientalische Märchenprinzessin. Ungestüm warf sie sich in Katharina Spenglers Arme, die das Kind an sich drückte und ihm einen schnellen Kuss auf den Scheitel gab.
»Nichts hast du gesehen, Dilshad. Wo ist Frau Kramer? Sie war doch mit der anderen Gruppe unterwegs! – Frau Kramer ist meine Kollegin, wir sind zu zweit hier. – Sind Peer und Luise bei ihr?«
»Luise ist noch bei den Schweinen.«
»Oh mein Gott!«
»Gehen Sie«, sagte Sanela. »Ich bleibe bei den Kindern.«
Aus den Augenwinkeln bemerkte Sanela, dass eine zweite Streifenwagenbesatzung angekommen war und begann, den Platz vor dem Gehege abzusperren. Die Frau rannte davon und schrie dabei immer wieder laut die Namen der vermissten Jungen. Sanela spürte die verschwitzte kleine Hand in der ihren.
So ein schöner Tag. Siebzehn Kinder, zwei Erzieherinnen. Ein Ausflug in den Tierpark bei einem Wetter, wie es besser nicht sein konnte. Frisch und kühl der Morgen, doch wenig später schon heiß genug, um am Eisstand Halt zu machen. Dilshads kleiner rosiger Mund trug noch die Spuren von Schokolade. Sanela war versucht, ihn ihr mit einem Taschentuch abzuwischen. Dann fiel ihr ein, dass sie keines bei sich hatte.
»Was hast du gesehen?«, fragte sie.
»Die Schweine haben die Hand gefressen.«
Sanela stand mit dem Kind auf der linken Seite der hölzernen Absperrung. Hinter ihr schlängelte sich ein Wassergraben. Tief genug, dass die Schweine nicht ans andere Ufer kamen. Ein paar Meter weiter, halb verborgen vom Gebüsch, führte eine kleine Brücke über den Kanal. Immer mehr Schaulustige und Gaffer kamen. Sie folgten dem Herdentrieb. Wo viele Menschen waren, gab es etwas umsonst. Ihr Blick suchte Sven, sie fand ihn nicht. In den Rufen und dem Geschrei um sie herum ging auch seine Stimme unter.
»Wer war das?«, fragte das kleine Mädchen.
»Wer?«
»Der Mann, den sie gefressen haben.«
Sanela schaute auf das Geschöpf herab, das man ihr so plötzlich anvertraut hatte und das unfassbare Fragen stellte.
»Woher weißt du, dass es ein Mann war?«
Dilshad zuckte unsicher mit den mageren Schultern. »Ich weiß nicht. Er sah so aus. Vielleicht fressen die Schweine ja auch Kinder.«
»Nein, nein, sie fressen keine Kinder. Und auch keine Menschen. Das war etwas anderes, was du gesehen hast. Ein Spielzeug.«
Moment, blinkte es in ihrem Kopf. Du kannst doch nicht anfangen, die Erinnerung von Zeugen zu manipulieren. Auch wenn sie noch in den Kindergarten gehen. Sie bückte sich ein wenig, um auf Augenhöhe mit dem Mädchen zu sprechen.
»Gleich wird jemand da sein, der mit dir redet. Dann sagst du nur, was du gesehen hast. Okay?«
»Eine Hand. Und die Schweine haben dran rumgefressen. Und den Clown.«
»Den Clown?«
Wie eine Welle drückte die Menschenmenge sie nun an das Geländer. Nur mit Mühe gelang es Sanela, das Mädchen zu schützen. Es wurden immer mehr. Sie verlor den Überblick. Die Kindergartengruppe schien sich von alleine auf der anderen Seite des Weges zu sammeln. Wo zum Teufel blieb die Spurensicherung? Wo die Kollegen?
»Dahinten!«, schrie einer. Alle Köpfe ruckten herum. Sanela kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Lag da ein Torso? Ein Bein? Was um Gottes willen war das? Verkrustetes Blut auf bleicher Haut, ein Fleischklumpen, verklebt mit trockenem Gras und Mulch. Eine Woge des Entsetzens packte die Zuschauer. Sanela hätte am liebsten einen Warnschuss abgegeben.
»Zurück!«, brüllte sie.
»Ich hab’s gesehen!« Dilshads Stimme, schrill wie Kreide auf einer Schiefertafel. »Ich weiß, wer’s war!«
Die Köpfe wendeten sich ihnen zu. Alles kam erneut in Bewegung. Mit letzter Kraft versuchte sie, Dilshad zu schützen. Herr im Himmel, dachte sie. Wo ist diese Erzieherin, die mich einfach mit einem völlig hysterischen Kind alleine lässt? Was machen all die Leute hier? Was rufen sie? Ist das Panik?
»Polizei! Lassen Sie uns durch! Räumen Sie den Weg!«
Endlich. Sanela konnte die Beamten nicht sehen, aber sie spürte, wie der Druck nachließ. Erst als sich zwei Uniformierte und ein Tierpfleger, zu erkennen an den grünen Gummistiefeln und der Wasserschutzhose, durch die Menge gekeilt hatten und das Feld quasi von hinten aufrollten, bekam sie wieder mehr Luft. Der Tierpfleger war klatschnass, wahrscheinlich hatte er gerade das Pinguinbecken gekärchert.
»Los jetzt.« Sie riss Dilshads Hand vom Geländer los.
»Ich hab’s gesehen!«, schrie das Kind. »Es lag auf der Schubkarre, und das Schwein hat sie umgestoßen und gefressen, und der Clown …«
Keuchend erreichte Sanela den breiten Weg mit den Bänken. Langsam, ganz langsam zerstreute sich die Menge. Sie sah weitere Kinder, die hilflos herumirrten und dann, als Dilshad sie rief, schnell zu ihnen gelaufen kamen.
»Das ist Luise!« Dilshad deutete auf ein blondes Mädchen mit Tränenspuren in dem kleinen Gesicht. »Sie hat’s auch gesehen!«
Hinter Luise tauchte Katharina Spengler auf. Ihr Haar hatte sich gelöst, von ihrer Bluse fehlte ein Knopf. Zwei Jungen folgten ihr und versuchten, nicht allzu begeistert auszusehen. Es gelang ihnen nur schlecht. Der Unterhaltungswert eines Tierparkbesuchs hatte sich mit diesem Vormittag offensichtlich immens gesteigert. Verzweifelt zählte Frau Spengler die Schar der Kinder, um sich dann mit einem Aufseufzen der Erleichterung auf die Bank fallen zu lassen. Luise stürzte auf sie zu, vergrub den kleinen Lockenkopf im Schoß der Erzieherin und schluchzte.
»Alle da?«, fragte Sanela. Die Frau nickte und strich dem Kind begütigend über den Kopf. Sie sah aus, als würde sie jeden Moment das Weite suchen.
»Bitte bleiben Sie noch. Wir brauchen Ihre Aussage.«
»Sie haben doch alles, was Sie brauchen.« Katharina Spengler stand auf und begann, ihren Schützlingen die derangierten Kleider und Rucksäcke zu richten. »Ich muss die Kinder jetzt zurückbringen. Das war ein Schock. Und dann all diese Menschen …«
Dilshad setzte sich zu ihrer kleinen Freundin.
»Wir haben alles gesehen«, wiederholte das Kind. »Der Clown war’s.«
»Unsinn«, widersprach die Erzieherin. »Seid ihr alle so weit? Lukas? Wo ist Lukas?«
»Dahinten!«, schrien die Kinder durcheinander.
»Musst du immer wieder eine Extraeinladung haben?«
Die Erzieherin stürzte auf den Jungen zu, der schon wieder auf halbem Weg zur Absperrung gewesen war.
Sanela ging zur Bank und setzte sich neben die beiden Mädchen. »Warum glaubst du, dass es der Clown war?«
»Weil er mit der Schubkarre kam, und da lag was drauf.«
»Was denn?«
Dilshad starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Sanela unterdrückte einen Fluch. Was sie hier brauchte, waren Psychologen und kompetente Vernehmer, waren Leute, die Ordnung in das Chaos brachten und Eindrücke sammelten, bevor die Erinnerung sie durcheinanderwirbelte. Bevor Streifenpolizistinnen ihnen einredeten, dass das alles nur ein blödes Spiel gewesen war, um sie vor Alpträumen zu bewahren. Sie holte einen Notizblock und einen Stift heraus.
»Was lag auf der Schubkarre?«
»Es war …«
Katharina Spengler baute sich vor ihnen auf, und ihr Blick verhieß nichts Gutes. »Das Kind sagt gar nichts. Es steht unter Schock. Wir müssen los.«
»Was ist ein Schock?«
Luise hob den Kopf. Der Blick auf das Gehege war einen Moment lang frei. Und damit auch auf die merkwürdigen blutigen Klumpen.
»Wer sind Sie eigentlich?«, fauchte die Frau.
»Mein Name ist Sanela Beara, Polizeimeisterin. Ich bin …« Sie zögerte für die Länge eines Wimpernschlags. »… wir waren gerade in der Nähe … egal. Die anderen Kollegen werden gleich hier sein.«
»Sanella?« Endlich wandte sich Luise ab. Der Ausdruck, mit dem sie die Streifenpolizistin musterte, war eine Mischung aus Neugier und Belustigung. »Wie die Margarine?«
»Fast. Magst du mit mir kommen, und wir setzen uns irgendwohin? Ich kauf dir ein Eis, und du erzählst mir alles. Dir auch, Dilshad.«
»Was für ein Eis?«, fragten Luise und Dilshad wie aus einem Mund.
»Schlumpfeis?«
»Moment!«
Die restliche Kinderschar stand in Zweierreihen wie die Zinnsoldaten hinter der Erzieherin. Sie sahen alle aus, als ob sie ein Schlumpfeis vertragen könnten. »Ich trage die Verantwortung für die Kinder. Ich möchte nicht, dass Sie mit ihnen reden.«
Sanela ignorierte den völlig berechtigten Einwand.
»Sag mal, Luise, wie alt bist du denn?«
»Fünf Jahre und elf Monate. Nach den Sommerferien komme ich in die Schule.«
»Aah.« Die Streifenpolizistin strahlte. »Dann bist du ja schon groß. Erzähl mir doch mal, was du beobachtet hast.«
»Dürfen Sie das eigentlich?«, mischte sich Katharina Spengler wieder ein. »Ich werde die Mädchen jetzt nach Hause bringen. Wenden Sie sich an die Eltern, wenn Sie oder Ihre Kollegen noch weitere Auskünfte benötigen.«
Womit eine weitere Befragung nur unter sehr erschwerten Bedingungen möglich wäre, wenn sie überhaupt zustande käme. Sanela sah, wie Sven sich mit den Tierpflegern unterhielt und die Kollegen des zweiten Streifenwagens die Menge hinter die Absperrung zurückdrängte.
Weit und breit keine Spur von Kripo oder Spurensicherung. Sie stand auf.
»Ich möchte Sie bitten, sich zur Überprüfung der Personalien in Bereitschaft zu halten. Niemand verlässt das Gelände. Wir werden jetzt einen Sammelplatz einrichten, wo Sie, die Kinder und alle weiteren Zeugen warten werden.«
»Das geht nicht.«
Sanela atmete tief durch. Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, eine Autorität auszuspielen, die sie nicht hatte.
»Oh doch, das geht.«
3
Polizeimeisterin Sanela Beara begrüßte kurz die beiden Kollegen vom zweiten Streifenwagen, die gerade einen glimpflichen Verkehrsunfall in der Nähe bearbeitet hatten, und verständigte sich mit ihnen, den hinteren Teil der Cafeteria für die Zeugenbefragung zu reservieren. Alle, die der Meinung waren, etwas gesehen zu haben – und das waren viele –, sollten dort hingebracht werden.
Als Erstes separierte sie die beiden Mädchen von den anderen. Dann wollte sie zwei Schlumpfeis aus der Tiefkühltruhe neben der Kasse beschlagnahmen und wurde belehrt, dass das a) nicht ging und b) Schlumpfeis ausverkauft war. Aber Vampirzähne wären noch da. Vanille- und Himbeereis, sehr lecker. Sanela bezahlte und trug die beiden Eis am Stiel zu den Mädchen. Katharina Spengler stand daneben und beobachtete den Verzehr argwöhnisch wie Cäsars Vorkoster.
»Setzen wir uns doch.«
Sanela deutete auf einen der Tische im hinteren Teil der Cafeteria. Widerwillig ging die Kindergärtnerin vor und nahm Platz. Die Mädchen rutschten auf den Stuhlkanten hin und her. Sie waren wichtig. Sie standen im Mittelpunkt. Sie waren unruhig. Sanela nahm die Mütze ab, zückte ihren Notizblock und einen Kugelschreiber und legte beides vor sich hin. Sie fragte alle drei nach ihren vollständigen Namen, die ihr auch mehr oder weniger entgegenkommend genannt wurden.
»Luise, was genau hast du gesehen?«
»Das große Schwein«, flüsterte das Kind. »Es hat die Hand gefressen.«
»Nein«, widersprach Dilshad. »Es hat drauf rumgekaut und sie wieder ausgespuckt.« Roter Saft tropfte auf ihre Finger. Es war drückend heiß. »Und die anderen haben mit einer Kugel gespielt.«
»Das war ein Kopf.« Luise leckte sich Himbeersoße von den Lippen.
»Das ist ja ekelhaft!« Die Erzieherin fuhr dazwischen. »Meinen Sie nicht, das reicht?«
Die Mädchen schleckten ungerührt weiter. Sie waren fünf und sechs Jahre alt. Da hörten sie Märchen, in denen abgehackte Pferdeköpfe sprachen und böse Stiefmütter in glühenden Eisenschuhen tanzen mussten, bis sie tot umfielen.
»Gleich.« Sanela wandte sich an Luise. »Du hast gesagt, du wüsstest, was passiert ist. Du hättest es gesehen. Was hast du gesehen?«
Das Mädchen riss die Augen auf. »Einen Clown.«
»Wo war der?«
»Unten an der Kreuzung«, meldete sich die Kindergärtnerin wieder. Sanela hätte sie am liebsten raus zum Spielen geschickt. »Er verkauft Süßkram und Luftballons. Aber er war zu weit weg vom Gehege.«
»Was hat der Clown gemacht?«, fragte Sanela.
»Er hat mich angefahren. Hier.« Luise rollte ihren Kniestrumpf herunter und zeigte auf eine kleine Rötung am Schienbein. »Das hat wehgetan! Er sah gar nicht lustig aus. Ganz zerlaufen im Gesicht, und er hat böse geguckt. Aber er hat mir einen Luftballon geschenkt. Und dann ist er weg.«
»Das war der andere.«
»Nein! Das war der Böse. Er hat mir wehgetan.«
Die Erzieherin holte ein Papiertaschentuch hervor und wischte Luises Mund herrisch ab.
»Das hast du vom Spielplatz.«
»Nein! Es … war … hier!«, wehrte sich das Mädchen. Fast sah es so aus, als ob die Frau ihm das Papier gleich in den Mund stopfen wollte.
»Du bist hingefallen. Weißt du das nicht mehr?«
Sanela ließ sich zurücksinken. Kinder. Dilshad hob den Zeigefinger, als ob sie in der Schule wären.
»Ja. Das stimmt, was Frau Spengler sagt. Aber dann waren wir bei den Schweinen, und die quiekten ganz laut und schrien und haben sich weggeschubst und gefressen.«
»Und dann kam eins nach vorne gerannt«, fiel ihr Luise ins Wort. »Das hatte die Hand im Maul, und ein anderes kam hinterher und wollte sie ihm wegnehmen.«
»Sind Sie jetzt zufrieden?« Die Erzieherin steckte das Tuch ein und blickte nervös zum Eingang. Der Zutritt war nach wie vor gesperrt, aber es schienen die ersten Eltern aufzutauchen, die sich in erregte Dispute mit den Kollegen am Flatterband verwickelten. Die Mädchen hielten ihr zerschmelzendes Eis. Es tropfte auf ihre kurzen, bunten Sommerkleidchen.
»War das eine echte Hand?« Die Frage kam leise aus Dilshads Mund. Sie war bleich. Ihr roter Mund schien in ihrem Gesicht zu glühen.
»Ich weiß es nicht«, sagte Sanela. »Wir untersuchen das gerade. Vielleicht war es ein Unfall. So was passiert. Auf jeden Fall wart ihr großartig. Wenn alle so schnell reagieren würden wie ihr, sähe die Welt besser aus.«
»Echt?« Luise lutschte den Rest vom Stiel, legte ihn auf den Tisch und wischte sich die Hände an ihrem Kleid ab.
»Echt. Was glaubst du, wie oft ich mich schon geärgert habe, wenn Leute achtlos an etwas vorübergehen. Sie sollten sich ein Beispiel an euch nehmen.«
»Danke«, sagte Dilshad leise.
»Okay.« Sanela stand auf. »Wo ist der Luftballon?«
Luise sah zu Boden. »Ich hab ihn losgelassen. Das war so … uh.«
Die Erzieherin legte den Arm um das Mädchen und sah anklagend zu Sanela hoch.
»Sind Sie jetzt fertig?«
»Vielen Dank.« Sanela zog die Mütze aus ihrem Gürtel und setzte sie auf. »Ihr habt eine tolle Erzieherin. Sie passt gut auf euch auf. So eine hätte ich auch gerne gehabt. Seid brav und macht ihr das Leben nicht zu schwer. Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen«, sagte die Frau verdutzt.