Vanja
Södermalm
Im Westen von Södermalm ist die Journalistendichte schwedenweit am höchsten. Fast drei Prozent der Anwohner gehören hier mehr oder weniger der schreibenden Zunft an.
So wie das Viertel östlich der Götgatan historisch bedingt Knogsöder – »Plackerei-Söder« – genannt wird, heißt der westliche Teil aufgrund all der zwielichtigen Machenschaften Knivsöder – »Messer-Söder« –, selbst wenn in letzter Zeit im Zuge der zunehmenden Gentrifizierung und rasant steigender Immobilienpreise immer öfter auch der Name »Hummerzangen-Söder« fällt.
Vanja Hjorth ist fast sechzehn und wohnt mit ihren Adoptiveltern Edith und Paul in Knivsöder.
Für ihren Heimweg hat sie Stunden gebraucht.
Drei misslungene Versuche, in ebenso vielen Kneipen Starkbier zu bestellen, hat sie mit zwei Pils auf dem Basketballfeld des Åsö-Gymnasiums kompensiert. Inzwischen ist sie auf dem Weg zum Geldautomaten an der Katarina Bangata und stellt fest, dass sie ihre Karte verloren hat.
Sie will gerade umkehren, als sie den alten Mann bemerkt. Er steht allein mit seinem Rollator vor dem Geldautomaten.
Sie sieht, wie er mehrere Fünfhunderter zusammenfaltet und in seine Brieftasche steckt und diese dann in die Henkeltasche legt, die vorn an seinem Rollator in einem Korb steht. Dann schlurft er langsam um die Ecke und biegt in die Bondegatan ein.
Sie geht ihm nach. Als sie direkt hinter ihm ist, klingelt ihr Handy, und der Klingelton schrillt von den Backsteinhäusern zu beiden Seiten der fast menschenleeren Straße wider.
Verdammt, denkt sie, als der Mann innehält, sich umdreht und sie taxiert. Sie lässt es klingeln.
Sieht die Gelegenheit. Packt sie am Schopf.
Während das Handy weiterklingelt, reißt sie die Tasche an sich und rennt los.
Das irritierende Klingeln übertönt das Gejammer des Alten und verstummt erst, als sie um die nächste Straßenecke biegt.
Sie sprintet auf die Östgötagatan – und sieht den Streifenwagen. Zehn Meter weit entfernt. Die Umrisse zweier Köpfe auf den Vordersitzen. Zurück kann sie nicht mehr, aber einfach so vorbeirennen kann sie auch nicht. Sie hofft, dass keiner gesehen hat, wie sie um die Ecke geschossen ist.
Sie wird langsamer und geht so unbeteiligt wie nur möglich auf die Streife zu.
Die Rufe des alten Mannes sind verhallt. Vielleicht schafft sie es bis zur nächsten Querstraße, bevor er hinter ihr die Straßenecke erreicht.
Da klingelt das Handy erneut. Sie reißt es aus der Tasche und stellt es stumm.
Sie geht weiter.
Noch ein paar Meter. Links in die nächste Straße – und jetzt rennt sie wieder. Die Åsögatan entlang zurück zur Götgatan.
Erst als sie sich der U-Bahn am Medborgarplatsen nähert, hört sie auf zu laufen.
Es ist, als würde ihr Herz den Brustkorb sprengen. Sie spürt, dass sie lebt.
Als Maria zum dritten Mal anruft, sitzt Vanja in der U-Bahn, die Tasche des Alten auf dem Schoß. Sie nimmt das Handy in die Hand und will schon rangehen, überlegt es sich dann aber anders.
Sie schafft es einfach nicht. Maria kann manchmal richtig nerven.
Bevor sie an der U-Bahn Slussen umsteigt, hat Vanja festgestellt, dass die Tasche außer einer Brieftasche mit sieben Fünfhundertern noch eine Schachtel Kopfschmerztabletten und einen abgewetzten Kalender enthält.
Sie beginnt, darin zu blättern.
Zu jedem Tag gibt es Notizen: genaue Wetterbeschreibungen, und aus irgendeinem Grund hat der alte Mann aufgeschrieben, welche Lkws unter seinem Fenster vorbeifahren.
Sie spürt, wie ihr die Tränen in die Augen steigen, doch obwohl das Abteil so gut wie leer ist, hält sie sie zurück. Tränen sind Privatsache.
An der Glaswand vor ihr klebt ein Reklameposter von einem großen Kosmetikkonzern. Eine schöne Frau lächelt sie mit gebleichten Zähnen an, und Vanja sieht ihr eigenes Spiegelbild daneben in der Glasscheibe. Strohiges rabenschwarzes Haar und dunkle Schatten unter den Augen. Manche behaupten, sie sähe süß aus, doch Vanja weiß genau, dass das nicht stimmt. Sie zieht einen Stift aus der Tasche und erinnert sich an einen Blogeintrag, den sie vor Kurzem gelesen hat.
Schmink dich, bis du nicht länger zu erkennen bist! Vergiss die Schamlippen nicht!, schreibt sie über das Frauengesicht und fügt dann hinzu: Wenn du Cellulitis hast, lass es bleiben!
Am Zinkensdamm steigt ein ziemlich düsterer Typ ein. Er hat einen Stapel Flyer in der Hand und legt einen davon auf den Sitz neben sie, bevor er zu den restlichen Fahrgästen im Abteil weitergeht.
Ein kleines Kind ist darauf abgebildet, daneben ein paar Worte über Krebs und Armut.
Sie legt sechs der sieben Fünfhunderter auf den Sitz, steht auf und stellt sich an die Tür.
Sie schafft es auszusteigen, ehe er ihr Geschenk bemerkt.
Vor den Ausgängen der U-Bahn-Station Hornstull herrscht wegen der Umbauarbeiten des heruntergekommenen Taxiplatzes das reinste Chaos. Irgendwelche Politiker haben beschlossen, dass Hornstull ein Facelift braucht, aller Proteste der Anwohner zum Trotz. Vanjas Adoptiveltern Edith und Paul waren unter den Lautesten, die versuchten, die Baupläne zu stoppen – vergebens. Jetzt ragt ein neues Einkaufszentrum aus Glas und Beton auf dem alten Platz in die Höhe.
Das hier ist ihr Stadtviertel. Hier hat sie gelebt. Und hier wird sie sterben.
Bald. Sobald das Paket ankommt.
Sie wirft die Tasche des Alten mit der leeren Brieftasche und den Kopfschmerztabletten in einen der Säcke mit Bauschutt. Den Kalender behält sie. Sie will ihn mit in die Lilja nehmen und Aiman bitten, ihr dabei zu helfen, ihn neu einzubinden.
Aiman ist ihre Betreuerin, wie es vormundschaftsmäßig so schön heißt, und eine der wenigen Personen, denen Vanja vertraut. Aiman weiß, wie es ist, nicht dazuzugehören, und sie hat etwas Geheimnisvolles an sich. Das gefällt Vanja.
Sie steckt die Hand in die Tasche. Der Stift, der Fünfhunderter – aber nur noch eine einzige Zigarette.
Sie biegt links ab, betritt den Ica-Supermarkt am Bergsundsstrand, schnappt sich einen Einkaufskorb und geht die Regalreihen entlang. Als der Korb voll ist, schlendert sie zur Kasse und stellt sich hinter einen Mann mit dicken Brillengläsern und einem mürrischen Gesichtsausdruck. Sie legt den Warentrenner aufs Band und beginnt, ihre Einkäufe daraufzulegen, streckt sich nach den Zigaretten und nimmt drei Päckchen, die sie ebenfalls aufs Band legt. Dann greift sie sich an die Stirn. »Ach ja, genau …«, murmelt sie leise, legt die Waren wieder in den Korb und geht noch mal zurück, holt noch ein Päckchen Kaffee, schiebt die Zigaretten in ihren Jackenärmel und geht wieder zur Kasse.
»Kaffee vergessen?«, stellt der Kassierer fest.
Vanja macht das nicht zum ersten Mal, und sie weiß, dass sie jetzt nicht unfreundlich rüberkommen darf, wenn es klappen soll.
Die Rippen drücken auf die Lunge, und jeder Atemzug strengt an. Schweiß dringt durch den Pullover. Sie klaut die Zigaretten nicht, weil sie kein Geld hätte oder zu jung wäre, um sie zu kaufen.
Sie will nur noch ein kleines bisschen länger leben.
Während der Kassierer die Waren scannt, packt Vanja sie in eine Plastiktüte, und als sie damit fertig ist, durchsucht sie ihre Taschen.
»Mist, zu blöd«, sagt sie, seufzt und befühlt den Fünfhunderter in ihrer Tasche. »Ich hab mein Geld zu Hause vergessen … Kann ich die Tüte kurz hier abstellen?« Sie deutet auf den Platz neben dem Kassierer. »Ich bin in fünf Minuten wieder da.«
Der Kassierer lächelt verständnisvoll. »Gib sie rüber.«
»Danke, das ist sehr nett«, sagt sie und geht.
Vor dem Supermarkt kommt ihr ein Junge entgegen, den sie kennt, aber sein Name fällt ihr nicht mehr ein. Er tut so, als würde er sie nicht bemerken. Sie weiß genau, dass er sie gesehen hat. Seine Art wegzugucken täuscht sie nicht darüber hinweg. Hau ab, oder du stirbst, denkt sie.
In der Neunten war er in ihrer Parallelklasse, und sie ist mit ihm im Bett gewesen, weil er ihr damals leidgetan hat. Keiner sollte fünfzehn Jahre alt werden müssen und immer noch Jungfrau sein. Sie hat ihn sogar dazu überreden müssen, so nervös war er. Später an jenem Abend schrieb er auf seiner Facebook-Seite, sie wäre eine Hure.
Vanja bleibt stehen, beobachtet seinen selbstsicheren Schritt die Straße hinauf, bis er in einen Hauseingang verschwindet.
Sie wohnen in einer Vierzimmerwohnung ganz oben. In einer renovierten Eigentumswohnung. Vanja fragt sich, was Edith und Paul für das verdienen, was sie schreiben. Edith, die in ihren Büchern Nabelschau betreibt, und Paul mit seinen sogenannten investigativen Reportagen. Engagement für die Gesellschaft, heißt es gern, dabei findet Vanja, dass sich alles nur um die beiden dreht. Zwei egozentrische Menschen, die sich als links bezeichnen, aber Kronleuchter für fünfundzwanzigtausend Kronen auf Firmenkosten zu Hause hängen haben. Alles nur Geschwätz und Theorie, keine Taten.
Alles Lüge.
Als sie die Diele betritt, hört sie Stimmen aus der Küche. Holger Sandström ist zu Besuch. Vanja ahnt, dass er mal wieder Geld vorbeigebracht hat. Das tut er manchmal. Verleiht mal eben ein paar Tausender, wenn es nicht so recht vorwärtsgeht mit dem Schreiben und die Kasse leer ist. Er ist fast siebzig, aber arbeitet immer noch und verdient offenbar gut.
Im Sommer vor vier Jahren hat sie zwei Wochen lang bei Holger gewohnt, als Edith und Paul im Urlaub waren. Er war nett, hat sie ins Skansen und nach Gröna Lund mitgenommen. Es waren zwei gute Wochen.
»Wie geht’s Vanja?«, fragt er. Sie haben nicht gehört, dass sie hereingekommen ist. »Wird es denn besser? Kommt ihr jetzt besser miteinander aus?«
»Sie geht in die Lilja, zusammen mit Maria, ihrer besten Freundin.« Das ist Ediths Stimme. »Sie sagt nicht viel, aber ich denke mal, dass in der Schule alles in Ordnung ist, und …«
»Blödsinn«, fällt Paul ihr ins Wort. »Das Mädchen ist faul. Punkt, aus. Sie ist wirklich nicht dumm, aber viel zu bequem. Das Einzige, das sie am Leben hält, sind ihre Musik und Nudeln.«
Holger lacht. »Ja, ja. Und jetzt könnt ihr euch das ja auch wieder leisten.« Er macht eine kurze Pause. »Zumindest die Nudeln, meine ich.«
»Du kriegst jede Öre wieder, sowie das Buch erscheint«, erwidert Edith säuerlich, und Vanja wird das Lauschen unbehaglich. Vorsichtig macht sie die Wohnungstür noch mal auf und schlägt sie laut hinter sich zu.
»Das ist sie bestimmt«, sagt Paul, und Vanja hört, wie Besteck auf den Teller gelegt wird.
Sie sitzen am Küchentisch. Edith raucht einen Zigarillo, und Paul steckt sich gerade eine Mentholzigarette an.
Nur Oberschicht und Unterschicht rauchen drinnen, denkt sich Vanja. Sie wollen damit doch nur zum Ausdruck bringen, dass sie auf keinen Fall zur schnöden Mittelschicht gehören.
»Das Essen ist kalt geworden«, sagt Paul. Sie sieht ihm an, dass er verärgert ist. Die Ader an seinem kahlen Kopf ist dick wie ein Regenwurm.
»Ich wollte noch einkaufen, konnte aber meine Bankkarte nicht finden, und ich hatte kein Geld dabei.«
Edith drückt den Zigarillo aus. »Ich gehe schon … muss mir sowieso die Beine vertreten.«
»Nein«, widerspricht Paul. »Ich gehe, aber das ist jetzt wirklich das allerletzte Mal.« Er steht auf, wirft Holger einen resignierten Blick zu und geht hinaus in die Diele. Edith ringt sich ein Lächeln ab. Durch ihre spitzen Gesichtszüge und die dunklen Augen sieht sie irgendwie gemein aus, obwohl sie das gar nicht ist.
Maria sagt immer, Edith wäre schön, aber Vanja findet, sie sieht aus wie eine Hexe. Das aschgraue schnittlauchglatte Haar reicht ihr bis zur Hüfte.
»Wieso bist du so spät dran?«
»War spazieren«, gibt Vanja zurück, zuckt mit den Schultern, kehrt Edith und Holger den Rücken und geht in ihr Zimmer.
Sicherheitshalber schließt sie die Tür ab.
Vom Fenster aus kann sie die Lilja, das Haus der Projekte, und auf der anderen Seite das Wasser sehen. Wie klein die Welt doch ist.
Sie zieht die Kiste unter dem Bett hervor, nimmt den Deckel ab und räumt Glückwunschkarten, Briefe von Freunden und Feriensouvenirs aus Kindertagen beiseite, die obenauf liegen. Zwei Uhren, Silberschmuck, eine Brosche aus echtem Gold, drei Handys und allen möglichen anderen Krimskrams, von dem sie gar nicht mehr weiß, warum sie ihn überhaupt geklaut hat. Außerdem liegen dort rund zweitausend Kronen, von einer Büroklammer zusammengehalten, und sie klemmt den Fünfhunderter des Alten dazu, bevor sie den Deckel wieder schließt und die Kiste zurück unters Bett schiebt.
Sie tritt vor ihr Bücherregal und greift nach dem Tagebuch, das zwischen zwei Harry-Potter-Bänden steht, die sie von Holger bekommen hat, als sie dreizehn beziehungsweise vierzehn wurde. Die Buchstaben sind zwar vor ihren Augen hin- und hergehüpft, aber sie hat die Bücher trotzdem gelesen.
Inzwischen weiß sie, dass sie Legasthenikerin ist. Damals dachte sie, sie wäre einfach nur bescheuert.
Aiman hat ihr erklärt, dass sowohl Agatha Christie als auch Ernest Hemingway Legastheniker waren und dass es beim Schreiben darum geht, etwas zu erzählen.
Vanja setzt sich auf den Boden, steckt das Kopfhörerkabel in den PC und lehnt sich mit dem Rücken gegen das Bettgestell. Ein pulsierender Bass, der knarzt, als würden die Saiten unter Strom stehen.
Sie schlägt ihr Tagebuch auf und fängt an zu schreiben. Nicht, weil Aiman sie dazu aufgefordert hätte, sondern einfach, weil der Impuls da ist.
Und weil sie Maria versprochen hat zu schreiben.
Was macht man, wenn man keine Träume hat?
Hunger hilft ihr dabei, sich auszudrücken, und sie hofft, dass das Paket mit der Kassette bald kommt. Dann wird sie endlich vor die konkrete Wahl gestellt.
Leben oder sterben.