Akribische Recherche, präziser Spannungsaufbau und höchste psychologische Raffinesse zeichnen die Bücher der Amerikanerin Elizabeth George aus. Ihre Fälle sind stets detailgenaue Porträts unserer Zeit und Gesellschaft. Elizabeth George, die lange an der Universität »Creative Writing« lehrte, lebt heute auf Whidbey Island im Bundesstaat Washington, USA. Ihre Bücher sind allesamt internationale Bestseller, die sofort nach Erscheinen nicht nur die Spitzenplätze der deutschen Verkaufscharts erklimmen. Ihre Lynley-Havers-Romane wurden von der BBC verfilmt und auch im deutschen Fernsehen mit großem Erfolg ausgestrahlt. Weitere Informationen unter www.elizabeth-george.de .
Elena Weaver erwachte, als das zweite Licht im Zimmer anging. Das erste, dreieinhalb Meter entfernt, auf ihrem Schreibtisch, hatte nur bescheidenen Erfolg gehabt. Das zweite Licht jedoch, das ihr aus einer Schwenkarmlampe auf dem Nachttisch direkt ins Gesicht schien, war so wirkungsvoll wie ein Fanfarenstoß oder Weckerrasseln. Als es in ihren Traum einbrach – höchst unwillkommen in Anbetracht des Themas, mit dem ihr Unbewußtes gerade beschäftigt war –, fuhr sie mit einem Ruck aus dem Schlaf.
Sie hatte die ersten Stunden der vergangenen Nacht nicht in diesem Bett, nicht in diesem Zimmer zugebracht und war darum im ersten Moment verwirrt, verstand nicht, wieso die einfachen roten Vorhänge gegen diese häßlichen Dinger mit dem gelb-grünen Blumenmuster ausgewechselt worden waren. Das Fenster war auch am falschen Platz. Genau wie der Schreibtisch. Es hätte überhaupt kein Schreibtisch hier sein dürfen. So wenig wie der Kram, der auf ihm herumlag, lose Blätter, Hefte, aufgeschlagene Bücher.
Erst als ihr Blick auf den PC und das Telefon fiel, die ebenfalls auf dem Schreibtisch standen, erkannte sie, daß sie in ihrem eigenen Zimmer war. Allein. Sie war kurz vor zwei nach Hause gekommen, hatte sich sofort ausgezogen und erschöpft ins Bett fallen lassen. Sie hatte also ungefähr vier Stunden geschlafen. Vier Stunden ... Elena stöhnte. Kein Wunder, daß sie nicht gleich gewußt hatte, wo sie war.
Sie wälzte sich aus dem Bett, schob ihre Füße in weiche Pantoffeln und schlüpfte fröstelnd in den grünwollenen Morgenmantel, der achtlos hingeworfen neben ihrer Jeans auf dem Boden lag. Der Stoff war alt und abgenützt, angenehm weich vom vielen Getragenwerden. Ihr Vater hatte ihr vor einem Jahr zu ihrer Immatrikulation in Cambridge einen eleganten Seidenmorgenmantel geschenkt – eine ganz neue Garderobe hatte er ihr geschenkt, die sie jedoch größtenteils ausrangiert hatte –, aber sie hatte ihn nach einem ihrer häufigen Wochenendbesuche bei ihm zurückgelassen. Um ihm einen Gefallen zu tun, trug sie ihn, wenn sie in seinem Haus war, aber sonst nie. Es wäre ihr nicht eingefallen, ihn zu Hause in London bei ihrer Mutter anzuziehen und ebensowenig im College. Der alte grüne war ihr lieber. Er war weich wie Samt auf ihrer Haut.
Sie ging durch das Zimmer zu ihrem Schreibtisch und zog die Vorhänge auf. Draußen war es noch dunkel. Der Nebel, der seit fünf Tagen schwer und bedrückend über der Stadt lag, schien an diesem Morgen noch dichter zu sein. Er überzog die Fensterscheiben mit perlender Feuchtigkeit. Auf dem breiten Fensterbrett stand ein Käfig mit Futternapf und Trinkflasche, mit einem Laufrad in der Mitte und in einer Ecke einem alten Socken, der zum Nest umfunktioniert war. In dem Socken zusammengerollt, lag ein kleines sherryfarbenes Pelzbündel.
Elena klopfte mit den Fingern leicht an die kühlen Stäbe des Käfigs. Sie schob ihr Gesicht so nahe, daß sie die Gerüche von zerrissener Zeitung, Sägespänen und Mäusekot wahrnehmen konnte und blies sachte in Richtung Nest.
»Ma-us«, sagte sie. Wieder klopfte sie an die Gitterstangen. »Maa-us!«
Das Mäuschen hob den Kopf und öffnete ein blitzendes dunkles Auge. Witternd hob es den Kopf.
»Tibbit!« Elena lachte das kleine Tier mit den aufgeregt zuckenden Schnurrhaaren an. »Gut’n Morg’n, Ma-us.«
Die Maus kroch aus ihrem Nest und flitzte ans Gitter, um, in offenkundiger Erwartung eines Morgenimbisses, Elenas Finger zu beschnuppern. Elena öffnete die Käfigtür und hielt das kleine Bündel ungeduldiger Neugier einen Moment auf ihrer flachen Hand, ehe sie es auf ihre Schulter setzte. Die Maus knabberte versuchsweise an dem langen, glatten Haar, das die gleiche helle Farbe hatte wie ihr Fell, dann kroch sie weiter und machte es sich unter dem Kragen des Morgenrocks an Elenas Hals bequem. Dort begann sie sich zu putzen.
Elena hatte den gleichen Gedanken. Sie zog den Schrank auf, in dem das Waschbecken untergebracht war, und knipste das Licht über dem Becken an. Nach gründlicher Morgentoilette band sie sich das Haar mit einem Gummiband zurück und holte aus dem Kleiderschrank ihren Jogginganzug und eine dicke Jacke. Sie schlüpfte in die Hose und ging nebenan in die Küche.
Sie schaltete das Licht ein und inspizierte das Bord über der Spüle. Coco-Pops, Weetabix, Cornflakes. Ihr Magen wollte davon nichts wissen. Sie holte sich eine Packung Orangensaft aus dem Kühlschrank und trank direkt aus der Tüte. Die Maus, die ihre Morgenwäsche beendet hatte, huschte erwartungsvoll wieder auf Elenas Schulter hinaus. Elena rieb ihr den Kopf mit dem Zeigefinger, während sie trank, und die Maus begann mit spitzen kleinen Zähnen an ihrem Fingernagel zu knabbern. Genug geschmust. Ich bin hungrig.
»Na gut«, sagte Elena und kramte, etwas angeekelt von dem Geruch der sauer gewordenen Milch, im Kühlschrank, bis sie das Glas mit dem Erdnußmus fand. Die Maus bekam wie täglich eine Fingerspitze voll als besonderes Bonbon. Während sie noch damit beschäftigt war, sich die letzten klebrigen Reste aus dem Fell zu lecken, ging Elena in ihr Zimmer zurück und setzte sie auf dem Schreibtisch ab. Sie zog den Morgenrock aus, schlüpfte in ein Sweat-Shirt und begann mit ihren Gymnastikübungen.
Sie wußte, wie wichtig es war, sich vor dem täglichen Lauftraining aufzuwärmen. Ihr Vater hatte es ihr mit nervtötender Monotonie eingebleut, seit sie in ihrem ersten Semester dem Hare and Hounds Club der Universität beigetreten war. Das änderte jedoch nichts daran, daß sie die Übungen unglaublich langweilig fand und sie nur schaffte, wenn sie sich dabei ablenkte – indem sie Fantasien spann, den Frühstückstoast röstete, zum Fenster hinaussah oder ein Stück Fachliteratur las, das sie zu lange liegengelassen hatte. An diesem Morgen steckte sie das Brot in den Toaster, ehe sie mit ihren Übungen anfing, und während es langsam dunkel wurde, lockerte sie vorschriftsmäßig Waden- und Schenkelmuskeln und sah dabei zum Fenster hinaus in den Nebel, der wie graue Watte um die Laterne in der Mitte des North Court hing.
Aus dem Augenwinkel sah sie die Maus auf dem Schreibtisch umherflitzen. Ab und zu erhob sie sich auf die Hinterbeine und streckte schnuppernd die kleine Schnauze in die Luft. Sie war nicht dumm. Ihre fein entwickelten Geruchsnerven sagten ihr, daß der leiblichen Genüsse noch mehr warteten, und sie wollte ihren Anteil daran haben.
Als der Toast fertig war, brach Elena ein Stück für die Maus ab und warf es in ihren Käfig. Die Maus startete sofort.
»Hey!« Sie hielt das kleine Tier fest, ehe es den Käfig erreichte. »Sag mir erst Wied’rseh’n, Tibbit.« Liebevoll rieb sie ihre Wange am Fell der Maus, ehe sie das Tier in den Käfig setzte. Die Maus hatte Mühe mit dem Toastbrocken, der beinahe so groß war wie sie selbst, aber sie schaffte es, den Koloß in ihr Nest zu schleppen. Lächelnd schnippte Elena noch einmal mit den Fingern an den Käfig, dann nahm sie den Rest des Toasts und eilte aus dem Zimmer.
Während die Glastür im Korridor hinter ihr zufiel, schlüpfte sie in die Jacke ihres Jogging-Anzugs und stülpte die Kapuze über den Kopf. Sie lief die erste Treppe in Aufgang L hinunter und schlug den Bogen zur nächsten Treppe, indem sie sich, auf das schmiedeeiserne Geländer gestützt, um die Kurve schwang. Federnd kam sie in halber Hocke auf und fing den Druck ihres Gewichts vor allem mit den Fußgelenken, weniger mit den Knien, ab. Die zweite Treppe rannte sie schneller hinunter, ließ sich vom Schwung über den Eingang tragen und riß die Tür auf. Die kalte Luft schlug ihr wie ein Wasserschwall ins Gesicht. Ihre Muskeln verkrampften sich sofort. Um sie wieder zu lockern, lief sie einen Moment an Ort und Stelle und schüttelte dabei ihre Arme aus. Sie atmete tief ein. Die Luft, vom Nebel beherrscht, der aus Fluß und Mooren emporstieg, schmeckte nach Humus und Holzrauch und legte sich feucht auf ihre Haut.
Sie lief zum Südende des New Court hinüber und sprintete durch die beiden Durchgänge zum Principal Court. Nirgends eine Menschenseele. Nirgends ein Licht. Herrlich! Sie fühlte sich frei wie ein Vogel.
Und sie hatte keine fünfzehn Minuten mehr zu leben.
Der Nebel, dessen Feuchtigkeit seit fünf Tagen von Häusern und Bäumen tropfte, setzte sich triefend auf den Fensterscheiben ab und bildete Pfützen auf Bürgersteigen und Straßen. Draußen, vor dem St. Stephen’s College, blinkten die Warnlichter eines Lastwagens, kleine orangefarbene Leuchtfeuer, funkelnd wie Katzenaugen. In der Senate House Passage streckten viktorianische Laternen lange gelbe Lichtfinger durch den Nebel, doch die gotischen Türmchen des King’s College, eben noch sichtbar, wurden schnell von der finstergrauen Düsternis verschluckt. Der Himmel dahinter war noch fahl wie jede Novembernacht. Der Morgen war eine volle Stunde entfernt.
Elena lief von der Senate House Passage in die King’s Parade. Der Aufprall ihrer Füße auf dem Pflaster setzte sich in vibrierenden Schwingungen durch Muskeln und Knochen bis in ihren Magen fort. Sie drückte die Handflächen auf ihre Hüften, genau an die Stelle, an der in der Nacht sein Kopf geruht hatte. Aber anders als in der vergangenen Nacht ging ihr Atem jetzt ruhig und regelmäßig, nicht hastig und hechelnd vom rasenden Lauf zur Ekstase. Dennoch konnte sie beinahe seinen zurückgeworfenen Kopf sehen, den Ausdruck angespannter Konzentration auf seinem Gesicht. Und sie konnte beinahe sehen, wie seine Lippen ihren Namen formten, während er ihr entgegendrängte und sie immer heftiger an sich zog. Sie fühlte den fiebernden Schlag seines Herzens und hörte seinen Atem, keuchend wie der eines Sprinters.
Sie genoß es, daran zu denken. Sie hatte sogar davon geträumt, als am Morgen das Licht sie geweckt hatte.
Kraftvoll lief sie von Lichtpfütze zu Lichtpfütze die King’s Parade hinunter in Richtung Trumpington. Irgendwo in der Nähe machte jemand Frühstück; ein schwacher Geruch nach Kaffee und Schinken hing in der Luft. Ihre Kehle zog sich abwehrend zusammen, und sie legte Tempo zu, um dem Geruch zu entkommen.
An der Mill Lane bog sie zum Fluß ab. Das Blut pochte jetzt in ihren Schläfen, und sie hatte trotz der Kälte zu schwitzen begonnen. Schweiß rann von ihren Brüsten zur Taille hinab.
Wenn du schwitzt, ist das ein Zeichen, daß dein Körper funktioniert, hatte ihr Vater ihr immer wieder gesagt.
Die Luft erschien ihr frischer, als sie sich dem Fluß näherte. Sie wich zwei Fahrzeugen der städtischen Straßenreinigung aus. Der Arbeiter im hellgrünen Anorak war das erste lebende Wesen, das sie an diesem Morgen sah. Er hievte einen Müllsack auf einen der Wagen und hob, als sie vorüberkam, eine Thermosflasche, als wollte er ihr zuprosten.
Am Ende der schmalen Straße schoß sie auf die Fußgängerbrücke über den Cam hinaus. Die Backsteine unter ihren Füßen waren glitschig. Sie trabte einen Moment auf der Stelle, um den Ärmel ihrer Jacke zurückzuschieben und auf die Uhr zu sehen. Aber sie hatte die Uhr in ihrem Zimmer liegengelassen. Leise vor sich hinschimpfend, lief sie weiter über die Brücke, um einen raschen Blick in die Laundress Lane zu werfen.
Herrgott noch mal, wo bleibt sie denn wieder? Elena spähte mit zusammengekniffenen Augen durch den Nebel und seufzte gereizt. Es war nicht das erstemal, daß sie warten mußte, aber ihr Vater hatte so entschieden.
»Ich erlaube nicht, daß du allein läufst, Elena. So früh am Morgen. Und dann noch am Fluß entlang. Keine Widerrede. Wenn du wenigstens eine andere Route nehmen könntest...«
Aber sie wußte, daß das nichts ändern würde. Eine andere Route, und ihm würden andere Einwände einfallen. Sie hätte ihm überhaupt nichts davon sagen sollen, daß sie regelmäßig lief. Aber sie hatte sich nichts dabei gedacht, als sie es ihm erzählt hatte. Ich bin Hare and Hounds beigetreten, Daddy. Und er hatte die Gelegenheit sofort genutzt, um ihr wieder seine liebevolle Fürsorge zu demonstrieren. Genau wie er sich ihre Arbeiten vornahm, ehe sie sie abgab. Er pflegte sie mit gerunzelter Stirn äußerst aufmerksam zu lesen, und dabei sagten Haltung und Gesichtsausdruck deutlich: Sieh, wie ich mich kümmere, sieh, wie sehr ich dich liebe, sieh, wie sehr ich es zu schätzen weiß, daß du in mein Leben zurückgekehrt bist. Nie wieder werde ich dich im Stich lassen, mein Herzenskind. Und dann erörterte er die Arbeit mit ihr, brachte seine kritischen Überlegungen an, ließ sich über Einleitung und Schluß und eventuelle Unklarheiten aus, zitierte auch noch ihre Stiefmutter zur Beratung herbei und lehnte sich am Ende mit seligem Blick in seinem Ledersessel zurück. Seht doch, was für eine glückliche Familie wir sind! Einfach widerlich!
Ihr Atem stieg dampfend in die Luft. Sie hatte länger als eine Minute gewartet. Aber niemand tauchte aus den Nebelschwaden in der Laundress Lane auf.
Soll sie doch der Teufel holen, dachte sie und lief zur Brücke zurück. Auf dem Mill Pond hoben sich schemenhaft Schwäne und Enten aus dem Dunst, und am Südwestufer des Teichs ließ eine Trauerweide ihre Zweige ins Wasser hängen. Elena warf einen letzten Blick über ihre Schulter zurück, aber es folgte ihr niemand. Sie lief allein weiter.
Beim Lauf zum Wehr hinunter, schätzte sie den Winkel des Hangs falsch ein und vertrat sich den Fuß. Mit einem Aufschrei zuckte sie zusammen, lief aber gleich weiter. Ihre Zeit war beim Teufel – nicht daß sie überhaupt eine Ahnung hatte, wie schnell sie bis jetzt gewesen war –, aber vielleicht konnte sie oben auf dem Damm ein paar Sekunden aufholen. Sie lief schneller.
Die Straße verengte sich zu einem Asphaltstreifen, der links vom Fluß und rechts von der großen, nebelverhüllten Fläche des Sheep’s Green begrenzt wurde. Die wuchtigen Silhouetten alter Bäume hoben sich hier aus dem Nebel, und da und dort blitzten im Schein der Lichter, die von jenseits des Flusses herüberleuchteten, die eisernen Geländer von Brücken und Stegen auf. Enten ließen sich beinahe lautlos ins Wasser fallen, als Elena sich näherte, und sie griff in ihre Tasche, holte den letzten Happen Toast heraus, zerkrümelte ihn und warf den Tieren die Bröckchen zu.
Ihre Zehenspitzen stießen in stetigem Rhythmus gegen die Kappen ihrer Joggingschuhe. Ihre Ohren begannen in der Kälte zu schmerzen. Sie zog die Schnur der Kapuze fester zu und schlüpfte in die Handschuhe, die sie mitgenommen hatte. Vor ihr teilte sich der Fluß in zwei Arme, die Robinson Crusoe’s Island umfingen, eine kleine Insel, am Südende von Bäumen und Büschen überwuchert, am Nordende von Bootsschuppen besetzt, in denen die Ruderboote, Kanus und Skulls der Colleges repariert wurden. Vor kurzem hatte hier jemand Feuer gemacht; Elena konnte den Rauch noch riechen. Wahrscheinlich hatte in der Nacht jemand auf dem Nordteil der Insel kampiert und einen Haufen verkohlten Holzes hinterlassen, das in aller Eile mit Wasser gelöscht worden war. Der Geruch war ein anderer als der eines natürlich erloschenen Feuers.
Im Laufen spähte sie neugierig zwischen den Bäumen hindurch. Kanus und Kähne warteten ordentlich übereinander gestapelt. Ihr Holz glänzte von der Feuchtigkeit des Nebels. Kein Mensch weit und breit.
Der Weg stieg zum Fen Causeway an, Ende der ersten Etappe ihrer morgendlichen Runde. Wie immer nahm sie die leichte Steigung mit einem neuen Energieschub in Angriff. Sie atmete tief und regelmäßig, aber sie spürte, wie sich der Druck in ihrer Brust staute. Sie hatte sich gerade an das neue Tempo gewöhnt, als sie sie sah.
Zwei Gestalten tauchten vor ihr aus dem Nebel auf, die eine zusammengekauert, die andere quer über dem Weg liegend. Schemenhaft und verschwommen vibrierten sie wie ungewisse Holographien im trüben Lichtschein des Causeway, der sich etwa zwanzig Meter hinter ihnen befand. Die geduckte Gestalt, die vielleicht Elenas Schritte hörte, drehte den Kopf und hob eine Hand. Die andere Gestalt rührte sich nicht.
Elena blinzelte durch den Nebel. Ihr Blick flog von einer Gestalt zur anderen. Sie schätzte die Größe ab.
Townee! dachte sie und stürzte vorwärts.
Die geduckte Gestalt richtete sich auf, wich zurück, als Elena näherkam und schien im dichten Nebel bei der Brücke zu verschwinden, die den Fußweg mit der Insel verband. Elena blieb keuchend stehen und fiel auf die Knie. Sie streckte den Arm aus, berührte die Gestalt auf dem Boden, um sie voller Angst zu untersuchen, und es war nichts weiter als ein alter, mit Lumpen ausgestopfter Mantel.
Verwirrt drehte sie sich um, eine Hand auf den Boden gestützt, um sich in die Höhe zu stemmen, und holte Luft, um zu sprechen.
Im selben Moment zerriß die graue Düsternis vor ihr. Etwas blitzte links von ihr auf. Der erste Schlag fiel.
Er traf sie genau zwischen die Augen. Ihr Körper wurde nach rückwärts geschleudert.
Der zweite Schlag traf Nase und Wange, durchschnitt Haut und Fleisch und zertrümmerte das Jochbein wie Glas.
Falls ein dritter Schlag sie traf, so fühlte sie es nicht mehr.
Es war kurz nach sieben, als Sarah Gordon ihren Escort auf den gepflasterten Platz direkt neben der technischen Hochschule steuerte. Trotz des Nebels und des morgendlichen Berufsverkehrs hatte sie die Fahrt von zu Hause in weniger als fünf Minuten geschafft. Sie war über den Fen Causeway gefegt, als säßen ihr die Furien im Nacken. Sie zog die Handbremse an, stieg aus und schlug die Tür zu.
Denk ans Malen, sagte sie sich. An nichts als ans Malen.
Sie ging nach hinten zum Kofferraum und nahm ihre Sachen heraus: einen Klappstuhl, einen Skizzenblock, einen Holzkasten, eine Staffelei, zwei Leinwände. Als das alles zu ihren Füßen auf dem Boden lag, warf sie einen forschenden Blick in den Kofferraum und überlegte, ob sie etwas vergessen hatte. Sie konzentrierte sich auf Details – Kohle, Temperafarben und Bleistifte im Kasten – und versuchte krampfhaft, die aufsteigende Übelkeit und das heftige Zittern ihrer Beine zu ignorieren.
Einen Moment lehnte sie den Kopf an den schmutzigen Kofferraumdeckel und ermahnte sich noch einmal, allein ans Malen zu denken. Das Sujet, der Ort, die Beleuchtung, die Komposition, die Wahl der Mittel verlangten ihre volle Konzentration. Sie versuchte, sie zu geben. Der heutige Morgen bedeutete eine Wiedergeburt.
Vor sieben Wochen hatte sie diesen Tag in ihrem Kalender angemerkt, den 13. November. Tu’s doch, hatte sie quer über das kleine weiße Quadrat der Hoffnung geschrieben, und jetzt war sie hier, um acht Monaten lähmender Untätigkeit ein Ende zu bereiten, indem sie sich des einzigen Mittels bediente, das sie wußte, um den Weg zu der Leidenschaft zu finden, mit der sie einst ihrer Arbeit begegnet war. Wenn sie nur den Mut aufbringen könnte, einen kleinen Rückschlag zu überwinden...
Sie schlug den Kofferraumdeckel zu und sammelte ihre Sachen auf. Jeder Gegenstand fand wie von selbst den gewohnten Platz in ihren Händen und unter ihren Armen. Es gab keinen Anflug von Erschrecken, so daß sie sich fragte, wie sie es früher geschafft hatte, das alles zu tragen. Und allein die Tatsache, daß manche Handgriffe automatisch zu sein schienen, zweite Natur wie das Fahrradfahren, beflügelte sie einen Moment lang. Sie ging über den Fen Causeway zurück und stieg den Hang hinunter zu Robinson Crusoe’s Island. Die Vergangenheit ist tot, sagte sie sich. Sie war hierher gekommen, um sie zu begraben.
Allzu lange hatte sie starr vor der Staffelei gestanden, unfähig, sich der heilenden Kräfte zu erinnern, die der Kreativität innewohnten. Nichts hatte sie in all diesen Monaten geschaffen außer diverse Möglichkeiten der Selbstzerstörung: Sie hatte ein halbes Dutzend Rezepte für Tabletten gesammelt, ihre alte Flinte gereinigt und geölt, sich vergewissert, daß ihr Gasherd funktionierte, aus ihren Schals einen Strick geknüpft und war die ganze Zeit überzeugt gewesen, alle künstlerische Kraft in ihr sei tot. Aber damit war es jetzt vorbei. Die sieben Wochen täglich wachsender Angst vor dem näherrückenden 13. November waren vorüber.
Auf der kleinen Brücke, die zu Robinson Crusoe’s Island hinüberführte, blieb sie stehen. Obwohl es inzwischen hell geworden war, versperrte ihr der Nebel wie eine Wolkenbank die Sicht. Aus einem der Bäume über sich hörte sie den schmetternden Gesang eines Zaunkönigs, und vom Causeway klang das gedämpfte Rauschen des Verkehrs herüber. Irgendwo auf dem Fluß quakte eine Ente. Auf der anderen Seite von Sheep’s Green bimmelte eine Fahrradglocke.
Die Bootsschuppen zu ihrer Linken waren noch geschlossen. Zehn eiserne Stufen führten zur Crusoe’s Bridge hinauf und hinunter zum Moor, dem Coe Fen, am Ostufer des Flusses. Sie sah, daß die Brücke frisch gestrichen war; es war ihr vorher gar nicht aufgefallen. Früher grün und orangefarben, von Rostflecken durchsetzt, war sie jetzt braun und cremeweiß, ein helles Netz von Geländerstangen, die licht durch den Nebel schimmerten. Die Brücke selbst schien über dem Nichts zu hängen. Und alles um sie herum war durch den Nebel verändert und unsichtbar.
Trotz ihrer Entschlossenheit seufzte sie. Es war unmöglich. Kein Licht, keine Hoffnung, keine Inspiration an diesem trostlosen Ort. Zum Teufel mit Whistlers Nachtstudien der Themse. Zum Teufel mit Turner und dem, was er aus diesem Nebelmorgen gemacht hätte. Kein Mensch würde ihr glauben, daß sie hergekommen war, um dies zu malen.
Doch es war der Tag, den sie gewählt hatte. Die Ereignisse hatten ihr bestimmt, zum Malen auf diese Insel zu kommen. Und malen würde sie! Sie eilte weiter, über die Brücke hinweg, und stieß das quietschende schmiedeeiserne Tor auf, entschlossen, nicht auf die Kälte zu achten, die sich kriechend in ihrem ganzen Körper auszubreiten schien. Sie biß die Zähne zusammen.
Hinter der Pforte spürte sie unter ihren Füßen den Schlamm, der schmatzend an den Sohlen ihrer Turnschuhe sog, und schauderte. Es war kalt. Aber es war nur die Kälte. Sie suchte sich ihren Weg in das Wäldchen aus Erlen, Weiden und Buchen.
Die Bäume trieften vor Nässe. Wassertropfen fielen klatschend auf die rostfarbene Laubdecke. Ein dicker, abgebrochener Ast lag ihr im Weg, und gleich dahinter bot eine kleine Lichtung unter einer Pappel Ausblick. Dorthin ging Sarah. Sie lehnte Staffelei und Leinwände an den Baum, stellte ihren Klappstuhl auf und legte ihren Holzkasten daneben. Den Skizzenblock hielt sie an die Brust gedrückt.
Malen, zeichnen, malen, skizzieren. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Ihre Finger erschienen ihr steif. Sie taten ihr weh bis in die Nägel. Sie verachtete sich für ihre Schwäche.
Sie zwang sich, sich auf dem Klappstuhl niederzusetzen und über den Fluß zur Brücke zu blicken. Sie achtete auf die Details und bemühte sich, Linien und Winkel zu erfassen, Teil einer simplen Kompositionsaufgabe, die gelöst werden mußte. Reflexhaft begann ihr Verstand auszuwerten, was ihr Auge aufnahm. Drei Erlenzweige, auf deren feuchten späten Herbstblättern das bißchen Licht glänzte, das vorhanden war, wirkten wie ein Rahmen für die Brücke. Sie bildeten Diagonalen, die zunächst über dem Bauwerk schwebten und sich dann schnurgerade zur Treppe hinuntersenkten, die zum Coe Fen führte, wo im Nebel die fernen Lichter von Peterhouse zu erahnen waren. Eine Ente und zwei Schwäne trieben geisterhaft auf dem Fluß, der so grau war, so grau wie die Luft, daß die Vögel im Raum zu schweben schienen.
Schnelle Striche, dachte sie, großzügig und kühn, Kohle, um mehr Tiefe zu erzielen. Sie setzte ihren ersten Strich, dann einen zweiten und einen dritten, ehe ihre Finger erschlafften und die Kohle losließen, so daß sie über das Papier in ihren Schoß rollte.
Sie starrte auf den mißlungenen Ansatz einer Zeichnung. Dann riß sie das Blatt aus dem Block und begann von neuem.
Sie merkte, wie ihr Magen rumorte und Übelkeit ihr in die Kehle stieg. Verzweifelt sah sie sich um. Sie wußte, daß die Zeit nicht reichte, um nach Hause zu fahren, wußte auch, daß sie sich keinesfalls hier und jetzt übergeben konnte. Sie blickte auf ihre Skizze, erblickte die unvollkommenen, spannungslosen Linien und knüllte das Blatt zusammen. Sie fing eine dritte Skizze an und konzentrierte sich einzig darauf, ihre rechte Hand ruhig und sicher zu führen. Gegen die Panik kämpfend, versuchte sie, die Neigung der Erlenzweige nachzuempfinden; das gesprenkelte Muster der Blätter anzudeuten. Die Kohle zerbrach ihr in der Hand.
Sie stand auf. So war das nichts. Die schöpferische Kraft mußte sie führen. Zeit und Ort mußten versinken. Die Leidenschaft mußte zurückkehren. Aber das war nicht geschehen. Sie war fort.
Du kannst, dachte sie mit wütender Entschlossenheit. Du kannst und du willst. Nichts kann dich hindern. Niemand steht dir im Weg.
Sie klemmte den Skizzenblock unter den Arm, packte ihren Klappstuhl und ging in südlicher Richtung über die Insel, bis sie zu einer kleinen Landzunge kam. Sie war von Nesseln überwuchert, aber sie bot einen anderen Blick auf die Brücke. Das war die Stelle.
Der Boden unter der dichten Laubdecke war lehmig. Bäume und Büsche bildeten ein Netzwerk aus fast kahlen Ästen und Zweigen, hinter dem sich in der Ferne die Steinbrücke des Fen Causeway erhob. Hier stellte Sarah ihren Klappstuhl auf. Sie trat einen Schritt zurück und stolperte – über einen Ast, wie es schien, der unter einem Blätterhaufen halb verborgen war. Sie schreckte auf.
»Verdammt«, entfuhr es ihr, und sie trat das Ding mit dem Fuß weg. Die Blätter fielen zur Seite. Sarah drehte sich der Magen um. Es war kein Ast, es war ein menschlicher Arm.