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Elizabeth George: Gott schütze dieses Haus

Inhaltsverzeichnis

Buch
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
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1

Es war ein Fauxpas schlimmster Art. Er nieste der Frau mitten ins Gesicht, laut, naß, absolut unverzeihlich. Eine Dreiviertelstunde hatte er das Niesen zurückgehalten, dagegen gekämpft, als handle es sich um Henry Tudors Streitmacht bei der Schlacht von Bosworth. Bis er schließlich kapitulierte. Und nach vollbrachter Tat fing er zu allem Überfluß auch noch zu schniefen an.

Die Frau fixierte ihn. Sie war genau der Typ, in dessen Anwesenheit er unweigerlich zum stammelnden Idioten wurde, mindestens einen Meter achtzig groß, mit jener modischen Unbekümmertheit gekleidet, die für die britische upper class bezeichnend ist, alterslos und zeitlos. Sie fixierte ihn mit stahlblauem Blick, unter dem sich vor vierzig Jahren gewiß manches Zimmermädchen in Tränen aufgelöst hatte. Sie mußte weit über sechzig, vielleicht schon fast achtzig sein, aber es war schwer zu sagen. Sie saß kerzengerade, die Hände im Schoß gefaltet, mit der vorschriftsmäßigen Haltung der höheren Tochter, die sich nicht die kleinste der Bequemlichkeit förderliche Regung gestattet.

Und sie fixierte ihn. Erst seinen Priesterkragen, dann seine tropfende Nase.

Verzeihen Sie, Verehrteste. Ich bitte tausendmal um Verzeihung. Ein kleiner Fauxpas wie ein Niesen darf doch eine Freundschaft wie die unsere nicht zerstören. Er war immer so witzig, wenn er seine geistigen Dialoge führte. Nur wenn er laut sprach, kam er fürchterlich ins Schleudern.

Er schniefte wieder. Sie starrte ihn immer noch an. Wieso reiste sie überhaupt zweiter Klasse? Sie war in Doncaster ins Abteil gerauscht wie eine überalterte Salome, freilich zugeknöpfter gekleidet, und hatte dann die ganze Fahrt nichts anderes getan, als entweder von dem widerlich riechenden lauwarmen Kaffee der Britischen Eisenbahn zu nippen oder ihn in einer Art und Weise anzuschauen, welche die Mißbilligung der gesamten englischen Staatskirche zum Ausdruck brachte.

Und dann kam das Niesen. Tadellos korrektes Verhalten von Doncaster bis London hätte seine Zugehörigkeit zur römischkatholischen Kirche vielleicht entschuldigen können. Das Niesen jedoch trug ihm ewige Verdammnis ein.

»Ich – äh – das heißt – Sie müssen verzeihen...«

Es hatte keinen Sinn. Sein Taschentuch war tief in seiner Tasche vergraben. Um es herauszuziehen, hätte er den abgewetzten Aktenkoffer auf seinem Schoß loslassen müssen, und das war undenkbar. Es geht hier nicht um eine Verletzung der Etikette, Madam. Hier geht es um Mord! Bei diesem Gedanken schniefte er mit selbstgerechtem Nachdruck.

Die Frau nahm noch korrektere Haltung an; ihre Mißbilligung war nun nicht mehr zu übersehen. Ihr Blick sagte alles. Er spiegelte jeden ihrer Gedanken, und er konnte sie alle lesen: Ein jämmerlicher kleiner Mann. Erbärmlich. Zweifellos keinen Tag jünger als funfundsiebzig und sieht entsprechend aus. Aber was kann man von solchen Leuten schon erwarten? Drei Schnitte im Gesicht von der schlechten Rasur und im Mundwinkel noch ein Krümel vom Frühstückstoast; abgetragener schwarzer Anzug, an Ellbogen und Manschetten ausgebessert; und der Schlapphut voller Staub. Und dieser gräßliche Koffer auf seinem Schoß! Er hielt ihn die ganze Zeit fest, so als wäre sie nur mit der Absicht in den Zug gestiegen, ihn ihm zu entreißen. Guter Gott!

Die Frau seufzte und wandte sich ab, als suche sie Erlösung. Aber die blieb ihr versagt. Seine Nase tropfte weiter, bis das Langsamerwerden des Zuges endlich das nahe Ende ihrer gemeinsamen Fahrt ankündigte.

Im Aufstehen strafte sie ihn mit einem letzten Blick. »Endlich begreife ich, was die Katholiken meinen, wenn sie vom Fegefeuer sprechen«, zischte sie und rauschte hinaus.

»Ach du meine Güte«, murmelte Pater Hart. »Ach du meine Güte, ich habe anscheinend tatsächlich...«

Aber sie war schon weg. Der Zug hatte unter dem gewölbten Dach des Londoner Bahnhofs angehalten. Nun war es an der Zeit, den Auftrag zu erledigen, der ihn in die Stadt geführt hatte.

Er hielt noch einmal Umschau, um sich zu vergewissern, daß er alle seine Sachen beisammen hatte; völlig überflüssige Gewissenhaftigkeit, da er aus Yorkshire nichts mitgenommen hatte als den Aktenkoffer, den er bisher nicht aus der Hand gegeben hatte. Mit zusammengekniffenen Augen schaute er durch das Fenster in die riesige Halle des King’s-Cross-Bahnhofs hinaus.

Er hatte eher etwas wie den Victoria-Bahnhof erwartet mit seinen gemütlichen alten Backsteinmauern, seinen Verkaufskiosken und Straßenmusikanten, die der Polizei immer eine Nasenlänge voraus waren. Aber King’s Cross war ganz anders: große Flächen gefliesten Bodens, marktschreierische Reklametafeln, die von der Decke herabhingen, Bücherstände, Kioske mit Süßigkeiten, Hamburgerbuden. Und die vielen Leute! Viel mehr, als er erwartet hatte. In langen Schlangen standen sie vor den Schalterfenstern, rannten, rasch noch einen Imbiß hinunterschlingend, zu ihren Zügen, redeten, lachten, umarmten sich abschiednehmend. Menschen jeder Rasse und Hautfarbe. Wie ungewohnt! Der Lärm und das Durcheinander verwirrten ihn.

»Wollen Sie aussteigen, Pater, oder haben Sie vor, hier zu nächtigen?«

Verdutzt blickte Pater Hart in das rotwangige Gesicht des Schaffners, der ihm am Morgen bei der Abfahrt des Zuges aus York bei der Suche nach seinem Platz geholfen hatte. Es war ein freundliches nordenglisches Bauerngesicht, vom Wind der Hochmoore mit einem Netzwerk feiner geplatzter Äderchen gezeichnet.

»Wie? Ich – O ja... Ich muß raus.« Pater Hart machte entschlossene Anstrengungen, sich von seinem Platz zu erheben. »Ich war seit Jahren nicht mehr in London«, fügte er hinzu, als könne diese Bemerkung sein Widerstreben, den Zug zu verlassen, erklären.

Der Schaffner nahm sie als Aufforderung zum Gespräch.

»Kommen Sie, ich helfe Ihnen«, sagte er. »Haben Sie Ihren Koffer?«

»Ich – ja, ja, ich hab’ ihn.«

Pater Hart ignorierte die hilfreich dargebotene Hand des Mannes. Schon spürte er den Schweiß an den Händen und unter den Achseln, in den Lenden und in den Kniekehlen und fragte sich, wie er diesen Tag überstehen sollte.

»Gut, dann raus auf den Bahnsteig.«

Pater Hart spürte den neugierigen Blick des Schaffners, der von seinem Gesicht zum Aktenkoffer glitt. Er hielt den Griff des Köfferchens fester. In der Hoffnung, dadurch entschlossener zu wirken, spannte er seinen Körper an, bekam aber nur einen äußerst schmerzhaften Krampf im linken Fuß. Er stöhnte vor Schmerz.

Der Schaffner war besorgt. »Sie sollten vielleicht besser nicht allein reisen. Brauchen Sie wirklich keine Hilfe?«

Doch, natürlich brauchte er Hilfe. Aber es konnte ihm keiner helfen. Er konnte sich nicht einmal selbst helfen.

»Nein, nein. Ich bin gleich draußen. Sie waren sehr freundlich. Heute morgen mit meinem Sitzplatz, meine ich. In der ersten Verwirrung.«

Der Schaffner winkte ab.

»Machen Sie sich da nichts draus. Viele Leute wissen nicht, daß mit den Karten auch Plätze reserviert sind. Ist ja alles glattgegangen, nicht?«

»Ja. Ich denke doch...«

Pater Hart holte in aller Eile tief Luft. Den Gang entlang, zur Tür hinaus, zur Untergrundbahn, befahl er sich. Das mußte doch zu schaffen sein. Er schlurfte zur Wagentür. Der Koffer, den er mit beiden Händen in Bauchhöhe hielt, schlug ihm bei jedem Schritt gegen die Schenkel.

»Moment, Pater«, sagte der Schaffner hinter ihm. »Die Tür geht ein bißchen schwer. Lassen Sie mich das machen.«

Er ließ den Mann in dem engen Gang an sich vorbei. Schon drängten zur hinteren Tür zwei mißmutige Männer vom Reinigungspersonal herein, mit Müllsäcken über den Schultern, um den Zug für die Rückfahrt nach York in Schuß zu bringen. Es waren zwei Pakistanis, und obwohl sie englisch sprachen, konnte Pater Hart infolge ihres exotischen Akzents kein Wort verstehen.

Er erschrak, als ihm das bewußt wurde. Was tat er hier in der Hauptstadt, wo die Einwohner Ausländer waren, die ihn mit dunklen, feindseligen Augen und fremdartigen Gesichtern ansahen? Was hoffte, er denn zu erreichen? Was war das für eine Torheit? Wer würde glauben –

»Brauchen Sie Hilfe, Pater?«

Endlich fand Pater Hart eine entschlossene Antwort.

»Nein. Es geht gut. Sehr gut.«

Er schaffte es die Stufen hinunter, spürte den Beton des Bahnsteigs unter seinen Füßen, hörte das Gurren der Tauben hoch oben unter dem gewölbten Dach der Bahnhofshalle. Zerstreut machte er sich auf den Weg den Bahnsteig entlang zum Ausgang Euston Road.

Hinter sich hörte er wieder den Schaffner.

»Werden Sie abgeholt? Wissen Sie, wohin Sie müssen? Wohin wollen Sie denn jetzt?«

Pater Hart straffte die Schultern.

»Zu Scotland Yard«, antwortete er mit fester Stimme.

 

Der St.-Pancras-Bahnhof gleich auf der anderen Straßenseite bildete einen so eklatanten Gegensatz zum King’s-Cross-Bahnhof, daß Pater Hart einfach stehenbleiben mußte, um den Bau in seiner ganzen neugotischen Großartigkeit zu bestaunen. Straßenlärm und Abgasgestank waren mit einem Mal bedeutungslos. Architektur interessierte ihn, und hier hatte sie die tollsten Blüten getrieben.

»Herr im Himmel, ist das eine Pracht«, murmelte er, den Kopf nach rückwärts geneigt, um die Gipfel und Schluchten des Bahnhofsgebäudes besser betrachten zu können. »Wenn man das Ding ein bißchen säubern würde, wäre es der reinste Palast.« Er schaute sich abwesend um, so als wollte er den nächsten Passanten anhalten, um ihm einen Vortrag über die üblen Auswirkungen jahrzehntelanger Kohleheizung auf das alte Gebäude zu halten. »Es würde mich wirklich interessieren, wer –«

Ein Polizeifahrzeug raste plötzlich mit heulender Sirene die Caledonian Road hinunter und bog mit quietschenden Reifen in die Euston Road ein. Mit einem Schlag befand sich Pater Hart wieder in der Wirklichkeit. Er schüttelte sich innerlich, zum Teil aus Irritation, zum größeren Teil jedoch aus Furcht. Seine Gedanken gingen jetzt immer häufiger auf Wanderschaft. Und das signalisierte doch das Ende, nicht wahr? Er schluckte einen quälenden Kloß der Angst hinunter und bemühte sich wieder um Entschlossenheit. Sein Blick fiel auf den schwarzen Balken der Schlagzeile der Morgenzeitung. Neugierig trat er näher. »Neuer Mord am Vauxhall-Bahnhof!«

Mord! Er schreckte vor dem Wort zurück, sah sich um und gönnte sich einen Blick auf den Bericht, überflog ihn hastig, aus Sorge, genauere Lektüre könnte ein Interesse am Makabren verraten, das einem Geistlichen schlecht anstand. Wörter, nicht Sätze fing sein Blick ein. »... aufgeschlitzt ... teilweise entkleidete Leichen ... Arterien ... durchtrennt ... männliche Opfer ...«

Er schauderte, faßte sich an den Hals, seiner eigenen Verletzlichkeit bewußt. Selbst ein Priesterkragen war kein sicherer Schutz vor dem Messer eines Mörders. Es würde suchen. Es würde zustechen.

Diese Vorstellung wirkte vernichtend auf ihn. Er wich leicht taumelnd vor dem Zeitungsstand zurück und erblickte zum Glück keine zehn Meter entfernt das U-Bahn-Schild. Es half seinem Gedächtnis wieder auf die Beine.

Er kramte einen Plan der öffentlichen Verkehrsverbindungen aus seiner Tasche und studierte mit peinlicher Genauigkeit das zerknitterte Blatt Papier. Die Circle Line bis St. James’s Park, sagte er sich vor. Dann noch einmal mit Nachdruck: »Die Circle Line bis St. James’s Park. Die Circle Line bis St. James’s Park.«

Wie einen gregorianischen Gesang leierte er diesen Satz vor sich hin, während er die Treppe hinunterstieg. Er hielt Metrum und Rhythmus bis zum Schalter und stellte seinen Singsang erst ein, als er im Zug Platz genommen hatte. Dort musterte er die anderen Fahrgäste, stellte fest, daß zwei alte Damen ihn mit unverhohlener Neugier beobachteten, und neigte verzeihungheischend den Kopf.

»Verwirrend«, erklärte er und versuchte es mit einem zaghaft freundschaftlichen Lächeln. »Man kommt so durcheinander.«

»Wirklich die unmöglichsten Typen, sag’ ich dir, Pammy«, bemerkte die jüngere der beiden Frauen zu ihrer Begleiterin. Sie warf dem Geistlichen einen routinierten Blick eisiger Verachtung zu. »Und jede Maske ist ihnen recht, hab’ ich gehört.« Die wäßrigen Augen unverwandt auf den verwirrten Pater Hart gerichtet, zog sie ihre Freundin vom Sitz hoch, hielt sich an dem Pfosten bei der Tür fest und drängte sie an der nächsten Haltestelle laut zum Aussteigen.

Pater Hart sah ihnen resigniert nach. Man kann es ihnen nicht verübeln, dachte er. Man durfte nicht blind vertrauen. Niemals. Und das zu sagen, war er nach London gekommen: daß es nicht die Wahrheit war. Es sah nur wie die Wahrheit aus. Ein Toter, ein junges Mädchen und ein blutiges Beil. Aber es war nicht die Wahrheit. Er mußte sie überzeugen und ... Ach Gott, er hatte so wenig Talent für so etwas. Aber Gott war auf seiner Seite. An diesen Gedanken klammerte er sich. Was ich tue, ist recht, was ich tue, ist recht, was ich tue, ist recht. Dieser neue Singsang führte ihn direkt vor die Tore von New Scotland Yard.

 

»Es sollte mich wundern, wenn uns da nicht wieder eine Konfrontation zwischen Kerridge und Nies blühte«, schloß Superintendent Malcolm Webberly und zündete sich eine dicke Zigarre an, von der augenblicklich unangenehme Qualmwolken in die Luft stiegen.

»Mensch, Malcolm, mach wenigstens das Fenster auf, wenn du das Ding schon rauchen mußt«, sagte Chief Superintendent Sir David Hillier. Er war Webberlys Vorgesetzter, aber er ließ seinen Leuten in der Führung ihrer jeweiligen Abteilungen weitgehend freie Hand. Ihm selbst wäre es nicht im Traum eingefallen, kurz vor einem dienstlichen Gespräch einen derartigen Angriff auf Geruchs- und Atmungsorgane zu starten, aber Malcolm hatte seine eigenen Methoden, und die hatten sich bisher noch nie als untauglich erwiesen. Er rückte seinen Sessel herum, um dem schlimmsten Qualm zu entgehen, und ließ sein Auge über das Durcheinander im Büro schweifen.

Hillier fragte sich oft, wie Malcolm es mit seiner Neigung zum Chaos schaffte, seine Abteilung so effizient zu führen. Akten und Fotografien, Berichte und Bücher stapelten sich auf sämtlichen verfügbaren glatten Flächen. Leere Kaffeetassen standen neben überquellenden Aschenbechern, und ganz oben auf dem Regal lag sogar ein Paar uralter Laufschuhe. Das Zimmer verbreitete, genau wie es Malcolms Absicht war, die Atmosphäre einer Studentenbude: vollgestopft, locker und im Geruch ein wenig muffig. Nur das ungemachte Bett fehlte. Es war eine Atmosphäre, die ungezwungenes Beisammensein und offenen Gedankenaustausch förderte, Kameradschaft unter Männern gedeihen ließ, die im Team zusammenarbeiten mußten. Ein Menschenkenner, unser Malcolm, dachte Hillier. Weit klüger, als man vermutete, wenn man diesen ganz durchschnittlich wirkenden, fülligen Mann mit den runden Schultern sah.

Webberly hievte sich aus dem Schreibtischsessel und hantierte kurz mit dem Fensterriegel, ehe es ihm gelang, ihn zu öffnen.

»Tut mir leid, David. Das vergess’ ich jedesmal.« Er setzte sich wieder, betrachtete düster den Wust von Papieren vor sich und sagte: »Das hat mir jetzt gerade noch gefehlt.« Er fuhr sich mit einer Hand durch das schüttere Haar, das, früher rotblond, jetzt fast ganz ergraut war.

»Schwierigkeiten zu Hause?« fragte Hillier vorsichtig und hielt den Blick angelegentlich auf seinen goldenen Siegelring geheftet.

Die Frage war für beide problematisch; er und Webberly waren mit zwei Schwestern verheiratet, doch im Yard wußte das kaum jemand, und die beiden Männer bezogen sich in Gesprächen selten darauf.

Ihre Beziehung beruhte auf einer jener Launen des Schicksals, durch die zwei Menschen sich manchmal auf eine Weise miteinander verstrickt sehen, die im allgemeinen besser unbesprochen bleibt. Hilliers berufliche Laufbahn war ein Spiegel seiner Ehe. Seine Karriere war erfolgreich, seine Ehe glücklich, beide füllten ihn aus. Seine Frau war ihm die ideale Partnerin: geistige Freundin, liebevolle Mutter, hinreißende Geliebte. Er gab gern zu, daß sie der Mittelpunkt seines Lebens war; seine drei Kinder brachten Freude und Abwechslung in sein Leben, aber wirkliche Bedeutung hatte nur Laura für ihn. Ihr galt morgens sein erster Gedanke und abends sein letzter, zu ihr trug er praktisch alle Bedürfnisse seines Lebens. Und sie erfüllte jedes.

Bei Webberly war es anders: eine Laufbahn so glanzlos und unauffällig wie der Mann selbst, keine Blitzkarriere, sondern ein schleppender Aufstieg, zwar von verschiedenen Erfolgen begleitet, für die Webberly jedoch selten Lorbeeren einheimste. Er war einfach nicht der diplomatische Taktiker, der er hätte sein müssen, um im Yard Erfolg zu haben. Daher winkte auch kein Adelstitel am beruflichen Horizont, und das war die Belastung, unter der die Ehe der Webberlys litt.

Die Eifersucht darüber, daß ihre Schwester Lady Hillier war, fraß Frances Webberly fast auf. Aus der schüchternen, aber zufriedenen kleinen Hausfrau war darüber eine verbissene Streberin nach gesellschaftlichem Aufstieg geworden. Abendessen, Cocktailpartys, langweilige Einladungen und Empfänge, die sie sich kaum leisten konnten, wurden für Leute veranstaltet, die sie persönlich nicht interessierten, die aber nach Frances’ Auffassung den Aufstieg ihres Mannes zur Creme der Gesellschaft dokumentierten. Zu all diesen Veranstaltungen kamen die Hilliers getreulich; Laura aus besorgter Loyalität zu einer Schwester, mit der keine liebende Beziehung mehr möglich war; Hillier, um Webberly, so gut er konnte, vor den grausamen Bemerkungen in Schutz zu nehmen, die Frances in der Öffentlichkeit häufig über die glanzlose Karriere ihres Mannes zu machen pflegte. Lady Macbeth in Reinkultur, dachte Hillier oft schaudernd.

»Nein, das ist es nicht«, antwortete Webberly jetzt. »Ich glaubte nur, ich hätte das mit Nies und Kerridge vor Jahren endgültig geregelt. Mir graut bei dem Gedanken, daß da jetzt wieder ein Zusammenstoß ins Haus steht.«

Wie typisch für Malcolm, dachte Hillier, die Verantwortung für die Fehler anderer zu übernehmen.

»Worum ging es gleich bei ihrer letzten Fehde?« fragte er. »Das war eine Sache in Yorkshire, nicht wahr? Mit Zigeunern, die in einen Mord verwickelt waren?«

Webberly nickte. »Nies leitet die Dienststelle Richmond.« Er seufzte tief und vergaß einen Moment lang, den Rauch seiner Zigarre zum Fenster hin zu blasen. Hillier unterdrückte mit Mühe ein Hüsteln. Webberly lockerte seine Krawatte und fingerte zerstreut an dem abgewetzten Kragen seines weißen Hemdes herum. »Da oben wurde vor drei Jahren eine alte Zigeunerin umgebracht. Nies führt ein strenges Regiment. Seine Leute arbeiten äußerst gewissenhaft und sind genau bis ins kleinste Detail. Sie ermittelten und nahmen schließlich den Schwiegersohn der Alten fest. Allem Anschein nach hatte es Streit über eine Halskette aus Granat gegeben, von der jeder behauptete, daß sie ihm gehöre.«

»Eine Granatkette? War sie gestohlen?«

Webberly schüttelte den Kopf und klopfte die Asche seiner Zigarre am Aschenbecher auf seinem Schreibtisch ab. Aschepartikel früherer Zigarren flogen auf und setzten sich wie Staub auf Akten und Papiere.

»Nein. Die Kette war ihnen von Edmund Hanston-Smith geschenkt worden.«

Hillier beugte sich vor.

»Hanston-Smith?«

»Ja. Du erinnerst dich jetzt, nicht wahr? Aber der Fall kam erst nach dieser ganzen Sache. Der Mann, der wegen des Mordes an der Alten festgenommen wurde – ich glaube, er hieß Romaniv –, hatte eine Ehefrau. Ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt und sehr schön – dunkel und exotisch.«

»Für einen Mann wie Hanston-Smith zweifellos sehr verführerisch.«

»Richtig. Sie konnte ihn davon überzeugen, daß Romaniv unschuldig sei. Es dauerte ein paar Wochen – Romaniv war noch nicht vors Schwurgericht gekommen. Sie beredete Hanston-Smith, den Fall neu aufzurollen. Sie schwor, sie würden nur verfolgt, weil sie Sinti seien; Romaniv wäre in der fraglichen Nacht mit ihr zusammengewesen.«

»Und ihr Charme hat es ihm wahrscheinlich leichtgemacht, das zu glauben.«

Webberlys Mund zuckte. Er drückte seine Zigarre im Aschenbecher aus und faltete die sommersprossigen Hände auf dem Bauch, so daß sie den Fleck auf seiner Weste verdeckten.

»Der späteren Aussage von Hanston-Smiths Diener zufolge hatte die gute Mrs. Romaniv keine Mühe, selbst einen Mann von zweiundsechzig eine ganze Nacht lang beschäftigt zu halten. Du wirst dich erinnern, daß Hanston-Smith beträchtlichen politischen Einfluß besaß und nicht gerade ein armer Schlucker war. Es fiel ihm nicht schwer, die Polizei von Yorkshire zu überzeugen, daß sie in diesem Fall eingreifen müsse. Die Folge war, daß Rubin Kerridge – er ist trotz allem, was geschah, immer noch der Chief Constable von Yorkshire – Nies befahl, die Ermittlungen neu aufzunehmen. Und um allem die Krone aufzusetzen, gab er auch noch Anweisung, Romaniv freizulassen.«

»Und wie reagierte Nies?«

»Nun, Kerridge war schließlich sein Vorgesetzter. Was hätte er tun können? Er war zwar außer sich vor Wut, aber er ließ Romaniv frei und wies seine Leute an, die Ermittlungen wiederaufzunehmen.«

»Romanivs Entlassung wird zwar die Ehefrau glücklich gemacht, Hanston-Smiths nächtlichen Freuden aber wohl ein vorzeitiges Ende gesetzt haben«, meinte Hillier.

»Nun, Mrs. Romaniv fühlte sich natürlich verpflichtet, Hanston-Smith auf die Weise zu danken, an die er sich so sehr gewöhnt hatte. Sie schlief ein letztes Mal mit ihm – hielt den armen Kerl bis in die frühen Morgenstunden auf Trab, wenn die Geschichte stimmt, die ich gehört habe –, dann ließ sie Romaniv ins Haus.«

Webberly verstummte und blickte auf, als draußen an die Tür geklopft wurde.

»Das blutige Ende ist aktenkundig. Das feine Paar ermordete Hanston-Smith, klaute alles, was es tragen konnte, floh nach Scarborough und war noch vor Morgengrauen außer Landes.«

»Und Nies’ Reaktion?«

»Er verlangte Kerridges sofortigen Rücktritt.«

Wieder klopfte es. Webberly ignorierte es.

»Den erreichte er allerdings nicht. Aber seitdem lechzt er danach wie ein Verdurstender in der Wüste.«

»Und jetzt bekommen wir es also wieder mit den beiden zu tun.«

Ein drittes Mal klopfte es, nachdrücklicher diesmal. Auf Webberlys »Herein« trat Bertie Edwards ein, Leiter der forensischen Abteilung, geschäftig wie immer, in der Hand seine Agenda, auf der er sich Notizen machte, während er gleichzeitig sprach. Edwards hatte zu seiner Agenda eine so innige Beziehung wie die meisten Männer zu ihren Sekretärinnen.

»Schwere Kontusion an der rechten Schläfe«, verkündete er vergnügt, »gefolgt von einem Riß der Halsschlagader. Keine Papiere, kein Geld, ausgezogen bis auf die Unterwäsche. Das ist eindeutig der Bahnhofskiller.« Mit einer schwungvollen Handbewegung vollendete er seine Aufzeichnungen.

Hillier betrachtete den kleinen Mann mit heftigem Widerwillen. »Herrgott noch mal, diese Gruselnamen, die sich die Presse immer ausdenkt!«

»Ist das der Tote vom Waterloo-Bahnhof?« fragte Webberly.

Edwards sah Hillier an. Man merkte ihm deutlich an, wie er überlegte, ob er sich mit ihm auf eine Diskussion darüber einlassen sollte, daß man unbekannten Mördern einen Schauernamen gab, um so die Öffentlichkeit aufzurütteln. Dann aber wischte er sich, als wollte er diesen Gedanken auslöschen, mit dem Ärmel seines Laborkittels über die Stirn und wandte sich seinem unmittelbaren Vorgesetzten zu.

»Ja, Waterloo.« Er nickte. »Nummer elf. Dabei sind wir noch nicht mal mit Vauxhall ganz fertig. Beide der gleiche Typ wie die bisherigen Opfer des Killers. Penner oder Stadtstreicher. Abgebrochene Nägel. Verdreckt. Ungepflegtes Haar. Verlaust. Nur der Tote vom King’s-Cross-Bahnhof fällt völlig aus dem Rahmen. Da gibt’s immer noch keine Anhaltspunkte. Keine Papiere. Und bis jetzt auch noch keine entsprechende Meldung beim Vermißtendezernat. Mir völlig schleierhaft.« Er kratzte sich mit dem Ende seines Füllers am Kopf. »Wollen Sie die Waterloo-Aufnahme? Ich hab’ sie mitgebracht.«

Webberly deutete zur Wand, wo bereits die Fotografien der zwölf letzten Ermordeten aufgehängt waren, die alle auf die gleiche Weise in oder nahe bei einem Londoner Bahnhof getötet worden waren. Dreizehn Morde jetzt in knapp mehr als fünf Wochen. Die Presse forderte erbittert eine Verhaftung. Als ließe ihn das völlig kalt, kramte Edwards, leise vor sich hin pfeifend, auf Webberlys Schreibtisch nach einer Reißzwecke. Dann trug er das letzte Opfer zur Wand.

»Keine üble Aufnahme.« Er trat zurück, um sein Werk zu bewundern. »Den haben wir ganz gut zusammengeflickt.«

»Hören Sie auf, Mann!« rief Hillier explosiv. »Da kann einem ja das kalte Grausen kommen. Sie könnten wenigstens Ihren schmutzigen Kittel ausziehen, wenn Sie hierherkommen. Haben Sie denn überhaupt kein Feingefühl? Hier oben arbeiten auch Frauen!«

Edwards trug geduldige Aufmerksamkeit zur Schau, doch sein Blick glitt über Hillier hin und blieb einen Moment an dem fleischigen Hals haften, der in Falten über dem Kragen hing, und dann an dem buschigen Haar, das Hillier gern als Löwenmähne bezeichnete. Er zuckte die Achseln und warf Webberly dabei einen verständnisinnigen Blick zu. »Ein echter Gentleman«, bemerkte er, ehe er aus dem Zimmer ging.

»Schmeiß ihn raus!« brüllte Hillier, als sich die Tür hinter dem Pathologen schloß.

Webberly lachte. »Trink einen Sherry, David«, sagte er. »Er steht im Schrank hinter dir. Wir alle sollten eigentlich an einem Samstag wie heute gar nicht hiersein.«

 

Zwei Sherrys beschwichtigten Hilliers Zorn über Bertie Edwards beträchtlich. Er stand vor Webberlys Schauwand und betrachtete verdrießlich die dreizehn Fotografien.

»Eine verdammte Sauerei ist das«, bemerkte er grimmig. »Victoria, Kring’s Cross, Waterloo, Liverpool, Blackfriars, Paddington. Verdammt noch mal, warum nicht wenigstens dem Alphabet nach?«

»Verrückten fehlt häufig die organisatorische Ader«, meinte Webberly gelassen.

»Fünf der Opfer haben nicht einmal Namen«, klagte Hillier.

»Papiere, Geld und Kleider werden den Opfern jedesmal abgenommen. Wenn keine Vermißtenmeldung vorliegt, versuchen wir’s zunächst mit den Fingerabdrücken. Du weißt, wie lange so was dauert, David. Wir tun unser Bestes.«

Hillier drehte sich um. Ja, das wußte er mit Sicherheit, daß Malcolm immer sein Bestes tat und still im Hintergrund blieb, wenn der Lorbeer verteilt wurde.

»Entschuldige. Ich war wohl unwirsch?«

»Ein bißchen.«

»Wie üblich. Also, um noch mal auf den neuesten Zusammenstoß zwischen Nies und Kerridge zurückzukommen – worum geht’s da eigentlich?«

Webberly sah auf seine Uhr.

»Wieder mal um einen Mord in Yorkshire. Sie schicken uns jemanden mit den Informationen. Einen Priester.«

»Einen Priester? Lieber Gott, was ist das denn für ein Fall?«

Webberly zuckte die Achseln. »Offenbar ist er der einzige, auf den sich Nies und Kerridge als Überbringer der Informationen einigen konnten.«

»Und wie kommt das?«

»Soviel ich weiß, hat er die Leiche gefunden.«