Eléonore Devillepoix
Die Stadt ohne Wind
Das Mädchen des Waldes
Aus dem Französischen von Amelie Thoma
Insel Verlag
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Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel La ville sans vent. La fille de la forêt bei Hachette.
eBook Insel Verlag Berlin 2022
Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2022.
Erste Auflage 2022
Deutsche Erstausgabe
© der deutschsprachigen Ausgabe Insel Verlag
Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2022
© der Originalausgabe : Hachette Livre 2020
Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und
Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.
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Umschlaggestaltung von Rothfos & Gabler, Hamburg, unter Verwendung des Originalumschlags von Hachette Romans, Illustration: Guillaume Morellec
eISBN 978-3-458-77096-1
www.suhrkamp.de
»Deine Schwester hat also eine Widmung verdient und deine liebe Mama, die dich großgezogen und alle Versionen deines Buches gelesen hat, nicht?«
Patricia Devillepoix, 2020
Die Stadt ohne Wind
Sollte die Erinnerung an Band 1 schon ein wenig verblasst sein, hier eine kleine Auffrischung zu den Helden.
Eine Übersicht über die anderen Figuren und ein Glossar findet ihr am Ende des Romans.
Arka: Die Amazonenschülerin, die bei ihrer Ankunft in Hyperborea Elevin wurde, wurde wegen des Mordes am Basileus, dem Herrscher der Stadt, zum Tode verurteilt. Nachdem sie ihrer Hinrichtung knapp entrinnen konnte, floh sie aus der Stadt, um zu ihrem Volk nach Arkadien zurückzukehren.
Lastyanax: Der junge Magier, Arkas Mentor und ehemaliger Ebnungsminister, hat die Stadt verlassen, um der Spur seiner Elevin zu folgen.
Petroklos: Lastyanax’ bester Freund gehört zu den Magiern, die von einer Gruppe unbekannter Amazonen im Gefängnis von Hyperborea als Geiseln festgehalten werden.
Pyrrha: Die junge Magierin ist in Hyperborea geblieben, um Petroklos und die anderen Geiseln zu befreien.
Alkander: Der geheimnisvolle Meister der Lemuren steckt hinter dem Mord am Basileus und der Geiselnahme.
Kandri war gerade sieben geworden, als der Tag anbrach, der ihr Leben verändern sollte.
An diesem Morgen wachte sie früher auf als gewöhnlich. Die Dämmerung im Wald raschelte, zwitscherte, pfiff durch die dünne Wand ihrer Kammer – ein winziger Raum von ein mal zwei Schritt, gerade groß genug für ihre Hängematte. Ein regelmäßiges Klopfen übertönte die übrigen Geräusche. Noch ganz schlaftrunken brauchte sie einen Moment, ehe sie begriff, dass die Stute ihrer Mutter ungeduldig mit dem Huf gegen das Gatter ihrer Koppel unten am Fuß des Hausbaums schlug. Kandri hatte vergessen, ihr Futter zu geben, ehe sie zu Bett gegangen war.
Der Gedanke an die Ohrfeige, die sie riskierte, wenn ihre Mutter von dem Versäumnis erfuhr, machte sie schlagartig wach. Sofort schwang sie sich aus ihrer Hängematte und hob den Stoff an, der ihre Kammer vom Wohnraum trennte. Das enge und wunderlich geformte Zimmer, eingeklemmt zwischen den Hauptästen des Baumes, in den man die Hütte gebaut hatte, lag noch im Dunkeln. Zum Glück kannten ihre Füße den Boden besser als ihre Augen. Kein Brett quietschte, während sie um die Kampfausrüstung ihrer Mutter herumschlich und dabei auf die Geräusche aus deren Schlafkoje lauschte. Durch den Vorhang drang leises zweistimmiges Schnarchen. Weder ihre Mutter noch Themis war schon wach. Sie hatte noch mal Glück gehabt.
Der Wohnraum ging in die Terrasse über, die mit dicken Baumstümpfen möbliert war, auf denen ihre Mutter und Themis in den Mußestunden des Tages Pfeife rauchten. Die Plattform lag am Rand des Kronendachs, unter den lichten Ästen der riesigen Eukalyptusbäume mit ihren hellen Stämmen, die den Wald der Amazonen prägten. Wenn Kandri früh erwachte, liebte sie es, auf die Hütte zu klettern und zuzusehen, wie die Morgenröte langsam über dem grünen, im Wind wogenden Blättermeer aufzog, das sich endlos unter ihr erstreckte. Doch an diesem Tag musste sie schnell ihr Versäumnis vom Vorabend wiedergutmachen.
Sie glitt in das Loch, das zur Treppe führte. In regelmäßigen Abständen ins Holz getriebene Eisenpflöcke wanden sich spiralförmig um den Stamm. Der kleinste Ausrutscher versprach einen Sturz von fünfzig Schritt in die Tiefe. Rasch kletterte Kandri mit der schlafwandlerischen Sicherheit ihrer sieben Jahre hinab.
Ein paar Schritt über dem Boden nahm sie einen Beutel von einem der Pflöcke und warf Hände voll Korn in den Trog der Stute, die vorwurfsvoll schnaubte. Die letzte Handvoll landete in der schwarzen Mähne des Tieres, das sich schon über sein Futter gebeugt hatte.
Sehnsüchtig betrachtete Kandri den hellbraunen Pferderücken, über den sich ein schwarzer Aalstrich zog. Ihre Mutter hatte ihr noch nie erlaubt, sie zu reiten, weil sie meinte, ein Schlachtross sei zu gefährlich für ein kleines Mädchen. Kandri rief leise nach der Stute, doch die beachtete sie nicht und kaute weiter ihr Futter, wobei sie ab und zu mit peitschendem Schwanz die Wolken morgendlicher Mücken von ihrem Bauch verscheuchte.
Enttäuscht stieg Kandri die Treppe wieder hoch, die Nase erfüllt von der intensiven, feuchten Waldluft. Kakadus schüttelten die Zweige eines benachbarten Eukalyptus, damit die Kapselfrüchte herunterfielen. Der Hausbaum erhob sich am Rand eines kleinen Abhangs, nur ein paar Ellen von einem Fluss entfernt, der so schwarz war, dass die hineingekippten Bäume wie von der Klinge seiner Oberfläche durchtrennt wirkten. Über der spiegelglatten Wasserfläche schwebte diesiger Nebel, der mit den ersten Sonnenstrahlen verschwinden würde. Am Ufer des Flusses füllten Farne und leuchtend grünes Moos den Raum zwischen den gewaltigen Stämmen.
Kandri hatte zwei Drittel des Aufstiegs zurückgelegt, als sie über sich ein Knarren hörte. Schritte auf der Terrasse verdunkelten die hellen Ritzen des Fußbodens. Im nächsten Moment verriet ihr das raue Schaben der Baumscheiben auf den Dielen, dass Themis und ihre Mutter es sich an ihrem Lieblingsplatz bequem gemacht hatten.
Sie waren also wach.
Kandris Magen zog sich zusammen. Ihr war durchaus bewusst, in welch misslicher Lage sie sich befand. Wenn sie hochging, würde ihre Mutter sie mit Sicherheit fragen, was sie draußen gemacht hatte, wenn sie unten blieb, würde sie sich bald wundern, warum sie nicht aus ihrem Zimmer kam. Sie musste dieses unbedingt irgendwie erreichen, ohne sich dabei erwischen zu lassen.
Sie erklomm ein paar weitere Sprossen, bis sie an einen schmalen Ast gelangte, der zu ihrem Fenster aufragte. Eine Erwachsene hätte ein solches Kunststück nicht wagen können. Aber Kandri war leicht wie ein Äffchen und fast ebenso geschickt. Sie kroch also auf den Ast. Der benebelnde Geruch der Kräuter, mit denen ihre Mutter und Themis ihre Pfeifen gestopft hatten, stieg ihr in die Nase. Als sie auf allen vieren über das glatte Holz krabbelte, das sich unter ihrem Gewicht bedrohlich bog, erklang Themis’ Stimme.
»Sie ist jetzt sieben Jahre alt. Du weißt, dass das nicht mehr lange so weitergehen kann.«
Verwirrt hielt Kandri inne, um zu lauschen. Zum ersten Mal hörte sie, wie in so ernstem Ton über sie gesprochen wurde. Normalerweise erwähnten die Erwachsenen sie gleichgültig oder verärgert, ehe sie schnell das Thema wechselten – man beachtete sie nicht sonderlich.
Ihre Mutter schwieg, so wie sie es immer tat, wenn Kandri zum hundertsten Mal fragte, ob sie auf ihrer Stute reiten dürfe. Themis’ Stimme beharrte:
»Mit jedem Tag, der vergeht, riskierst du ein wenig mehr, entdeckt zu werden. Es ist schon ein Wunder, dass das Geheimnis bis jetzt gewahrt geblieben ist. Wenn eine Ephorin erfährt, was sie ist, dann werdet ihr beide sterben.«
Kandri verstand nicht, worum es ging. Von welchem Geheimnis sprach Themis? Und was sollte das sein, eine »Ephorin«? Reglos verharrte sie mitten auf ihrem Ast, die Glieder schmerzend von der Anstrengung, das Gleichgewicht zu halten, und wartete auf die Antwort ihrer Mutter. Es dauerte lange, ehe diese endlich kam:
»Ich weiß, dass du recht hast, aber ich schaffe es nicht, mich dazu durchzuringen. Es ist bisher gutgegangen, wir können noch ein paar Monate, sogar Jahre weitermachen. Lass mich meine Tochter noch ein wenig genießen.«
Ein Knistern war zu hören, gefolgt von dem typischen »Pouf« ausgestoßenen Pfeifenrauchs.
»Du machst einen Fehler.«
Themis’ Stimme klang wie ein Axthieb. Kandri kletterte den Ast bis zu ihrem Fenster hinauf, ohne sich um den Abgrund unter sich zu scheren, so sehr beschäftigte sie die seltsame Unterhaltung, die sie gerade belauscht hatte.
Außer wenn sie die Erlaubnis bekommen wollte, auf der Stute zu reiten, hielt Kandri nie lange an einer Idee fest, denn es gab stets tausend Dinge, die sie ablenkten. Dass sie noch immer an das Gespräch zwischen Themis und ihrer Mutter dachte, als sie eine Stunde später zum Training der Schülerinnen ging, bewies, dass heute kein gewöhnlicher Tag war.
Der Pfad, der ihren Hausbaum mit der Trainingslichtung verband, führte am Bach entlang, einem Zufluss des Thermodon. Mit gerunzelten Brauen trabte Kandri über den festgestampften Humus und wich dabei unwillkürlich den Wedeln fleischiger Pflanzen aus, die am Wegrand wuchsen. Ihre Schülerinnenausrüstung – ein kurzer Bogen, ein mit Pfeilen gefüllter Goryt und ein kleiner Speer – klapperte im Rhythmus ihrer Schritte. Deswegen und weil sie so in Gedanken versunken war, überhörte sie das Hufgetrappel, das sich von hinten näherte. Erst im letzten Moment bemerkte sie das herangaloppierende Pferd.
Kandri sprang zur Seite, stolperte über einen Baumstumpf und schlug der Länge nach in ein Büschel Histamiden. Kreischend rappelte sie sich auf, während sich der Inhalt ihres Köchers mitten zwischen die juckenden Stängel ergoss.
»Du kommst zu spät, Kandri!«
Kandri hob den Blick gerade noch rechtzeitig, um die Kruppe eines Ponys und einen langen schwarzen Zopf hinter dem Stamm eines Eukalyptus verschwinden zu sehen. Antiope ließ keine Gelegenheit aus, sie lächerlich zu machen, doch normalerweise begannen die Feindseligkeiten erst beim Training, wenn die anderen Schülerinnen an ihrem Spott teilhaben konnten. Kandri hasste die Prinzessin umso mehr, als sie ihre Fähigkeiten im Kampf und beim Reiten anerkennen musste.
»Ich wäre auch eine tolle Reiterin, wenn ich ein eigenes Pony hätte«, brummte sie und versuchte, ihre Pfeile einzusammeln, ohne die Histamiden zu berühren.
Während sie ihren Weg fortsetzte, kratzte sie sich an den Schenkeln, die bereits von dicken roten Pusteln übersät waren. Sie brannten immer schlimmer, sodass Kandri sich nur mit Mühe aufs Bogenschießen konzentrieren konnte. Barkida, ihre einzige Freundin unter den Schülerinnen, war nicht da; sie hatte sich bei einer Kampfübung das Handgelenk gebrochen. Ohne sie fand Kandri das Training noch deprimierender. Sie verlor drei Pfeile im Gestrüpp und erntete den Tadel der Übungsleiterin, die sie für den Rest des Vormittags an den Rand der Lichtung verbannte. Da hockte sie auf einem Baumstumpf, das Kinn in die Hände gestützt, und sah ihren Kameradinnen mürrisch dabei zu, wie sie eine Übung nach der anderen absolvierten. Antiope trainierte wie üblich mit Melanippe, der Einzigen, die sich mit ihr in den Disziplinen der Amazonen messen konnte. Die beiden Mädchen verstanden sich blind und zogen bewundernde Blicke auf sich.
Melanippe, deren Mutter aus einem Heloten-Dorf in der Nähe des Waldes stammte, sah aus wie eine typische Arkadierin mit ihren hohen Wangenknochen, der olivfarbenen Haut, den dünnen schwarzen Zöpfen, der etwas untersetzten Statur und den schmalen Augen, die verschlagen blitzten. Antiope war schlanker, mit braunen Mandelaugen, die ihrem Gesicht einen katzenhaften Ausdruck verliehen. Manchmal bat Kandri ihre Mutter um Hilfe, wenn sie versuchte, die ausgeklügelten Frisuren der Prinzessin zu kopieren.
Bis zum Ende des Trainings hatte sie sich die Schenkel blutig gekratzt und träumte davon, ihre Beine in den kühlen Fluss zu tauchen, damit das Jucken endlich nachließ. Daher sah sie noch neidvoller als sonst zu, wie die anderen Schülerinnen ihre Ausrüstung einsammelten und Richtung Ufer rannten.
Ihre Mutter hatte ihr streng verboten, mit ihren Kameradinnen schwimmen zu gehen.
Normalerweise, wenn die Schülerinnen zum Wasser aufbrachen, blieb Kandri mit Barkida zurück, doch ihre Freundin saß zu Hause mit gebrochenem Handgelenk.
Wenn Kandri nicht vergessen hätte, die Stute am Abend zu füttern, wenn sie Themis’ Worte nicht belauscht und Antiopes Pony nicht erst im letzten Moment gehört hätte, wenn sie nicht in die Histamiden gefallen wäre und ihre Haut nicht so sehr gejuckt hätte, wenn Barkida da gewesen wäre, um ihr Gesellschaft zu leisten, dann hätte sie die Ermahnung vielleicht nicht in den Wind geschlagen, um ihren Mitschülerinnen ans Ufer zu folgen.
Ein enormer Eukalyptus, der ein paar Monate zuvor quer über den Strom gestürzt war, diente den Mädchen als Sprungturm. Seine noch grünen Äste hatten sich in denen der Bäume auf der gegenüberliegenden Böschung verfangen, sodass der hölzerne Riese nun halb über dem Wasser hing. Die waghalsigsten Schülerinnen kletterten bis zur Hälfte des Stamms in einer Höhe von sechs oder sieben Schritt und sprangen, die Füße voraus, in die obsidianschwarzen Fluten. Bis jetzt hatte noch kein Mädchen gewagt, so weit hochzuklettern wie Melanippe und Antiope, die sich jedes Mal aufs Neue übertrafen.
Während die anderen fröhlich ihre Sachen von sich schmissen und splitterfasernackt den Stamm hochkraxelten, raffte Kandri ihre Tunika über den Beinen, um in den Fluss zu waten. Immerhin schwamm sie nicht, gehorchte also. Im kühlen Wasser ließ der Juckreiz sofort nach. Als ihre Oberschenkel halb bedeckt waren, blieb Kandri stehen und sah ihren Mitschülerinnen zu, wie sie einen spektakulären Hopser nach dem anderen vollführten. Ihre Zehen wühlten fiebrig im Schlamm. Sie hatte schreckliche Lust, sich den anderen anzuschließen, doch sie wagte nicht, das Verbot ihrer Mutter ganz zu ignorieren. Also begnügte sie sich damit, zuzuschauen und sich vorzustellen, wie hoch sie selbst auf den Stamm klettern, was für ein großartiger Sprung ihr gelingen und welch bewundernde Blicke sie ernten würde, wenn sie nur dürfte, wenn …
Während Kandri so vor sich hin träumte, bekam sie plötzlich einen heftigen Stoß in den Rücken, der sie bäuchlings ins Wasser beförderte. Sie ruderte mit den Armen, ehe sie prustend und spuckend wieder auf die Beine kam, mit tropfendem Gesicht und patschnassen Kleidern, vor sich Melanippe, die sich bei ihrem Anblick ausschüttete vor Lachen.
»Kandri kann nicht schwimmen!«, johlte sie und spritzte sie noch mehr voll.
»Das stimmt überhaupt nicht, ich kann schwimmen!«, verteidigte Kandri sich und hob schützend den Arm.
»Warum springst du dann nie mit uns?«, fragte Melanippe mit abschätzigem Blick.
Sie begann vor ihrer Mitschülerin, der gar nicht wohl war in ihrer Haut, bedrohliche Furchen in die Wasseroberfläche zu ziehen. Um sie herum war alles verstummt. Gut dreißig angehende Amazonen verfolgten den Schlagabtausch wie eine hungrige Meute, bereit, sich auf ihr Opfer zu stürzen.
»Weil Mama es nicht will«, nuschelte Kandri.
Sofort wurde ihr bewusst, dass das nicht die richtige Antwort an ein Rudel unbarmherziger Mädchen war, die nur darauf warteten, sie noch mehr zu verspotten.
»Aber ich mach’s trotzdem«, fügte sie hinzu und spuckte herausfordernd ins Wasser.
Überrascht wich Melanippe zur Seite, um sie vorbeizulassen. Kandri watete zu den Wurzeln des Baums und zog sich aus dem Fluss. Die Kleider klebten ihr am Körper, triefend vor Wasser, das dunkle Pfützen auf dem Stamm hinterließ. Sie machte einen Schritt, glitt auf dem nassen Holz aus und wirbelte verzweifelt mit den Armen, um nicht rücklings wieder herunterzupurzeln. Die anderen prusteten voller Schadenfreude. Kandri beachtete sie nicht und begann den umgestürzten Baum auf allen vieren zu erklimmen. Ihre Hände und Füße tasteten nach der kleinsten Unebenheit, um daran Halt zu finden. Langsam, den Blick auf die Rinde geheftet, bewegte sie sich voran, fest entschlossen, höher zu klettern, als Melanippe und Antiope es je gewagt hatten. Vorbei an den letzten feuchten Spuren, die die beiden bei ihrem vorigen Anstieg hinterlassen hatten, stieg sie weiter hinauf, ganz auf die Rinde konzentriert, und vergaß alles um sich herum.
Als sie endlich den Kopf hob, wurde ihr schwindelig. Sie war beinahe auf Höhe der ersten Äste angekommen. Von hier oben glich der Fluss einer großen schwarzen, mit weißen Wolkenspiegelungen betupften Zunge, die breiter wurde, ehe sie hinter Bäumen verschwand. Ihre Kameradinnen dort unten sahen winzig aus. Sie schwenkten ihre hellen Arme über dem düsteren Strom und riefen:
»Komm runter, Kandri, das ist gefährlich …«
»Meine Mama hat gesagt, das Wasser kann hart sein wie Stein, wenn man von zu weit oben springt …«
Kandri spürte, wie ihr Herz zu rasen begann. Ihre Fingerknöchel wurden weiß. Sie konnte nicht mehr zurück. Über den Puls hinweg, der in ihren Ohren hämmerte, hörte sie Antiopes entschiedene Stimme:
»Das traut sie sich nie!«
Also sprang Kandri.
Sie zählte mehrere Sekunden, ehe ihre Füße die Oberfläche durchstießen. Wasser schoss ihr in die Nase. Abgrundtiefe Finsternis schien über sie hereinzubrechen, während ihr Köper versank.
Ein paar Augenblicke lang betrachtete sie die Luftblasenketten, die aus ihrem Mund perlten und nach oben schwebten. Dann erinnerten sich ihre Arme und Beine an die Schwimmbewegungen, die sie gelernt hatten, und Kandri stieg wieder hinauf ans Licht. Sie durchbrach den Wasserspiegel, nahm einen tiefen Atemzug, zwinkerte die Tropfen aus ihren Wimpern und sah sich um. Ein Kranz von Gesichtern umgab sie, freudeschreiend und pfeifend. Die Schülerinnen, die zu ihr geschwommen waren, bejubelten ihre Leistung.
Ein seliges Lächeln erhellte Kandris Züge. Noch nie hatte sie sich so stark und stolz gefühlt. Sie paddelte zurück zum Ufer und stieg aus dem Wasser, während ihre Kameradinnen ihr verblüfft und anerkennend auf die Schultern klopften. Alle sahen sie bewundernd an.
Nur eine nicht.
Antiope schien nicht erfreut darüber, dass man ihr den Rang abgelaufen hatte. Auf dem Baumstamm hockend, spielte sie mit ihrem langen dunklen Zopf, der plötzlich aussah wie der Schwanz einer Katze, die jeden Moment ihre Krallen ausfahren würde.
»Warum hast du nicht wie wir deine Kleider ausgezogen, Kandri?«
Ein Stein legte sich auf Kandris Brust. Sie drückte die Knie zusammen und wandte sich zu den anderen um. Mit diesen drei Worten, »nicht wie wir«, hatte Antiope ihren Status einer Außenseiterin wieder etabliert. Ihr kühner Sprung war bereits vergessen: Die Schülerinnen musterten jetzt ihre triefende Kleidung und tauschten dabei abfällige Bemerkungen, als ob die Tatsache, dass sie angezogen war, genügte, um sie aus ihrer Gruppe auszuschließen.
»Ja, genau, warum ziehst du dich nie nackig aus, Kandri?«, bohrte Melanippe nach, die auf der Böschung stand.
Auch sie schien nicht sonderlich begeistert von ihrer Heldentat. Kandri sah, wie sie auf sie zukam, und den Saum ihrer Tunika ergriff. Eine bange Vorahnung schnürte ihr die Kehle zu, als Melanippe zu skandieren begann:
»Aus-ziehen, aus-ziehen, aus-ziehen …«
»Meine Mama sagt, ich soll meine Kleider immer anbehalten«, rechtfertigte sich Kandri kläglich.
»Aus-ziehen, aus-ziehen, aus-ziehen …«, johlte Melanippe weiter und umkreiste sie dabei.
Der Saum der Tunika glitt durch ihre Finger. Der Sprechgesang griff auf die anderen Amazonenschülerinnen über, die nun ebenfalls aus dem Wasser kamen und sie umzingelten. Antiope, die auf ihrem Baumstamm sitzen geblieben war, betrachtete das Spektakel mit der Miene eines zufriedenen Katers. Die Mädchen umtanzten sie in einem aufgepeitschten Ringelreigen.
»AUS-ZIEHEN, AUS-ZIEHEN, AUS-ZIEHEN …«
Plötzlich spürte Kandri, wie irgendjemand ihre Tunika schnappte und sie ihr bis zu den Schultern hochzog. Verzweifelt versuchte sie sich von dem nassen Stoff zu befreien, der ihr im Gesicht klebte, ehe sie die seltsame Stille bemerkte, die sie mit einem Mal umgab. Ihre Peinigerinnen waren verstummt.
Hastig zerrte sie die Tunika wieder über ihre Beine. Als sie den Kopf hob, sah sie Antiopes wütendes und schockiertes Gesicht. Die Prinzessin war vom Baumstamm ins Wasser gehüpft und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf ihren Schritt.
»Du bist nicht wie wir«, verkündete sie.
Ein paar Ellen entfernt, nickte Melanippe mit ernster Miene.
»Meine Tutorin ist eine Ephorin. Ich werde es ihr sagen.«
Als Kandri nach Hause kam, waren ihre Kleider noch immer feucht. Ihre Mutter, die gerade auf dem Terrassentisch eine Seilwinde reparierte, unterbrach ihre Arbeit, sobald sie sie mit bedröppelter Miene und nassen Haaren in der Treppenluke auftauchen sah. Sie legte das Werkzeug beiseite.
»Was ist passiert?«
»Ich bin ins Wasser gefallen«, log Kandri mit ausweichendem Blick, um nicht den bohrenden Augen ihrer Mutter zu begegnen.
Trotzdem bemerkte sie, dass diese schlagartig blass wurde.
»Du bist mit deinen Kleidern ins Wasser gefallen?«
Kandri hatte beschlossen, ihrer Mutter nicht zu erzählen, was am Fluss geschehen war, doch diese Frage ließ sie die brutale Zurückweisung noch einmal durchleben, die sie gerade erfahren hatte. Heiße Tränen begannen ihr über die Wangen zu rinnen. Bei dem Versuch, sie zurückzuhalten, verzerrte sich ihr Gesicht, ihr Kinn zitterte, und plötzlich brachen die Worte, von Schluchzern zerhackt, aus ihr hervor.
»Ich wollt nich zum Fluss gehn, aber weil mich die Histamiden gepikt haben, bin ich hingegangen, weil du mir gesagt hast, dass Wasser gut ist. Ich hab meine Kleider angelassen, aber Melanippe und Antiope wollten, dass ich mich ausziehe, und dann haben sie gesagt, ich wär nich wie die andern. Melanippe hat gemeint, dass sie es ihrer Tutorin sagt, die wär eine E… E… Ephorin.«
Als Kandri dieses letzte Wort wimmernd ausstieß, wurden Chirones Pupillen so winzig wie Pfeilspitzen im Blau ihrer Iris. Zwischen zwei Schluchzern dachte das Mädchen, dass es jetzt endlich die Riesenohrfeige bekommen würde, die es seit dem Erwachen fürchtete.
Doch ihre Mutter ließ sich nur langsam auf eine der Baumscheiben sinken. Ihre weit aufgerissenen Augen starrten ins Leere. Ein langes Schweigen folgte, unterbrochen von Kandris Schniefen, die sich nun, da sie die Katze aus dem Sack gelassen hatte, etwas besser fühlte. Schließlich presste ihre Mutter die Zähne zusammen. Ihre Knöchel wurden weiß.
»Pack deine Sachen, mein Spätzchen. Wir brechen morgen zu einer Reise auf.«
Rittlings hinter ihrer Mutter sitzend, sah Kandri am nächsten Morgen die Bäume im schnellen Passgang der Stute vorbeiziehen. Sie spürte, wie ihre Mutter sich verkrampfte, sobald sie in der Ferne den Federbusch einer Amazone auftauchen sah. Irgendwas stimmte nicht, doch sie wagte nicht zu fragen, was.
Sie waren sehr, sehr früh aufgebrochen, noch ehe die Vögel zu singen begannen. Einen Knoten im Magen, hatte Kandri die Grütze verschmäht, die ihre Mutter zubereitet hatte. Die schien im Übrigen auch keinen Hunger zu haben. Tiefe, dunkle Ringe lagen unter ihren Augen. Themis hatte Kandri zum Abschied kurz in die Arme geschlossen und gedrückt. Das kleine Mädchen war überrascht von der Geste, da die Amazone Gefühlsbekundungen sonst verabscheute. Das war ein ganz entschieden sonderbarer Morgen.
Die Sonne stand bereits im Zenit, als ihre Mutter die Stute ins Unterholz lenkte.
»Warum verlassen wir den Weg, Mama?«, fragte Kandri, hin und her geschüttelt vom ungleichmäßigen Gang des Tieres im Gestrüpp.
»Weil der Waldrand nur noch eine halbe Stunde entfernt ist und wir die Posten meiden müssen, die ihn bewachen. Jetzt sei still!«
Kandris Aufregung wuchs, während sie einen weiten Bogen beschrieben, um die Wachen zu umgehen. Sie hatte den Wald noch nie im Leben verlassen. Nur Amazonen mit einem Gürtel war dies gestattet. In der Wahrnehmung des Mädchens war der Waldsaum eine zugleich magische und furchteinflößende Grenze, ein klarer Schnitt zwischen der vertrauten Welt der Amazonen und dem Chaos, das draußen herrschte. Gebannt blickte sie über die Schulter ihrer Mutter, um diese berühmte Grenzlinie zu entdecken. Um sie herum standen die Eukalyptusbäume nun vereinzelter, und große Lachen Sonnenlicht breiteten sich am Boden aus.
»Sag, Mama, warum dürfen wir Schülerinnen den Wald nicht verlassen?«, flüsterte Kandri ihrer Mutter ins Ohr.
»Weil ihr keine Gürtel mit Blau-Erz habt, die euch schützen.«
»Wovor schützen, Mama? Den themiskyrischen Soldaten?«
»Nicht nur.«
Kandri hörte das Zögern in der Stimme ihrer Mutter, die die Zügel straffte. Die Stute wurde langsamer und blieb schließlich stehen. Ohne das Klappern der Hufe war der Wald wieder ganz still. Chirone ließ sich vom Pferd gleiten und legte die Hand an Kandris Knie. Dann hob sie ihre blauen Augen, die mit einem Mal riesig waren und seltsam schimmerten, zu ihrer Tochter.
»Du bist zu jung, um das zu verstehen, aber ich habe keine Wahl. Es ist sehr wichtig, dass du mir etwas versprichst, mein Spätzchen.«
Kandri hielt den Atem an.
»Du darfst keine Kinder bekommen. Niemals. Versprich mir, dass du keine Kinder bekommen wirst.«
Kandri hätte beinahe laut aufgelacht, so einfach erschien es ihr, dieses Versprechen zu halten. Sie war sieben Jahre alt, und Kinder waren in ihren Augen nichts anderes als fiese Schülerinnen oder tyrannische Säuglinge. Sie hatte fest vor, niemals welche zu bekommen.
»Versprochen, Mama.«
Sie setzten ihren Weg fort. Kandri, die noch immer nach dem Waldsaum Ausschau hielt, zappelte auf der Kruppe der Stute herum, lehnte sich mal zur einen, mal zur anderen Seite und spähte in alle Richtungen. Plötzlich endete der Wald und vor ihnen tat sich ein Grasland auf, dessen grüne Wogen sich bis zum Horizont erstreckten.
Kandri riss die Augen auf. Noch nie hatte sie so weit schauen können. Ein leichter Nordwind wehte ihr ins Gesicht und ließ die Blätter hinter ihr rascheln. Ihre Mutter lenkte die Stute in ein nicht sehr tiefes Tal, das sie vor den Blicken der Wachen verbarg. Ein paar Bäume boten vereinzelt weidenden wilden Huftieren Schatten. Sie kamen an einer Herde riesiger Laufvögel vorbei, die die hohen faserigen Gräser der Ebene fraßen. Kandri drehte den Kopf, um sie so lange wie möglich betrachten zu können.
»Sind das Aepronys, Mama?«
»Ja. Aepyornis, nicht Aepronys.«
»Weißt du noch, das Omelett, das wir mal gemacht haben, Mama? Mit dem großen Aepyornis-Ei?«
»Ja, mein Spätzchen.«
Entzückt von dieser Entdeckung, begann Kandri zu plappern und all die neuen Dinge zu kommentieren, die sie sah. Nach den Aepyornis war ein Heloten-Dorf an der Reihe, eine Ansammlung einfacher Strohhütten, die sich an die Flanke eines Hügels schmiegten. Stolz hob Kandri die Überlegenheit ihrer Baumhäuser hervor, die ihr sehr viel komfortabler und praktischer erschienen als diese auf den Boden gekauerten Behausungen. Ihre Mutter antwortete selten auf ihre Beobachtungen. Von Weitem sahen sie ein paar Heloten, die aufbrachen, um ihre Felder zu bestellen oder das Vieh zu hüten. Viele Kriegerinnen stammten aus den Dörfern. Die Töchter armer Bauern waren als Kleinkinder in den Wald gebracht worden, damit sie dort das Mündel einer Amazone wurden und anschließend Schülerin, wie Melanippe. Im Tausch gegen den Schutz der Amazonen lieferten die Heloten ihnen Nahrungs- und Futtermittel. Gegen Ende des letzten Winters – sie war erst sechs Jahre alt – hatte Kandri von einem Aufruhr in den Dörfern gehört. Sie wusste nicht, was die Dörfler aufrührten, doch sie mussten mit dieser rätselhaften Tätigkeit sehr beschäftigt sein, denn die Karren mit Korn und Futter kamen nicht mehr in den Wald. Zum Glück hatten die Verwalterinnen einen Trupp Amazonen losgeschickt, um das Aufrühren zu beenden. Sie waren mit den Karren zurückgekehrt, und alles war wieder in Ordnung gekommen.
Kandri war todmüde, als ihre Mutter das Pferd endlich anhalten ließ. Sie hatten eine kleine, weiß gekalkte Schutzhütte zwischen zwei Haferfeldern erreicht. Kandri betrat das Gebäude und war enttäuscht, darin nur einen Stapel morsches Holz und kaputte, auf dem gestampften Lehmboden verstreute Ackergeräte zu finden. Sie drehte sich zu ihrer Mutter um, die den Beutel auspackte und ein Brot, eine Matte und eine kleine Decke daraus hervorholte.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Kandri.
»Wir werden über Nacht hierbleiben«, antwortete ihre Mutter, während sie sich auf der Matte niederließ. »Komm, nimm dir ein Stück Brot und setz dich her.«
Sie zog sie an sich und begann ihr Zöpfe zu flechten. Während Kandri das Brot aß, spürte sie die rauen Finger ihrer Mutter, die die Haare hinter ihren Ohren zu Strähnen zusammenfassten.
»Wo gehen wir morgen hin, Mama?«, fragte sie.
»Das wirst du dann schon sehen, mein Spätzchen.«
Als die Zöpfe fertig waren, drückte sie Kandri an ihre Brust und wiegte sie, während sie leise einen Kinderreim vor sich hin murmelte. Ab und zu küsste sie sie auf die Schläfe, die Wange, die Stirn. Ihre Küsse waren nass. Erschöpft von dem langen Ritt, schlief Kandri in ihrer warmen Umarmung ein.
Als sie am nächsten Morgen erwachte, dauerte es eine ganze Weile, ehe sie sich wieder erinnerte, wo sie war. Die staubige Schutzhütte gewann langsam an Kontur. Ihre Mutter hatte sie in die Decke gewickelt und auf die Matte gebettet. Neben ihrem Kopf lag ein kleines Päckchen mit etwas zu essen. Und vor ihr lehnte jemand im Halbdunkel an der Lehmstrohwand und musterte sie schweigend. Kandri schrie überrascht auf. Hastig strampelte sie die Decke weg, während die fremde Person auf sie zutrat. Das Licht, das durch die Ritzen in der Tür hereinfiel, offenbarte ihr Gesicht.
Kandri hatte noch nie im Leben einen Mann gesehen, doch sie begriff sofort, dass dies einer war. Borstige Haare wuchsen auf seinem Kinn, wie bei den sehr alten Amazonen, nur viel mehr. Seine Arme waren dick wie junge Eukalyptusstämme. Angst schnürte ihr die Kehle zu. Die Erzählungen der Erwachsenen über die Welt außerhalb des Waldes hatten sie nie sonderlich interessiert, doch die wichtigste Information hatte sich ihr eingeprägt: Männer waren die Feinde der Amazonen.
»Wer sind Sie?«, quiekte sie. »Wo ist meine Mama?«
»Sie ist in der Nacht gegangen«, antwortete der Mann. »Sie hat dich bei mir gelassen.«
Verblüfft von seiner tiefen Stimme, brauchte sie einen Moment, bis sie die ganze Tragweite dieser Worte erfasste. Dann sickerte die Erkenntnis langsam in ihr Bewusstsein ein. Sie dachte an das ungewöhnliche Verhalten ihrer Mutter am Abend zuvor. An die Traurigkeit, die sie in ihren Zügen gelesen hatte. An die nassen Küsse, mit denen sie ihre Wangen bedeckt hatte.
Ihre Mutter war gegangen. Sie hatte sie verlassen.
Kandri fühlte, wie etwas ihre Brust aufblähte, ein Sack voller Kummer, viel zu groß, als dass ihr Körper ihn hätte fassen können. Im nächsten Moment explodierte der Sack und ihr Gesicht schien unter dem Ansturm der Verzweiflung zu zerfließen.
»Komm her«, sagte der Mann, wobei er unsanft einen ihrer Zöpfe packte.
Kandri wehrte sich schreiend. Die kaputten Ackergeräte im Raum verschwammen. Durch ihre Tränen hindurch sah sie, dass er einen Dolch in der Hand hielt. Er würde sie abstechen wie ein Schwein.
Doch anstatt ihr die Klinge über die Kehle zu ziehen, schnitt er nur einen ihrer Zöpfe ab, der mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden landete. Verwirrt hörte Kandri auf, um sich zu schlagen.
»Glaub mir, es ist besser, dass du nicht bei ihr geblieben bist«, sagte der Mann, während der zweite Zopf auf der Erde zerfranste. »Ihre wilden Kameradinnen werden sie umbringen, sobald sie erfahren, was sie getan hat. Sie hätte dich niemals behalten dürfen.«
»Warum?«, fragte Kandri.
Der Mann drehte sie um und hielt ihr die flache Seite der Klinge vor die Augen. Im Stahl des Dolches spiegelten sich Kandris blaue, vom Weinen gerötete Augen, ihr kantiges Gesicht, das sie noch nie besonders gemocht hatte, und ihre abgeschnittenen Locken, die sich jetzt über den Ohren kringelten.
»Weil du ein Junge bist.«
Er richtet sich auf und steckte den Dolch wieder ein.
»Mein Junge. Und von nun an heißt du Alkander.«
1
Achtundzwanzig Jahre später
Bis auf ein paar Schneeklumpen, die von toten Palmen herabfielen, hatte sich im Patio des Herrscherpalastes seit einigen Dekaden nichts mehr bewegt. Die Kälte schien selbst das Verrinnen der Zeit eingefroren zu haben, was dem Gebäude die Aura einer leeren Bühne verlieh. Und wie jede leere Bühne schien es auf eine Vorstellung zu warten.
Auf dem verschneiten Sockel brütete die Schlange Python ihre Eier aus. Plötzlich zog sich ein feiner Riss über die glatte Oberfläche einer Schale. Das Geschehen produzierte ein Geräusch ähnlich dem Knacken eines Schritts auf einem zugefrorenen See: glasklar und beunruhigend. Ein weiteres Knacken folgte. Die Schlange bewegte ihre lidlosen Augen. Der Schnee, der ihre Windungen bedeckte, rieselte herab, während sie sich knirschend, Schuppe an Schuppe, entrollte. In ihrer Mitte wurden die Risse in den beiden Schalen größer und ließen weiße Häutchen sehen, gespannt vom Zappeln kleiner, biegsamer Körper, die ans Licht und an die Luft drängten. Der Rest des Geleges rührte sich nicht: Die übrigen Eier hatten den Stillstand, den der Basileus ihnen auferlegt hatte, nicht überlebt.
Eine dreieckige Nase durchstieß eines der Häutchen, und eine kleine Version des riesigen Reptils, das das Schlüpfen überwachte, erschien.
Dein ist die Zukunft, verkündete Python.
Die andere Membran zerriss, und eine zweite Schlange kam zum Vorschein.
Dein ist die Vergangenheit, fügte sie hinzu.
Die Schlänglein, durchscheinend wie Eis und lang wie ein ausgewachsener Mensch, glitten aus ihren Schalen. Ihre Mäuler öffneten sich zu einem Gähnen, so weit, wie nur die Kiefer von Reptilien es vermögen. Ihre weißen Giftzähne funkelten im Mondlicht, das den zu Kristall erstarrten Hof des Herrscherpalastes erhellte. Das erste Schlänglein kroch über Pythons Windungen.
Lykurg kommt.
Das zweite zischte wütend.
Er hat uns vor zwanzig Jahren geraubt, um uns dem Basileus zu schenken, antwortete es. Wir waren ein diplomatisches Präsent.
Seinetwegen werden eure Brüder und Schwestern nicht leben, sagte Python.
Das erste Schlänglein wandte sich seinem Bruder zu.
Wenn du hierbleibst, werden wir uns rächen können.
Nun, dann werden wir uns rächen, gab das zweite Schlänglein zurück.
Es blieb zusammengerollt auf den ungeschlüpften Eiern liegen, während sein Bruder sich Richtung Ausgang entfernte.
Python ihrerseits glitt auf den verschneiten Boden und folgte der Spur, die ihr erster bereits in den Galerien des Patios verschwundener Spross hinterlassen hatte. Wie sie es einige Dekaden zuvor getan hatte, schlängelte sie sich über die Umfriedungsmauer des Palastes und fand sich auf den windgepeitschten Kanälen der siebten Ebene wieder.
Sie kroch bis zur ersten Mautstelle. In einem Wachhäuschen, das über der Treppe aus Eis aufragte, schliefen zwei Gauner auf ihren Stühlen. Einer von ihnen erwachte, als Python vorbeikroch. Er sah die riesige Schlange, murmelte: »Ich hab’s gestern echt übertrieben mit dem Honigwein«, und schlief wieder ein.
Python setzte ihren Abstieg fort. Sie passierte zwei weitere Zahlstationen, ohne die schlummernden Posten zu wecken. Bei den letzten drei genügte ein drohendes Zischen, um die Halunken von jeglicher Heldentat abzuhalten. Bevor jemand die Verfolgung aufnehmen würde, wäre sie schon weit weg.
Sie erreichte die von Schneeverwehungen gewellte Grasfläche zwischen Türmen und Stadtmauer. Ein Stück entfernt war die Bresche in der Kuppel zu erkennen, die man zur Hälfte mit grobem Mörtel verschlossen hatte. Python züngelte in Richtung des gewaltigen Baugerüstes. Auf diesem Weg würde sie nicht mehr hinauskommen. Sie schlängelte sich über das Brachland, wobei sie seltsam mäandernde Spuren im Schnee hinterließ, und glitt durchs Stadttor. Dann durchquerte sie die weite Ebene, in der Hyperborea lag, bis das Gelände hügelig zu werden begann. Erstes Zwielicht graute, während sie ins Herz des weiß verhüllten Riphäengebirges vordrang. Eine milchige Wintersonne erklomm den Himmel, als sie den gefrorenen See am Fuß des Gletschers erreichte. Ihre Schuppen furchten die glatte Oberfläche, unter der man tiefe schwarze Wasser erahnte. In der Mitte des Sees hielt sie an, rollte sich ein, legte den Kopf auf ihre Windungen und wartete. Sie musste dem Schicksal noch ein kleines Schnippchen schlagen, ehe sie in die Einsamkeit der Berge zurückkehren konnte, wo allein die Karawanen den Lauf der Zeit markierten.