Buch
Wayward Pines, Idaho, eine idyllische Kleinstadt mitten im Nichts. Hier soll Secret-Service-Agent Ethan Burke zwei Vermisste aufspüren. Doch als er nach einem Verkehrsunfall im Krankenhaus des Ortes wieder zu sich kommt, ist seine eigentliche Mission sein geringstes Problem: Sein Ausweis, sein Handy, all seine persönlichen Dinge sind verschwunden. Die Menschen um ihn herum verhalten sich zwar freundlich, aber auch irgendwie merkwürdig, und auf seine Fragen bekommt Ethan nur ausweichende Antworten. Als Ethan dann versucht, Wayward Pines zu verlassen, stößt er auf einen unüberwindbaren Zaun – und ein grauenvolles Geheimnis ...
Autor
Blake Crouch ist der Autor einiger höchst erfolgreicher Romane, darunter der internationale Bestseller »Dark Matter. Der Zeitenläufer« und die Wayward-Pines-Trilogie, die als TV-Serie verfilmt wurde. Blake Crouch lebt mit seiner Familie in Colorado.
Blake Crouch
Psychose
Ein Wayward-Pines-Thriller
Band 1
Aus dem amerikanischen Englisch
von Kerstin Fricke
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2012
unter dem Titel »Pines« bei Thomas & Mercer, Las Vegas.
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Textnachweis: Zitat aus Jurassic Park von Michael Crichton.
© 1990 by Michael Chrichton. © der deutschsprachigen Ausgabe 2007
by Goldmann Verlag, 2013 by Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
Taschenbuchausgabe Oktober 2019
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Deutsche Erstveröffentlichung bei AmazonCrossing, Luxembourg, März 2013
Copyright © 2012 der Originalausgabe by Blake Crouch
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Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: konradlew / Getty Images
An · Herstellung: kw
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN: 978-3-641-25322-6
V001
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Obwohl es Beweise dafür gibt,
dass die Evolution des Menschen weitergeht,
können Biologen nicht mit Gewissheit sagen,
wie sie verlaufen wird.
Time Magazine, 23. Februar 2009
Nur weil du paranoid bist,
heißt das noch lange nicht,
dass sie nicht hinter dir her sind.
Joseph Heller
Kapitel 1
Er erwachte auf dem Rücken. Das Sonnenlicht schien ihm ins Gesicht, und in der Nähe gluckerte Wasser. Sein Sehnerv schmerzte, und auch in seinem Hinterkopf pochte es heftig – das ferne Grollen einer sich ankündigenden Migräne. Er rollte sich auf die Seite und setzte sich auf, wobei er den Kopf zwischen die Knie klemmte. Noch bevor er die Augen aufschlug, wusste er, dass sich die Welt um ihn herum drehte, als wäre alles ins Wanken geraten. Sein erster Atemzug fühlte sich an, als hätte man ihm auf der linken Brustseite einen Stahlkeil zwischen die Rippen gerammt, und er knurrte ob der Schmerzen, zwang sich aber, die Augen zu öffnen. Sein linkes Auge musste heftig angeschwollen sein, da er nur durch einen schmalen Schlitz sehen konnte.
Das grünste Gras, das er je gesehen hatte, ein wahrer Wald aus langen, weichen Halmen, erstreckte sich bis zum Flussufer. Das Wasser war klar und floss rasch an den Steinen vorbei, die daraus hervorragten. Auf der anderen Seite des Flusses ragte eine Klippe etwa dreihundert Meter in den Himmel. Auf den Felsvorsprüngen wuchsen Pinien, und die Luft war erfüllt von ihrem Duft und der Süße des schnell fließenden Wassers.
Er trug eine schwarze Hose und ein schwarzes Jackett, darunter ein weißes Oberhemd, auf dem sich Blutflecken abzeichneten. Eine schwarze Krawatte hing locker um seinen Hals.
Als er das erste Mal versuchte aufzustehen, gaben seine Knie nach, und er setzte sich so heftig wieder auf den Boden, dass der Schmerz sengend durch seinen Brustkorb toste. Sein zweiter Versuch gelang, und er stand wacklig auf den Beinen, während er das Gefühl hatte, dass der Boden unter ihm schwankte. Langsam drehte er sich um, wobei er die Füße kaum vom Boden hob und weit auseinanderstellte, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.
Er hatte nun den Fluss im Rücken und stand am Rand eines großen Feldes. In der Ferne konnte er sehen, wie sich die intensive Mittagssonne auf den Schaukeln und Rutschen eines Spielplatzes spiegelte.
Es war keine Menschenseele in Sicht.
Auf der anderen Seite des Parks lagen viktorianische Häuser und noch etwas weiter weg einige Gebäude an einer Hauptstraße. Die Stadt schien sich etwa über eine Meile zu erstrecken und lag mitten in einem Amphitheater aus Stein, umgeben von hohen Steinwänden, die sich auf jeder Seite mehrere Hundert Meter nach oben erstreckten und aus rot gemasertem Felsen bestanden. Auf den höchsten Berggipfeln, die noch im Schatten lagen, ließen sich einige letzte Schneereste ausmachen, aber hier unten im Tal war es warm, und der Himmel über ihm war tiefblau und wolkenlos.
Der Mann sah in den Taschen seiner Hose und seines Einreihers nach.
Keine Brieftasche. Keine Schlüssel. Kein Handy.
Nur ein kleines Schweizer Taschenmesser in einer der Innentaschen.
* * *
Als er die andere Seite des Parks erreicht hatte, war er noch wachsamer und noch verwirrter, und die Schmerzen in seinen Halswirbeln wurden immer heftiger.
Er wusste sechs Dinge:
Den Namen des jetzigen Präsidenten.
Wie das Gesicht seiner Mutter aussah, auch wenn er sich nicht an den Namen oder gar den Klang ihrer Stimme erinnern konnte.
Dass er Klavier spielen konnte.
Und wusste, wie man einen Hubschrauber flog.
Dass er sechsunddreißig Jahre alt war.
Und dass er schleunigst in ein Krankenhaus musste.
Abgesehen von diesen Tatsachen waren ihm die Welt und dieser Ort gänzlich unbekannt. Er konnte spüren, dass die Wahrheit irgendwo am Rande seines Bewusstseins lauerte, doch sie blieb stets außerhalb seiner Reichweite.
Er ging eine ruhige Wohnstraße entlang und musterte jeden Wagen, an dem er vorbeikam. Gehörte ihm einer davon?
Die Häuser, die einander gegenüberstanden, waren makellos: Frisch gestrichen mit perfekten kleinen Rechtecken aus hellgrünem Gras davor, umrahmt von Palisadenzäunen, und der Name jeder Familie stand in weißen Großbuchstaben auf der Seite des jeweiligen schwarzen Briefkastens.
In fast jedem Garten sah er eine üppige Pflanzenpracht, die nicht nur aus Blumen, sondern auch aus Obst und Gemüse bestand.
Alle Farben waren so klar und lebhaft.
Auf Höhe des zweiten Blocks zuckte er zusammen. Er hatte aufgrund des anstrengenden Marsches tief Luft geholt und hatte so starke Schmerzen in seiner linken Seite, dass er stehen bleiben musste. Er zog sein Jackett aus und zog das Hemd aus der Hose, um es dann aufzuknöpfen und zu öffnen. Die Wunde sah sogar noch schlimmer aus, als sie sich anfühlte. Eine dunkle rot-blaue Quetschung zierte seine ganze linke Seite und war im Zentrum gelb angelaufen.
Da hatte ihn etwas getroffen, und zwar mit voller Wucht.
Er strich sich mit der Hand über den Kopf. Seine Kopfschmerzen wurden immer heftiger, aber außer der Wunde an seiner linken Seite schien er unverletzt zu sein.
Also knöpfte er sein Hemd wieder zu, steckte es in die Hose und wanderte weiter die Straße hinauf.
Der einzig logische Schluss war, dass er einen Unfall gehabt hatte.
Vielleicht mit einem Wagen. Oder er war gestürzt. Möglicherweise war er überfallen worden – das würde auch das Fehlen seiner Brieftasche erklären.
Er sollte als Erstes zur Polizei gehen.
Es sei denn …
Was war, wenn er etwas angestellt oder gar ein Verbrechen begangen hatte?
War das möglich?
Er beschloss, lieber zu warten, bis er sich an mehr erinnerte.
Allerdings kam ihm in dieser Stadt nichts vertraut vor, und das änderte sich auch nicht, als er die Straße entlangtaumelte und den Namen auf jedem Briefkasten las. War sein Unterbewusstsein schuld daran? Denn irgendwo in seinen Erinnerungen schien er zu wissen, dass auf einem dieser Briefkästen sein eigener Name stehen musste. Würde ihm alles wieder einfallen, sobald er ihn sah?
Die Gebäude der Innenstadt waren jenseits der Pinien einige Blöcke voraus zu sehen, und zum ersten Mal hörte er in der Ferne fahrende Autos, Stimmen und das Summen von Klimaanlagen.
Er blieb mitten auf der Straße wie erstarrt stehen und legte unabsichtlich den Kopf schief.
Der Briefkasten, den er anstarrte, gehörte zu einem rot-grünen zweistöckigen viktorianischen Haus.
Gebannt starrte er den Namen an.
Sein Herz begann zu rasen, auch wenn er den Grund dafür nicht kannte.
MACKENZIE
»Mackenzie.«
Der Name sagte ihm nichts.
»Mack …«
Die erste Silbe allerdings schon. Sie rief eine emotionale Reaktion hervor.
»Mack. Mack.«
War er Mack? War das sein Vorname?
»Mein Name ist Mack. Hi, ich bin Mack, freut mich, Sie kennenzulernen.«
Nein.
Der Name kam ihm irgendwie nicht locker genug von der Zunge. Er fühlte sich nicht so an, als ob er zu ihm gehören würde. Eigentlich hasste er dieses Wort sogar, denn es rief etwas in ihm hervor …
Angst.
Wie seltsam. Aus irgendeinem Grund machte ihm dieses Wort Angst.
Hatte ihm jemand namens Mack wehgetan?
Er ging weiter.
Nach drei weiteren Blocks war er an der Stelle, an der sich die Main Street und die Sixth Street kreuzten, und er setzte sich auf eine Bank in den Schatten, um vorsichtig Luft zu holen. Als er die Straße entlangblickte, hielt er verzweifelt nach etwas Ausschau, das ihm vertraut vorkam.
Er sah keine bekannte Ladenkette.
Schräg gegenüber seiner Bank befand sich eine Apotheke.
Daneben ein Café.
Neben dem Café ein dreistöckiges Gebäude, über dessen Veranda ein Schild baumelte:
WAYWARD PINES HOTEL
Der Duft der Kaffeebohnen lockte ihn von der Bank. Als er aufsah, entdeckte er einen halben Block entfernt ein Geschäft namens »Steaming Bean«, das die Ursache dafür zu sein schien.
Hm.
Das war nicht gerade die nützlichste Information, wenn man seine Situation betrachtete, aber es kam ihm so vor, als würde er gern guten Kaffee trinken. Sehr gern sogar. Ein weiteres Teil des Puzzles, das seine Identität darstellte, war gefunden.
Er ging zum Café und zog die Tür auf. Der Innenraum war klein und anheimelnd. Allein anhand des Geruchs war ihm klar, dass es hier guten Kaffee gab. Hinter einer Bar auf der rechten Seite standen Espressomaschinen, Kaffeemühlen, Standmixer und Flaschen mit Aromen. Drei Stühle waren besetzt. An die andere Wand hatte man einige Sofas und Sessel geschoben. Dahinter ein Bücherregal mit verblassten Taschenbüchern. Zwei Senioren beugten sich über ein Schachbrett mit zusammengewürfelten Figuren. An den Wänden hingen die Werke hiesiger Künstler: einige Selbstporträts in Schwarz-Weiß von einer Frau mittleren Alters, deren Gesichtsausdruck auf allen Fotos gleich war. Nur der Kamerafokus war verändert.
Er ging zur Kasse.
Als ihn die Mittzwanzigerin mit ihren blonden Dreadlocks endlich bemerkte, glaubte er, Panik in ihren hübschen Augen aufflackern zu sehen.
Kennt sie mich?
Doch dann sah er sein Spiegelbild im Spiegel hinter der Kasse und wusste, warum sie ihn so angeekelt angesehen hatte: Seine linke Gesichtshälfte war verfärbt und stark angeschwollen.
Mein Gott. Jemand hat mich übel verprügelt.
Abgesehen von der schlimmen Quetschung sah er gar nicht mal so schlecht aus. Er schätzte sich auf einen Meter zweiundachtzig bis vierundachtzig. Kurzes schwarzes Haar und ein Zweitagebart, der seine untere Gesichtshälfte wie ein Schatten bedeckte. Sein robuster, muskulöser Körperbau war allein daran zu erkennen, wie sein Jackett auf den Schultern saß und wie sich sein Hemd über der Brust spannte. Er fand, dass er aussah wie ein Marketing- oder Werbemensch, und schätzte, dass er rasiert und gewaschen eine ziemlich gute Figur abgeben musste.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte die Barista.
Er hätte für eine gute Tasse Kaffee sterben können, hatte aber kein Geld bei sich.
»Machen Sie hier guten Kaffee?«
Die Frage schien die Frau zu verwirren.
»Ähm, ja.«
»Den besten der Stadt?«
»Das ist das einzige Café der Stadt, aber ja, unser Kaffee ist wirklich gut.«
Der Mann beugte sich über den Tresen. »Kennen Sie mich?«, flüsterte er.
»Wie bitte?«
»Erkennen Sie mich wieder? Komme ich öfter her?«
»Sie wissen nicht, ob Sie schon mal hier gewesen sind?«
Er schüttelte den Kopf.
Sie musterte ihn einige Sekunden lang, als würde sie sich fragen, ob dieser Mann mit dem angeschlagenen Gesicht verrückt war, sie auf den Arm nehmen wollte oder ob er diese Frage ernst meinte.
»Ich glaube nicht, dass ich Sie hier schon mal gesehen habe«, meinte sie schließlich.
»Sie sind sich da ganz sicher?«
»Na ja, das hier ist ja nicht gerade New York City.«
»Da haben Sie recht. Arbeiten Sie schon lange hier?«
»Etwas über ein Jahr.«
»Und ich bin kein Stammkunde hier?«
»Sie sind definitiv kein Stammkunde.«
»Darf ich Sie noch etwas fragen?«
»Klar.«
»Wo sind wir?«
»Sie wissen nicht, wo Sie sich befinden?«
Er zögerte, und ein Teil von ihm wollte nicht zugeben, dass er sich wirklich so hilflos fühlte. Als er endlich den Kopf schüttelte, runzelte die Barista die Stirn, als könne sie ihm nicht glauben.
»Ich verarsche Sie nicht«, versicherte er ihr.
»Sie sind in Wayward Pines, Idaho. Ihr Gesicht … Was ist mit Ihnen passiert?«
»Ich … Ich weiß es noch nicht. Gibt es in der Stadt ein Krankenhaus?« Noch als er die Frage stellte, spürte er, wie ihn ein unheimliches Gefühl überkam.
Eine unterschwellige Warnung?
Oder etwas, das tief in seinem Unterbewusstsein vergraben war und ihm einen Schauer über den Rücken jagte?
»Ja, sieben Blocks von hier entfernt. Sie sollten sofort in die Notaufnahme gehen. Ich kann Ihnen einen Krankenwagen rufen.«
»Das ist nicht nötig.« Er entfernte sich langsam vom Tresen. »Danke … Wie heißen Sie?«
»Miranda.«
»Danke, Miranda.«
Als er wieder ins Sonnenlicht hinaustrat, wurde ihm schwindlig, und seine stärker werdenden Kopfschmerzen wurden immer unerträglicher. Die Straße war leer, daher ging er einfach hinüber auf die andere Seite und wanderte in Richtung Fifth Street. Er kam an einer jungen Mutter und ihrem kleinen Sohn vorbei, und der Junge flüsterte etwas, das klang wie: »Ist er das?«
Die Frau brachte ihren Sohn mit einem »Pst« zum Schweigen und sah den Mann entschuldigend an. »Tut mir leid, er wollte nicht unhöflich sein.«
An der Ecke der Fifth Street und Main Street stand ein zweistöckiges Gebäude aus rotem Sandstein, auf dessen Glastüren die Worte FIRST NATIONAL BANK OF WAYWARD PINES prangten. Neben dem Gebäude entdeckte er eine Telefonzelle an der Seitenstraße.
Er humpelte, so schnell er konnte, darauf zu und schloss die Tür hinter sich.
Das Telefonbuch war das dünnste, das er je gesehen hatte, und er blätterte in der Hoffnung auf irgendeinen Durchbruch darin herum, aber die mehreren Hundert Namen auf den acht Seiten sagten ihm ebenso wenig wie alles andere in dieser Stadt.
Er ließ das Telefonbuch fallen, sodass es an der Metallkordel herunterbaumelte, und lehnte die Stirn gegen das kalte Glas.
Dann stach ihm das Tastenfeld ins Auge.
Die Erkenntnis ließ ihn grinsen.
Ich kenne meine Festnetznummer.
Bevor er den Hörer abnahm, gab er die Nummer zur Sicherheit mehrmals ein, was ihm so routiniert gelang, als würden sich selbst seine Finger daran erinnern.
Er hatte vor, per R-Gespräch anzurufen, in der Hoffnung, dass jemand zu Hause war – falls er denn jemanden hatte. Natürlich konnte er seinen Namen nicht nennen, zumindest nicht seinen richtigen, aber vielleicht würden sie seine Stimme erkennen und den Anruf annehmen.
Er hob den Hörer ab und hielt ihn an sein Ohr.
Er streckte den Finger aus, um auf die Null zu drücken.
Kein Freizeichen.
Auch nach mehrmaligem Drücken der Telefongabel blieb die Leitung tot.
Es überraschte ihn, wie schnell ihn die Wut übermannte. Er rammte den Hörer auf die Gabel, und die Angst und der Zorn breiteten sich explosionsartig in ihm aus. Er riss den rechten Arm nach hinten, weil er vorhatte, das Glas damit einzuschlagen, Scheiß auf die Fingerknöchel, doch der Schmerz seiner demolierten Rippen war stärker als jede Entschlossenheit, und er brach auf dem Boden der Telefonzelle zusammen.
Das Pochen in seinem Kopf wurde immer heftiger.
Er sah doppelt, dann alles verschwommen, und schließlich wurde ihm schwarz vor Augen …
* * *
Die Telefonzelle stand im Schatten, als er wieder zu sich kam. Er hielt sich an der Metallkordel fest, an der das Telefonbuch hing, und rappelte sich wieder auf. Durch das schmutzige Glas konnte er erkennen, wie die obere Hälfte der Sonne gerade hinter den Klippen im Westen der Stadt verschwand.
In dem Moment, in dem sie untergegangen war, schien die Temperatur um zehn Grad abzufallen.
Er erinnerte sich noch immer an die Telefonnummer, die er zur Sicherheit noch ein paarmal wählte, dann nahm er erneut den Hörer ab, doch auch jetzt war da nichts als Stille, hin und wieder durchbrochen vom Knistern des weißen Rauschens, das seiner Meinung nach zuvor noch nicht da gewesen war.
»Hallo? Hallo?«
Er legte auf und nahm das Telefonbuch in die Hand. Beim letzten Mal hatte er sich nur die Nachnamen angesehen und nach einem Wort Ausschau gehalten, das eine Erinnerung hervorrief oder ein Gefühl erregte. Jetzt ging er die Vornamen durch, ließ seinen Finger über die Liste gleiten und versuchte, die Kopfschmerzen zu ignorieren, die immer heftiger wurden.
Auf der ersten Seite fand er nichts.
Auf der zweiten Seite auch nicht.
Ebenso wenig auf der dritten.
Im unteren Teil der sechsten Seite stockte sein Finger.
SKOZIE Mack und Jane
403 E 3rd St W Pines 83278 ……… 559-0196
Er überflog die letzten beiden Seiten. Skozie war der einzige Mack, der im Telefonbuch von Wayward Pines verzeichnet war.
Nachdem er die Tür mit der Schulter aufgedrückt hatte, verließ er die Telefonzelle. Da die Sonne hinter den Klippen verschwunden war, wurde der Himmel rasch dunkler, und es wurde kühler.
Wo soll ich heute Nacht schlafen?
Er torkelte den Gehweg entlang, und eine Stimme in seinem Inneren schien ihn anzuflehen, endlich ins Krankenhaus zu gehen. Er war krank. Dehydriert. Hungrig. Verwirrt. Mittellos. Sein ganzer Körper schmerzte. Und das Atmen fiel ihm immer schwerer, da ihm jedes Luftholen heftige Schmerzen bereitete.
Aber etwas in ihm wehrte sich gegen den Gedanken, sich ins Krankenhaus einliefern zu lassen, und während er sich von der Innenstadt entfernte und auf Mack Skozies Haus zuging, wurde ihm langsam klar, was das war.
Angst … wieder einmal.
Er wusste nicht, warum er Angst hatte. Es ergab keinen Sinn. Aber er wollte dieses Krankenhaus nicht betreten.
Nicht in seinem momentanen Zustand. Eigentlich nie.
Diese Angst kam ihm seltsam vor, weil sie so unbegründet wirkte. Wenn man nachts durch den Wald spazierte, wusste man genau, wovor man sich fürchten musste, und aufgrund dieses Mysteriums schien die Angst nur noch größer zu werden.
Zwei Blocks weiter nördlich bog er in die Third Street ab, und seine Brust zog sich unerklärlicherweise zusammen, als er den Bürgersteig in Richtung Osten weiterging und sich mehr und mehr von der Innenstadt entfernte.
Auf dem ersten Briefkasten, an dem er vorbeikam, stand die Zahl 201.
Er ging davon aus, dass das Haus der Skozies ganz in der Nähe sein musste.
Im Vorgarten des nächsten Hauses spielten Kinder und liefen abwechselnd durch den Wasserstrahl eines Rasensprengers. Er versuchte, aufrecht und ruhig an ihnen vorbeizugehen, was ihm aufgrund der Schmerzen in seinem Brustkorb nicht wirklich gelang.
Die Kinder wurden ruhiger, als er näher kam, und beobachteten ihn unverhohlen, wie er an ihnen vorbeischlurfte – in ihren Augen lag eine Mischung aus Neugier und Misstrauen, die ihm nicht gefiel.
Er überquerte eine weitere Straße und ging langsamer auf den nächsten Block zu, wobei er unter den Ästen von drei riesigen Pinien hindurchging, die bis auf die Straße ragten.
Die Zahlen an den farbenfrohen viktorianischen Häusern dieses Blocks begannen alle mit drei.
Der Block, in dem die Skozies wohnten, musste gleich kommen.
Er bekam feuchte Handflächen, und das Pochen in seinem Hinterkopf erinnerte ihn an einen Bass, der tief im Inneren der Erde dröhnte.
Zwei Sekunden lang sah er doppelt.
Er kniff die Augen zu, und als er sie wieder öffnete, konnte er wieder normal sehen.
An der nächsten Kreuzung blieb er stehen. Er hatte die ganze Zeit schon einen trockenen Mund gehabt, doch jetzt schien er staubtrocken zu sein. Auch das Atmen fiel ihm immer schwerer, und die Galle drohte in ihm aufzusteigen.
Alles wird einen Sinn ergeben, wenn du sein Gesicht siehst.
Es muss einfach so sein.
Vorsichtig machte er einen Schritt auf die Straße.
Inzwischen war es Abend geworden, und die Kühle, die von den Bergen herunterkam, breitete sich im Tal aus.
Das Alpenglühen hatte die Felsen rings um Wayward Pines rosa gefärbt, sodass sie sich fast dem dunkler werdenden Himmel anpassten. Er versuchte, dies wunderschön und bewegend zu finden, was ihm aufgrund der Schmerzen allerdings nicht gelang.
Ein älteres Paar, das Hand in Hand einen Abendspaziergang machte, entfernte sich langsam von ihm.
Ansonsten war die Straße leer und ruhig, und die Geräusche der Innenstadt waren verstummt.
Er ging über den glatten, schwarzen Asphalt und betrat den Bürgersteig.
Direkt vor ihm befand sich der Briefkasten mit der Nummer 401.
Nummer 403 konnte er bereits sehen.
Inzwischen musste er ständig die Augen zusammenkneifen, um nicht alles doppelt zu sehen, und die stechenden Schmerzen seiner Migräne wurden immer schlimmer.
Fünfzehn schmerzhafte Schritte später stand er neben dem schwarzen Briefkasten der Nummer 403.
SKOZIE
Kurz verlor er das Gleichgewicht und musste sich an den spitzen Enden des Lattenzauns festhalten.
Dann streckte er die Hand aus, entriegelte das Tor und schob es mit der Spitze seines abgestoßenen schwarzen Schuhs auf.
Die Scharniere quietschten, als es aufschwang.
Das Tor schlug leise gegen den Zaun.
Der Weg zum Haus bestand aus uralten Ziegelsteinen und führte zu einer überdachten Veranda, auf der zwei Schaukelstühle neben einem kleinen gusseisernen Tisch standen. Das Haus selbst war in Lila- und Grüntönen gestrichen, und hinter den dünnen Vorhängen konnte er Licht sehen.
Geh einfach weiter. Du musst es wissen.
Er taumelte auf das Haus zu.
Die Doppelbilder vor seinen Augen bewirkten, dass ihm immer übler wurde und er den Drang, sich zu übergeben, kaum noch bezwingen konnte.
Als er die Veranda betrat, konnte er sich gerade noch rechtzeitig am Türrahmen festhalten, um nicht umzufallen. Seine Hände zitterten unkontrolliert, als er nach dem Türklopfer griff und ihn von der Messingplatte hob.
Er gönnte sich nicht mal den Bruchteil einer Sekunde zum Nachdenken, sondern ließ den Türklopfer viermal herabsausen.
Es fühlte sich an, als würde ihm jemand gegen den Hinterkopf schlagen, und schwarze Flecken, die wie winzige Schwarze Löcher wirkten, kreisten vor seinen Augen.
Auf der anderen Seite der Tür konnte er hören, wie der Hartholzboden unter dem Gewicht einer sich nähernden Person knarzte.
Seine Knie schienen aus Wackelpudding zu bestehen.
Er legte die Arme um einen der Pfosten, die das Dach der Veranda stützten.
Die Holztür ging auf, und ein Mann, der vom Alter her sein Vater hätte sein können, starrte ihn durch das Fliegengitter an. Er war groß und dünn, hatte nur noch wenige graue Haare auf dem Kopf, einen weißen Spitzbart und mikroskopisch kleine rote Venen auf den Wangen, die andeuteten, dass er sein Leben lang viel getrunken hatte.
»Kann ich Ihnen helfen?«, erkundigte sich der Mann.
Er streckte sich und blinzelte heftig, um die Migräne zu ignorieren. Seine ganze Kraft ging schon dafür drauf, aufrecht stehen zu bleiben.
»Sind Sie Mack?« Er konnte die Angst in seiner Stimme hören und vermutete, dass es dem anderen ebenso ging.
Dafür hasste er sich.
Der ältere Mann beugte sich bis zum Fliegengitter vor, um den Fremden auf seiner Veranda in Augenschein zu nehmen.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Sind Sie Mack?«
»Ja.«
Er ging näher heran, sodass er den alten Mann besser erkennen und den süßen Geruch von Rotwein in seinem Atem riechen konnte.
»Kennen Sie mich?«, fragte er.
»Wie bitte?«
Jetzt drohte die Angst in Wut umzuschlagen.
»Kennen Sie mich? Haben Sie mir das angetan?«
»Ich habe Sie noch nie im Leben gesehen«, erklärte der alte Mann.
»Ist dem so?« Unwillkürlich ballte er die Hände zu Fäusten. »Gibt es in dieser Stadt noch einen anderen Mack?«
»Nicht dass ich wüsste.« Mack drückte die Fliegengittertür auf und machte einen Schritt auf die Veranda. »Sie sehen gar nicht gut aus, Kumpel.«
»Ich fühl mich auch nicht so gut.«
»Was ist mit Ihnen passiert?«
»Sagen Sie’s mir, Mack.«
Irgendwo im Inneren des Hauses war eine weibliche Stimme zu hören – »Schatz? Ist alles in Ordnung?«
»Ja, Jane, es ist alles gut.« Mack starrte ihn an. »Soll ich Sie nicht lieber ins Krankenhaus bringen? Sie sind verletzt und brauchen …«
»Mit Ihnen gehe ich nirgendwohin.«
»Was machen Sie dann vor meinem Haus?« Macks Stimme klang jetzt barscher. »Ich habe Ihnen gerade Hilfe angeboten. Wenn Sie die nicht wollen, soll mir das recht sein, aber …«
Mack sprach noch weiter, aber seine Worte schienen sich aufzulösen und in einem Dröhnen unterzugehen, das sich wie das Tosen eines Güterzugs von Ethans Magen aus in seinem ganzen Körper auszubreiten schien. Die Schwarzen Löcher vermehrten sich, und die Welt begann sich zu drehen. Er würde sich keine fünf Sekunden mehr auf den Beinen halten können, wenn sein Kopf nicht vorher schon explodierte.
Er sah Mack an, dessen Mund sich noch immer bewegte, während der Güterzug, dessen Rhythmus perfekt zum brutalen Pochen in seinem Kopf passte, immer lauter zu werden schien, und er konnte den Blick nicht von Macks Mund abwenden, den Zähnen des alten Mannes – seine Synapsen schienen durchzubrennen und keine Verbindung mehr herstellen zu können, und der Lärm, oh Gott, dieser Lärm, dieses Pochen …
Er spürte nicht mal mehr, wie seine Knie nachgaben.
Auch nicht, dass er nach hinten taumelte.
In einer Sekunde stand er noch auf der Veranda.
In der nächsten lag er auf dem Rasen.
Flach auf dem Rücken und alles drehte sich um ihn herum, nachdem er heftig mit dem Kopf aufgeschlagen war.
Mack stand jetzt über ihm, sah auf ihn herab, vorgebeugt mit den Händen auf den Knien, und seine Worte gingen im Lärm des Zuges, der durch seinen Kopf raste, unter.
Er war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren, er konnte es spüren, dass er nur noch wenige Sekunden hatte, und er sehnte sich danach, er wollte, dass der Schmerz aufhörte, aber …
Die Antworten.
Sie waren direkt vor ihm.
So nah.
Es ergab keinen Sinn, aber irgendetwas an Macks Mund faszinierte ihn. Die Zähne. Er musste sie einfach ansehen, und er wusste nicht mal, warum, aber sie lag direkt vor ihm.
Die Erklärung.
Antworten auf alles.
Und dann ging es ihm auf: Hör auf, dich dagegen zu wehren.
Hör auf, sie unbedingt zu wollen.
Hör auf zu denken.
Lass sie einfach kommen.
Die Zähne Zääähne ZähneZähneZähneZähneZääääääääähneeeee …
Das sind keine Zähne.
Das ist ein glänzender, polierter Kühlergrill, auf dem die Buchstaben
MACK
stehen.
Stallings, der Mann, der neben ihm auf dem Beifahrersitz sitzt, begreift nicht einmal, was geschieht.
Während der dreistündigen Fahrt von Boise in Richtung Norden ist offensichtlich geworden, dass Stallings sich gern reden hört, und das hat er dann auch die ganze Zeit getan: geredet. Eine Stunde zuvor hat er aufgehört, ihm zuzuhören, nachdem er gemerkt hatte, dass ein gelegentliches »So habe ich das noch gar nicht gesehen« oder »Hm, interessant« ausreicht, um ihn ansonsten komplett auszublenden.
Er hat gerade wieder eine dieser beiläufigen Bemerkungen gemacht, als er das Wort MACK nur wenige Meter von Stallings’ Fenster entfernt lesen kann.
Noch bevor er reagieren kann – er hat ja gerade mal das Wort lesen können – , zerspringt das Fenster neben Stallings’ Kopf in tausend Scherben.
Der Airbag bläst sich vor dem Lenkrad auf, allerdings eine Millisekunde zu spät, sodass er seinen Kopf verpasst, der so heftig gegen das Fenster schlägt, dass es zerbirst.
Die rechte Seite des Lincoln Town Car implodiert in einer Woge aus zerbrechendem Glas und zerfetztem Metall, und Stallings’ Kopf prallt direkt gegen den Kühlergrill des Trucks.
Er kann spüren, wie die Motorwärme des Trucks in den Wagen strömt.
Auf einmal stinkt es nach Benzin und Bremsflüssigkeit.
Überall ist Blut – es läuft innen an der Windschutzscheibe herunter, ist auf das Armaturenbrett gespritzt, läuft in seine Augen und bricht noch immer aus Stallings’ Überresten hervor.
Der Lincoln ist quer auf eine Kreuzung gerutscht und wird von dem Truck immer näher an dieses Sandsteingebäude herangeschoben, neben dem eine Telefonzelle steht. Dann verliert er das Bewusstsein.