Buch
Weißenburg im Elsass im Jahr 1870: Die junge Waise Irene kommt als Dienstmädchen in das Herrenhaus des reichen Weinhändlers Wilhelm Gerban. Dessen Sohn Franz glaubt an die Ideale der Französischen Revolution, wofür sein Vater wenig Verständnis hat. Als Irene auf Franz trifft, verlieben die beiden sich leidenschaftlich ineinander. Doch nicht nur Standesschranken und familiäre Intrigen stehen ihrer Beziehung im Wege. Auch am europäischen Horizont ziehen dunkle Wolken auf: ein furchtbarer Krieg bricht aus. Gegen alle Widerstände kämpfen die beiden jungen Leute um ihr Glück. Bis das Schicksal unbarmherzig zuschlägt …
Autorin
Marie Lacrosse hat in Psychologie promoviert und arbeitet heute als selbstständige Beraterin überwiegend in der freien Wirtschaft. Unter einem anderen Namen schreibt sie erfolgreich historische Romane. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in einem beschaulichen Weinort. »Das Weingut. In stürmischen Zeiten« ist der erste Band der großen Saga um die Weinhändler-Familie Gerban.
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Marie Lacrosse
Das Weingut.
In stürmischen Zeiten
Roman
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Copyright © 2018 by Marie Lacrosse
Copyright der deutschen Erstausgabe © 2018 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
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Gestaltung des Umschlags und der Umschlaginnenseiten: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: gettyimages/ © Max shen und FinePic®, München
Karten: © Peter Palm, Berlin
Redaktion: Heike Fischer
BH · Herstellung: kw
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-22641-1
V005
www.goldmann-verlag.de
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Meinem Mann Jürgen für seine unverbrüchliche Treue
Man mag es beklagen, aber es bleibt richtig, dass die Humanität im Kriege dem Kriege nachstehen muss und dass die energische Kriegführung zugleich die humanste ist.
Helmuth von Moltke der Ältere, preußischer Generalfeldmarschall
Man muss doch durch so ergreifende Beispiele wie diejenigen, welche Sie erzählen, erkannt haben, was der Ruhm auf den Schlachtfeldern an Martern und Tränen kostet. Man lässt sich nur zu oft verleiten, die glänzenden Seiten eines Krieges zu sehen und die Augen vor den traurigen Folgen desselben zu verschließen.
Der Schweizer General Dufour an Henry Dunant, den Begründer des Roten Kreuzes
Dramatis Personae
Es werden nur die handlungstragenden Figuren aufgeführt. Historische Persönlichkeiten werden mit einem * gekennzeichnet.
Irenes Familie
Irene Weber, unehelich geboren in einer Gebäranstalt, aufgewachsen in Waisenhäusern; »Weber« ist nicht ihr echter Familienname
Klara, Deckname von Irenes anonym bleibender Mutter
Tante Erna, Klaras Begleiterin in die Gebäranstalt
Franz Gerbans Familie
Wilhelm Gerban, deutscher Weinhändler mit Firmensitz im elsässischen Weißenburg
Pauline Gerban, seine französische Ehefrau
Franz Gerban, Wilhelms und Paulines ältester Sohn
Mathilde Gerban, ihre jüngere Tochter
Gregor Gerban, Wilhelms Bruder, Leiter des familieneigenen Weinguts im pfälzischen Schweighofen
Ottilie Gerban, Ehefrau von Gregor und Wilhelms Schwägerin
Fritz Gerban, Gregor und Ottilies Sohn
Sophia, die jüngere Schwester von Ottilie
Hauspersonal der Gerbans in Altenstadt
Niemann, erster Hausdiener
Frau Burger, Hausdame
Frau Kramm, Köchin
Gerda, erstes Hausmädchen
Minna, zweites Hausmädchen
Riemer, Kutscher
Weitere Personen von Bedeutung
(Es werden nur die wichtigsten Personen in der Reihenfolge ihres Erscheinens im Roman aufgeführt.)
Schwester Agnes, Hebamme in der Gebäranstalt, später Leiterin des Waisenhauses in Heidelberg
Schwester Gertrude, Leiterin des Mädchentrakts im Waisenhaus in Speyer
Mutter Ignatia, Oberin des Waisenhauses in Speyer
Dr. Frey, Hausarzt der Gerbans
Karl Krüger, Arbeiter auf dem Weingut der Gerbans
Major von Kaisenberg*, Bataillonskommandant von Fritz Gerban
Edgar Hepp*, Unterpräfekt von Weißenburg
General Abel Douay*, französischer Befehlshaber der Schlacht von Weißenburg
Pfarrer Klein*, evangelischer Pastor in Fröschweiler
Albert Valon, französischer Deserteur
Louis Rousser, Sanitätsfeldwebel in der französischen Armee
Gérome, französischer Kriegsversehrter
Jacques, französischer Sanitätsgefreiter
Claire Rocher, Bewohnerin von Bazeilles
Dr. Etienne, Arzt für Frauenheilkunde in Weißenburg
Dr. Berger, Lazarettarzt in Saint-Quentin
Marianne Serge, eine begüterte Dame in Saint-Quentin
Paul, ihr bei Sedan gefallener Sohn
Gilbert, kriegsversehrter französischer Soldat
Otto, Minnas Ehemann
Magda Färber, Zimmerwirtin in Landau
Emma, Textilarbeiterin in Lambrecht
Im Roman erwähnte historische Persönlichkeiten ohne aktive Rolle
König Wilhelm von Preußen*, späterer deutscher Kaiser
Otto Graf Bismarck*, sein Reichskanzler
Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen*, deutscher Oberbefehlshaber der Schlachten von Weißenburg und Fröschweiler-Wörth
Napoleon III.*, französischer Kaiser
General Mac-Mahon*, Marschall von Frankreich, Oberbefehlshaber der französischen Truppen in der Schlacht bei Sedan, wo er auf sein Pendant auf gegnerischer Seite, General Helmuth von Moltke den Älteren, trifft
Prolog
Heidelberg, Februar 1851
Das Krähen des Säuglings riss sie aus dem Erschöpfungsschlaf, in den sie nach der schweren Geburt für einige Minuten gesunken war. Mühsam richtete sie sich auf den Ellenbogen auf und blickte umher. Kein Lichtstrahl fiel durch das trübe Milchglas des kleinen Fensters zu ihrer Rechten, draußen herrschte mittlerweile finstere Nacht.
Als sie sich vorbeugte, um den Vorhang zurückzuziehen, der ihr Bett rechter Hand auf Kopfhöhe umgab, schoss ein rasender Schmerz durch ihren Unterleib. Mit einem leisen Schrei sank sie zurück in die Kissen.
Wenig später wurde der Vorhang zur Seite gezogen. Ohne ein Lächeln tauchte das Gesicht ihrer Tante Erna vor ihr auf. Es zeigte den Ausdruck Fleisch gewordener Missbilligung.
»Was gibt es, Klara?« Auch die Stimme ihrer Tante klang hart. »Du sollst ruhen, damit wir diese unwürdige Örtlichkeit so schnell als möglich verlassen können.«
»Bitte!« Die junge Frau leckte sich über die spröden, aufgesprungenen Lippen. »Bitte, ich will das Kind doch nur einmal sehen. Ist es ein Junge oder ein Mädchen?«
Ihre Tante schüttelte den Kopf. »Es ist ein Bastard«, antwortete sie brutal. »Das weißt du genauso gut wie ich, und mehr musst du nicht wissen!«
»Bitte, um Christi willen, ich bitte dich! Ich will es nur einmal halten! Ich habe es neun Monate in meinem Leib getragen! Es ist mein Kind!«
»Ich habe Nein gesagt! Das gehört nicht zu den Gepflogenheiten dieses Hauses! Wir müssen schon genug dafür bezahlen, dass deine Schande unentdeckt bleibt, Klara!«, betonte die Tante den Namen in verächtlichem Tonfall. Es war nicht der richtige Vorname der Wöchnerin. Wie jeder Tochter aus gutem Hause, die die Dienste dieser Anstalt in Anspruch nahm, hatte man ihr am Tag der Aufnahme einen Decknamen zugewiesen.
»Bitte!« Klaras Stimme wurde lauter. »Bitte! Ich schreie das ganze Haus zusammen, wenn ich das Kind nicht sehen darf!«
Der Ausdruck im Gesicht ihrer Tante wandelte sich von Missbilligung zu unverhohlener Verachtung und kaltem Zorn. »Hättest du geschrien, bevor dieser Bastard gezeugt wurde, hättest du wohlgetan! Aber damals hast du es vorgezogen, dich in sündiger Lust zu wälzen! Nun füge dich in dein Schicksal. Ich werde dir einen Schlaftrunk bringen lassen. Wir reisen so bald wie möglich ab!«
Mit diesen Worten trat sie vom Bettrand zurück und riss den Vorhang mit einer herrischen Bewegung wieder zu.
Tränen der Empörung und Demütigung rannen der jungen Frau über die Wangen. Noch einmal versuchte sie, sich aufzurichten, noch einmal warf sie der Schmerz zurück auf ihr schweißdurchtränktes Lager. Nicht einmal die Laken hatte man nach der stundenlangen Tortur der Geburt gewechselt. Nur das blutige Ledertuch, das man ihr untergeschoben hatte, war entfernt worden.
Verzweifelt lauschte sie auf die Geräusche um sich herum. Sie hörte den Säugling leise im Nebenraum weinen, der von ihrer Kammer abging, und erkannte nun auch die Stimmen der Hebamme und der Schwester, die sie während der Geburt betreut hatten. Wasser plätscherte. Wahrscheinlich wurde das Kind gerade gebadet. Doch niemand reagierte auf ihr leises Rufen, obwohl die Tür zwischen ihrer Kammer zum Nebenraum offen stand. Klara fühlte sich völlig hilflos. Einmal mehr verfluchte sie die Abgeschiedenheit ihres Zimmers.
Da niemand ihre wahre Identität kennen sollte, hatte sie in diesem »Haus für gefallene Mädchen«, wie ihre Tante es nannte, den kleinen Raum für sich allein. Ihre Leidensgenossinnen, die aus ärmeren Verhältnissen stammten, lagen dagegen in einem großen Schlafsaal. Von deren Schicksal hatte ihr Schwester Agnes erzählt. Die mütterlich wirkende Frau war die einzige Person, die in den zwei Monaten ihres Aufenthaltes ein freundliches Wort an sie gerichtet hatte.
Wie oft hatte sich Klara in diesen endlosen Wochen nach der Gesellschaft der Frauen und Mädchen gesehnt, die vom gleichen Unglück heimgesucht worden waren! Wie gerne hätte sie ihr weiches Federbett in der kleinen Kammer mit einem der harten Strohlager im großen Saal getauscht, den sie tief verschleiert jeden Sonntagmorgen durchquert hatte, wenn man sie zur heiligen Messe führte. Auch in der kleinen zugigen Kapelle musste sie abseits in dem unbequemen geschnitzten Chorgestühl sitzen, während sie den Worten des Priesters lauschte, der seiner ausschließlich weiblichen Gemeinde in jeder Predigt ihren sündigen Lebenswandel vorhielt.
Allerdings hätte Schwester Agnes ihr sagen können, dass das Geschwätz und Geplauder, nach dem sich Klara so sehnte, auch im großen Schlafsaal streng unterbunden wurde. Dass die Frauen und Mädchen dort, solange sie dazu fähig waren, tagsüber harte Arbeit verrichten mussten. Sie webten oder spannen zwölf Stunden lang, die Geschickteren klöppelten Spitze oder bemalten Holzspielzeug. Klara konnte nicht wissen, dass keine dieser Unglücklichen dafür Verständnis aufgebracht hätte, dass sich das Fräulein in der Kammer langweilte, weil man ihr außer der Bibel nicht einmal Bücher zugestanden hatte. Dass sie für das nahrhafte Essen, das man ihr dreimal am Tag servierte, beneidet worden wäre: Weizenbrot mit Marmelade zum Frühstück, Hühnchen und frisches Gemüse zu Mittag, Käse und Wurst zum Abendessen, so viel sie begehrte. Während sich die armen Bewohnerinnen der Anstalt mit einem faden Haferbrei am Morgen, einer dünnen Gemüsesuppe am Mittag und hartem Brot mit Quark oder Schmalz am Abend begnügen mussten.
»Schließlich sind diese Frauen nicht einmal zahlende Gäste, sondern liegen der Wohlfahrt auf der Tasche.« In diesem oder ähnlichem Tenor hätte Tante Erna über ihre Leidensgenossinnen gesprochen, wenn Klara je das Gespräch mit ihr darüber gesucht hätte. Die Häme und Verachtung, mit der diese sich im Bewusstsein ihrer eigenen altjüngferlichen Tugend über »die in Schande Geratenen« äußerte, wäre dabei wahrscheinlich noch deutlicher als sonst zum Ausdruck gekommen.
Jetzt krähte der Säugling wieder heftiger. »Sch, sch, alles ist gut«, hörte Klara die beruhigende Stimme der Hebamme, der unmittelbar Tante Ernas schnarrende folgte.
»Sind wir hier drin jetzt endlich fertig? Ich sehne mich nach einer anständigen Mahlzeit und dem Frieden meines Zimmers.«
»Sofort, meine Gnädigste. Sie müssen mich nur noch zur Mutter Oberin begleiten und die Übergabe des Kindes an unsere Anstalt bescheinigen.«
Nein, sie sollen es noch nicht wegbringen! Mit letzter Kraft zog Klara an ihrem Bettvorhang, doch niemand im Raum schien es zu bemerken oder zu beachten. Dann hörte sie, wie die Tür ihrer Kammer geöffnet und geschlossen wurde und sich die Schritte mehrerer Personen den Gang hinunter entfernten. Sie war allein. Verzweifelt begann sie zu schluchzen.
Das ganze Elend der letzten furchtbaren Monate brach wie eine Lawine über sie herein. Die Tante hatte von sündiger Lust gesprochen, in der sie sich gewälzt habe. Stattdessen hatte sie nur Entsetzen und Scham empfunden, als der Mann, dem sie vorbehaltlos vertraut hatte, völlig unvermutet über sie hergefallen war. Er hatte ihre Schreie mit einem Kissen erstickt, während er ihre Röcke hochschob, ihren Schlüpfer zerriss und brutal in sie eindrang. Der hilflos Weinenden drohte er hinterher, sie in Schimpf und Schande aus dem Haus zu werfen, sollte sie auch nur ein Sterbenswörtchen von dem verraten, was in dieser Nacht geschehen war. Klara glaubte ihm das aufs Wort.
Wie gerne hätte sie geschwiegen und alles verdrängt und vergessen! Doch dann begann diese merkwürdige Übelkeit, die sie jeden Morgen heimsuchte. Um die Taille herum wurde sie fülliger, sodass sie nicht mehr so eng geschnürt werden konnte und all ihre Kleider weiter gemacht werden mussten. Ihre Brüste schwollen an.
In ihrer Unschuld konnte sie sich diese Veränderungen ihres mädchenhaften Körpers anfangs gar nicht erklären. Bis ihre Schwester, alarmiert durch die Zofe, die Klara täglich aufwartete, ihr eines Morgens auf den Kopf zusagte, dass sie schwanger sei. Und dabei den Vater des Kindes gleich mit benannte. In ihrer grenzenlosen Verwirrung hatte Klara den Verdacht ihrer Schwester bestätigt.
Unmittelbar danach setzte hinter der gutbürgerlichen Fassade ihres Heims hektisches Treiben ein. Nachdem der langjährige Hausarzt der Familie unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit die Schwangerschaft bestätigt hatte, tagte der Familienrat. Klara war davon ausgeschlossen, ihr wurde nur das Ergebnis mitgeteilt.
»Du wirst in Begleitung von Tante Erna zunächst aufgrund deiner schwachen Konstitution einen Kuraufenthalt in Baden-Baden antreten. Dort kennt euch niemand. Sobald dein Zustand sich nicht länger verbergen lässt, wird Tante Erna dich in eine Gebäranstalt nach Heidelberg bringen. Dort wird das Kind zur Welt kommen, ohne dass dein richtiger Name jemals genannt werden wird. Nach der Geburt verbleibt es im der Anstalt angeschlossenen Waisenhaus. Du selbst verbringst zwei weitere Monate in Baden-Baden und kehrst dann als genesen nach Hause zurück.«
Ein Blick in die unerbittlichen Gesichter rings um den polierten Nussbaumtisch zeigte Klara sofort, dass jeder Widerspruch zwecklos war. Man hatte über ihr Schicksal und das des Ungeborenen unwiderruflich entschieden.
Während der folgenden Monate in Baden-Baden durfte Klara mit niemandem in Kontakt treten. »Möchtest du dich und die Familie endgültig in Verruf bringen?«, hielt ihr die gestrenge Tante vor, als sie Klara beim Plaudern mit einem jungen Offizier erwischte. Er hatte sie im Speisesaal des vornehmen Kurhotels angesprochen, während sich Tante Erna im Büro der Hausdame über die Frechheit eines Zimmermädchens beschwerte, das ihr am Morgen Widerworte gegeben hatte. Von da an ließ sie Klara keinen Moment mehr aus den Augen.
Waren ihr die Monate in Baden-Baden ohne jede gesellschaftliche Zerstreuung bereits öde und trostlos vorgekommen, so empfand sie ihre Lage in der Gebäranstalt in Heidelberg bereits nach wenigen Tagen als schier unerträglich. Sie durfte ihre Kammer tagsüber nicht verlassen, erst im Schutze der Dunkelheit unternahm sie in Begleitung einer Pflegerin einen kurzen Spaziergang im Hof. Am Sonntag nahm sie an der heiligen Messe teil, am Nachmittag kam Tante Erna zu Besuch. Bei beiden Gelegenheiten mangelte es nicht an Ermahnungen und Vorhaltungen über ihren Fehltritt. Trotz ihrer flehentlichen Bitten verweigerte man ihr jede Literatur, verbot ihr, Briefe zu schreiben, und gestand ihr selbst einen Stickrahmen und einen Malkasten erst zu, nachdem sie zwei Tage hintereinander apathisch im Bett gelegen und jede Nahrung zurückgewiesen hatte.
Am schlimmsten waren die medizinischen Visiten. Klara hatte bereits die Untersuchung durch den Hausarzt, der sie seit frühester Kindheit kannte, als überaus peinlich empfunden. Doch was sie in Heidelberg erwartete, stellte dies noch bei Weitem in den Schatten. An jedem zweiten Tag musste sie, nur mit einem losen Hemd bekleidet, mit weit gespreizten Beinen erdulden, dass ihre geheimsten Stellen den Blicken zweier Medizinstudenten dargeboten wurden, während der Professor, der die Gebäranstalt zu Studienzwecken nutzte, sie innen und außen, oben und unten abtastete.
Schwester Agnes teilte Klara mit, dass im Gegenzug für die täglichen »Lehrveranstaltungen« kein Honorar für die medizinischen Dienstleistungen in der Anstalt berechnet wurde. Was ihr Agnes verschwieg, war die Tatsache, dass rund um die Betten der mittellosen Frauen ganze Heerscharen von männlichen Studenten standen, die die Unglücklichen oft mehrmals hintereinander unter der Aufsicht eines Assistenten des Professors untersuchten und dabei nicht mit zotigen Bemerkungen sparten.
Deshalb wusste Klara auch nicht, dass sie trotz ihres Elends als einzige Insassin der Anstalt Privilegien genoss, die nur den reichen und damit zahlungskräftigen Kundinnen gewährt wurden. Dennoch hatte auch sie für ihre Sünde hier zu büßen. Die Nonnen, die die Anstalt führten, behandelten Klara ohne jede Wärme und ließen sie unter der steifen Höflichkeit, mit der sie ihr begegneten, deutlich ihre Verachtung spüren.
»Lassen Sie sich dadurch nicht aus der Fassung bringen, liebes Fräulein. Die Schwestern glauben nun einmal, das müsse so sein, weil sie es nicht besser wissen«, tröstete Agnes, Laienschwester und ebenfalls Hebamme in diesem Konvent, sie eines Tages, als sie Klara nach einer Visite der Mutter Oberin hilflos weinend auf ihrem Lager fand. »Denken Sie an Ihr Kindchen, so viel Kummer könnte ihm schaden.«
Das Kind … Anfangs hatte Klara es aus tiefstem Herzen gehasst. Doch als sie die ersten zarten Bewegungen des Wesens spürte, das da in ihr heranwuchs, verwandelte sich ihre Abneigung mit jedem Tag mehr in Liebe und Zärtlichkeit. Daran änderte sich auch nichts, als sie erfuhr, dass ihr eine schwere Geburt bevorstand.
»Man fürchtet, das Kind und sogar Sie selbst könnten dabei sterben«, gestand ihr Agnes auf ihre drängenden Fragen hin, nachdem sie wieder einmal den Austausch zunehmend bedenklicher Blicke und Tuscheleien des Professors mit seinen Studenten beobachtet hatte. Doch anstatt erschrocken zu sein, fühlte Klara sich erleichtert. »Dann müsste ich das Kleine wenigstens nicht hergeben, sondern wäre auf immer mit ihm vereint.«
»Reden Sie nicht so, ich bitte Sie, gnädiges Fräulein«, entgegnete die entsetzte Agnes. »Sie haben Ihr ganzes Leben noch vor sich und sind zum Sterben noch viel zu jung. Hätte ich Ihnen doch nur nichts gesagt!«
Doch das Kind wollte sich bis zuletzt nicht drehen, um mit dem Kopf voran das Licht der Welt zu erblicken. Obwohl es den Gepflogenheiten des Hauses widersprach, die Schmerzen der Geburt durch die Vergabe von Betäubungsmittel zu lindern, verabreichte ihr der Professor nach Stunden fruchtloser Wehen schließlich ein wenig Morphium, um das Kind mithilfe einer Zange mit dem Steiß voran aus dem Geburtskanal herausziehen zu können. Hinterher musste er noch den tiefen Dammriss vernähen, eine überaus schmerzhafte Prozedur, die Klara wieder bei vollem Bewusstsein erdulden musste.
Doch das Kind hatte aus Leibeskräften gebrüllt, nachdem es endlich zur Welt gebracht worden war. Hinter ihrem Bettvorhang hörte Klara trotz der getuschelten Unterhaltung, dass es anscheinend gesund und kräftig war.
Warum lässt man es mich nicht wenigstens ein einziges Mal sehen? Wieder übermannte Klara die Verzweiflung. Deshalb bemerkte sie auch nicht, dass jemand auf leisen Sohlen ihre Kammer betrat, bis der Bettvorhang an ihrer rechten Seite behutsam zurückgezogen wurde. Erleichtert blickte Klara in das rotwangige Gesicht von Schwester Agnes, die zu ihrer Enttäuschung nicht bei der Geburt dabei gewesen war.
»Ich bringe Ihnen einen Schlaftrunk, liebes Fräulein«, lächelte sie. »Sie waren sehr tapfer und müssen jetzt ruhen.«
»Ist das Kleine wohlauf?«
Agnes’ Lächeln vertiefte sich. »Oh ja, es ist ein kräftiges Kind.«
»Ist es ein Junge oder ein Mädchen?«
Agnes’ Miene verdüsterte sich. »Das darf ich Ihnen nicht sagen, gnädiges Fräulein. Darauf stehen die strengsten Strafen.«
Alles in Klara lehnte sich dagegen auf. »Bitte, ich muss es wissen! Ich flehe Sie an und werde Sie reich belohnen!«
Agnes verzog unwillig den Mund. »Dafür nehme ich kein Geld, mein Fräulein. Es wäre gegen die Christenpflicht, Ihre Notlage derartig auszunutzen.«
Klara griff nach dem Strohhalm. »So sagen Sie es mir ohne Entgelt, liebe Agnes. Sehen Sie denn nicht, wie ich leide?«
Gespannt beobachtete sie den inneren Kampf auf dem Gesicht der Hebamme. Schließlich seufzte Agnes tief auf. »Es ist ein Mädchen, gnädiges Fräulein. Doch wenn herauskommt, dass ich Ihnen das gesagt habe, werde ich noch in derselben Stunde davongejagt.«
Klara war so erleichtert, dass sie den letzten Satz gar nicht mehr hörte. »Ein Mädchen! Ich wusste es.« Spontan griff sie nach Agnes’ Hand. »Sagen Sie mir, Schwester Agnes, ist es normal, dass eine Mutter das Geschlecht ihres Kindes ahnt?«
Die Hebamme nickte, nun wieder lächelnd. »Viele Mütter wissen es vor der Geburt«, bestätigte sie.
»Darf ich es sehen? Können Sie es mir heimlich bringen? Bitte, nur ein einziges Mal!«
Erschrocken wich die Schwester zurück und hob abwehrend beide Hände. »Das kann ich nun wirklich nicht für Sie tun, gnädiges Fräulein. Das Kind ist bereits in der Obhut des Waisenhauses.«
Klaras Freude erlosch. Sie fühlte sich unendlich kraftlos.
Agnes hielt ihr den mitgebrachten Becher hin. »Nun trinken Sie das! Sie müssen endlich zur Ruhe kommen.«
Folgsam schluckte Klara das bittere Gebräu. Plötzlich kam ihr ein neuer Gedanke. Sie griff nach Agnes’ Hand.
»Der Name! Wie wird sie heißen?«
Wieder schüttelte Agnes den Kopf. »Auch das darf ich Ihnen nicht sagen.«
Klara überging diesen Einwand, indem sie einfach weitersprach. »Als ich hier tagelang einsam in meiner Kammer saß, habe ich mir Namen für das Kind überlegt. Einen Jungen wollte ich Maximilian, ein Mädchen Irene nennen.«
»Irene? Das ist ein seltener Name!«
Klara nickte. »Doch mit einer wunderbaren Bedeutung: Die Friedliche. Das ist von der griechischen Friedensgöttin Eirene abgeleitet.«
»Ein heidnischer Name?«
Trotz ihrer Erschöpfung und Traurigkeit musste Klara lächeln. »Schon lange verwendet man ihn auch in der Christenheit. Es gibt sogar mehrere heiliggesprochene Frauen, die Irene hießen.«
Agnes zögerte. Kurz nach der Geburt hatte die Schwester Oberin ihr befohlen, Klaras Tante danach zu fragen, ob sie dem Kind einen Namen zu geben wünschte. Diese hatte es unwirsch abgelehnt. Doch wer außer ihr und Klaras Tante wusste das schon? Bei ihrer Unterhaltung war sonst niemand zugegen gewesen.
»Bitte, erfüllen Sie mir wenigstens diesen Wunsch.« Klaras Stimme klang verwaschen und schwach. Das Schlafmittel begann bereits zu wirken. »Es ist das Einzige, was ich meinem Kind, das ich niemals kennenlernen werde, mitgeben kann.« Sie schluchzte auf. Tränen rannen über ihr bleiches Gesicht.
Agnes fühlte tiefes Mitleid mit dieser Unglücklichen. Warum ist die Welt nur so hart? Selbst zu denen, die doch vom Glück begünstigt zu sein scheinen.
Sie gab sich einen Ruck. Es war riskant, doch es konnte gelingen. Klaras Tante hatte ausdrücklich betont, dass sie weder das Kind sehen noch in die Anstalt zurückkommen wolle, bis Klara reisefähig sei. Bis zu diesem Zeitpunkt wäre die Kleine schon längst getauft.
Liebevoll beugte sie sich über das Bett und streichelte Klara über die Wange. »Ich will sehen, was ich tun kann, liebes Fräulein. Doch nun schlafen Sie endlich ein.«
Teil 1
Scheinfrieden