Bounty Hunter
Der erste Auftrag

eISBN: 978-3-96129-259-2

Edel Kids Books – Ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
© 2022 Edel Verlagsgruppe GmbH, Kaiserstr. 14a, 80801 München
www.edel.com

Text: Heiko Wolz

Covergestaltung: Formlabor

Lektorat: Sarah Heidelberger

Projektkoordination: Dagmar Hoppe

ePub-Konvertierung: Datagrafix GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Kapitel 2

Mittwoch, 07. April, 08:03 Uhr, Seaside High School, Painmore, Staat Washington, USA

Die Seaside High lag auf einer Landspitze, die östlich von Seattle in den Lake Washington ragte. Die Schule fügte sich so unauffällig wie möglich in die vornehme Wohngegend der Stadt Painmore ein, was ihr mit ihren drei Stockwerken und den weitläufigen Sportplätzen ringsherum aber nicht ganz gelang.

Gray und Isaac betraten das Gebäude durch den Haupteingang. Gray wandte sich nach links und verpasste dem Maskottchen der Schule einen Tritt. Das war Tradition vor einem Heimspiel eines Teams der Seaside. Fußball, Baseball und Leichtathletik im Frühling, Football und Schwimmen im Herbst, bis im Winter die Basketball-Saison startete. Die mannshohe Plastikfigur musste ständig einstecken. Auch Isaac holte aus – und wurde von einem älteren Schüler aufgehalten.

»Du nicht, Whitman. Du bringst Unglück.« Der Kerl wartete nicht einmal, ob seine Ansage ankam. Er lief mit seinen dämlich lachenden Anhängern einfach weiter.

»Weißt du, warum man Trouty Troutman wirklich tritt?«, rief Isaac ihm nach. Seine Stimme klang trotzig, aber Gray kannte ihn lange genug, um zu hören, dass er in Wahrheit gekränkt war. »Weil es eigentlich alle total beknackt finden, dass er eine sprechende Forelle ist! Andere haben Seeadler oder Bären. Berglöwen! Aber wir sind Forellen. Ich bin eine Forelle, du bist eine Forelle. Bescheuerte Fo-ho-rellen!«

Gray konnte nicht anders. Er lachte laut los. Okay, es war unfair, sich über Isaac lustig zu machen. Immerhin war er derzeit bei allen unten durch, nicht Gray. Aber sein Kumpel führte sich auf wie Rumpelstilzchen.

Manche Dinge änderten sich nie. Zum Glück.

Gray und Isaac, das Dreamteam. Isaac als blonder Brillenträger mit einem Hang zur Dramatik, Gray nicht nur äußerlich das komplette Gegenteil. Sein dichtes schwarzes Haar ließ er seit Monaten wachsen, seine Haut war braun, als verbrächte er jede freie Minute an der frischen Luft. Sportlich waren sie beide, aber da bildeten sie keine Ausnahme an der Seaside.

Ungewöhnlich war Isaacs Ausbruch dennoch. Er riss zwar gern seine Sprüche, hatte aber noch nie wirklich einen Streit provoziert. Für ihn stand der Zusammenhalt innerhalb der Schule oder einer Mannschaft über allem. Genau das hatte ihm die Suppe ja eingebrockt. Und genau deshalb war Grays Arm gestern sofort in die Höhe geschossen, als Big Ben nach zwei Freiwilligen für ein inoffizielles Paintball-Match fragte. Dass es am Nachmittag dann nicht ganz so gelaufen war wie gedacht, war Pech. Irgendwann würde ein anderer Spieler eines der anderen Teams Mist bauen, und Isaacs Patzer geriet in Vergessenheit. Bis dahin musste Gray seinen Freund nur vor weiterem Ärger bewahren. Und das hieß jetzt, ihn sicher zu den Spinden zu geleiten, bevor er sich doch noch mit jemandem anlegte.

»Lass die Pfeifen«, sagte er und zog Isaac mit sich.

»Grayson Parker bitte in das Büro der Rektorin«, schallte Ms Robinsons Stimme aus den Lautsprechern. Wie immer klang sie leicht panisch. Als hinge ihr Job davon ab, dass der ausgerufene Schüler die Beine in die Hand nahm und sich sputete. Für die meisten Anlass genug, sich besonders langsam auf den Weg zu begeben.

Isaac runzelte die Stirn. »Hast du Ms Dutton die Donuts geklaut?«

Gray zuckte die Achseln und verstaute seine Schul- und die Sporttasche in seinem Spind.

Isaac nahm sich die Bücher für seine ersten Stunden aus dem daneben. »Wir sehen uns«, sagte er und machte sich auf den Weg zum Unterricht.

»Grayson Parker! Bitte in das Büro der Rektorin!«

Gray schloss den Spind und bog mit seinen Sachen in den Gang zur Verwaltung ab. Dort klopfte er an Ms Robinsons Tür. Die Sekretärin bat ihn sofort herein und winkte ihn erleichtert weiter. Ms Duttons Büro stand offen.

»Nimm Platz, Grayson.«

Ms Dutton blieb sitzen. Kein Wunder. Wahrscheinlich war sie mit ihrem Stuhl verwachsen. Oder sie hatte sich an ihrem ersten Tag zwischen den Lehnen verkeilt und harrte seitdem dort aus. Wahrscheinlich wartete sie darauf, dass endlich jemand die Feuerwehr rief. Sie faltete die fleischigen Hände und lehnte sich mit den Unterarmen auf den Schreibtisch, der tatsächlich ein Quietschen von sich gab.

Mit ihrem maßgeschneiderten Hosenanzug wäre die Rektorin auch als Rechtsanwältin durchgegangen. Oder als Staatsanwältin. Dummerweise wusste man bei ihr nie, ob sie einen verteidigen oder anklagen wollte.

»Ich komme gleich zur Sache«, sagte sie in einem Tonfall, der ganz klar nach Anklage klang. Gray versteifte sich. »Trotz wiederholter Aufforderung ist dein Vater mit der Zahlung des Schulgelds weiterhin im Rückstand. Das schmerzt mich. Du bist ein guter Schüler, Grayson. Ein hervorragender sogar.«

Gray rutschte nach vorn und legte seine Bücher auf den Tisch. »Ich dachte, das wäre erledigt. Mein Dad muss es vergessen haben. Er hat gerade viel um die Ohren.« Allerdings nicht so viel, dass er nicht eine verdammte Online-Überweisung tätigen konnte!

Ms Dutton nickte, aber das Mitleid in ihren Augen war nicht zu übersehen. Sie lehnte sich schwerfällig zurück, und ihr Stuhl gab dem Tisch eine Antwort auf sein Quietschen gerade. »Es tut mir sehr leid, Grayson, aber mir sind die Hände gebunden. Ich setze deinem Vater eine letzte Frist bis zum 23. Verzeichnen wir bis Ende der Woche nach den Frühlingsferien keinen Zahlungseingang, kann ich dir den Besuch der Seaside High nicht weiter gestatten. So schwer mir das fällt. Ich verliere dich nur ungern.«

»Ich … Das … Aber ich …«, stotterte Gray. »Die Ferien dauern doch gerade mal eine Woche! Wie soll … Das ist …«

Ms Dutton kämpfte sich wieder nach vorn. »Noch ist es ja nicht so weit. Aber wenn …« Die Art, wie sie es aussprach, zeigte, dass sie eher von sobald ausging. »… wenn es so kommt, dann ist es so. Leben heißt Veränderung. Es gibt noch andere ausgezeichnete Schulen in Painmore. Vielleicht nicht gerade mit unserem sportlichen Profil, aber du könntest auch …«

Ihr Mund bewegte sich weiter, aber ihre Worte drangen nicht mehr zu Gray durch. Veränderung. Teil des Lebens. Hatte sie heute Morgen tatsächlich auf ihre Donuts verzichtet und stattdessen einen Sack Glückskekse gefuttert? Anders konnte sie nicht an den Spruch gelangt sein. Veränderungen waren Mist. Da brauchte sie nur seine Mutter fragen. Am besten von Angesicht zu Angesicht. Dazu musste sie sich aber aus ihrem Stuhl hieven, in ein Flugzeug steigen und knapp fünftausend Kilometer von Seattle nach Boston fliegen.

»… Ms Robinson gern die Adressen geben«, schaffte es Ms Duttons Stimme durch den Nebel, der unbemerkt vom See in ihr Büro gekrochen sein musste. Komischerweise schien er nur um Gray zu wabern. Er blinzelte ihn weg, und erst jetzt fiel ihm auf, dass seine Hände die Armlehnen des Stuhls so fest umklammerten, als wolle er sie ausreißen. Er atmete tief ein.

Box-Breathing. Eine Technik, die der Coach ihm für die stressigen Minuten vor einem Spiel gezeigt hatte: Man stellte sich ein Quadrat vor, holte vier Sekunden lang Luft und fuhr die obere Kante der Box nach rechts. Dann hielt man vier Sekunden die Luft an und folgte dabei der Linie nach unten. Man ging nach links, während man vier Sekunden ausatmete. Zum Schluss vervollständigte man das Rechteck, indem man in den vier Sekunden Atempause wieder nach oben stieg. Bei Bedarf wiederholte man das Ganze.

Aber jetzt hätte Gray vor seinem geistigen Auge bis zum Abwinken Rechtecke nachzeichnen können – geholfen hätte es nicht!

»Hast du gehört?«, fragte Ms Dutton. »Ms Robinson gibt dir gern die Adressen der Schulen, die ein Stipendienprogramm für, ähm …«

finanziell in Schieflage geratene Familien anbieten? Wollte sie das sagen? Ms Robinson konnte ihn mal. Gray griff nach seinen Büchern und stand auf. »Danke, Ms Dutton. Nicht nötig. Ich kümmere mich darum.«





Für Joscha.

Endlich Action,
auch wenn du jetzt schon zu alt dafür bist.





Kopfgeldjäger machen gesuchte Personen ausfindig und übergeben sie gegen eine Belohnung den Behörden. Die offizielle Bezeichnung für Kopfgeldjäger lautet Fugitive Recovery Agents. Umgangssprachlich nennt man sie auch Bounty Hunters.

Kapitel 1

Dienstag, 06. April, 16:43 Uhr, Pazifische Sommerzeit

Mit einem dumpfen Bopp! schlugen die Geschosse auf der anderen Seite der Ziegelsteinmauer ein. Grayson Parker duckte sich tiefer.

Bloß nicht den Kopf heben, sonst war’s das!

Rechts von ihm hockte Isaac. Grays Freund hielt den Lauf seiner Waffe auf den mit Mauerbrocken übersäten Boden gerichtet. Schweißbäche liefen über sein Gesicht wie Rinnsale auf ausgetrockneter Erde.

Der Dauerbeschuss hörte auf. Der Kerl, der sich als einer der letzten beiden Gegner in dem Wohnwagen verschanzt hatte, glaubte wohl, dass er Gray und Isaac erwischt hatte. Jetzt konnte er seine Aufmerksamkeit ganz auf Ben und Réka richten.

Wo steckten die zwei überhaupt?

Tja, Gray würde es kaum herausfinden, wenn er weiter nur Däumchen drehte.

Der 15-Jährige rollte sich herum. Seine schwere Schutzmontur behinderte ihn dabei, aber schließlich kniete er auf einem Bein und stellte das andere auf.

Langsam schob er sich nach oben. Die Mauer, hinter der er und Isaac vor zwei Minuten in Deckung gegangen waren, war nur ein kleiner Teil eines halb zerfallenen Gebäudes. Irgendwas Industrielles. Eine alte Fabrik. Gray konnte nicht erkennen, was darin hergestellt oder repariert worden war. Er erhaschte nur einen Blick durch ein zum Teil aufgezogenes Rolltor in eine Halle mit Stahlträgern. Von einer Art Kran baumelte eine dicke Kette mit einem riesigen Haken. Auf dem Boden verstreut lagen ein paar Metallteile, die alles und nichts darstellen konnten. Motorblöcke? Gussformen für Werkzeuge? Ansonsten war die Halle leer, soweit Gray sie einsehen konnte. Die Party fand hier draußen statt. Mehrere rostige und mit Graffiti besprühte Überseecontainer verteilten sich chaotisch auf dem Gelände.

Und dann war da noch der Wohnwagen. Ein weißer Riese mit einer notdürftig hergerichteten Veranda aus Holzpaletten, über die sich eine zerfetzte Markise spannte. Er stand ein ganzes Stück von Grays und Isaacs Standort entfernt, dazwischen nur freies Gelände, das keinerlei Schutz bot.

Aus einem der zerbrochenen Plastikfenster lugte ein schwarzer Lauf. Und zielte in Grays Richtung.

Mist!

Ein Trommelfeuer ging auf die Mauer nieder. Gray duckte sich und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. 16:43 Uhr. Wann sah dieser Vollidiot endlich ein, dass sie so nicht weiterkamen? Solange sie hier saßen, würde er sie nicht treffen. Umgekehrt hatten aber auch sie keine Chance, ihn zu erwischen, wenn sie sich nicht bewegten.

Gray rief sich den Plan des Areals ins Gedächtnis. Ihr Gegner würde nach links laufen, sobald er den Trailer verließ. Dort boten ihm mehrere übereinandergestapelte Metallfässer Schutz. Es sei denn, Gray und Isaac waren vor ihm …

»Los, los, los!«, ertönte eine Stimme aus der Halle mit dem Kran.

Gray presste die Lippen zusammen. Warum brüllte Big Ben nicht gleich Ich, ich, ich? Wenigstens lenkte er mit seinem Geschrei den Schützen ab. Gray und Isaac verständigten sich mit einem Nicken und erhoben sich.

Ben walzte derweil hinter dem Rolltor hervor. Mit seinen achtzig Kilogramm reiner Muskelmasse hätte er auch direkt durch das Blech brechen können. Das hätte ihm zwar nichts gebracht, aber deutlich spektakulärer ausgesehen. Allerdings waren seine Bewegungen für jemanden, der gerade 16 geworden war, auch so schon beeindruckend. Er rückte in gerader Linie auf den Wohnwagen vor. Dabei drehte er den Oberkörper zur Seite, um die Angriffsfläche zu verringern. Die Beine streckte er nie ganz durch. So war ihm jederzeit ein fester Stand oder ein schneller Ausweichschritt möglich.

Réka folgte ihm dicht auf den Fersen. Der lange, geflochtene Zopf, ohne den Gray sie noch nie gesehen hatte, schaute unter ihrem Helm hervor. Sie schwenkte nach rechts, damit der Schütze sich zwischen ihr und Ben entscheiden musste. Während Bens Schüsse auf die Verkleidung des Trailers prasselten, zielte Réka auf die Fenster. Der Kerl im Inneren hatte gar keine Chance, sie oder Ben ins Visier zu nehmen! Wieder bauschte sich der Vorhang in der Öffnung neben der Tür, als eins ihrer Geschosse hindurchjagte.

Und nun? Gray und Isaac konnten die beiden einfach machen lassen. Aber was, wenn Ben oder Réka später fragten, wo sie die ganze Zeit gesteckt hatten? Ihr habt euch wie zwei Hosenschisser verkrochen und nur zugeschaut? Nicht gerade das, was Isaac brauchte.

»Los geht’s! Beeilung!«, erteilte Gray das Kommando.

Réka hatte bereits die Hälfte der Strecke zum Wohnwagen überwunden. Wenn sie vor ihr dort sein wollten, mussten sie einen Zahn zulegen. Dann konnte Isaac beweisen, dass er doch was draufhatte.

Gray riss die zur Faust geballte Hand nach oben. Stopp!

Da war eine Bewegung an der Rückseite des Wohnwagens. Es machte wohl Eindruck, wenn ein Zwei-Meter-Hüne und seine nicht weniger entschlossene Partnerin auf einen zurasten. Die Bohnenstange wollte abhauen! In gebückter Haltung lief der schmächtige Kerl auf die Fässer zu.

Gray unterdrückte ein Grinsen. Na also, es ging doch!

Er winkte Isaac nach vorn. Wenn alles glattlief, würde sich der tolle Ben Kramer in ein paar Sekunden ausgerechnet bei dem Typen bedanken müssen, den er nur aus der Not heraus mitgenommen hatte.

Der Schmächtige schnallte immer noch nicht, was abging. Er schaute stur auf etwas hinter den löchrigen Fässern, seine Lippen bewegten sich.

Moment, mit wem quatschte der da?

Ein bunt gesprenkelter Helm schob sich über den Rand einer Tonne. Der zweite Gegner! Der Lauf der Waffe richtete sich auf Isaac. Gray riss seine eigene herum, aber es war zu spät. Zwei Schüsse trafen seinen Freund mitten in der Bewegung, nur einen Sekundenbruchteil später folgten zwei weitere für Gray.

Er spürte nicht einmal, wie die Kugeln einschlugen.

Er ließ die Waffe sinken und fuhr sich mit der Hand über die Brust. An seinen Fingerspitzen blieb etwas Rotes kleben.

Wie in Zeitlupe beobachtete er, dass der Typ auf Réka anlegte.

Eine Sirene schallte über das Gelände.

16:45 Uhr.

Der Schütze hinter den Fässern warf seinem Partner einen fragenden Blick zu. Die Bohnenstange zuckte die Achseln, und der andere schwenkte herum und drückte eiskalt ab. Auf Rékas Helm leuchtete eine rote Blume auf.

Die Sirene verklang.

»Tot!«, lachte der Schlaksige aus dem Wohnwagen und gab selbst ein paar Schüsse auf Réka ab. Weitere Farbexplosionen erschienen auf der Schutzmontur, die ihr ein Mitarbeiter des Seattle Paintball Parks vor einer guten Dreiviertelstunde überreicht hatte.

»Hör auf, du Trottel«, blaffte Réka. Trotz der klobigen Protektoren sah man, wie gut sie in Form war. Nicht überraschend für die amerikanische Olympiahoffnung im Modernen Fünfkampf. Schwimmen, Degenfechten, Radfahren und Combined, also ein Querfeldeinlauf mit Pistolenschießen kurz nach dem Start, nach 800 Metern und dann wieder nach 1.600 und 2.400. Réka musste fit sein. Wie alle Schülerinnen und Schüler der Seaside High School.

»Die Zeit war um«, stellte sie trocken fest und fixierte die Gegner der West High, mit denen sie sich heute getroffen hatten.

»War sie nicht. Und überhaupt: Halt die Klappe, du bist tot.« Der Schütze schwenkte mit dem Lauf seiner Waffe zu Isaac und Gray. »Und du bist tot, und du auch. Macht zwei Überlebende für uns und einen für euch Loser von der Seaside High. Wir haben gewonnen.«

Wie hatte der Kerl sich vorhin vorgestellt? Phil? Egal.

»Ich dachte, das Spiel ist vorbei, wenn die Sirene heult?«, fragte Gray.

Wahrscheinlich-Phil nickte. »Hat aber keiner gesagt, dass wir aufhören, sobald sie losgeht. Sie hat noch geheult, also gilt der Abschuss.«

»Komm schon, das ist doch …«, setzte Gray an, aber die Bohnenstange mischte sich mit einem meckernden Lachen ein: »Alter, du bist voll in die Falle gelaufen und hast deinem Kumpel sogar noch den Vortritt gelassen!«

Gray warf Isaac einen Blick zu, aber der winkte nur locker ab. Es war schließlich nicht wirklich um Leben und Tod gegangen. Oder?

Isaac hatte im letzten Spiel des Fußballteams der Seaside gegen die Auswahl der Cleveland einige schlechte Entscheidungen getroffen. Okay, er hatte es gewaltig verkackt. Das musste sogar Gray zugeben. Es war schon richtig, dass eine Mannschaft nur zusammen gewann oder verlor, aber nicht unbedingt das, was man direkt nach dem Match ausgerechnet von demjenigen hören wollte, der für die Klatsche verantwortlich war. Mit seinem aufmunternden Grinsen und dem gut gemeinten Schulterklopfen hatte Isaac sich bei der Mannschaft komplett ins Abseits geschossen.

Also ja, doch, es ging für ihn um Leben und Tod. Wenn auch nur im übertragenen Sinn.

»Einigen wir uns auf ein Unentschieden«, schlug Gray vor. Dabei hörte er die Stimme seines Dads in seinem Hinterkopf: In verfahrenen Situationen sucht man den Kompromiss. Damit wäre Isaacs Ruf zwar nicht ganz wiederhergestellt, aber es war ein Schritt in die richtige Richtung.

»Träum weiter!«, sagte die Bohnenstange. »West High drei Siege, Seaside einer.« Er nickte Réka zu. »Wir sehen uns nach den Ferien. Ich drück euch die Daumen, dass Kevin und James bis dahin wieder fit sind.«

Kevin und James. Die beiden, für die Gray und Isaac kurzfristig eingesprungen waren.

Réka riss sich den Helm und die Schutzbrille vom Kopf. Dass es in ihr brodelte, war nicht zu übersehen. Die Härchen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten, klebten ihr auf der Stirn. Darunter blitzte ein Paar blauer Augen auf. Als hätte man einen Gletscher in zwei Murmeln gepresst. Die Farbe hatte Gray schon immer fasziniert. Aber er sah noch etwas, das ihm bisher entgangen war. Einen kleinen Fleck auf der linken Iris in einem tieferen Blau. Als hätte man ein Stück vom Pazifik …

»Ich habe ja gesagt, dass die beiden nichts taugen.« Big Ben stampfte von der Seite heran und feuerte aus der Hüfte heraus einen einzelnen Schuss auf Isaacs Handgelenk ab.

»Autsch, verdammt! Das tut weh!« Isaac umklammerte seine Waffe fester.

Gray ging dazwischen. »Fürs erste Mal haben wir uns nicht schlecht geschlagen, Ben. Und hättest du uns vorher in deine Rambo-Taktik eingeweiht, hätten wir uns darauf eingestellt.«

»Sagt der, der den zweiten Gegner aus den Augen verloren hat.« Ben wandte sich ab. »Antal, wir gehen.«

Gray sah ihm nach. Und Réka.

Warum fiel ihm nie etwas ein, womit er sie ansprechen konnte? Am besten was Witziges. Wenn er sie zum Lachen brachte, würde sie vielleicht …

»Das war ja echt für die Tonne«, holte Isaac ihn in die Realität zurück und steuerte das Tor an. Gray schloss zu ihm auf. Sie passierten die immer noch jubelnden Schüler der West High und traten auf den geschotterten Weg, der vom Spielfeldrand zum Ausgang führte.

»Sorry«, seufzte Isaac, während er sich die Protektoren auszog und zu dem Tresen hinüberlief, an dem sie die Ausrüstung zurückgeben mussten. »Du wolltest nur helfen. Und ich bin dir echt dankbar, dass du Ärger mit deinem Alten riskierst. Ich kapier zwar nicht, was er gegen Paintball hat, aber wenn er besser nichts davon weiß, erzählst du ihm eben, dass wir joggen waren. Vorbereitung auf den nächsten Geländelauf.« Er deutete auf Grays Hand. »Und immer schön die Pfoten waschen, bevor du nach Hause kommst.«

Gray betrachtete seine roten Fingerspitzen und wich so einer Antwort aus. Die Sache mit seinem Dad war kompliziert. Außerdem gingen ihm Rékas Gletscheraugen nicht aus dem Kopf. Und das Stück vom Pazifik, das darin schwamm. Er reckte den Hals. Nein, keine Chance, zu ihr aufzuschließen. Ben bahnte sich einen Weg durch die Leute, Réka hing an ihm dran. Die Menge schloss sich hinter ihr. Während Gray mit Isaac darauf wartete, dass der Typ vor ihnen seine Sachen abgab, ließ er den Blick über das Gelände schweifen.

Der Angestellte, der sie eingewiesen hatte, unterhielt sich gerade mit einem jungen Mann, der zu Gray und Isaac herüberschielte. Mitte zwanzig, Jeans, schwarz-rotes Karohemd, schulterlange zottelige Haare. Noch einer, der auf Kurt Cobain machte, den verstorbenen Sänger von Nirvana. Keine Seltenheit in der Geburtsstadt des Musikstils, den die Band mitgeprägt hatte.

Der Kerl schüttelte dem Angestellten die Hand und lief dann zum Ausgang. Er sah über die Schulter zurück, bemerkte Grays Blick und reckte grinsend den Daumen. Dann war er weg.

Isaac hatte die Szene mitbekommen. »Kanntest du den?«

»Nicht dass ich wüsste.« Der Typ war ein komischer Kauz gewesen, mehr nicht. Davon gab es genug in Seattle. Gray strich ihn schon aus seinem Gedächtnis. Dafür klopfte sein Herz schneller, als er sich noch einmal zum Spielfeld umblickte. Fast glaubte er, wieder das Knirschen unter seinen Schuhen zu spüren, als er sich den Fässern genähert hatte, das Adrenalin, das durch seinen Körper gejagt war. Er hätte nur einen winzigen Moment schneller reagieren müssen, dann hätten sie gewonnen.

Kapitel 5

Donnerstag, 08. April, 07:19 Uhr, Ecke South 18th und Elm Street, Painmore

Gray balancierte auf der Umrandung des Sandkastens, während Isaac mit einem breiten Grinsen im Gesicht auf ihn zukam. Er ließ den Schulrucksack achtlos von der Schulter in die Wiese gleiten.

»Kopfgeldjäger. Der Wahnsinn!« Seine Augen leuchteten, als hätte man sie gegen zwei Flutlichtstrahler ausgetauscht. Er blickte sich um, aber um diese Uhrzeit waren sie so allein auf dem Spielplatz wie jeden Morgen, bevor sie sich auf den Weg zur Schule machten.

Schwankend blieb Gray stehen. Gestern hatte er Isaac in einer Audio von Mr Steel erzählen wollen. Dann hatte er es sich anders überlegt und seinen besten Freund nur gebeten, heute zehn Minuten früher da zu sein als sonst. Wenn Isaac schon Bescheid wusste, konnte das nur bedeuten …

»Mr Steel war auch bei dir?«

Isaac trat zu ihm auf die Umrandung, rutschte ab und landete in der Ruine einer kleinen Sandburg. Er zog den Schuh heraus und schüttelte den Sand ab. »Gleich nachdem er dich besucht hat, klar. Irrer Typ, was? Meine Eltern waren mächtig beeindruckt.«

»Was hat er euch gesagt?«

»Das Gleiche wie dir, schätze ich.« Er rieb sich das rechte Ohrläppchen. Eine unbewusste Geste, die er oft machte, wenn er nachdachte. »Die Idee ist nicht schlecht. Jugendliche fallen weniger auf als Erwachsene. Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir für sie gar nicht existieren. Bevor also ein Flüchtiger checkt, was passiert …«, er streckte die Arme nach vorn, Handgelenke aneinander, »… zack!« Mr Steel schien seinen Vortrag tatsächlich Wort für Wort wiederholt zu haben. »Was meint dein Dad zu der Sache? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er begeistert war.«

Gray nickte in Richtung der Schaukeln und schlenderte los. Früher war die Strecke weit genug für ein Wettrennen gewesen, mittlerweile brauchten sie nur wenige Schritte, bis sie dort waren. Gray quetschte sich zwischen die Stahlketten auf die schmale Sitzfläche. Isaac nahm neben ihm Platz und versetzte sich mit angezogenen Beinen leicht in Bewegung.

»Der hätte ihn am liebsten rausgeschmissen, bevor er mit mir reden konnte«, beantwortete Gray seine Frage. »Wie ist es mit deinen Eltern? Deine Mom hat nichts dagegen, dass du auf Verbrecherjagd gehst?«

Sofia Whitman war für Gray zwar keine Ersatz-Mom, aber einer fürsorglichen Tante kam sie schon sehr nahe. Manchmal war es ihm fast peinlich, wenn sie sich mehr um ihn sorgte als um ihren eigenen Sohn und dessen jüngere Schwester Gretchen. Was nicht hieß, dass er ihre Zuwendung nicht genoss. Für manche Dinge war man nie zu alt. Eine zweite Tasse heiße Schokolade vor dem Schlafengehen zählte eindeutig dazu.

Isaac zuckte die Achseln. »Skeptisch waren sie schon. Aber Steel setzt uns ja nur auf Kleinkriminelle an. Und er drückt uns keine Waffen in die Hand.«

Auf die Idee war Gray noch gar nicht gekommen. Isaacs Mom und sein Dad hatten da wohl weiter gedacht und gleich nachgefragt. Grays Mundwinkel zuckten. »Da wird Ben aber traurig sein.«

»Wieso Ben?«

Gray war verwirrt. »Wenn Mr Steels Sohn uns beide beobachtet hat, hat er auch ihn gesehen. Und Réka.« Er stand auf, schüttelte die Beine aus und rief sich Mr Steels Kommentar über das Match ins Gedächtnis. Du hast die Fässer als Fluchtpunkt für Chris Holland schon im Auge gehabt, bevor Benedict den Angriff gestartet hat?

Die Info konnte er nur von seinem Sohn haben. In dessen Augen hatte Gray wohl mit Übersicht gehandelt. Isaac musste mit Teamgeist gepunktet haben. Er hatte vor den entscheidenden Minuten mehrmals bewiesen, dass er nicht nur auf sich achtete, sondern auch auf Gray, Ben und Réka. Konnte es sein, dass Eric dann auch Ben richtig eingeschätzt hatte? Immerhin hatte der Idiot ohne Absprache gehandelt. Dummerweise hatte Eric dann auch gesehen, dass Réka sich dem Möchtegern-Rambo ohne Zögern angeschlossen hatte.

Isaac war inzwischen ebenfalls aufgestanden und hatte sein Smartphone hervorgeholt. Er scrollte mit konzentrierter Miene und schüttelte dann den Kopf. »Angegeben hat Ben nicht damit.«

»Mr Steel hat um Stillschweigen gebeten.«

Isaac sah Gray nur mitleidig an. »Und daran hält sich ein Benedict Kramer? Er hätte auf jeden Fall durchblicken lassen, dass er demnächst was Besonderes macht. Vor zehn Minuten hat er aber nur das hier abgesetzt.« Er hielt Gray den Bildschirm hin. Er zeigte das Foto einer riesigen Schüssel Haferflocken mit Obst, angereichert mit einem Kraftpulver für Bodybuilder. Dazu ein Eiweißshake, von dem Gray die ganze Woche satt geworden wäre. Darunter blinkte ein quietschbuntes Yummy!

Okay, Ben war also raus. Und Réka?

Wie Isaac holte Gray sein Handy aus der Tasche. Er entsperrte das Gerät mit einem Wischen und öffnete die Kontakte. Die Möglichkeit, einen Kleinkriminellen zu schnappen und dafür eine Prämie einzustreichen, hätte eigentlich schon ausreichen müssen. Aber der Gedanke, der Gray gerade kam, war sogar noch besser. Er konnte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen – wobei Fliege Nummer zwei ein Stück vom Pazifik in einem ihrer sowieso hübschen Augen schwamm!

Er kontrollierte, ob die Nummer, die er am Morgen abgespeichert hatte, mit einem seiner Messenger verknüpft war. Natürlich nicht. Für einen Moment flaute das Hochgefühl ab, das in seinem Magen aufgeploppt war wie ein Maiskorn in der Mikrowelle. Wo war das blöde Symbol für die Textnachrichten? Hatte sein Gerät diese veraltete Funktion überhaupt? Wer verschickte heute noch SMS?

Endlich fand er es.

»Was schreibst du?«

fast