Buch

Lizzy Tuckers Leben als Konditormeisterin wird mal wieder völlig auf den Kopf gestellt, als der so mysteriöse wie gutaussehende Diesel auf der Bildfläche erscheint. Schluss mit Zuckerbäckerei – Diesel benötigt Lizzys Hilfe in einem mysteriösen Mordfall: Gilbert Reedy, ein renommierter Professor für englische Literatur in Harvard, wurde von seinem Balkon im vierten Stock gestoßen. Lizzy und Diesel ermitteln gemeinsam und finden heraus, dass Reedy seit Jahren auf der Suche nach dem »Luxuria-Stein« war, einem antiken Relikt, von dem man sagt, es besitze eine besondere Kraft: die der Lust. Rätselhaften Hinweisen aus einem alten Gedichtband folgend jagen Lizzy und Diesel durch die Katakomben von Boston, durch Gerichtsgebäude und extravagante Luxusvillen – und das Chaos pflastert ihren Weg!

Ihnen stets dicht auf den Fersen: Diesels Cousin Gerwulf Grimoire, schwarzes Schaf der Familie und ebenfalls hinter dem magischen Stein her. Was Wulf damit vorhat, bleibt sein Geheimnis – dass er allerdings ein wachsendes Interesse an der chaotischen Cupcake-Bäckerin Lizzy an den Tag legt, gibt Grund zur Sorge. Und als wäre das nicht schon genug, müssen Lizzy und Diesel sich auch noch mit einer weiteren dunklen Gestalt herumschlagen: Anarchie, ein Kämpfer für Gesetzlosigkeit und Chaos, der ganz sicher nicht in guter Absicht kommt …

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sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

Janet Evanovich

Kleine Sünden

erhalten

die Liebe

Roman

Ins Deutsche übertragen

von Ulrike Laszlo

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Die Originalausgabe erschien 2012

unter dem Titel »Wicked Business« bei Bantam Books,

an imprint of the Random House Publishing Group,

a division of Random House, Inc., New York.

1. Auflage

Taschenbuchausgabe Juni 2013

Copyright © der Originalausgabe

2012 by Evanovich Inc.

All rights reserved.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013

by Wilhelm Goldmann Verlag, Neumarkter Str. 28, 81673 München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © FinePic, München

Redaktion: Martina Klüver

LT · Herstellung: Str.

Satz: omnisatz GmbH, Berlin


ISBN: 978-3-641-09959-6
V004

www.goldmann-verlag.de

KAPITEL 1

Mein Name ist Lizzy Tucker, und früher hielt ich mich einmal für ganz normal. Mein blondes Haar verdanke ich der Chemie. Meine braunen Augen habe ich von meinem Grandpa Harry geerbt. Und solange mein Brustumfang größer als mein Taillenumfang bleibt, bin ich glücklich und zufrieden. Meine Kindheit war manchmal ein wenig peinlich, verlief aber ohne nennenswerte Desaster. Ich war weder Cheerleaderin noch Ballkönigin. Und habe auch keinen supertollen Schulabschluss hingelegt. Nach der Highschool ging ich auf eine Kochschule, an der ich mich durch das Zerlegen und Zubereiten von toten Tieren quälte und mich im Kuchenbacken hervortat. Ich war verlobt und habe mich wieder entlobt. Gut, dass ich den Kerl los bin! Im Januar, drei Tage nach meinem achtundzwanzigsten Geburtstag, erbte ich dann ein Haus von meiner Großtante Ophelia und nahm einen Job als Kuchenbäckerin bei Dazzle’s Bakery in Salem an.

Fünf großartige Monate lang hatte ich das Gefühl, dass mein Leben endlich in den richtigen Bahnen verlief. Und dann tauchten zwei Männer und ein Affe in meinem Leben auf und änderten es für immer.

Einer der Männer wird Wulf genannt, das ist die Abkürzung für Gerwulf Grimoire. Er ist auf unheimliche Weise sehr attraktiv. Sein pechschwarzes Haar fällt ihm in Wellen bis über die Ohren, seine Haut ist blass, und seine Absichten sind noch dunkler als seine Augen. Der andere Mann ist groß, hat von der Sonne gebleichtes blondes Haar und wirkt ein wenig abgerissen. Er hat einen muskulösen Körper, eine fragwürdige Gesinnung und einen Affen namens Carl. Dieser große, gammelige Typ ist unglaublich charmant und hat nur einen einzigen Namen … Diesel.

Die beiden Männer sind in meinem Alter. Und laut Diesel gehören wir einer losen Gemeinschaft von Menschen mit Fähigkeiten an, die über das Normale hinausgehen. Ich glaube das alles nicht so recht, aber ich zweifle es auch nicht wirklich an. Ich sehe ein, dass es Leute gibt, die klüger, mutiger oder stärker als andere sind. Oder sie können besser singen oder haben mehr Glück im Leben. Warum soll es also keine Menschen geben, die über das normale Maß hinausgehende Fähigkeiten besitzen? Ich meine, er erzählt mir ja nicht, dass er Superman vom Planeten Krypton sei, richtig?

Das ist mein erster Oktober in New England. Mein Job gefällt mir immer noch, ebenso wie Ophelias kleines kastenförmiges Häuschen, das auf einer Anhöhe liegt und einen Ausblick auf den Hafen von Marblehead bietet. Das Haus wurde 1740 erbaut und im Laufe der Jahre mit unterschiedlichem Erfolg hin und wieder renoviert. Es ist ein wenig schief, und die Fenster sind verzogen, aber es besitzt einen funktionierenden Kamin, und ich habe mich dort vom ersten Tag an zu Hause gefühlt.

Normalerweise arbeite ich von fünf Uhr früh bis ein Uhr mittags, aber heute hatte ich frei. Der Regen peitschte gegen meine Küchenfenster, und der alte Ahornbaum hinter dem Haus ächzte im Wind. Ich schnippelte gerade Gemüse für eine Suppe, als meine Hintertür aufflog und Diesel in meinen Windfang trat. Er trug Motorradstiefel, eine verwaschene Jeans, ein T-Shirt mit einer Bierreklame und eine offene graue Sweatshirtjacke. Er hatte einen Zweitagebart, sein dichtes Haar war zerzaust und nass vom Regen, und er strömte puren Sex aus.

»Du musst mit mir kommen«, erklärte Diesel. »Ein Mann ist gerade von seinem Balkon im dritten Stock gestoßen worden, und irgendwie hat Wulf damit zu tun. Es geht das Gerücht, dass Wulf einen Hinweis auf einen weiteren SALIGIA-Stein erhalten hat. Ich könnte mir vorstellen, dass dieser Mord damit in Verbindung steht.«

Diesel hatte mir erzählt, dass es sieben alte Steine gebe, in denen die Kraft der sieben Todsünden steckt. Man nennt sie die SALIGIA-Steine, und wenn man sie alle in ein Gefäß legt, entwickelt sich eine böse Macht … und erschafft die Hölle auf Erden. Manche Leute glauben, diese Steine befänden sich in Salem. Wulf gehört zu diesen Leuten, und er macht kein Geheimnis daraus, dass er die Steine an sich bringen will. Da Wulf hin und wieder die dunkle Seite verkörpert, hat Diesel den Auftrag erhalten, ihn davon abzuhalten, diese Steine einzusammeln.

»Normalerweise hätte ich nichts dagegen, dich zu begleiten«, erklärte ich Diesel, »aber ich koche gerade eine Suppe.«

»Okay, du hast die Wahl: Du kannst entweder hierbleiben und deine Suppe kochen, oder du kannst mit mir kommen und die Menschheit davor bewahren, in Satans Kessel zu landen.«

Ich seufzte tief. Besondere Fähigkeiten zu haben klingt erst mal gut. Und es gibt einige Menschen wie Wulf, die ihre Macht sehr wohl genießen, aber ich persönlich empfinde diese Gabe als unangenehme Bürde. Ich verstehe, dass jemand die Menschheit vor dem großen Kessel in der Hölle retten muss, aber warum ausgerechnet ich?

»Um ehrlich zu sein, habe ich diese ganze SALIGIA-Geschichte nie wirklich geglaubt«, gestand ich Diesel. »Und ich habe wirklich keinen blassen Schimmer, wie ich die Menschheit retten soll.«

»Du besitzt eine wichtige Fähigkeit, die mir fehlt«, rief Diesel mir ins Gedächtnis. »Du kannst Gegenstände aufspüren, die magische Kräfte besitzen und die mit den SALIGIA-Steinen in Verbindung stehen.«

»Und du glaubst, dass ich diese Fähigkeit an diesem Tatort einsetzen muss?«

»Wahrscheinlich nicht«, erwiderte Diesel. »Aber du bist süß. Und wenn ich mir schon einen Idioten anschauen muss, der mit dem Gesicht nach unten im Regen auf dem Gehsteig liegt, dann hätte ich dich gern dabei.«

»Du findest mich süß?«

»Ja. Kannst du dich jetzt ein bisschen beeilen, bitte?«

Es ist irgendwie erschreckend, dass ich mich von einem Kompliment so leicht beeinflussen lasse, aber so ist es eben. Ich warf die Gemüsestückchen in meinen Suppentopf und legte den Deckel darauf. Dann nahm ich meine Handtasche von der Arbeitsplatte in der Küche, zog ein Kapuzensweatshirt von dem Haken neben der Tür und ging hinaus.

Die Wolken hingen tief, der Regen verwandelte sich allmählich in ein Nieseln, und die Luft war eisig. Im Hafen unterhalb meines Hauses waren immer noch Boote vertäut, doch im Vergleich zu dem Ansturm im Sommer hatte die Zahl erheblich abgenommen. Es war eindeutig Herbst in New England.

Diesel öffnete das Tor des weißen Lattenzauns, und wir gingen von meinem kleinen Hintergarten auf das Gässchen hinaus, in dem er verbotswidrig geparkt hatte. Er fuhr einen roten Jeep Grand Cherokee, der weder alt noch neu war. Normalerweise war der Wagen mit Schlamm bespritzt und mit Straßenstaub bedeckt. Heute hatte der Regen die oberste Schmutzschicht abgewaschen, und er sah beinahe sauber aus.

Ich schlüpfte auf den Beifahrersitz und bemerkte dann erst Carl, der auf dem Rücksitz saß. Carl sah mich an, winkte mir zu und zeigte mir sein schreckliches Affengrinsen – mit jeder Menge Affenzahnfleisch und Affenzähnen und verrückt funkelnden Affenaugen.

Ich bin in einem Vorort aufgewachsen. Wir hatten Katzen, Hunde, Hamster, Meerschweinchen, Wellensittiche und Fische. Aber keine Affen. Ein Affe war ein neues, etwas verstörendes Erlebnis.

Diesel fuhr die Weatherby Street hinunter und dann über die Brücke, die nach Salem führte. Wir reihten uns in den Verkehr durch die Innenstadt ein, fuhren weiter Richtung Norden und parkten schließlich in der Braintree Street hinter einem Streifenwagen. Unauffällig machten wir uns auf den Weg zu der kleinen Menschenmenge, die sich dort versammelt hatte.

Mehrere Polizeiautos, der Van des Gerichtsmediziners und ein Rettungswagen standen quer vor einem siebenstöckigen gelben Ziegelbau, der aus den 1970er Jahren zu stammen schien. Der Bereich vor dem Haus war mit einem Absperrband gesichert, und ein behelfsmäßiger Sichtschirm sollte Gaffer wie mich davon abhalten, die auf dem regennassen Gehsteig ausgestreckte Leiche anzustarren. Ich war dankbar für diesen Sichtschutz, denn ich wollte den toten Mann nicht sehen.

»Kennst du seinen Namen?«, fragte ich Diesel.

»Gilbert Reedy. Er war Professor in Harvard. Meine Quelle hat mir verraten, dass Reedy durch die Luft flog und ein Brandzeichen auf seinem Nacken hatte, als er auf dem Boden aufschlug. Sah aus wie ein Handabdruck.«

Ich spürte, wie mir das Frühstück hochkam und sich Schweißtropfen auf der Oberlippe bildeten. »Oje«, stieß ich hervor. »Verdammt.«

Diesel sah zu mir herunter. »Tief durchatmen. Und denk an etwas anderes.«

»Wie kann ich an etwas anderes denken? Da liegt ein Toter auf der Erde, und in seiner Haut ist ein Handabdruck eingebrannt.«

»Denk an Baseball«, riet Diesel mir.

»Okay, Baseball. Bin ich ein Spieler oder ein Zuschauer?«

»Du schaust zu.«

»Bin ich im Stadion? Oder läuft das Spiel im Fernsehen?«

»Im Fernsehen.«

Diesel legte den Kopf in den Nacken und sah nach oben zu einer zerschmetterten Glastür auf einem briefmarkengroßen Balkon im dritten Stock. Ich schaute ebenfalls nach oben.

»Ich kenne nur eine Person, die genügend Energie bündeln kann, um eine solche Brandwunde auf dem Nacken eines Menschen zu hinterlassen«, stellte Diesel fest.

»Wulf?«

»Ja.«

»Also glaubst du, dass Wulf Reedy durch die Scheibe und vom Balkon gestoßen hat?«

»Alles deutet darauf hin, aber es passt nicht zu Wulf. Wulf erledigt alles gern sauber und ordentlich. Und das hier ist unappetitlich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Wulf einen Mann vom Balkon stößt … vor allem nicht, wenn es regnet.«

»Das würde eher zu dir passen«, meinte ich.

»Ja. Das klingt eher nach mir.«

Ich betrachtete die Menschenmenge auf der anderen Seite des Tatorts und entdeckte Wulf. Er stand ein wenig abseits und war mit einer schwarzen Hose und einem Pullover tadellos gekleidet. Er sah nicht aus wie ein Mann, der gerade erst jemanden aus dem Fenster gestoßen hatte. Sein Haar war zurückgekämmt, und seine dunklen Augen waren mit einer Intensität auf mich gerichtet, die mir eine Gänsehaut verursachte.

Ich spürte, wie Diesel näher an mich heranrückte, bis sein Körper mich berührte. Er legte mir eine Hand auf den Nacken. Eine beschützende Geste. Wulf nickte zum Zeichen, dass er das zur Kenntnis genommen hatte. Dann flammte ein Lichtblitz auf, und Rauch stieg in die Luft. Als sich der Rauch wieder verzogen hatte, war Wulf verschwunden.

»Die Rauchnummer macht er schon, seit er in der dritten Klasse in einem Ferienlager einen Zauberkurs besucht hat«, erklärte Diesel. »Das wird allmählich langweilig. Er sollte sich wirklich ein paar neue Taschenspielertricks zulegen.«

Diesel und Wulf sind Cousins. Sie sind zwar blutsverwandt, unterscheiden sich aber deutlich durch ihr Temperament und ihre Weltanschauung. Diesel arbeitet als eine Art Kopfgeldjäger für die Aufsichtsbehörde, die Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten im Auge behält. Wulf ist nur Wulf. Und wie man mir erzählt hat, bedeutet das nichts Gutes.

»Und nun?«, fragte ich Diesel. »Gehst du zur Polizei?«

»Nein, das ist nicht die Art und Weise, wie wir solche Dinge erledigen. Überlass Wulf mir.«

»Hoppla.«

»Ja, und ich bin ihm nur noch einen Schritt hinterher.«

Ich sah etwas Braunes, Pelziges an mir vorbeischießen und beobachtete, wie Carl unter die Plane schlüpfte, die man über die Leiche gebreitet hatte.

»Ich dachte, du hättest ihn im Wagen eingeschlossen«, sagte ich zu Diesel.

»Das habe ich auch getan.«

»Was, zum Teufel …?«, brüllte jemand von der anderen Seite der Plane. »Wo kommt dieser Affe her? Er bringt hier alles durcheinander. Ruft sofort einen Tierfänger.«

Diesel kroch unter die Plane und kehrte mit Carl zurück. Wir hasteten zum Wagen zurück, stiegen rasch ein, und Diesel steuerte das Auto die Straße hinunter.

»Er hält etwas in der Hand«, sagte ich zu Diesel. »Es sieht aus wie ein Schlüssel.«

Carl steckte das Ding in sein Maul und biss darauf. »Iiii!«

Ich bot ihm zum Tausch ein Pfefferminzbonbon an und nahm den Schlüssel an mich. Der Größe nach passte er in ein Schloss an einem Tagebuch, und er war aufwändig mit winzigen Ranken und Blättern verziert.

»Ist das deiner?«, fragte ich Diesel.

»Nein. Carl muss ihn vom Boden aufgehoben haben.«

»Vielleicht hat er ihn Reedy abgenommen. Möglicherweise hat er ihn ihm aus der Tasche gezogen.«

»Ich habe einen Blick auf Reedy geworfen, und da gab es keine Taschen. Er trug nur Boxershorts und eine Socke. Eigentlich kann der Schlüssel nur in seiner Nase oder in südlicheren Gefilden gesteckt haben.«

Ich holte rasch mein Handdesinfektionsspray aus meiner Tasche und spritzte es auf den Schlüssel. Diesel bog auf die Lafayette Street ab und fuhr Richtung Marblehead.

»Sind wir fertig?«, erkundigte ich mich.

»Wenn wir fertig wären, würde ich jetzt an einem Strand in der Südsee liegen. Ich dachte, wir fahren zurück zu dir. Dann kannst du deine Suppe fertig kochen, und ich kann ein paar Nachforschungen über Gilbert Reedy anstellen.«

KAPITEL 2

Diesel bog von der Pleasant Street ab und schlängelte sich auf engen Straßen, die eigentlich für Pferde und Fußgänger gedacht waren, um den historischen Kern von Marblehead herum. An der Weatherby Street bog er ab und parkte vor meinem Haus. Die Schindeln sind grau, die Fensterrahmen weiß, und neben der roten Haustür hängen zwei Zwiebellaternen.

Glo saß auf der Verandatreppe vor meinem Häuschen. Sie hatte die Kapuze ihres Sweatshirts über den Kopf gezogen und drückte ihre Leinentasche an die Brust. Sie ist Single wie ich, vier Jahre jünger als ich, ein paar Zentimeter kleiner und Verkäuferin bei Dazzle’s. Ihre roten Locken sind kurz geschnitten, und in puncto Kleidergeschmack bewegt sie sich zwischen einer Disney-Prinzessin und einem Punkrocker. Heute trug sie schwarze Uggs, eine schwarze Strumpfhose, einen kurzen schwarzen Rock und unter dem schwarzen Sweatshirt einen Strickpullover mit schwarzen, orangefarbenen, pinken und babyblauen Streifen. Als sie uns sah, stand sie auf und lächelte breit.

»Ich dachte schon, ihr würdet nie wieder heimkommen und ich müsste hier für immer und ewig sitzen bleiben«, sagte sie.

Ich sah mich auf der Straße um. »Wo ist dein Auto?«

»Es steht vor meiner Wohnung. Irgendetwas läuft aus.«

»Wie bist du hergekommen?«

»Mein Nachbar hat mich hier abgesetzt. Er musste sowieso irgendwohin. Ich dachte, du wolltest heute Morgen eine Suppe kochen.«

»Ich musste meine Pläne kurzfristig ändern«, erklärte ich ihr.

Diesel öffnete meine Haustür, Carl hüpfte ins Haus, und wir folgten ihm alle in die Küche, wo Katze Nr. 7143 auf einem Schemel hockte. Katerchen ist eine getigerte Kurzhaarkatze und hat nur ein Auge und einen halben Schwanz. Glo hat ihn aus dem Tierheim gerettet und ihn mir gegeben. Auf den Papieren aus dem Tierheim war er als Katze Nr. 7143 eingetragen, also heißt er seitdem so. Katerchen sprang von dem Hocker, schnüffelte an Carl und ging angewidert davon. Carl zeigte ihm den Vogel und kletterte auf den Hocker.

»Hast du in letzter Zeit mal wieder jemanden mit einem Fluch belegt?«, fragte Diesel Glo.

Glo legte ihre Tasche auf die Arbeitsplatte. »Nein. Ich wollte meinen Besen mit einem Zauber für gute Laune belegen, aber es hat nicht funktioniert. Er ist immer noch griesgrämig.«

Glo hat die gesamte Harry-Potter-Serie vier Mal gelesen und interessiert sich sehr für Zauberei. Vor einigen Monaten hat sie in einem Kuriositätenladen Ripple’s Zauberbuch entdeckt, und seitdem probiert sie ständig irgendwelche Zaubersprüche aus. Ich mag Glo sehr, und sie ist eine hervorragende Verkäuferin, aber als Zauberin ist sie eine Katastrophe.

»Was für eine Suppe kochst du?« Glo spähte in meinen Topf.

»Gemüse mit Rinderbouillon und Nudeln.«

»Gibst du exotische Kräuter dazu? Ich habe ein wenig pulverisiertes Molchauge bei mir.« Glo kramte in ihrer Tasche und zog ein kleines Gefäß hervor. »Und ich habe Eidechsenaugen, aber das Haltbarkeitsdatum könnte abgelaufen sein. Sie waren im Angebot.«

»Danke«, erwiderte ich. »Ich verzichte.«

Ich nahm den kleinen Schlüssel aus meiner Tasche, legte ihn auf die Arbeitsplatte und ging zur Spüle, um mir die Hände zu waschen.

»Oh, mein Gott«, stieß Glo hervor. »Das ist der Lovey-Schlüssel. Ich wusste nicht, dass du die Sonette gekauft hast.«

»Ich habe keine Sonette gekauft«, erklärte ich. »Den Schlüssel habe ich gefunden. Eigentlich hat Carl ihn entdeckt.«

Glo hob den Schlüssel auf und betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Wenn du genau hinschaust, siehst du das L in der Mitte der Ranken. Der Schlüssel ist sehr alt, und Nina aus dem Raritätenkabinett sagte, er sei vielleicht verzaubert. Er gehört zu einem kleinen Buch mit Sonetten. Ich habe gespart, um mir das Buch bei Nina kaufen zu können, aber da ist mir anscheinend jemand zuvorgekommen.«

Ich band mir meine Kochschürze um und sah zu Glo hinüber. »Ich wusste gar nicht, dass du Poesie magst.«

»Nina hat mich einige der Sonette lesen lassen. Sie sind so romantisch. Und einige sind richtig schlüpfrig.«

»Was gibt es Schöneres als ein schlüpfriges Sonett«, meinte Diesel und nahm sich einen Bagel.

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Diesel Sonette mochte, ob schlüpfrig oder nicht. Für mich war er eher ein Mann für Limericks.

Glo legte den Schlüssel wieder auf die Arbeitsplatte. »Nina hat mir erzählt, bei diesen Sonetten würde garantiert jeder Lust auf Sex kriegen, und ich dachte mir, das könnte sich vielleicht irgendwann als nützlich erweisen. Man weiß ja nie, richtig?«

Ich warf einen Blick auf Diesel und dachte, dass mir ein Zauber lieber wäre, mit dem sich Lustgefühle ignorieren ließen.

»Ich möchte ein paar Nachforschungen über Gilbert Reedy anstellen«, erklärte Diesel. »Darf ich deinen Computer benützen?«

»Natürlich.«

»Wer ist Gilbert Reedy?«, wollte Glo wissen.

»Ein Toter«, erwiderte Diesel. »Er hat heute Morgen einen Kopfsprung von seinem Balkon im dritten Stock gemacht.«

Ich deckte den Esszimmertisch für drei und servierte Suppe und frisch gebackenes Brot zum Mittagessen. Als Nachspeise gab es Haferflockenkekse.

Diesel schlenderte aus dem Wohnzimmer herüber und setzte sich zu mir und Glo, und Carl hüpfte auf den vierten Stuhl.

»Tschii?«, fragte Carl.

»Nein«, erwiderte Diesel. »Das ist Suppe. Erinnerst du dich an deinen Nervenzusammenbruch wegen des Kartoffelbreis? Suppe ist noch schlimmer.«

Carl zeigte ihm den Stinkefinger, sprang von seinem Stuhl, trippelte in die Küche und kam mit einer Schüssel wieder zurück. Er stellte die Schüssel auf den Tisch und kletterte auf den Stuhl. Er war zu klein – er schaffte es kaum, über die Tischkante zu schauen. Also sprang er wieder auf den Boden, rannte zum Wandschrank und holte sich sein Sitzkissen heraus. Dann kletterte er auf die Sitzerhöhung und zeigte allen sein furchterregendes Affengrinsen. Hoffnungsvoll.

»Ist das nicht süß?«, meinte Glo. »Er will Suppe.«

Ich hatte Carl bereits essen sehen und stimmte Diesel zu. Suppe hielt ich für keine gute Idee. Ich legte eine Scheibe Brot in Carls Schüssel und löffelte ein wenig Brühe darauf. Carl deutete auf meine Suppe und dann auf seine Schüssel. Er wollte mehr.

»Vergiss es«, sagte Diesel.

Carl warf seine Schüssel auf den Boden und starrte Diesel wütend an. Diesel seufzte tief, zog Carl von seinem Sitzkissen, trug ihn zur Hintertür und setzte ihn vor die Tür.

»Und wenn er nun davonläuft?«, fragte Glo.

»Dann habe ich Glück gehabt«, meinte Diesel.

»Er wird nicht davonlaufen«, sagte ich zu Diesel. »Er wird dort draußen im Regen stehen bleiben, bis du ihn wieder ins Haus lässt, und dann wird das ganze Haus nach nassem Affen stinken.«

Wir hörten ein Kratzen an der Tür, dann drehte sich das Schloss, die Tür ging auf, und Carl stapfte an uns vorbei ins Wohnzimmer. Er schaltete den Fernseher ein, zappte sich durch einige Programme und entschied sich dann für den Teleshopping-Kanal. Wir verdrehten alle die Augen und widmeten uns unserer Suppe.

»Hast du etwas Interessantes über Reedy gefunden?«, erkundigte ich mich bei Diesel.

»Sein Fachgebiet war die elisabethanische Literatur. Er war Single. Stammte ursprünglich aus dem Mittleren Westen. Fuhr einen Hybridwagen. War zweiundvierzig Jahre alt. Kein Hinweis auf irgendetwas Außergewöhnliches.«

»Mann, das ist wirklich beeindruckend«, staunte Glo. »Musstest du dir ein bestimmtes Suchprogramm kaufen, um das alles herauszufinden?«

Diesel tunkte den Rest seiner Suppe mit einem Stück Brotrinde auf. »Nein. Das stand alles auf seiner Facebook-Seite. Er hatte auch einen Blog, wo er etwas darüber schrieb, dass er ein Buch mit Sonetten gefunden habe, das angeblich magische Kräfte besitzt.«

Glos Augen weiteten sich. »Ich wette, er meinte Loveys Buch! Habt ihr dort den Schlüssel gefunden? Hatte Gilbert Reedy ihn bei sich?«

»Vielleicht«, erwiderte Diesel. »Vielleicht aber auch nicht.«

Carl trippelte ins Esszimmer und zeigte Diesel seinen nackten Hintern. Das verfehlte jedoch seine Wirkung, da Carl diese Show nicht zum ersten Mal aufführte.

»Junger Mann«, sagte Diesel. »So bekommst du keine Nachspeise.«

Carl richtete sich interessiert auf. »Iip?«

»Kekse«, erklärte ich ihm.

Carl sprang auf seinen Kindersitz, setzte sich kerzengerade hin und faltete die Hände auf dem Tisch. Er war ein braver Affe. Ich gab ihm einen Keks, und er schob ihn sich in den Mund.

»Wo sind deine Manieren?«, mahnte Diesel.

Carl spuckte den Keks auf den Tisch, hob ihn auf und knabberte langsam daran.

»Ich sollte mich wahrscheinlich auf den Heimweg machen«, meinte Glo, als wir unser Mittagessen beendet hatten. »Ich muss Wäsche waschen, und mein Besen könnte sich einsam fühlen.« Sie trug ihren Teller in die Küche, schlüpfte in ihr Sweatshirt und hängte sich ihre Tasche über die Schulter. »Danke für die Suppe und die Kekse. Wir sehen uns dann morgen früh in alter Frische.« Sie ging zur Hintertür hinaus und kam nach einer Minute wieder zurück. »Ich habe ja kein Auto«, stellte sie fest. »Das hatte ich ganz vergessen.«

»Kein Problem«, meinte Diesel. »Lizzy und ich wollten ohnehin gerade los. Wir können dich zu Hause absetzen.«

Ich zog meine Augenbrauen nach oben und sah Diesel an. »Wir wollten gerade los?«

»Wir müssen uns mit ein paar Leuten treffen. Und das eine oder andere erledigen«, erklärte Diesel.

Zwanzig Minuten später setzten wir Glo ab. Nach weiteren fünfzehn Minuten parkten wir vor Gilbert Reedys Wohnhaus. Eine Sperrholzplatte verdeckte die zerbrochene Balkontür. Das war das einzige Anzeichen dafür, dass sich hier eine Tragödie ereignet hatte. Die Leiche war vom Gehsteig entfernt worden. Die Polizeiautos waren verschwunden. Auch das Absperrband war nicht mehr am Tatort.

Diesel stieg aus und öffnete mir die Tür. »Wir werden uns ein wenig umschauen.«

»Du schaust dich um. Ich warte hier.«

»So funktioniert das nicht«, entgegnete Diesel. »Wir sind Partner.«

»Ich will aber nicht dein Partner sein.«

»Und ich will nicht mit einem Affen leben.«

Das war ein gutes Argument, also öffnete ich meinen Gurt und folgte ihm in die kleine Eingangshalle des Hauses. Als Diesel zum Aufzug ging, wich ich einen Schritt zurück.

»Warte mal«, sagte ich. »Wo willst du hin?«

»Reedy wohnte in 4B.«

»Du willst in seine Wohnung einbrechen?«

»Ja.«

»Das ist verboten. Und es ist widerlich.«

Diesel zog mich in den Fahrstuhl und drückte auf den Knopf mit der Zahl drei. »Ich hab damit kein Problem.«

»Aber ich.«

»Du bist der Juniorpartner, also hast du nur fünfzehn Prozent Stimmrecht.«

»Warum bin ich der Juniorpartner? Ich bin genauso stark wie du.«

Die Aufzugtür öffnete sich, und Diesel schob mich in den Flur. »Das glaubst auch nur du.«

»Du spürst Menschen auf, die besondere Fähigkeiten haben, und ich kann Gegenstände finden, die etwas Magisches an sich haben. Ich sehe da keinen Unterschied.«

»Schätzchen, ich besitze eine lange Liste von besonderen Talenten. Und seien wir ehrlich – du kannst Cupcakes backen.«

Mir blieb der Mund offen stehen.

Diesel grinste mich an. »Klingt es besser, wenn ich sage, dass deine Cupcakes wirklich großartig sind?«

»Du kriegst von mir keinen einzigen mehr.«

Diesel legte einen Arm um meine Schultern und zog mich an sich. »Das ist nicht dein Ernst.« Er entfernte das Klebeband, mit dem die Tür zu 4B versiegelt war, legte seine Hand über das Bolzenschloss und führte eins der Talente auf seiner Liste vor. Das Schloss drehte sich. Diesel bekam einfach alles auf. Er drehte den Türknauf, und wir betraten Reedys Apartment.

Die Wohnung war klein, aber gemütlich eingerichtet. Eine dick gepolsterte Couch mit zwei Sesseln. Ein großer Sofatisch, beladen mit Büchern, einigen Stiften und einem mit einem großen Gummiband zusammengehaltenen Stapel Papier. Ein Flachbildfernseher gegenüber der Couch. Ein Schreibtisch neben der eingeschlagenen Balkontür. Wir warfen einen Blick in die Küche. Die Küchengeräte waren alt, aber sauber. Ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen. Ein Kaffeebecher in der Spüle. Es gab ein Schlafzimmer und ein Badezimmer. Auch dort war nichts Außergewöhnliches zu sehen.

»Was tun wir hier?«, wollte ich von Diesel wissen.

»Wir suchen nach etwas.«

»Damit kommen wir der Sache schon näher.«

Wir gingen zu dem Bücherregal neben Reedys Schreibtisch. Er besaß eine umfangreiche Sammlung von Klassikern, einige Biografien, ein paar historische Romane und eine große Gedichtsammlung, die ein ganzes Fach beanspruchte. Das Buch mit den Sonetten war nicht darunter. Ich ging in Reedys Schlafzimmer und sah mich dort um. Auch keine Spur davon. Das Gleiche galt für Bad und Küche.

»Es scheint alles an seinem Platz zu sein«, sagte ich zu Diesel. »Aber Loveys Sonette kann ich nicht entdecken.«

»Möglicherweise hat die Spurensicherung das Buch mitgenommen«, meinte Diesel, »was allerdings nicht sehr wahrscheinlich ist. Wieso auch? Ich glaube eher, dass der Mörder das Buch an sich genommen hat.«

Ich ging zu dem Couchtisch hinüber und starrte auf die Shakespeare-Anthologie, die mindestens vierzehn Pfund wog. Der Einband war verblichen. Die Seiten hatten Eselsohren und waren vom Alter vergilbt. Ein linierter Notizblock diente als Lesezeichen. Ich schlug das Buch an dieser Stelle auf und überflog die Seite.

»Reedy hat sich mit Shakespeares Sonetten beschäftigt«, berichtete ich Diesel. »Und er hat sich Notizen dazu gemacht. Er hat die Zeile Oft blickt zu heiß des Himmels Auge nieder abgeschrieben und Schlüssel zum Luxuria-Stein dazugeschrieben und zweimal unterstrichen. Und weiter unten auf der Seite hat er eine Liste von Fachzeitschriften und Fachbüchern erstellt. Loveys Buch steht auf der Liste an letzter Stelle.«

Diesel warf einen Blick über meine Schulter und las Reedys Notizen. »Luxuria ist lateinisch für Wollust.«

»Du kannst Latein?«

»Superbia, Acedia, Luxuria, Ira, Gula, Invidia, Avaritia. Die sieben Todsünden. Damit erschöpfen sich meine Lateinkenntnisse.«

»Glaubst du, dass Reedy getötet wurde, weil er Nachforschungen über den Luxuria-Stein angestellt hat?«

»Seit Jahrhunderten sind die Menschen hinter den Steinen her, allein aus dem Glauben heraus, dass es sie gibt. Und sie haben schreckliche Dinge getan, um sie in ihren Besitz zu bringen. Es würde mich nicht wundern, wenn Reedy das letzte Opfer in einer langen Reihe wäre.«

Wir verstummten, als jemand versuchte, den Türknauf zu drehen. Er kratzte und rüttelte daran. Dann folgte eine kurze Pause. Weiteres Kratzen und Rütteln. Jemand versuchte, das Schloss zu knacken – vergeblich. Diesel schlich zur Tür und spähte durch den Türspion. Als er sich wieder zu mir umdrehte, grinste er.

»Das war Hatchet«, sagte Diesel. »Er scheint wieder zu gehen.«

Steven Hatchet ist ein Teigmännchen mit rotem, strohigem Haar. Er hat Wulf Treue geschworen, kleidet sich immer, als wäre er auf einem Mittelalterfest, und ist komplett verrückt. Er ist Ende zwanzig und der einzige Mensch, der ähnliche Fähigkeiten wie ich besitzt. Angeblich können wir beide die Energie spüren, die in ganz gewöhnlichen Gegenständen steckt. Zunächst klingt das nach Fantasyland, aber ich glaube, es ist nicht viel anders, als wenn ein Bauer eine Wünschelrute in die Hand nimmt, um eine Wasserader unter der Erde zu finden.

Wir gingen ein letztes Mal durch das Apartment, und Diesel nahm die Anthologie, den Notizblock und die Ordner an sich.

»Du kannst diese Sachen nicht mitnehmen«, protestierte ich. »Das ist Diebstahl.«

»Ich leihe sie mir nur aus«, beschwichtigte Diesel mich. »Eines Tages bringe ich sie vielleicht zurück.«

Diesel verschloss die Tür und zog das Absperrband wieder an seinen Platz. Wir fuhren mit dem Aufzug ins Erdgeschoss und rannten unten im Flur Hatchet in die Arme, der eine Kettensäge in der Hand hielt.

»Weiß Wulf, dass du mit Elektrowerkzeugen herumspielst?«, fragte Diesel Hatchet.

»Mein Herr weiß nur, dass ich seinen Auftrag erledigen werde. Es interessiert ihn nicht, wie ich das tue. Mehr müsst Ihr und Eure Schlampe nicht wissen.«

Ich kniff meine Augen zusammen und schob mich ein paar Zentimeter in Hatchets Richtung. »Schlampe? Wie bitte?«

Diesel legte seinen Arm um meine Schultern und zog mich so weit zurück, dass ich mit der Faust außer Reichweite von Hatchets Nase war.

»Es ist kein Geheimnis«, meinte Diesel. »Jeder weiß, dass Wulf nach dem Luxuria-Stein sucht.«

»Und wir werden ihn finden«, erwiderte Hatchet. »Wir haben die Sonette, und schon bald werden wir auch den Schlüssel dazu finden.«

»Warum hast du den Schlüssel nicht an dich genommen, als du die Sonette geholt hast?«, wollte Diesel wissen.

Hatchets Gesicht wurde knallrot. »Das war ein Versehen.« Er drehte sich auf dem Absatz um und marschierte zum Aufzug.

»Er wird mit der Kettensäge ein Loch in Reedys Wohnungstür schneiden«, sagte ich zu Diesel.

»Wohl kaum«, erwiderte Diesel. »Das ist eine Brandschutztür aus Metall. Wenn Hatchet in die Wohnung will, wird er durch die Wand gehen müssen.«

KAPITEL 3

Es regnete in Strömen, als wir zu meinem Haus zurückkamen. Wir streiften unsere Schuhe im Windfang ab und tapsten auf Strumpfsocken in die Küche. Diesel holte sich ein paar Kekse aus der Keksdose.

»Du hättest meine Ehre verteidigen können, als Hatchet mich deine Schlampe nannte«, sagte ich zu Diesel.

»Ich habe diesen Augenblick genossen. Ich wollte schon immer eine eigene Schlampe haben.«

Carl trippelte in die Küche. Er hatte im Wohnzimmer auf der Couch geschlafen, und sein Fell war vom Schlaf zerzaust. Er kratzte sich am Bauch und starrte auf Diesels Keks. »Iii?«

Ich gab Carl einen Keks und richtete dann meine Aufmerksamkeit auf die Anthologie und die Ordner, die Diesel auf die Arbeitsplatte gelegt hatte. Die Beschriftung auf dem ersten Ordner lautete Allgemeine Geschichte der SALIGIA. Der zweite Ordner enthielt eine Arbeit von jemandem namens Carl Stork mit dem Titel Der Mythos des Luxuria-Steins. Und eine etwas kürzere Abhandlung, ebenfalls von Stork. Beide Arbeiten stammten aus dem Jahr 1943. In dem dritten Ordner befand sich eine Sammlung von zusammengehefteten Seiten, Notizzetteln und aus Zeitschriften und Zeitungen ausgeschnittenen Artikeln.

»Die meisten Unterlagen in diesem Ordner sind relativ neu«, sagte ich zu Diesel. »Einige handgeschriebene Notizen. Ein Zeitungsartikel über eine Ausstellung, die letzte Woche eröffnet wurde. Die Kopie eines Artikels über Hexen in Salem.« Ich zog den Hexenartikel heraus und begann, ihn zu lesen. »Heiliger Bimbam! Dieser Artikel handelt von Miriam Lovey, die verdächtigt wurde, eine Hexe zu sein. Es heißt hier, dass sie verschwand, bevor man ihr den Prozess machen konnte. Sie war zu der Zeit erst fünfzehn Jahre alt.«

»Steht da etwas von sexy Sonetten?«

»Nein. Aber sie wurde beschuldigt, unschickliche Begierden in Männern zu erwecken.«

Diesel nahm mir den Artikel aus der Hand und las ihn durch. »Bei dieser Hexengeschichte zieht es mir glatt die Eier zusammen.«

»Danke für die Info.«

»Hast du denn keinen vergleichbaren Körperteil, der schrumpft, wenn wir über so etwas sprechen?«

»Nein, aber mir wird gleich schlecht.«

Meine Türglocke ertönte, und jemand begann, gegen die Tür zu trommeln. BUM, BUM, BUM! Ich öffnete und stand Hatchet mit einem gezogenen Schwert gegenüber.

»Rückt es heraus«, forderte er, »oder ich werde Euch mit meinem Schwert niedermetzeln.«

»Du solltest endlich mit diesem Mittelalterzeugs aufhören«, sagte Diesel zu Hatchet. »Du hörst dich an wie ein Idiot.«

»Ihr mögt mich jetzt verspotten, aber der Tag wird kommen, an dem Ihr Euch meinem Herrn unterwerfen werdet, und auch mir.«

Diesel schien das keine große Angst einzujagen. »Es gibt einen Grund für diesen Besuch, richtig?«

»Ihr habt, was dem Recht nach uns gehört. Wir haben das Buch, und der Schlüssel ist Teil des Buchs.«

»Welcher Schlüssel?«, fragte Diesel.

»Das wisst Ihr sehr gut. Es geht um den Lovey-Schlüssel.«

»Nein«, sagte Diesel. »Ich habe ihn nicht.«

»Ihr lügt. Ihr wart vor mir in Gilbert Reedys Wohnung und habt den Schlüssel an Euch genommen.«

»Woher willst du das wissen?«, fragte Diesel. »Vielleicht hat die Polizei den Schlüssel mitgenommen. Vielleicht existiert dieser Schlüssel gar nicht. Vielleicht hat Reedy den Schlüssel geschluckt, und sie finden ihn bei der Autopsie.«

»Ich weiß es, weil ich bestimmte Kräfte besitze«, erwiderte Hatchet. »Ich spüre solche Dinge. Ich rieche sie. Ich habe Visionen. Und außerdem habe ich gerade durch das Küchenfenster geschaut und den Schlüssel auf der Arbeitsplatte liegen sehen.«

»Wer’s findet, darf’s behalten«, meinte Diesel.

Hatchet traten die Augen aus den Höhlen, und sein Gesicht wurde fleckig. »Er soll aber uns gehören!«, brüllte er. »Mein Herr befiehlt es. Ihr werdet mir jetzt den Schlüssel geben, oder Ihr werdet alle sterben!«

Er hob sein Schwert und trat einen Schritt auf mich zu. Katerchen sauste durch die Luft und landete auf Hatchets Gesicht.

»AU!«, jaulte Hatchet, ließ sein Schwert fallen und versuchte, Katerchen abzuwehren.

Diesel packte Hatchet an seiner Tunika und hob ihn hoch. »Ich übernehme den Rest«, sagte er zu Katerchen.

Katerchen ließ Hatchets Gesicht los, landete elegant auf dem Boden und schnipste ein Haarbüschel von Hatchet aus seinen Krallen.

Diesel trug Hatchet mit ausgestrecktem Arm zu der offenen Tür, warf ihn hinaus, schlug die Tür hinter ihm zu und verriegelte sie.

BUM, BUM, BUM. Hatchet hämmerte wieder an die Tür. Diesel öffnete und sah auf Hatchet herab. »Was willst du noch?«

Hatchet hatte einige Kratzer von Katerchen abbekommen, aus denen Blut quoll. »Ich glaube, ich habe mein Schwert in Eurem Wohnzimmer gelassen.«

Diesel holte das Schwert, reichte es Hatchet, schlug die Tür wieder zu und verriegelte sie.

»Hast du jemals daran gedacht, Jalousien an deinen Küchenfenstern anzubringen?«

»Jalousien kosten Geld.«

»Vielleicht sollte ich die Nacht hier verbringen. Um dich zu beschützen.«

»Nicht nötig. Ich habe ja Katerchen.«

Aus meinem Radiowecker ertönte um 4.15 Uhr Musik. Draußen war es noch dunkel. Katerchen schlief am Fußende meines Betts. Ich hörte keinen Regen. So weit alles gut. Ich kroch aus dem Bett, duschte und zog mir wie üblich Jeans, ein T-Shirt und Sneakers an.

Die Fußböden in meinem Haus bestehen aus breiten Kiefernplanken. Einige sind sehr, sehr alt. Manche neu. Die Decken sind niedrig. Die Wände altmodisch verputzt. Die Fenster haben kleine Scheiben, und die Rahmen sind aus weißem Holz. Die Küche ist nicht mit hochtechnologischen Geräten ausgestattet, aber sie dient ihrem Zweck und ist sehr gemütlich. Meine Töpfe und Pfannen hängen an Haken über meiner kleinen Kochinsel.

Ich setzte Kaffee auf, schüttete für Katerchen ein wenig Trockenfutter in eine Schüssel und gab ihm frisches Wasser. Während ich auf den Kaffee wartete, löffelte ich einen kleinen Becher Heidelbeerjoghurt aus und dachte über den bevorstehenden Tag nach.

Es war Montag. Das bedeutete, dass ich die übliche Menge an Cupcakes backen würde, zuzüglich der fünfundvierzig Erdbeer-Cupcakes für Mr Nelsons wöchentliches Geschäftsessen mittags im Bootsclub. Und Clara würde meine Hilfe beim Brotbacken brauchen, weil Mr Nelson auch fünfundvierzig Laugenbrötchen haben wollte. Für den Nachmittag und Abend hatte ich mir noch nichts vorgenommen, Diesel würde meine freie Zeit jedoch sicher in Beschlag nehmen.

Ich goss mir frisch gebrühten Kaffee in meinen Becher, gab ein wenig Kaffeesahne dazu, zog mir ein Sweatshirt über und griff nach meiner Handtasche. Diesel hatte den Lovey-Schlüssel und Reedys Unterlagen mitgenommen, aber die Shakespeare-Anthologie lag immer noch auf der Arbeitsplatte. Ich starrte auf das Buch und dachte an Hatchet und Wulf … Vielleicht lauerten sie dort draußen und warteten darauf, mich zu schnappen.

Hätte ich Diesel bei mir übernachten lassen, hätte er mich vor allen sabbernden, auf allen vieren daherschlurfenden, blutsaugenden Monstern gerettet. Aber wer hätte mich dann vor Diesel beschützt? Diesel war eine ein Meter neunzig große, atemberaubende Verlockung. Er war nervtötend, charmant, aufdringlich, strömte praktisch Testosteron aus und roch immer fantastisch. Und er war für mich tabu. Diesel hatte mir das so erklärt: Wenn zwei Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten sich miteinander einließen, würde einer von ihnen seine magischen Kräfte verlieren. Und es war vorher nicht abzusehen, wen es dabei treffen würde. Das war wirklich Mist, denn wäre ich sicher, dass ich diejenige sein würde, hätte ich mich gern geopfert. Aber wenn es Diesel treffen würde und ich dann die Welt ganz allein retten müsste, wäre ich völlig aufgeschmissen.

Ich spähte aus dem vorderen Fenster zu meinem Auto hinaus. Es stand nur wenige Schritte von meiner Haustür entfernt unter einer Straßenlaterne. Keine Spur von Wulf oder Hatchet. Die Häuser auf der anderen Straßenseite waren dunkel. Der Großteil von Marblehead schlief noch. Katerchen schmiegte sich an mein Bein.

»Was meinst du?«, fragte ich ihn. »Soll ich es wagen?«

Katerchen blinzelte, und ich wertete das als ein Ja.

Mir verschlug es den Atem, also konnte ich nicht schreien, und Wulf in den Schritt zu treten ging auch nicht.

Mir brach der kalte Schweiß aus. Woher wusste er, dass ich mich nach Normalität sehnte? Als ich meine Hand nach dem Griff der Fahrertür ausstreckte, fiel mein Blick auf Wulfs perfekt gebügelte Hose. Keine Falte weit und breit. Ich befand mich direkt in Augenhöhe mit seinem kleinen Freund, und was ich sah, war wie das Bett des kleinsten der drei Bären – nicht zu groß und nicht zu klein, sondern genau richtig.

Dreißig Minuten später fuhr ich langsam auf das kleine Grundstück hinter der Bäckerei und parkte meinen Wagen. Aus der offenen Tür des Gebäudes drang Licht, und in der Luft schwebte Mehl wie Feenstaub. Clara war bereits bei der Arbeit.

Ich tauschte mein Sweatshirt gegen einen weißen Bäckerkittel und band mir eine Kochschürze um.

Ich war bereits dabei, das Mehl abzuwiegen. »Schon in Vorbereitung.«

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Clara. »Du sprichst mit dir selbst und starrst den Teig für süße Brötchen wütend an.«

»Wulfs mittelalterlicher Lakai.«

»Und du willst ihn ihm nicht geben?«

»Na dann gute Nacht«, meinte Clara.