Text zum Buch

Ein kleiner Junge wird entführt – und alle Ermittlungen laufen ins Leere. Vier Jahre später wird sein Skelett im Wald gefunden. Polizeimeisterin Sanela Beara muss dem Vater die schlimme Nachricht überbringen. Doch die Begegnung mit dem gut aussehenden Darko, der in den Wäldern Brandenburgs als Wolfsforscher arbeitet, löst Zweifel in ihr aus: War es wirklich eine Entführung? Oder wurde der Junge aus einfachen Verhältnissen etwa verwechselt? Alle Beteiligten schweigen eisern. Für Sanela gibt es nur eine Chance, Licht ins Dunkel zu bringen: Sie schleust sich undercover in die Villa der schwerreichen Familie Reinartz ein, bei der die Mutter des ermordeten Jungen damals gearbeitet hat – und wird hineingezogen in einen Strudel aus Hass, Gier und Verachtung, der sie selbst an ihre äußerste Grenze treibt …

Elisabeth Herrmann

Der Schneegänger

Kriminalroman

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Originalausgabe


1. Auflage
Copyright © der Originalausgabe Januar 2015
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Uno Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: Dragan Todorovic; Paulo Dias/Trevillion Images
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-15506-3
V003

www.goldmann-verlag.de

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Für Shirin,
meine wunderbare Tochter!

Prolog

Ich finde dich. Verlass dich drauf, ich finde dich.

Darko trieb den Pick-up immer tiefer in den Wald. Die Schlaglöcher auf dem holprigen Weg ließen das Scheinwerferlicht über das Dickicht tanzen. Er warf einen Blick in den Rückspiegel – dunkle, umschattete Augen, gehetzter Blick –, der Motor heulte auf, als die Reifen eine morastige Senke durchpflügten. Wütende Verzweiflung ließ ihn viel zu schnell von der Kupplung gehen, der Wagen machte einen Sprung, der Motor ging aus. Hastig drehte er den Zündschlüssel, legte den ersten Gang ein und wollte weiterfahren. Die Reifen drehten durch, eine Schlammfontäne spritzte auf. Der Pick-up saß fest. Er schlug mit beiden Händen aufs Lenkrad. Alles ging schief, die Zeit lief ihm davon.

Darko stieg aus und zwang sich, ruhig zu bleiben. Kein Grund zur Panik. Er würde zu Fuß weitergehen. Den Wagen hätte er sowieso bald stehen lassen müssen. Er wollte sich anschleichen, den Überraschungsmoment ausnutzen, aber die Zeit wurde knapp. Vielleicht war er nicht schnell genug. Warum jetzt? Verdammt! Warum ausgerechnet jetzt und nicht ein, zwei Kilometer weiter?

Egal wo du bist, ich finde dich.

Er holte sein Handy aus der Tasche seiner Jacke und schaltete es ein. Eine Karte erschien und auf ihr der kleine, pulsierende Punkt. Sein Wegweiser. Der geheime Sender. Er verriet ihm alles. Jede Bewegung, jedes Ziel. Darko hatte geglaubt, mit diesem Sender die totale Kontrolle zu haben. Nun stand er nachts mitten im Wald und musste mit ansehen, wie sie ihm entglitt. Aber es war noch nicht zu spät. Er schaltete die Lichter des Pick-ups aus.

Tiefe samtene Dunkelheit hüllte ihn ein. Er schloss die Augen und wartete darauf, dass die letzten Reflexe auf seinen Pupillen verschwanden. Dass er eins wurde mit der Nacht. Dass er ruhig wurde. Ein Jäger. Fokussiert auf nichts anderes als seine Beute, diesen winzigen glühenden Punkt auf der Landkarte. Das war seine Aufgabe in dieser Nacht, die einzige, die jetzt noch zählte. Er atmete tief durch.

Er roch Laub und feuchte Erde. Alten Farn und frisch geschlagenes Holz.

Bis vor kurzem war es noch warm gewesen. Ein später Altweibersommer, der morgens aus dem Frühnebel stieg und die Steine über Mittag aufheizte, versonnen wie das Lächeln eines alten Mannes, dem der Wind ein paar Takte eines längst vergessenen Liedes zuwehte. Doch seit einigen Tagen war das vorbei, der Wind hatte sich gedreht und kam nun aus dem Osten. Es hatte geregnet, kein sanfter Landregen, sondern eisige, fast wütende Schauer, und nasse gelbe Blätter fielen von den Bäumen, als ob sie sich den letzten Rest des goldenen Oktobers aus den Ästen schütteln wollten. Der Himmel war den ganzen Tag bedeckt gewesen, sodass sich sofort nach Einbruch der Dunkelheit tiefe Nacht über die dünn besiedelte Landschaft gelegt hatte. Nacht, schwarz wie Kohle. Nacht, dicht wie die Einsamkeit, in der er lebte. Nacht, die schwarze Kathedrale, in der man das Rauschen des eigenen Blutes nicht mehr unterscheiden konnte von dem der dichten Wälder.

Nacht, in der er nichts lieber getan hätte, als allein vor seinem Laptop zu sitzen, zufrieden damit, einen Punkt auf der Landkarte zu sehen und nichts anderes zu tun, als ihn zu beobachten … bis sich die Ereignisse überschlagen hatten.

Nun stand er da, das Gewehr in der Hand, spürte sich, sein Fieber, seine Angst, seine Begierde vom Scheitel bis zur Sohle. Er war bereit. Die Jagd konnte beginnen.

Ein leiser, kalter Wind kam auf. Er kroch unter die Plane auf der Ladefläche und hob sie an. Darko vermied es, den Körper anzusehen. Das Blut, das in die Ritzen des Blechs geronnen war, trocknete bereits. Er zwang sich, noch einmal zurückzugehen und die Plane festzuzurren. Vielleicht kam jemand vorbei und wunderte sich über das verlassene Auto auf einem Waldweg. Wunderte sich, was der Wagen geladen hatte, war neugierig, wollte nachsehen … Egal. Er musste das Risiko eingehen.

Keine Zeit. Später.

Er lief los, hinein in die Dunkelheit. Trockene Zweige knackten unter seinen Sohlen. Die Geräusche schienen sich zu vervielfachen, eilten ihm voraus, waren Warnung und Ankündigung zugleich. Er versuchte leiser zu sein, langsamer zu werden. Je tiefer er in den Wald eindrang, desto mehr übertrug sich die Stille auf ihn, ließ ihn ruhiger werden. Er dachte an den toten Körper auf der Ladefläche, und der Zorn loderte in ihm auf. Er dachte an den kleinen grünen Punkt auf der Landkarte, und ein heiserer Schrei der Ohnmacht saß in seiner Kehle, den er nur mühsam unterdrücken konnte. Er dachte an seinen Sohn und an das, was er vorhatte, und für einen Moment glaubte er, seine Füße wollten ihn nicht mehr tragen.

Er wusste, was er tun musste.

Töten … töten, was man liebt.

Die Last des Gewehrs schien zentnerschwer. Darko blieb stehen und musste sich an einem Baum abstützen. Der Wind trieb die Wolken vor sich her, und für einen kurzen Moment schimmerte silbernes Mondlicht durch die kahlen Äste. Wie viel Schuld trug er selbst? Alle. Er war unterwegs, um die Unschuld zu töten.

Ich habe dich großgezogen. Ich habe dich ins Leben begleitet. Es wird so sein, als würde ich mir mein eigenes Herz aus dem Leib schneiden. Es tut mir leid. Entsetzlich leid.

Er sah das Blut an seinen Händen. So viel Tod in einer Nacht. Der raschelnde Wald um ihn herum war das Bühnenbild zu einer Tragödie. Als er sein Telefon noch einmal herausholte, zitterten seine Hände.

Es gibt keine andere Lösung. Vertrau mir. Es wird schnell gehen. Du wirst es gar nicht merken. So oft haben wir uns hier getroffen. Du wirst kommen, mich sehen, und in der Kürze eines Atemzugs wird alles vorbei sein. Frag nicht, warum es so ist. Ich kann dich nicht weiterleben lassen, nicht in dieser Welt. Frag die Welt, nicht mich …

Sie waren nur noch fünfhundert Meter Luftlinie voneinander entfernt.

Er streifte das Gewehr ab und überprüfte den Bolzen. Die Lichtung lag direkt vor ihm. Wenn er daran dachte, wie oft er hier schon mit seinem Sohn gewesen war … aus, aus, vorbei. Nicht daran denken. Das war Vergangenheit.

Er wartete. Es war das Vertrauen, das sein Gegenüber auf die Lichtung locken würde. So oft hatten sie dieses Spiel gespielt. Er kniff die Augen zusammen. Ein Schatten löste sich aus der Dunkelheit. Er spürte, wie ihm eine Träne übers Gesicht lief. Der Körper unter der Plane. Das Blut an seinen Händen. Sein Sohn, der ihm vertraute. Graue Augen in der Nacht, die zu ihm herübersahen und ihn erkannten. Er legte an. Er spannte den Hahn. Er schoss.

Vier Jahre später

1

Die Kälte erwürgte die Stadt.

Verlassen die Boulevards, klirrend die Einsamkeit über den Straßen und Plätzen. Die Schneeberge am Rand der Bürgersteige waren nur mühsam zu erklimmen. Es war noch dunkel, der Schein der Straßenlaterne erhellte kaum die Kreuzung und schon gar nicht die vereisten Spurrillen, in denen die Autos herumschlingerten wie in schlecht ausgehobenen Gleisbetten. Kriminalhauptkommissar Lutz Gehring rutschte mehrfach aus und hielt sich mühsam balancierend an seinem Wagendach fest, um auf die Fahrerseite zu gelangen. Wie viel Restalkohol hatte er wohl noch im Blut? Seine Mordkommission war in Bereitschaft. Er als ihr Leiter hätte um 05:30 Uhr morgens fit und ausgeschlafen den neuen Unbekanntfall übernehmen sollen.

Stattdessen glitt ihm auch noch der Autoschlüssel aus den klammen Fingern. Die Fahrertür bekam er erst im dritten Anlauf und mit ziemlicher Kraftanstrengung auf. Die Dichtung dankte es ihm mit einem unheilvoll reißenden Geräusch, das an das Öffnen eines Klettverschlusses erinnerte. Endlich hatte er sich hinter das Lenkrad gezwängt, behindert von der dicken Winterkleidung, startete den Motor und lenkte die eiskalte Heizungsluft auf die zugefrorenen Scheiben. Er hoffte, dass ihn niemand bei diesem umweltpolitischen Frevel beobachtete. Sein Handy klingelte. Mühsam wühlte er in der Tasche seines Wintermantels, bis er es gefunden, einmal in den Fußraum fallen gelassen und endlich am Ohr hatte.

»Ja?«, bellte er.

»Ich bin’s.« Die glockenhelle Stimme von Angelika Rohwe klang exakt so, wie er sich eigentlich fühlen sollte.

Seit der Weihnachtsfeier vor sechs Wochen meldete sie sich nicht mehr mit ihrem Namen, wenn sie bei ihm anrief. Ein weiteres Indiz dafür, dass er an jenem Abend eine Grenze überschritten hatte. Sie hatten das Vereinsheim eines Schützenverbandes am Müggelsee gemietet. Es hatte von Anfang an kein guter Stern über diesem Abend gestanden, zumindest nicht für ihn. Die rustikale Enge, eine weit jenseits von Geschmacksdiskussionen liegende Musikauswahl und die Aussicht, in seine halb leere Wohnung mit halb eingepackten Weihnachtsgeschenken zurückzukehren, hatten ihn unvorsichtig werden lassen. Ein trunkener Gang über den Parkplatz weit nach Mitternacht, einer den anderen stützend, ihr keckes Lächeln, als sie seinen Wagen als Erste erreicht hatte, der flüchtige Abschiedskuss, der sich zu einer veritablen Knutscherei ausdehnte, blonde Haare, blaue Augen, Sommersprossen, sogar die Größe kam hin. Beim Aufwachen hatte er sie mit Susanne angesprochen, und bis heute hoffte er inständig, dass sie den Ausrutscher überhört hatte. Er hatte eine Entschuldigung gestammelt und war überstürzt aus ihrer Wohnung geflohen. In stillschweigender Übereinkunft hatten sie diese Nacht nie wieder angesprochen. Doch seitdem meldete Angelika sich mit »Ich bin’s«, und Gehring wusste nicht, wie er sie dazu bringen konnte, das bleibenzulassen. Er wollte sie nicht verletzen, redete er sich seine Feigheit schön.

»Ich muss sowieso über Köpenick. Soll ich dich mitnehmen?«

Gehring erinnerte sich nicht daran, Angelika gegenüber jemals erwähnt zu haben, wo er wohnte.

»Danke. Ich bin schon im Wagen. Bis gleich.«

Er legte auf und sah in den Rückspiegel. Ihm blickte das entgegen, was er im Stillen sein Montag-alle-zwei-Wochen-Gesicht nannte. Das, was von ihm übrig blieb, wenn er die Kinder am Sonntag bei seiner Ex und ihrem Neuen abgeliefert hatte und den Rest des Abends nicht in einer Wohnung verbringen wollte, in der benutzte Müslischalen und zerwühlte Betten Zeugnis ablegten von dem, was im Allgemeinen Umgangsrecht genannt wurde.

Auf seiner rechten Wange klebte noch ein winziges, blutdurchtränktes Stück Toilettenpapier. Nassrasur. Mit steifen Fingern pflückte er es ab.

Im Eis der Scheibe erschien ein dunkles Loch mit verblassenden Rändern. Die Wetterlage versprach als einzigen Trost Beständigkeit: Das Tief lag wie ein Gletscher auf der Polkappe. Es rückte nicht von der Stelle und hielt die Stadt in seinem Klammergriff. Vielleicht ging es noch Wochen so weiter. Gehring schaltete das Licht ein und versuchte, seinen Wagen aus der Parkbucht herauszuzwingen. Nach mehreren Anläufen mit aufheulendem Motor gelang es ihm schließlich. Im Schritttempo fuhr er aus der Wohnstraße auf die breitere, gestreute Köpenicker Landstraße.

Skelettfund im Grunewald. Am anderen Ende der Stadt. Er berechnete die Fahrtzeit mit circa vierzig Minuten und versuchte sich an die mageren Fakten zu erinnern, die man ihm durchgegeben hatte. Schutzpolizei und Kriminaldauerdienst waren schon vor Ort, die Rechtsmedizin und der Tatortfotograf informiert. Vier seiner acht Mitarbeiter befanden sich ebenfalls auf dem Weg Richtung Schildhorn. Um diese Uhrzeit war es besser, das Treffen gleich am Fundort auszumachen. Es würde eine Menge los sein im verschneiten Wald. Er hatte die Pressestelle gebeten, die Meldung so lange zurückzuhalten, bis er sich persönlich ein Bild gemacht hatte. Als sein Navigationsgerät ihn von der Heerstraße auf die Havelchaussee leitete, konnte er am Himmel bereits das fahle Licht der Morgendämmerung erahnen. Im Auto war es warm, und er spürte einen überwältigenden Unwillen bei dem Gedanken, es bald wieder verlassen zu müssen.

Eine Straßensperre. Wütende, graugesichtige Pendler, die auf der engen Fahrbahn wendeten. Blaulicht. Gehring zeigte seinen Ausweis und wurde durchgelassen. Er sah eine Polizistin mit Thermoskanne auf dem Weg zu dem blausilbernen Kleinbus, in dem ein verstörter Mann mit einem Hund saß. Vermutlich der Revierförster. Er parkte ein paar Meter weiter. Erst wollte er an den Fundort. Zwei Kollegen, die Kommissare Manteuffel und Kramer, unterbrachen ihre Unterhaltung und kamen auf ihn zu. Die Begrüßung fiel wohltuend kurz aus. Angelika war noch nicht eingetroffen. Sie beschlossen, nicht zu warten, sondern gleich einem der Männer vom KDD ins Dickicht zu folgen.

Der Wald musste eine majestätische Ruhe ausstrahlen, wenn sie nicht gerade durch die anlaufende Operation einer Mordermittlung gestört wurde. Tiefe Spuren im verharschten Schnee zeugten von regem Wildwechsel. Hasen, Rehe, Wildschweine … Gehring hätte vielleicht die Fährte eines Fuchses von den Abdrücken einer Krähe unterscheiden können, doch zu mehr reichte sein Wissen über die heimische Fauna nicht. Es war so gottverdammt kalt. Glücklicherweise hatte er daran gedacht, zwei Paar Socken und eine lange Unterhose anzuziehen, aber selbst diese Ausstattung reichte nicht. Er spürte, wie seine Wangen taub wurden und die Nasenhaare beim Luftholen knisternd zusammenfroren – es roch nach brennendem Frost, trockenem Schnee und bleichem Licht. Diese Kälte tötete alles, sogar die Gerüche.

Manteuffel, groß, kräftig, auf jeden Fall von der Kondition her besser für diesen ungewöhnlichen Ausflug geeignet als sein schwächelnder Vorgesetzter, fasste zusammen, was bis jetzt bekannt war. Seine sonst dröhnende Stimme klang gedämpft, fast so, als ob sie eine Kirche betreten hätten. Für einen Moment hatte Gehring das Gefühl, in Feindesland einzudringen. Dabei war es nur ein Winterwald. Doch in diesem fahlen Zwielicht kurz vor Morgengrauen wirkte die Umgebung wie eine andere Welt jenseits der großen Stadt. Ehrfurchtgebietend. Einschüchternd. Heilig.

Um 05:22 Uhr hatte der Revierförster Egon Schramm (was um Himmels willen trieb selbst einen Revierförster um diese Uhrzeit an einem Februarmorgen vor die Tür?) einen Notruf abgesetzt. Sein Hund war laut bellend in den Wald gestürmt. Er musste irgendetwas Außergewöhnliches gewittert haben – vermutlich einen Zwölfender, juxte Kramer und lachte. Jedem seiner Witze schickte er ein trockenes Lachen hinterher, als ob er dem dünnen Flachs, den er spann, selbst nicht ganz traute. Kramer war ein zäher, magerer Mann Ende dreißig, der seine frühe Halbglatze damit begründete, dass seine fünf Kinder ihm die Haare vom Kopf fräßen. Fünf Kinder. Als er in Gehrings Team gekommen war, hatte Kramer gleich den ersten seiner brüllend komischen Witze nachgeschoben: Ja, er habe auch noch andere Hobbys.

Egon Schramm, fuhr Manteuffel ungerührt und mäßig erheitert fort, war seinem Hund gefolgt. Quer hinein ins verschneite Dickicht, bis er in einer Senke mit der Ursache des Gebells konfrontiert wurde: einem halb ausgegrabenen menschlichen Schädel.

»Tierfraß?« Gehring hatte das Gefühl, dass sogar seine Kiefer eingefroren wären.

»Haussmann ist schon da«, antwortete Manteuffel mit einem vagen Schulterzucken. Es bedeutete, dass er genauso wenig wusste wie der Leiter seiner Truppe. »Der Boden ist zwanzig, dreißig Zentimeter tief gefroren. Ein Glück, denn es waren wohl schon Tiere dran. Viel können sie im Moment noch nicht sagen, nur dass jemand die Leiche vergraben hat.«

Gehring nickte und stapfte weiter. Damit war die Möglichkeit eines Unfalls oder Suizids ausgeschlossen. Er hätte die Kollegen gerne gefragt, wie lange sie noch durch den Schnee stiefeln mussten, aber er wollte nicht dastehen wie ein Weichei. Die Polizisten an der Straße hatten wattierte Jacken an, Mützen mit Ohrenschützern, dicke Handschuhe und Stiefel, um die er sie trotz der plumpen Hässlichkeit glühend beneidete.

»Da vorne.«

Der Kollege vom KDD blieb so abrupt stehen, dass Gehring fast in ihn hineingelaufen wäre. Schnee stäubte wie Puderzucker von den dürren Zweigen. Mehrere Superlites erhellten die Szene. Hinter Baumstämmen tauchten ab und zu geisterhafte Gestalten in Weiß auf, die Spurensicherung durchkämmte den weiteren Umkreis. Eine Kamera klickte, der Fotograf nickte den Neuankömmlingen kurz zu und machte ihnen Platz. Gehrings Blick wurde vom Mittelpunkt der Szene angezogen, der Plastikplane, die um eine Senke gespannt war. Zwei unförmige Männer in weißen Overalls saßen in der Hocke nebeneinander und begutachteten das, was der Schäferhund kurz zuvor vor den Augen seines verstörten Herrchens schwanzwedelnd ausgescharrt hatte: einen skelettierten Schädel. Einer der Kollegen ließ gerade ein Maßband ins Gehäuse zurückschnurren.

»Guten Morgen.« Gehring nickte zwei weiteren Uniformierten zu.

Zähneklappernd traten sie von einem Fuß auf den anderen und wünschten sich wahrscheinlich nichts sehnlicher, als zurück auf der Wache zu sein. Einer der beiden Männer in der Senke stand auf und drehte sich um. Gehring erkannte Professor Haussmann erst jetzt – in dem prall sitzenden Overall sah der hochgewachsene, schlanke Rechtsmediziner aus wie ein Michelin-Männchen.

»Herr Gehring.« Haussmanns helle Augen, fast unerträglich wach, leuchteten auf. Er hob den Arm zu einem kurzen Gruß, weil er die Handschuhe nicht ausziehen wollte. »Kommen Sie, kommen Sie.«

Manteuffel und Kramer wechselten einen kurzen Blick. Ihnen war nicht entgangen, dass der Rechtsmediziner sich ausschließlich an ihren Chef gewandt hatte.

Der zweite Mann in der Senke richtete sich nun ebenfalls auf und war … eine Frau: Dörte Kapelnik von der Spurensicherung. Die tief ins Gesicht gezogene Wollmütze reichte ihr fast bis an die weiße Nasenspitze, und auch ihre Gestalt hatte durch die Schutzkleidung eine unförmige Kompaktheit bekommen. Kleine haselnussbraune Augen musterten ihn nicht ganz so wohlwollend wie Haussmann. Das mochte an der Kälte liegen oder daran, dass er sie gestört hatte, oder vielleicht auch an dem, was sie gerade entdeckt hatten. Ihr Gesicht war vom Frost gerötet. Gehring bemerkte aus den Augenwinkeln, dass sowohl der Folienkoffer als auch der »Chemiebaukasten« noch geschlossen waren. Ein sicheres Zeichen dafür, dass sie entweder noch gar nicht richtig angefangen hatten oder es im Moment nicht viel zu bergen gab. Die Asservatentüten sahen ebenfalls relativ übersichtlich aus. Vielleicht würden sie mit Generatoren und Heizgebläsen anrücken müssen oder gleich mit Schneidfräsen, um einen Block aus der tiefgefrorenen Erde zu schneiden.

»Skelettierte Leiche eines schätzungsweise acht- bis zehnjährigen Kindes. Ein Junge. Er war einen halben Meter tief vergraben. Tierspuren, vermutlich Füchse. Obere Erdschicht aufgewühlt und zum Teil abgetragen. Der strenge Frost hat eine weitere Offenlegung verhindert.«

Haussmann sah kurz zu der Senke, Gehring folgte seinem Blick. Schnee, gesprenkelt mit Laub und Erde, mehr nicht. Aber die Superlites blendeten, und Gehrings Augen tränten plötzlich, weshalb er sich mit dem Handrücken darüberwischen musste.

»Der Förster wartet im Bus an der Straße. Wenn Sie hier fertig sind, würden wir mit der Bergung beginnen.«

In Gehrings Magen rumorte es. Manteuffel und Kramer kamen näher. Der Kommissar spürte, dass sich gerade etwas veränderte. Da unten lag ein Kind. Erst jetzt erkannte er einzelne Teile des Skeletts, die aus der Erde ragten. Brustkorb, Becken, Oberschenkel, zum Teil bedeckt von Kleidungsfetzen.

»Wie … Also, können Sie mir Näheres über die Todesumstände sagen?«

Kapelnik, etwas kleiner als Gehring und trotz ihrer einengenden Kleidung wesentlich gewandter, nickte. Haussmann trat einen Schritt zur Seite, um dem Kriminalhauptkommissar den Vortritt zu lassen. Die Frau mit dem ernsten Gesicht steckte mit ziemlicher Mühe eine Nummerntafel neben den Schädel, in dem hinter dem Schläfenbein ein zwei Zentimeter großes Loch klaffte.

»Umschriebener lochartiger Bruch, nach erstem Dafürhalten vital, nicht postmortal«, erklärte Haussmann. »Ich vermute so etwas wie ein Baumarkthammer.«

»Keine Bisse? Verletzungen durch Tiere?«, murmelte Gehring.

Die letzte absurde Hoffnung auf etwas anderes als Mord verflog. Was hatte er denn geglaubt? Dass jemand den Grunewald mit einem Friedhof verwechselt hatte? Er ging in die Knie. Haussmann und Kapelnik hatten vorsichtig begonnen, das Skelett freizulegen. Ein Teil befand sich immer noch unter der krümeligen, gefrorenen Erde.

»Post mortem, ja. Einige Kratzer an der Schädeldecke, vermutlich Füchse. Wir haben schon Fotos von den Spuren ringsherum gemacht. Die meisten stammen wohl vom Schäferhund des Försters.« Kapelnik war eine der Erfahrensten und Ruhigsten unter den Kollegen. Umso erstaunter war Gehring, dass ihre Stimme leicht zitterte. »Für mich sieht das nicht nach dem Tatort aus.«

»Warum nicht?«, fragte er und blickte sich um.

Die Straße war nah genug, um nach vollbrachter Tat schnell zu fliehen, die Senke bot zu allen Jahreszeiten genügend Schutz vor neugierigen Blicken. Wer brachte ein Kind im Wald um? Was hatte der Täter ihm zuvor angetan? Er wappnete sich, diesen Gedanken weiterzuverfolgen. Aber nicht jetzt. Jetzt war es wichtig, sich alles einzuprägen. Die Lage des Skeletts. Die Umgebung. Das Gefühl beim Betreten des Leichenfundortes. Fass es in ein Wort. Der Letzte, der dieses Kind lebend gesehen hat, ist sein Mörder. Hier liegt das Zeugnis seiner Tat. Und wir sind die Ersten, die den Ort dieses schrecklichen Geheimnisses wieder betreten. Dies ist der Moment, in dem wir einander so nah sind wie nie. Der Mörder und die Jäger. Was hast du zurückgelassen? Was hast du gefühlt, als du dich zum letzten Mal umgedreht und in diese Senke geblickt hast?

Kälte, schoss es ihm durch den Kopf. Eine entsetzliche, bittere Kälte. Sie schien ihm wie ein Menetekel der Tat.

Kapelnik nahm einen Pinsel und strich vorsichtig über das Schläfenbein des Schädels. »Er liegt auf dem Rücken. Mit dieser schrecklichen Wunde im Kopf. Er ist nicht gefallen. Er wurde hier hineingeworfen.«

Gehring hörte einen leisen, unterdrückten Seufzer von Haussmann. Der Rechtsmediziner hatte ihm einmal anvertraut, dass ihn trotz aller Routine getötete Kinder immer noch aus der Fassung brachten.

»Natürlich kann der Täter das Opfer auch gezwungen haben, sein eigenes Grab zu schaufeln.« Haussmann zog das Maßband zwanzig Zentimeter aus seinem Gehäuse und ließ es zurückschnalzen.

Bei dem Geräusch zuckte Gehring zusammen. Haussmann und Kapelnik fiel es gar nicht mehr auf.

»Wann?«, fragte Gehring. Bei Kapelnik war es die Stimme, bei Haussmann der Atem, bei ihm der Magen. Er hätte wenigstens eine Kleinigkeit frühstücken sollen. Nein, besser nicht.

Haussmann zog die Schultern hoch. Zumindest versuchte er es. »Unter den üblichen Vorbehalten und wenn wir davon ausgehen, dass der Junge die ganze Zeit über hier gelegen hat, nehmen Sie eine Zeitspanne von nicht unter drei Jahren.«

Wie viele Jungen in dem Alter blieben so lange vermisst? Nicht viele. Natürlich konnte es auch ein nicht gemeldetes Kind sein, eines, das offiziell nie in die Bundesrepublik eingereist war.

»Was ist das?« Gehring deutete auf einen Stoffrest, dunkelblau, mit einem etwas heller schimmernden kleinen Emblem.

»Ein Pullover. Pullover, Jeans, Stiefel.« Aus der Erde ragte der Schaft eines braunen Lederboots. »Keine Jacke. Bis jetzt nicht. Aber wir haben ja noch gar nicht richtig angefangen.«

Der Stiefel war aus echtem, robustem Leder, gefüttert mit etwas, das wie Kunstfell aussah. Das Kind war nicht im Hochsommer gestorben. Der Pullover schien aus dicker, wärmender Wolle gestrickt zu sein. Gehring kannte das Emblem. Es gehörte zu einer angesagten amerikanischen Sportmodefirma, die ihre Massenware einzig und allein durch den Preis exklusiv machte. Solche Kleidung trug kein Flüchtlingskind. Der Junge war nach bundesrepublikanischen Maßstäben leicht überdurchschnittlich gut gekleidet. Eine Ahnung breitete sich in ihm aus.

Aber Haussmann war noch nicht fertig. Er deutete mit seinem Pinsel auf das Gebiss des kleinen Schädels. »Sehen Sie das?«

Gehring beugte sich vor, schüttelte dann den Kopf.

»Die Zähne. Erkennen Sie den Farbunterschied? In der Pathologie kann ich es Ihnen genauer zeigen. Der Junge hat eine Klebebrücke getragen.«

Die beiden oberen Schneidezähne sahen heller aus als der Rest. Während Witterungseinflüsse und Erosion den Zahnschmelz des natürlichen Gebisses angegriffen hatten, strahlten diese beiden Zähne in einem fast unnatürlichen Weiß.

»Man setzt eine solche Brücke ein, wenn das Kieferwachstum noch nicht abgeschlossen ist. Später wird sie meist durch Implantate ersetzt. Der Junge hat die oberen Schneidezähne verloren, und zwar nach der Diphyodontie.«

»Der … was?«

»Dem Zahnwechsel. Er hat seine bleibenden zweiten Schneidezähne verloren. Ich vermute, durch einen Unfall, denn sein Gebiss sieht ansonsten einwandfrei aus.«

Gehring nickte. Einwandfrei hätte er in diesem Fall nicht gesagt. Er wandte den Blick ab von der schwarzen Erde und den Geweberesten rund um das, was einmal ein fröhlicher, lachender Mund gewesen war.

»Vielleicht können Sie ihn so schneller identifizieren.« Haussmann stand auf und gab damit das Zeichen, dass er jetzt gerne weiterarbeiten würde.

Gehring kam nur mit Mühe auf die Beine. Er war fit, trainiert. Warum nur hatte er dann das Gefühl, an diesem schändlichen kleinen Grab keine Kräfte mehr zu haben?

Dörte Kapelnik schenkte ihm ein, wie sie wohl glaubte, aufmunterndes Lächeln. Es wirkte in ihrem frostroten Gesicht wie eine Maske. »Sie haben Kaffee im Wagen.«

»Danke.«

Er drehte sich um und stapfte zurück zu seinen Kollegen.

Bevor er den Mund öffnete, holte er tief Luft. Der Frost brannte in seiner Lunge. »Wahrscheinlich ein Junge. Etwa neun Jahre alt. Seit mindestens drei Jahren tot.« Dabei sah er Manteuffel an, weil Kramer noch nicht so lange bei ihnen war.

Der bullige Polizist verzog keine Miene. »Abwarten«, brummte er.

Gehring nickte. Doch er hatte in Manteuffels Augen etwas aufblitzen sehen. Eine Erinnerung. Einen Zusammenhang. Eine Erkenntnis.

Wenn man seinen Beteuerungen glauben wollte, kannte Egon Schramm selbst den letzten Eichelhäher noch mit Namen. Kriminalkommissarin Angelika Rohwe, mittlerweile eingetroffen, war bei ihm und zog die Schiebetür des Vans hinter Gehring wieder zu. Sie schenkte ihrem Chef ein strahlendes, frisch gewaschenes Lächeln, das er mit einem knappen Nicken beantwortete. Wie immer seit Weihnachten, wenn sie beide in einem Raum waren, meinte Gehring, eine leise Anspannung zu spüren. Er bat den Revierförster, sich in seinen Ausführungen nicht stören zu lassen und fortzufahren.

»Dann hat meine Rita angeschlagen. Ich sag noch, bei Fuß, aber sie war die ganze Zeit schon so nervös. Das liegt an den Wölfen, die ja jetzt wieder überall rumstreunen dürfen. In so einem Winter kommen sie bis an die Stadtgrenze.« Grimmig verzog er das Gesicht und wartete darauf, dass man ihm zustimmte. »Irgendwas war da. Meine Rita spurt sonst wie eine Eins. Aber heute …«

Schramm trank schlürfend den letzten Schluck Kaffee. Er hatte die ganze Thermoskanne geleert, was Gehring ihm übel nahm. Ansonsten schien er ein korrekter Forstbeamter zu sein, in Loden, gewalkter Wolle und eingefetteten Stiefeln unterwegs, Ende fünfzig, von der Kraft und Statur eines Mannes, der sich den größten Teil seines Lebens in der Natur aufgehalten hatte, aber mit einem seltsam leeren, leicht abwesenden Ausdruck auf dem kantigen Gesicht. Seine Stimme klang etwas zu laut. Seine breiten Hände ruhten etwas zu selbstbewusst auf seinen Knien. Er würde niemals zugeben, unter Schock zu stehen, weil es diesen Gemütszustand bei Männern seines Schlages schlicht nicht gab.

»Heute hat sie erst gebellt, als ob sie etwas gestellt hätte, und dann ist sie einfach losgerannt.«

»Was hat sie gewittert? Ein Tier? Einen Menschen?«, fragte Angelika und notierte etwas auf ihrem Klemmbrett. Wenn sie Gehrings angespannte Stimmung spürte, so ließ sie es sich nicht anmerken.

»Weiß ich nicht.« Der Jäger tätschelte den Kopf seiner Schäferhündin.

Rita lag zu Schramms Füßen, was die Befragung in der Enge des Wagens noch unangenehmer machte. Die Standheizung lief auf vollen Touren, trotzdem hatte Gehring lediglich die Handschuhe ausgezogen. Nach der Kälte draußen am Fundort und dem Marsch durch den Wald war ihm in der stickigen Enge des Wagens nur noch heiß. Und schlecht. In seinem Kopf spukte etwas herum, dem er gerne in einer ruhigeren Minute als dieser nachgegangen wäre. Aber dieser Schramm war ein Mensch, der sogar schweigend dröhnte.

»Ist ja ein kluges Mädchen, die Rita. Aber reden kann sie noch nicht.« Schramms nervöses Lachen erstickte noch im Ansatz, als er in Gehrings müdes Gesicht blickte. »Entschuldigung. Keine Ahnung. Ein Tier, nehme ich mal an. Irgendwas, das ihr nicht alle Tage vor die Nase läuft. Kein Mensch. Menschen geht sie nicht an. Was, meine Süße?«

Wieder ein Tätscheln. Rita schüttelte den Kopf und sabberte Gehrings Stiefel voll.

»Also ein Tier.« Gehring kapitulierte vor der Mühsal und der Sinnlosigkeit dieser Befragung.

Mehrere Jahre hatte die Leiche eines Kindes keinen halben Meter unter der Erde im Wald gelegen. Der Mann hatte nichts gesehen, nichts gehört, hatte noch nicht einmal seinen Hund im Griff und war nur durch Zufall über den Schädel gestolpert. Das hätte er auch einem der Polizisten da draußen erzählen können. Gehring öffnete die Tür und stieg aus. Er wusste, dass er auf der Suche nach jemandem war, dem er die Schuld an seinem Ärger und seiner Resignation zuschieben konnte, und Schramm hätte sich hervorragend dafür geeignet.

»War’s das schon?«

»Ja. Ihre Personalien haben wir. Nehmen Sie sich den Tag frei.«

Schramm schüttelte den Kopf. Diese Möglichkeit schien ihm nicht in den Sinn zu kommen. Angelika verabschiedete sich etwas höflicher und besaß die Geistesgegenwart, ihn aus dem Van zu bitten, sonst hätte er gegen Mittag womöglich noch nach Streuselkuchen verlangt. Kopfschüttelnd stapfte der Förster davon. Erst jetzt bemerkte Gehring, dass der Mann ein Gewehr bei sich trug.

»Und?«, fragte Angelika. Die Munterkeit in ihrer Stimme verursachte ihm Kopfschmerzen. Es war kurz nach acht, und er hatte immer noch keinen Kaffee.

»Wir warten noch die Drohne ab. Besprechung um zehn, bis dahin müssten zumindest die ersten Ergebnisse der Spurensicherung vorliegen. Gibt es irgendwo noch Kaffee?«

»Ich frag mal nach.«

Sie stürmte davon in Richtung Absperrband und hinterließ, nach all ihrer unerträglichen Munterkeit, um Gehring herum ein Vakuum. Kramer und Manteuffel waren schon auf dem Weg zu ihrem Wagen. Gehring holte sie gerade noch ein und erteilte ihnen den Auftrag, den Rest der Truppe in der Sedanstraße zusammenzutrommeln, dann setzte er sich in sein Auto und schaltete die Standheizung an, um auf den Staatsanwalt zu warten. Er überlegte einen Moment. Schließlich griff er zu seinem Handy und wählte eine Nummer. Wie zu erwarten, ging sie um diese Uhrzeit nicht an den Apparat. Die Computerstimme des Anrufbeantworters ratterte die Telefonnummer herunter und forderte ihn auf, eine Nachricht zu hinterlassen. Gehring räusperte sich kurz, weil seine Stimme belegt war.

»Guten Morgen, Frau Schwab. Ich bräuchte mal das Retent der Akte Darijo Tudor. Fragen Sie auch beim Sachgebiet Sonderermittlung nach. Gut möglich, dass der Fall mittlerweile dort gelandet ist. Erpresserischer Menschenraub, vielleicht erinnern Sie sich noch daran. Ich befürchte …« Er stockte und überlegte, ob er einer Untergebenen seine Befürchtungen mitteilen sollte. Dann fuhr er fort: »Kommen Sie um zehn zur Lage, wenn Sie es einrichten können.«