GOLDMANN
Lesen erleben
Dies ist der Teil, in dem ich mich bei der Band bedanke – und es ist wirklich eine auserlesene Band. In alphabetischer Reihenfolge: Christine Ball, Eliane Benesti, David Berkeley (die Fallschirmleine), Anne Armstrong-Coben, Yvonne Craig, Diane Discepolo, Missy Higgins, Ben Sevier, Brian Tart, Lisa Erbach Vance und Jon Wood.
Bei diesem Buch handelt es sich um ein fiktionales Werk. Das heißt, ich denke mir Sachen aus. Wenn Sie sich also fragen, ob eine Figur auf dem und dem basiert, oder ob es in Ihrer Stadt oder an der Schule, auf die Ihre Kinder gehen, wirklich einen solchen Menschen gibt, lautet die Antwort nein.
All denen, die sich gefreut haben, Myrons Neffen kennenzulernen: Die Geschichte von Mickey Bolitar und im weiteren Sinne auch mit Myron wird in meinem neuen Jugendroman mit dem Titel »Nur zu deinem Schutz« im September 2012 fortgesetzt. Weitere Einzelheiten und eine Leseprobe finden Sie im Anhang, ein englischsprachiges Probekapitel finden Sie auf www.HarlanCoben.com. Achtung: In der Leseprobe könnte etwas über den Ausgang von »Sein letzter Wille« verraten werden. Lesen Sie es also erst, wenn Sie dieses Buch beendet haben.
Wie immer danke ich Ihnen.
Sechs Wochen später
LOS ANGELES, KALIFORNIEN
Dad ging auf seinen Stock gestützt voran.
Seit der Operation am offenen Herzen hatte er zehn Kilo verloren. Myron wollte, dass er sich in einen Rollstuhl setzte und sich den Hügel hinaufschieben ließ, doch davon wollte Al Bolitar nichts wissen. Er würde zu Fuß zur letzten Ruhestätte seines Sohnes gehen.
Mom war natürlich bei ihnen. Und Mickey auch. Mickey hatte sich von Myron einen Anzug geliehen. Er saß alles andere als perfekt. Myron war der Letzte in der Gruppe, wahrscheinlich, dachte er, um aufzupassen, dass niemand zu weit zurück blieb.
Die Sonne brannte auf sie herab. Myron hob den Blick und sah blinzelnd hinein. Seine Augen tränten. So viel hatte sich verändert, seit Suzze in sein Büro gekommen war und ihn um Hilfe gebeten hatte.
Hilfe. Was für ein Witz, wenn er jetzt darüber nachdachte.
Esperanzas Ehemann hatte nicht nur die Scheidungsklage eingereicht, sondern wirklich das alleinige Sorgerecht für Hector beantragt. Er hatte das unter anderem damit begründet, dass Esperanza oft bis in den späten Abend hinein arbeitete und ihre Mutterpflichten vernachlässigte. Esperanza hatte diese Drohung einen solchen Schreck versetzt, dass sie Myron gebeten hatte, ihr ihren Anteil an der Firma auszuzahlen, doch den Gedanken, alleine ohne Esperanza und Win bei MB Reps zu arbeiten, hatte Myron als bedrückend empfunden. Nach ausgiebigen Diskussionen hatten sie sich schließlich darauf geeinigt, MB Reps zu verkaufen. Die Mega-Agentur, die MB Reps übernahm, beschloss, beide Firmen zu fusionieren und den MB-Namen aufzugeben.
Big Cyndi wollte ihre Abfindung nutzen, um sich eine Auszeit zu nehmen und eine Biographie zu schreiben, in der sie alles auspacken würde. Die Welt wartete gespannt.
Win blieb weiter verschwunden. In den letzten sechs Wochen hatte Myron nur eine Nachricht von ihm bekommen – eine E-Mail mit einer kurzen, einfachen Botschaft:
Du bist in meinem Herzen.
Doch Dia und Mia ist die Hose näher.
Win.
Terese, Myrons Verlobte, konnte Angola noch immer nicht verlassen, und jetzt, mit all den unerwarteten Veränderungen in seinem Leben, konnte Myron auch nicht wieder zu ihr fahren. Noch nicht. Und womöglich noch eine ganze Weile nicht.
Als sie sich dem Grab näherten, schloss Myron zu Mickey auf. »Alles okay mit dir?«
»Geht schon«, sagte Mickey und ging schneller, bis er etwas Abstand zwischen sich und seinen Onkel gebracht hatte. Das machte er oft. Eine Minute später blieben sie stehen.
Auf Brads Grab stand noch kein Grabstein. Es war nur ein kleines Schild angebracht.
Alle vier schwiegen lange. Sie standen einfach da und starrten ins Nichts. Auf der anliegenden Straße rasten die Autos vorbei, deren Insassen keinen einzigen Gedanken daran verschwendeten, dass nur ein paar Meter von ihnen entfernt eine erschütterte Familie trauerte. Dann fing Dad ohne jede Vorwarnung an, das Kaddisch, das hebräische Totengebet, auswendig vorzutragen. Die Bolitars waren überhaupt nicht religiös, aber manche Dinge tat man aus der Tradition heraus, als ein Ritual, weil es den Menschen ein Bedürfnis war.
»Jitgadal vejitkadasch sch’mei rabah …«
Myron riskierte einen Blick auf Mickey. Er war in die Lüge über den Tod seines Vaters eingeweiht gewesen und hatte geholfen, den Anschein zu wecken, dass sie noch eine komplette Familie waren. Jetzt, am Grab seines Vaters, wirkte der Junge ungerührt. Er stand mit hocherhobenem Kopf da. Seine Augen waren trocken. Vielleicht war es die einzige Chance zu überleben, wenn so viele heftige Schläge in schneller Folge auf einen einprasselten. Als Kitty nach einer ganzen Weile endlich aus der Entziehungskur entlassen worden war, hatte sie ihren Sohn kaum begrüßt, bevor sie sich auf die Suche nach einem Schuss gemacht hatte. Ein paar Tage später hatten die Bolitars sie bewusstlos in einem schmutzigen Motel gefunden und wieder ins Coddington Institute zurückgebracht. Jetzt bekam sie wieder Hilfe, Myron war aber davon überzeugt, dass sie an Brads Tod zerbrochen war, und er war nicht sicher, ob irgendjemand das je wieder reparieren könnte.
Als Myron zum ersten Mal vorschlug, das Sorgerecht für Mickey zu übernehmen, hatte sein Neffe, wie nicht anders zu erwarten, dagegen rebelliert. Er würde nie eine andere Person als seine Mutter als Vormund akzeptieren, hatte er verkündet, und wenn Myron so etwas versuchte, würde er eine Klage für die Entlassung aus der elterlichen Gewalt anstreben oder einfach ausreißen. Da Myrons Eltern von hier aus nach Florida zurückflogen und das Schuljahr am nächsten Montag begann, hatten Myron und Mickey schließlich eine Art Übereinkunft getroffen. Mickey hatte sich bereiterklärt, in das Haus in Livingston zu ziehen, wo Myron als inoffizieller Vormund fungierte. Er würde zur Livingston High School gehen, der Alma Mater sowohl seines Vaters als auch seines Onkels. Im Gegenzug erklärte Myron sich bereit, ihm nicht in die Quere zu kommen und dafür zu sorgen, dass Kitty trotz allem das alleinige Sorgerecht für ihren Sohn behielt.
Es war ein hart erkämpfter und unbequemer Waffenstillstand.
Mit verschränkten Händen und gesenktem Kopf beendete Myrons Vater das lange Gebet mit den Worten: »Aleinu ve al kol jisroel v’imru: Amein.«
Myron und Mom stimmten ins abschließende Amein ein. Mickey blieb stumm. Alle blieben noch eine Weile still stehen. Myron blickte auf den aufgewühlten Boden hinab und versuchte sich auszumalen, wie sein kleiner Bruder darunter lag. Es gelang ihm nicht.
Stattdessen dachte er an das letzte Mal zurück, als er seinen Bruder gesehen hatte, an den verschneiten Abend vor sechzehn Jahren, als Myron, der große Bruder, der immer versucht hatte, ihn zu beschützen, Brad die Nase gebrochen hatte.
Kitty hatte recht. Brad war drauf und dran gewesen, das Studium sausen zu lassen und in unbekannte Welten aufzubrechen. Als Dad das merkte, schickte er Myron vor, um mit seinem kleinen Bruder zu reden. »Mach du das«, hatte Dad zu ihm gesagt. »Entschuldige dich für das, was du über sie gesagt hast.« Myron hatte widersprochen. Er hatte argumentiert, dass Kitty über die Anti-Baby-Pille gelogen und sowieso einen schlechten Ruf hätte und auch noch weiteren Unsinn erzählt, von dem er jetzt wusste, dass er nicht zutraf. Sein Vater hatte das schon damals durchschaut. »Willst du ihn für immer von uns wegstoßen?«, hatte Dad gefragt. »Geh zu ihm, entschuldige dich, und hol die beiden zurück nach Hause.«
Doch als Myron dann bei ihnen war, war sie so verängstigt, dass sie unbedingt das Land verlassen wollte und sich die Geschichte ausdachte, dass Myron sie angemacht hätte. Brad flippte aus. Als er seinen Bruder so herumbrüllen und fluchen hörte, war Myron überzeugt, dass er Kitty schon die ganze Zeit richtig eingeschätzt hatte. Sein Bruder war ein Idiot, dass er überhaupt etwas mit ihr angefangen hatte. Myron fing an, mit ihm zu streiten, steigerte sich immer weiter in diesen Streit hinein und bezichtigte Kitty jeder Art des Betrugs und schließlich schrie er die letzten Worte heraus, die er je zu seinem Bruder sagen sollte:
»Glaubst du dieser verlogenen Hure etwa mehr als deinem eigenen Bruder?«
Brad holte aus und schlug nach ihm. Myron wich dem Schlag aus und, wütend wie er war, schlug zurück. Selbst jetzt, an Brads letzter Ruhestätte, hatte Myron das üble Knirschen noch im Ohr, als die Nase seines Bruders unter seiner Faust nachgab.
Auf dem letzten Bild, dass Myron von seinem Bruder vor Augen hatte, lag dieser vor ihm auf dem Boden und sah ihn schockiert an, während Kitty versuchte, das Blut zu stillen, das ihm aus der Nase schoss.
Als Myron damals nach Hause kam, konnte er seinem Vater nicht sagen, was er getan hatte. Er fürchtete, schon allein die Wiederholung von Kittys ungeheuerlicher Lüge könnte ihr Glaubwürdigkeit verleihen. Also hatte Myron seinen Vater belogen. »Ich habe mich entschuldigt, aber Brad wollte nichts davon wissen. Du musst mit ihm reden, Dad. Auf dich wird er hören.«
Aber sein Vater hatte den Kopf geschüttelt. »Wenn Brad das so sieht, soll es vielleicht einfach so sein. Dann müssen wir ihn wohl ziehen lassen, damit er seinen eigenen Weg findet.«
Also hatten sie ihn ziehen lassen. Und jetzt waren sie zum ersten Mal alle wieder zusammen – auf einem Friedhof fünftausend Kilometer von zu Hause entfernt.
Nachdem noch eine weitere Minute schweigend vergangen war, schüttelte Al Bolitar den Kopf und sagte: »So etwas sollte niemals passieren.« Er brach ab und sah zum Himmel. »Ein Vater sollte niemals das Kaddisch für seinen Sohn sprechen müssen.«
Mit diesen Worten drehte er sich um und machte sich auf den Rückweg.
Nachdem sie Mom und Dad zu ihrem Flug vom Los Angeles International Airport nach Miami gebracht hatten, stiegen Myron und Mickey in ihre Maschine nach Newark. Sie verbrachten den ganzen Flug schweigend nebeneinander. Nach der Landung holten sie Myrons Wagen vom Langzeitparkplatz ab und fuhren auf den Garden State Parkway. Auch die ersten zwanzig Minuten der Autofahrt schwiegen beide. Als Mickey merkte, dass sie an der Ausfahrt nach Livingston vorbeifuhren, sagte er schließlich etwas.
»Wo fahren wir hin?«
»Wirst du schon sehen.«
Zehn Minuten später hielten sie auf dem Parkplatz der Ladenzeile. Myron machte den Wagen aus und lächelte Mickey zu. Der sah kurz aus dem Fenster und Myron dann fragend an.
»Willst du mich auf ein Eis einladen?«
»Komm mit«, sagte Myron.
»Das soll doch wohl ein Witz sein, oder?«
Als sie das SnowCap-Eiscafé betraten, kam Kimberly breit lächelnd in ihrem Rollstuhl auf sie zu und sagte: »Hey, Sie sind wieder hergekommen! Was kann ich für Sie tun?«
»Geben Sie meinem Neffen hier einen SnowCap Melter. Ich muss kurz mit Ihrem Vater sprechen.«
»Kein Problem. Er ist hinten im Büro.«
Hinten im Büro war Karl Snow dabei, die Rechnungen durchzusehen. Er sah Myron über seine Lesebrille hinweg an. »Sie hatten mir versprochen, dass Sie nicht wieder herkommen.«
»Das tut mir leid.«
»Und was wollen Sie hier?«
»Sie haben mich belogen. Sie sind die ganze Zeit damit hausieren gegangen, wie pragmatisch sie damals gehandelt haben. Ihre Tochter wäre tot, haben Sie gesagt, und nichts könnte sie zurückbringen. Es wäre praktisch ausgeschlossen, dass Gabriel Wire dafür ins Gefängnis ginge. Also hätten Sie das Schweigegeld genommen, um Kimberly damit helfen zu können. Sie haben es mir freundlich und rational erklärt – und aus irgendeinem Grund habe ich Ihnen kein Wort davon abgenommen. Nicht, nachdem ich gesehen hatte, wie Sie mit Kimberly umgegangen sind. Und dann habe ich noch einmal über die Reihenfolge nachgedacht.«
»Was für eine Reihenfolge?«
»Lex Ryder hat Suzze angerufen und ihr erzählt, dass Gabriel Wire tot ist. Suzze ist schockiert. Außerdem ist sie skeptisch, daher trifft sie sich mit Kitty, um sich von ihr bestätigen zu lassen, dass Lex die Wahrheit sagt. So weit, so gut. Bis dahin konnte ich der ganzen Sache folgen.« Myron legte den Kopf schräg. »Aber warum hätte Suzze dann, gleich nachdem sie mit Kitty gesprochen hat – der einzigen Person, die Zeuge von Gabriel Wires Ermordung war –, zu Ihnen kommen sollen?«
Karl Snow sagte nichts. Das brauchte er auch nicht. Myron war jetzt alles klar. Lex hatte gedacht, Ache und Crisp hätten Wire umgebracht, aber das ergab keinen Sinn. Die beiden hatten mit HorsePower viel Geld verdient.
»Gabriel Wire war reich, hatte Verbindungen und wäre damit davongekommen, dass er Alista getötet hatte. Das hatten Sie erkannt. Sie hatten erkannt, dass er für das, was er Ihrer Tochter angetan hatte, nie vor Gericht gestellt werden würde. Also haben Sie es selbst in die Hand genommen. In gewisser Weise ist das schon paradox.«
»Was?«
»Die ganze Welt denkt, Sie hätten für viel Geld Ihre Tochter verraten.«
»Na und?«, sagte Karl Snow. »Glauben Sie, es interessiert mich, was die Welt über mich denkt?«
»Offenbar nicht.«
»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Manchmal muss man ein Kind ganz allein lieben. Und manchmal muss man auch ganz allein trauern.
»Und manchmal muss man ganz allein für Gerechtigkeit sorgen.«
»Werden Sie mich verraten?«, fragte Snow.
»Nein.«
Er wirkte nicht erleichtert. Wahrscheinlich dachte er das Gleiche wie Myron. Was sein Verhalten für Wellen geschlagen hatte: Wenn Snow nicht Selbstjustiz geübt hätte – wenn er Gabriel Wire nicht umgebracht hätte –, wäre Kitty nicht Zeugin des Mordes geworden und geflüchtet. Myrons Bruder könnte noch am Leben sein. Suzze T auch. Aber man durfte das auch nicht allzu weit treiben. Myrons eigener Vater hatte seine Empörung darüber zum Ausdruck gebracht, dass Eltern ihr Kind überlebten. Karl Snows Tochter war ermordet worden. Wer wollte da ein Urteil fällen, was richtig oder falsch war?
Myron stand auf und ging zur Tür. Dort drehte er sich um, weil er sich verabschieden wollte. Karl Snow saß mit gesenktem Kopf vor seinen Rechnungen und starrte viel zu konzentriert darauf hinunter. Im Eiscafé kämpfte Mickey mit seinem SnowCap Melter. Kimberly war zu ihm gerollt, um ihn etwas aufzuheitern. Sie senkte den Kopf und flüsterte ihm etwas zu, worauf Mickey in lautes Lachen ausbrach.
Wieder ging Myron das Bild durch den Kopf, wie seine Faust auf das Gesicht seines Bruders zu schoss. Jetzt konnte nur noch eins helfen. Der Pass. Er hatte Kittys Hinweis befolgt und ihn sich genau angesehen. Zuerst war er die Einreisestempel der vielen Länder durchgegangen, in denen sie gewesen waren. Aber das hatte Kitty nicht gemeint. Sie hatte die erste Seite gemeint, auf der die persönlichen Daten des Besitzers standen. Er schlug sie noch einmal auf und musterte Mickeys Namen. Seinen richtigen Namen. Myron war davon ausgegangen, dass Mickey eine Kurzform von Michael war. Das stimmte aber nicht.
Mickeys richtiger Name war Myron.
Kimberly sagte noch etwas. Etwas so Komisches, dass Mickey seinen Eislöffel beiseitelegte, sich zurücklehnte und lauthals lachte – er legte jede Zurückhaltung ab und lachte –, zum ersten Mal seit Myron ihn kannte. Es zerriss Myron fast das Herz. Er kannte dieses Lachen. Es klang genauso wie Brads, und so kam es ihm vor, als hätte es in einer alten Erinnerung angefangen – in einem der vielen wunderbaren Momente, den zwei Brüder vor langer Zeit miteinander erlebt hatten – worauf sein Echo über die Jahre ziellos herumgeirrt war, bis es schließlich den Weg in dieses Eiscafé und ins Herz von Brads Sohn gefunden hatte.
Myron stand da und lauschte, und obwohl er wusste, dass das Echo wieder leiser werden würde, hoffte er doch, dass es nie ganz verklang.
Die hässlichste Wahrheit, hatte ein Freund einmal zu Myron gesagt, ist immer noch besser als die schönste Lüge.
Über diesen Satz dachte Myron nach, während er seinen Vater im Krankenhausbett ansah. Die Situation von vor sechzehn Jahren schoss ihm durch den Kopf, als er ihn zum letzten Mal belogen hatte. Diese Lüge, die so viel Kummer und Unheil verursacht hatte, weil sie Wellen geschlagen hatte, die sich im Lauf der Jahre zu einer gewaltigen Woge aufgetürmt hatte, die hier und jetzt mit verheerender Kraft über sie hereinbrach und alles mitzureißen drohte.
Sein Vater lag weiter mit geschlossenen Augen da. Er atmete rasselnd und unregelmäßig. Überall ragten Schläuche aus seinem Körper. Myron starrte auf seinen Unterarm. Er erinnerte sich daran, wie er als Kind bei seinem Vater im Lagerhaus in Newark zu Besuch gewesen war, der mit hochgekrempelten Ärmeln vor seinem riesigen Schreibtisch gesessen hatte. Seine Unterarme waren damals so kräftig gewesen, dass die Manschette, die sich gebildet hatte, fast wie eine Aderpresse auf dem Muskel spannte. Jetzt sahen diese Arme schwammig aus, als wäre mit der Zeit die Luft aus ihnen entwichen. Die breite Brust, an der Myron sich früher so sicher gefühlt hatte, war noch vorhanden, allerdings wirkte sie spröde, als könnten die Rippen bei einem kräftigen Stoß wie trockene Zweige zerbrechen. Im unrasierten Gesicht zeigten sich graue Flecken statt des gewohnten Nachmittagsbartschattens, und die Haut um sein Kinn hing schlaff herab wie ein viel zu großer Mantel.
Myrons Mutter – seit dreiundvierzig Jahren mit Al Bolitar verheiratet – saß neben Myron am Krankenbett. Ihre von Parkinson zitternde Hand umklammerte die ihres Mannes. Auch sie wirkte erschreckend schwach. In ihrer Jugend war Myrons Mutter eine der ersten Feministinnen gewesen, hatte mit Gloria Steinem zusammen ihren BH verbrannt und T-Shirts mit Aufschriften wie »Frauen gehören ins Haus … und in den Senat« getragen. Und jetzt waren sie hier, Ellen und Al Bolitar. (»Wir sind El-Al«, hatte Mom immer gescherzt, »wie die israelische Fluggesellschaft«.) Vom Alter gezeichnet, klammerten sie sich ans Leben und hatten dabei viel mehr Glück als die große Mehrheit alternder Ehepaare – aber genau so sah das Glück eben aus, wenn es aufs Ende zuging.
Gott hatte einen eigenartigen Sinn für Humor.
»Gut«, sagte Mom leise zu Myron. »Dann sind wir uns also einig?«
Myron antwortete nicht. Die schönste Lüge gegen die hässlichste Wahrheit. Eigentlich hätte Myron seine Lektion damals vor sechzehn Jahren gelernt haben müssen, als er den großen Mann, den er wie keinen anderen liebte, zum letzten Mal belogen hatte. Aber so einfach war das nicht. Die hässliche Wahrheit konnte verheerend sein. Sie könnte eine Welt erschüttern.
Oder sogar töten.
Und als die Augenlider seines Vaters sich zitternd öffneten und dieser Mann, den Myron wie keinen anderen achtete, mit flehentlicher, fast kindlicher Verwirrung zu seinem ältesten Sohn aufblickte, sah Myron seine Mutter an und nickte langsam. Dann verkniff er sich die Tränen und setzte an, seinen Vater ein letztes Mal zu belügen.
Sechs Tage vorher
»Bitte, Myron, ich brauche deine Hilfe.«
Für Myron hatte das etwas von einer Wunschvorstellung: Eine hinreißende üppige Lady kam in sein Büro geschlendert und bat ihn um Hilfe in der Not. Fast wie in einem alten Humphrey-Bogart-Film – außer, na ja, das Schlendern war eher ein Watscheln, und die Üppigkeit resultierte in nicht geringem Maße daher, dass die hinreißende Dame im achten Monat schwanger war, und, tja, Entschuldigung, aber damit hatte sich das mit der Wunschvorstellung auch schon erledigt.
Sie hieß Suzze T, Kurzform von Trevantino, und war ein ehemaliger Tennisstar. Auf der Tour hatte sie die Rolle des Bad Girls gespielt und ihren Ruhm zum größten Teil den knappen Outfits, den Piercings und Tattoos zu verdanken und weniger ihren Erfolgen. Immerhin hatte Suzze ein Grand-Slam-Turnier gewonnen und dazu Unsummen als Werbeikone verdient, unter anderem als Sprecherin (eine Umschreibung, die Myron außerordentlich gefiel) für La-La-Latte, eine Kette von Oben-ohne-Kaffeebars, in denen Studenten sich ein Kichern nicht verkneifen konnten, wenn sie »eine Extraportion Milch« bestellten. Ach, die guten alten Zeiten.
Myron breitete die Arme aus. »Ich bin immer für dich da, Suzze. Tag für Tag rund um die Uhr. Aber das weißt du ja.«
Sie befanden sich in seinem Büro in der Park Avenue, der Heimat von MB Reps, wobei das M für Myron, das B für Bolitar und das Reps dafür stand, dass sie Sportler, Schauspieler und Schriftsteller repräsentierten. Ein Hoch auf selbsterklärende Namen.
»Dann erzähl mal, was ich für dich tun kann.«
Suzze ging vor dem Schreibtisch auf und ab. »Ich weiß nicht recht, womit ich anfangen soll.« Myron wollte eine Bemerkung machen, sie streckte ihm jedoch die erhobene Hand entgegen. »Wenn du es wagst, ›Wie wär’s mit dem Anfang‹, zu sagen, dann reiß ich dir ein Ei ab.«
»Nur eins?«
»Du bist ja jetzt verlobt. Ich nehme nur Rücksicht auf deine arme zukünftige Gattin.«
Suzze ging immer schneller, die Schritte wurden schwerer und sie stampfte jedes Mal auf, so dass Myron schon fürchtete, dass sie jeden Moment hier in seinem neu renovierten Büro Wehen bekommen könnte.
»Äh, der Teppich«, sagte Myron, »der ist ganz neu.«
Sie runzelte die Stirn, ging weiter auf und ab und fing an, ihre perfekt manikürten Fingernägel zu kauen.
»Suzze?«
Sie blieb stehen. Ihre Blicke trafen sich.
»Erzähl schon«, sagte er.
»Weißt du noch, wie wir uns kennengelernt haben?«
Myron nickte. Er hatte erst eine paar Monate zuvor seinen Abschluss in Jura gemacht und gerade seine Firma gegründet. Damals war MB Reps noch unter dem Namen MB SportsReps aufgetreten. Das lag daran, dass Myron anfangs nur Sportler vertreten hatte. Als er anfing, auch Schauspieler, Schriftsteller und andere Künstler zu vertreten, hatte er das Sports aus dem Namen gestrichen, was dann MB Reps ergab.
Wieder die selbsterklärenden Namen.
»Klar«, sagte er.
»Ich war einfach schrecklich, oder?«
»Du warst ein großes Tennistalent.«
»Und schrecklich. Versuch nicht, das zu beschönigen.«
Myron hob die Arme und drehte die Handflächen zur Decke. »Du warst achtzehn.«
»Siebzehn.«
»Dann eben siebzehn, ganz egal.« Ihm ging kurz ein altes Bild von Suzze im Sonnenlicht durch den Kopf: blonder Pferdeschwanz, ein schalkhaftes Grinsen im Gesicht, während sie mit der Vorhand auf den Ball drischt, als hätte der sie beleidigt. »Du warst gerade Profi geworden. Jungs in der Pubertät haben sich Poster von dir ins Schlafzimmer gehängt. Alle haben von dir erwartet, dass du die großen Stars auf der Tour sofort besiegst. Deine Eltern waren ehrgeiziger als sonst was und haben entsprechend Druck auf dich ausgeübt. Eigentlich ist es ein Wunder, dass du das überhaupt durchgestanden hast.«
»Auch wieder wahr.«
»Also, was ist los?«
Suzze starrte auf ihren Bauch hinab, als wäre er gerade erst erschienen. »Ich bin schwanger.«
»Äh, ja, das ist mir auch schon aufgefallen.«
»Das Leben ist schön, weißt du?« Sie sprach leise und versonnen. »Nach all den Jahren, in denen ich schrecklich war … habe ich Lex gefunden. Seine Musik ist besser denn je. Die Tennisakademie läuft großartig. Und, na ja, im Augenblick ist alles wunderbar.«
Myron wartete. Sie starrte weiter auf ihren Bauch hinab und wiegte ihn in den Händen, als wäre er sein Inhalt, was er, wie Myron dann bewusst wurde, ja auch irgendwie war. Damit das Gespräch nicht ins Stocken geriet, fragte Myron: »Bist du gern schwanger?«
»Meinst du den eigentlichen körperlichen Vorgang, ein Kind auszutragen?«
»Ja.«
Sie zuckte die Achseln. »Ich kann nicht behaupten, dass ich vor Glück strahle oder so. Von mir aus könnte das Kind jetzt wirklich mal kommen. Ist aber schon eine interessante Frage. Manche Frauen sind gerne schwanger.«
»Aber du gehörst nicht dazu?«
»Es fühlt sich an, als ob jemand einen Bulldozer auf meiner Blase geparkt hätte. Ich glaube, der Grund dafür, dass manche Frauen gern schwanger sind, liegt darin, dass sie in der Zeit das Gefühl haben, etwas Besonderes zu sein. Sie kommen sich wichtig vor, fast ein bisschen wie Prominente. Den meisten Frauen wird im Leben kaum viel Aufmerksamkeit geschenkt, aber wenn sie schwanger sind, machen die Leute ein Riesentamtam. Es mag lieblos klingen, aber schwangere Frauen stehen auf Applaus. Weißt du, was ich meine?«
»Ich glaube schon.«
»Und ich hab im Leben wohl schon genug Applaus bekommen.« Sie trat ans Fenster und sah einen Moment lang hinaus. Dann drehte sie sich zu ihm um. »Übrigens, ist dir aufgefallen, wie dick meine Titten sind?«
Myron sagte: »Äh«, beschloss dann aber, lieber den Mund zu halten.
»Ich überleg gerade, ob du nicht bei La-La-Latte anrufen und ein neues Fotoshooting vereinbaren solltest.«
»Strategisch ausgewählte Perspektiven?«
»Genau. Könnte eine großartige neue Kampagne werden mit den Möpsen hier.« Sie hob sie leicht an, falls Myron nicht begriffen haben sollte, welche Möpse sie meinte. »Was denkst du?«
»Ich denke, du lenkst vom Thema ab.«
Sie hatte feuchte Augen. »Ich bin so verdammt glücklich.«
»Na ja, dann. Schon klar, dass das ein Problem sein kann.«
Sie lächelte. »Die alten Dämonen konnte ich besänftigen. Ich hab mich sogar mit meiner Mutter versöhnt. Und mit Lex ist auch alles wunderbar. Wir freuen uns auf das Baby. Und ich will nicht, dass die Dämonen wieder zurückkehren.«
Myron richtete sich auf. »Du bist doch nicht wieder auf Drogen?«
»Um Gottes willen, nein. Diese Dämonen doch nicht. Das ist vorbei. Damit haben Lex und ich nichts mehr zu schaffen.«
Lex Ryder, Suzzes Ehemann, war die eine Hälfte des legendären Duos HorsePower – wenn auch ehrlich gesagt die sehr viel unbedeutendere Hälfte als der fast übermenschlich charismatische Frontmann Gabriel Wire. Lex war ein guter, wenn auch etwas unruhiger Musiker, trotzdem würde er immer der John Oates zu Gabriels Daryl Hall bleiben, der Andrew Ridgeley zu Gabriels George Michael oder der Rest der Pussycat Dolls zu Nicole Scherzinger.
»Was denn sonst für Dämonen?«
Suzze griff in ihre Handtasche. Sie zog etwas heraus, das von der anderen Seite des Schreibtischs wie ein Foto aussah. Sie starrte einen Moment lang drauf, dann schob sie es über den Schreibtisch zu Myron. Er sah es kurz an und wartete wieder darauf, dass sie etwas sagte.
Um das Schweigen zu brechen, sagte er schließlich: »Das ist ein Ultraschallbild von deinem Kind.«
»Yep. Mit achtundzwanzig Wochen.«
Weiter Schweigen. Wieder brach Myron es. »Stimmt irgendetwas mit dem Baby nicht?«
»Nein. Er ist perfekt.«
»Er?«
Suzze T lächelte. »Ich werde meinen eigenen kleinen Mann haben.«
»Ist doch cool.«
»Ja. Ach, es gibt noch einen Grund dafür, dass ich gekommen bin. Ich habe das mit Lex besprochen. Wir wollen, dass du der Pate wirst.«
»Ich?«
»Yep.«
Myron sagte nichts.
»Und?«
Jetzt hatte Myron feuchte Augen. »Es wäre mir eine Ehre.«
»Heulst du?«
Myron antwortete nicht.
»Du benimmst dich ja wie ein Mädchen«, sagte sie.
»Was ist los, Suzze?«
»Vielleicht ist es überhaupt nichts.« Dann: »Ich glaube, irgendjemand will mein Leben kaputtmachen.«
Myron sah weiter auf das Ultraschallbild. »Wie das?«
Und dann zeigte sie es ihm. Sie zeigte ihm die zwei Worte, die in seinem Herzen noch sehr lange und dumpf widerhallen sollten.
Eine Stunde später stolzierte Windsor Horne Lockwood III – den diejenigen, die ihn fürchteten (und das waren fast alle), als Win kannten – in Myrons Büro. Win konnte ausgezeichnet stolzieren – es wirkte fast so, als trüge er einen schwarzen Smoking mit Rockschößen und Zylinder und wirbelte dazu einen Spazierstock herum. Stattdessen trug er eine rosa-grüne Lilly-Pulitzer-Krawatte, einen blauen Blazer mit einer Art Wappen auf der Brust und Khakis mit einer so scharfen Bügelfalte, dass man sich daran schneiden konnte, und dazu Mokassins ohne Socken. Im Grunde sah er so aus, als käme er direkt von einem Segeltörn mit der SS Altes Geld.
»Suzze T war gerade da«, sagte Myron.
Win nickte. »Ich hab sie noch gesehen.«
»Sah sie besorgt aus?«
»Ist mir nicht aufgefallen«, sagte Win und setzte sich. Dann: »Ihre Brüste waren sehr prall.«
Win.
»Sie hat ein Problem«, sagte Myron.
Win lehnte sich zurück und schlug mit der ihm eigenen, gespannten Leichtigkeit die Beine übereinander. »Erzähl.«
Myron drehte den Computermonitor so, dass Win ihn sehen konnte. Suzze hatte vor ungefähr einer Stunde etwas Ähnliches getan. Myron dachte über die beiden Worte nach. Für sich genommen waren sie vollkommen harmlos, allerdings ging es im Leben immer um Zusammenhänge. Und in diesem Zusammenhang wurde es durch diese beiden Worte kühler im Raum.
Win sah auf den Bildschirm, kniff die Augen zusammen und griff dann in seine Brusttasche. Er zog eine Lesebrille heraus. Er hatte sie sich vor gut einem Monat besorgt, und obwohl Myron es für unmöglich gehalten hatte, sah er damit noch hochnäsiger und arroganter aus als vorher. Außerdem deprimierte die Anwesenheit der Brille Myron ungemein. Win und er waren nicht alt – noch längst nicht –, aber, um die Golfanalogie zu bemühen, die Win benutzt hatte, als er die Brille in Myrons Gegenwart zum ersten Mal aufsetzte: »Wir sind ganz offiziell auf der Back Nine des Lebens.«
»Ist das eine Facebook-Seite?«, fragte Win.
»Ja. Suzze sagte, sie macht damit Werbung für ihre Tennisakademie.«
Win beugte sich etwas näher heran. »Ist das ihr Ultraschall?«
»Ja.«
»Und inwiefern kann man mit einem Ultraschallbild Werbung für eine Tennisakademie machen?«
»Das habe ich sie auch gefragt. Sie meinte, so eine Akademie bräuchte eine persönliche Note. Die Leute wollten nicht nur normale Werbung lesen.«
Win runzelte die Stirn. »Sie stellt ein Ultraschallbild von einem Fötus ins Netz?« Er sah Myron an. »Findest du das logisch?«
Das fand Myron nicht. Trotzdem – wo er Win mit der Lesebrille vor sich sah und sie gemeinsam über das moderne Leben mit den sozialen Netzwerken jammerten – kam er sich alt vor.
»Achte auf die Kommentare unter dem Bild«, sagte Myron.
Win sah ihn mit ausdrucksloser Miene an. »Die Leute kommentieren ein Ultraschallbild?«
»Lies sie einfach.«
Win las. Myron wartete. Er kannte die Seite inzwischen fast auswendig. Es gab insgesamt 26 Kommentare zu dem Bild, meistens Glückwünsche. Suzzes Mutter, das (alt gewordene) Paradebeispiel einer überehrgeizigen Tennismutter, hatte geschrieben: »An alle: Ich werde Oma. Juhu!« Jemand namens Amy sagte: »Och, niedlich!!!« Ein scherzhaftes: »Ganz der Vater! ;)«, von einem Studiodrummer, der mit HorsePower zusammengearbeitet hatte. Ein Kelvin schrieb: »Glückwunsch!!« Tami fragte: »Wann soll das Baby denn kommen, Schatz?«
Beim dritten von unten stoppte Win. »Witzbold.«
»Welcher?«
»Ein Scheißtyp namens Erik hat geschrieben« – Win räusperte sich und beugte sich näher an den Monitor – : »… Dein Baby sieht aus wie ein Seepferdchen‹, dann hat Erik der Spaßvogel noch ein ›LOL‹ angefügt.«
»Das ist nicht das Problem.«
Win beruhigte das nicht. »Trotzdem sollte man dem guten Erik eventuell einen Besuch abstatten.«
»Lies einfach weiter.«
»Gut.« Wins Miene zeigte nur sehr selten eine Regung. Sowohl für Geschäftsangelegenheiten als auch für Kämpfe hatte er sich antrainiert, sich nichts anmerken zu lassen. Aber ein paar Sekunden später sah Myron, wie sich die Augen seines alten Freundes verdunkelten. Win blickte auf. Myron nickte. Denn Myron wusste, dass Win die beiden Worte entdeckt hatte.
Sie standen ganz unten auf der Seite. Sie standen in einem Kommentar von »Abeona S«, ein Name, der Myron nichts sagte. Das Profilbild war eine Art Symbol, vielleicht ein chinesischer Buchstabe. Und daneben standen in Großbuchstaben ohne irgendwelche Satzzeichen die beiden einfachen und doch so aufwühlenden Worte:
»NICHT SEINS«
Schweigen.
Dann sagte Win: »Autsch.«
»Eben.«
Win nahm die Brille ab. »Muss ich die offensichtliche Frage stellen?«
»Die da lautet?«
»Ist es wahr?«
»Suzze schwört, dass es von Lex ist.«
»Glauben wir ihr?«
»Das tun wir«, sagte Myron. »Ist das wichtig?«
»Rein moralisch gesehen nicht, nein. Willst du meine Theorie hören? Das ist das Werk eines kastrierten Spinners.«
Myron nickte. »Das ist das Gute am Internet: Jeder bekommt eine Stimme. Das Schlechte am Internet: Jeder bekommt eine Stimme.«
»Es ist die Bastion der Feiglinge und Namenlosen«, pflichtete Win ihm bei. »Suzze sollte das lieber löschen, bevor Lex es sieht.«
»Zu spät. Das ist ein Teil des Problems. Lex ist irgendwie abgehauen.«
»Verstehe«, sagte Win. »Dann sollen wir ihn suchen.«
»Und nach Hause bringen, ja.«
»Dürfte nicht allzu schwer sein, einen berühmten Rockstar zu finden«, sagte Win. »Und der andere Teil des Problems?«
»Sie will wissen, wer das geschrieben hat.«
»Die wahre Identität von Mr. Kastrierter Spinner?«
»Suzze meint, es steckt mehr dahinter. Sie glaubt, irgendjemand hat es richtig auf sie abgesehen.«
Win schüttelte den Kopf. »Das ist ein kastrierter Spinner.«
»Komm schon. Einfach ›Nicht seins‹ zu schreiben ist schon ziemlich krank.«
»Dann ist es eben ein kranker kastrierter Spinner. Hast du dir diesen Mist im Internet schon mal genauer angesehen? Geh auf irgendeine Nachrichtenseite und sieh dir die rassistischen, homophoben, paranoiden ›Kommentare‹ an.« Er zeichnete mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft. »Da möchte man am liebsten den Mond anheulen.«
»Ich weiß, aber ich habe ihr versprochen, mich darum zu kümmern.«
Win seufzte, setzte die Brille wieder auf und beugte sich zum Monitor. »Das wurde von einer Person namens Abeona S gepostet. Können wir davon ausgehen, dass es sich dabei um ein Pseudonym handelt?«
»Yep. Abeona ist der Name einer römischen Göttin. Ich hab keine Ahnung, wofür das S steht.«
»Und was ist mit dem Profilbild? Was für ein Symbol ist das?«
»Keine Ahnung.«
»Hast du Suzze gefragt?«
»Yep. Sie hat gesagt, sie weiß es nicht. Es sieht ein bisschen aus wie ein chinesischer Buchstabe.«
»Vielleicht finden wir jemanden, der ihn uns erklären kann.« Win lehnte sich zurück und legte die Fingerspitzen beider Hände aneinander. »Ist dir auch aufgefallen, wann der Kommentar gepostet wurde?«
Myron nickte. »Um drei Uhr siebzehn nachts.«
»Verdammt spät.«
»Das hab ich auch gedacht«, sagte Myron. »Es könnte einfach das Gegenstück zu ›betrunken anrufen‹ in sozialen Netzwerken sein.«
»Ein rachsüchtiger Ex?«, sagte Win.
»Gibt es auch andere?«
»Und wenn ich an Suzzes zügellose Vergangenheit denke, könnte es, vorsichtig gesprochen, mehrere Kandidaten geben.«
»Allerdings keinen, bei dem sie ein solches Verhalten für möglich hält.«
Win starrte weiter auf den Monitor. »Und wie fangen wir jetzt an?«
»Ehrlich?«
»Wie bitte?«
Myron stand auf und ging ein paar Schritte in seinem renovierten Büro auf und ab. Die Poster von Broadway-Musicals und die Batman-Memorabilien waren verschwunden. Er hatte sie vor dem Streichen abgenommen und wusste nicht, ob er sie wieder aufhängen würde. Auch die alten Trophäen und Auszeichnungen aus seiner Sportlerzeit waren weg – die Meisterschaftsringe der Universitätsliga, die Urkunden der Zeitschrift Parade, die ihn als Mitglied der Studentennationalmannschaft auszeichnete, und der Pokal als Universitätsspieler des Jahres – mit einer Ausnahme: Direkt vor seinem ersten Profispiel für die Boston Celtics, als sein Traum endlich wahr wurde, hatte Myron eine schwere Knieverletzung erlitten, worauf die Sports Illustrated sein Foto auf die Titelseite gesetzt und in Großbuchstaben gefragt hatte: IST ER ERLEDIGT? Obwohl die Antwort im zugehörigen Artikel noch offen gelassen wurde, sollte sich herausstellen, dass die Antwort ein lautes und deutliches ›YEP!‹ war. Er wusste nicht recht, warum er die gerahmte Titelseite wieder aufgehängt hatte. Wenn ihn jemand danach fragte, antwortete er, es diene als Warnung für all die »Superstars«, die in sein Büro kamen, damit sie nicht vergaßen, wie schnell alles vorbei sein konnte – Myron nahm aber an, dass noch mehr dahintersteckte.
»Das ist nicht unsere übliche Vorgehensweise«, sagte Myron.
»Ach, erzähl.«
»Dies ist normalerweise die Stelle, an der du mir erzählst, dass ich Agent bin und nicht Privatdetektiv und dass du keinen Sinn darin siehst, dass wir uns darum kümmern, weil kein finanzieller Gewinn dabei herausspringt.«
Win sagte nichts.
»Dann beklagst du dich normalerweise, dass ich einen Heldenkomplex hätte und dauernd jemanden retten müsste, um mich als vollständiger Mensch zu fühlen. Und letztlich – oder soll ich sagen, erst vor kurzem – hast du mir erzählt, dass meine Einmischung tatsächlich mehr Schlechtes als Gutes bewirkt und ich womöglich mehr Menschen verletzt oder sogar umgebracht als gerettet hätte.«
Win gähnte. »Und worauf willst du hinaus?«
»Ich dachte, das wäre ziemlich offensichtlich, aber gut: Warum bist du plötzlich bereit – oder sogar davon angetan –, ausgerechnet diese Rettungsmission anzugehen, während du in der Vergangenheit …«
»Auch in der Vergangenheit«, unterbrach Win, »habe ich dir immer geholfen, richtig?«
»Im Großen und Ganzen schon, ja.«
Win blickte auf und klopfte sich mit dem Zeigefinger ans Kinn. »Wie soll ich das erklären?« Er schwieg, überlegte, nickte. »Wir neigen dazu zu glauben, dass die guten Dinge ewig bestehen. Das liegt in unserer Natur. Die Beatles zum Beispiel. Ach, die wird’s ewig geben. Oder die Sopranos – die Serie wird immer irgendwo laufen. Die Zuckerman-Romane von Philip Roth. Bruce-Springsteen-Konzerte. Gute Dinge sind selten. Man muss sie hegen und pflegen, weil sie schließlich doch immer zu früh enden.«
Win stand auf und ging zur Tür. Bevor er das Zimmer verließ, sah er sich noch einmal um.
»So etwas mit dir zusammen zu machen«, sagte Win, »gehört zu diesen guten Dingen.«