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Gelächter hallte durch die offene Bürotür. McLean blieb draußen stehen, ihm klingelten noch die Ohren von dem Anschiss, den er von Duguid bekommen hatte. Es war immer schlimmer, wenn man wusste, dass man tatsächlich etwas versemmelt hatte und den Anschiss verdiente. Und es war immer schwer zu akzeptieren, wenn der DCI recht hatte. Gut gelaunte Gesellschaft konnte er jetzt nicht brauchen, aber die Aussicht darauf, sich in sein winziges Büro zu quetschen und mit der Arbeit an den Überstundenplänen anzufangen – oder was sonst auch immer der Sergeant vom Dienst beschlossen hatte, dem jüngsten DI auf dem Revier aufzuhalsen –, war ebenso wenig verlockend. Er sah auf die Uhr. Zu früh, um Schluss zu machen? Wahrscheinlich, auch wenn er lange vor Tagesanbruch angefangen hatte. Nun, es gab reichlich andere Fälle, die seiner Aufmerksamkeit bedurften, so viel stimmte zumindest. Und es gab keinen besseren Ort, um damit anzufangen, als unten in den Archiven, weit weg von allen, die ihn an seine Versäumnisse erinnern konnten.
Das Polizeigebäude war eine bauliche Monstrosität, entworfen von einem Komitee und gebaut in den Siebzigern, als schmuckloser Beton der letzte modische Schrei der Architektur war. Wie vieles in Edinburgh war sie auf etwas anderem errichtet worden, in diesem Fall auf einem früheren viktorianischen Polizeirevier, und die Kellergeschosse boten eine vollkommen andere Atmosphäre. Die alten, in der Mitte von zahllosen Verbrecherfüßen ausgetretenen Stufen hinunterzugehen, fühlte sich an, als beträte man eine andere Welt. Die Wände waren aus Ziegelsteinen gemauert, unzählige Male weiß überstrichen, und die Decken von Meisterhandwerkern, die offensichtlich stolz auf ihre Arbeit waren, zu perfekt geschwungenen Gewölben geformt. Die Räume hier unten waren klein und fensterlos, Zellen aus einer früheren Zeit. Da sie nicht mehr sicher genug erschienen, um Gefangene darin unterzubringen, waren sie zu Lagerräumen für Beweismittel und alte Akten umfunktioniert worden. Einer war zu einem Büro umgebaut worden, von dem aus Sergeant John Needham über sein unterirdisches Reich herrschte.
McLean näherte sich leise dem Eingang – nicht, um heimlichzutun, sondern weil der Ort Stille gebot, ein bisschen wie eine Kathedrale oder eine Krypta. Als er näher kam, sah er, dass die Tür offenstand, das Licht eingeschaltet war und von drinnen das unverkennbare Geräusch eines Mannes kam, der verzweifelt versuchte, nicht zu weinen. McLean lugte um den Türrahmen herum und sah den Sergeant mit dem Rücken zur Tür über seinen Schreibtisch gebeugt dasitzen. Er zitterte leise.
»Needy?«
Das Schluchzen hörte auf, als hätte man einen Schalter umgelegt. Sergeant Needham sah auf und rieb sich die Wangen, während er versuchte, durch gerötete Augen zu fokussieren.
»Wer …? Oh, Inspector McLean, Sir.«
McLean erinnerte sich an das Gespräch am Morgen, als er nach dem alten Needham gefragt hatte. Sie standen sich nah, Vater und Sohn, auf diese merkwürdige, reservierte Art einer Familie, die des weiblichen Elements beraubt war. Es gab nur eines, was das hier erklären konnte.
»Ihr Vater?«
Needy nickte. »Ja. Vor ungefähr zwei Stunden.« Er schniefte, zog ein zerknülltes weißes Taschentuch aus der Hosentasche und schnäuzte sich, dann benutzte er eine Ecke, um sich die Augen trocken zu tupfen. »Armer Teufel. Sie wollten heute seinen Krebs operieren, aber als der Arzt ihn aufgemacht hatte … Na ja, es hatte keinen Sinn mehr.«
»Es tut mir leid, Needy. Wirklich. Er war ein guter Bulle.«
»Aye, das war er. Manchmal aber auch ein ganz schön schlecht gelaunter Mistkerl.«
Needy lächelte schief und sah an McLean vorbei, der seinem Blick zu einer Uhr an der gegenüberliegenden Wand folgte. Halb sechs Edinburgher Zeit. »Also, was führt Sie heute Abend her?«, fragte er.
McLean sah Needham an und erinnerte sich an den Detective Sergeant, der ihn abwechselnd herumkommandiert und mit allem vertraut gemacht hatte, vor all den Jahren, als er gerade bei der Kriminalpolizei angefangen hatte. Needy war ein guter Detective gewesen, zuverlässig und sorgfältig. Manche hatten ihn wahrscheinlich besessen genannt, aber nicht McLean. Irgendwie waren sie Freunde geworden, wenn auch keine engen. Also, was sollten Freunde in einem Augenblick wie diesem tun?
»War nicht wichtig. Nur etwas Hintergrundzeug, aber das kann warten. Warum verschwinden wir nicht von hier? Gehen einen trinken? Ich würde sagen, wir haben uns beide einen verdient, oder?«
»Lustig. Ich hätte gedacht, Sie seien eher der Typ für ein Real Ale.«
Needy saß auf der billigen Vinylbank in einer Nische, die aussah wie aus einem schlechten Gangsterfilm, und hatte die Hände gefaltet auf der billigen Resopaltischplatte mit nachgemachter Holzmaserung abgelegt. McLean stellte die beiden Gläser mit einem eiskalten, perlenden Bier vom Fass ab, was in diesem Pub etwas Trinkbarem noch am nächsten kam, und quetschte sich auf die Bank gegenüber.
»Keine große Auswahl.« Er schob eines der Gläser über den Tisch und bemerkte dabei, dass keins von beiden als sauber durchgehen konnte. Der Pub lag nah am Revier, und das war auch das einzig Gute, was man darüber sagen konnte.
Needy nahm sein Glas, übersah gewissenhaft den schmierigen Ring um die Mitte und hob es hoch.
»Auf Esther McLean.«
»Aye, und auf Tom Needham«, setzte McLean hinzu und hob sein eigenes Glas. Sie tranken, dann schwiegen sie eine Weile unbehaglich. Es war Needy, der das Schweigen brach.
»Wie lange ist es her, sagen Sie? Dass Ihre Großmutter … Sie wissen schon? Bevor sie …«
»Achtzehn Monate und ein paar Tage.«
»Mein Gott. So lang? Wie kommen Sie damit zurecht?«
»Ich weiß nicht. Muss ich ja, denke ich. Bleibt einem ja nichts anderes übrig.«
»Ja, ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen.« Needy trank noch einen großen Schluck. »Das heißt aber nicht, dass es einfach wäre. Zu sehen, wie jemand vor einem stirbt, Stück für Stück.«
Diesmal dauerte das Schweigen noch länger. McLean versuchte es abzukürzen, aber sein Bier hatte zu viel Kohlensäure, um es schnell hinunterzustürzen.
»Haben Sie schon darüber nachgedacht, was Sie jetzt machen?« Dumme Frage. Natürlich nicht. Der alte Needham war noch nicht mal kalt. Seine Großmutter war jetzt seit einem halben Jahr tot, und er hatte immer noch nicht angefangen, ihre Angelegenheiten zu regeln.
»Herrgott, nein. Eins nach dem anderen, denk ich mal.«
McLean hob wieder sein Glas. »Darauf trinke ich.«
Needy nahm einen Schluck, dann ließ er sich gegen die Wand zurückfallen. »Wissen Sie, das ist beinahe wie in alten Zeiten. Wir zwei in irgendeinem abgerissenen Pub, und beschweren uns darüber, wie bitter das Leben ist. Wir brauchen nur noch Bob Laird und MacDuff, und dann haben wir das ganze Team wieder zusammen.«
»Ich kann Grumpy Bob anrufen, wenn Sie wollen.« McLean fischte sein Handy aus der Tasche. »Duff allerdings …«
»Ich habe gehört, er ist in einem Heim irgendwo in den Borders. Alzheimer.«
Das brachte das Gespräch für eine weitere lange Pause zum Erliegen. Needy untersuchte sein Pint, strich mit nervösen Fingern am Glas entlang. Er sah nicht auf, als er endlich wieder das Wort ergriff.
»Ich habe mich immer gefragt, Tony, wie Sie das hingekriegt haben. Wie haben Sie ihn gefunden?«
Und das war der Grund, weshalb das ganze alte Team nie wieder zusammenkam. McLean musste Needy nicht fragen, von wem er sprach. Donald Anderson, der Christmas Killer, war immer in seinen Gedanken. Besonders, wenn die Nächte lang und dunkel und kalt waren.
»Ich hatte Glück.« McLean lachte auf, als habe ihm jemand ein Messer in die Eingeweide gerammt. »Ha, Glück. Keine Ahnung, warum ich in seinen Laden gegangen bin. Ich kann mich an vieles von damals nicht erinnern. Aber er hat Andenken gesammelt. Das wissen Sie so gut wie ich. Und er hatte dieses eine Stück von ihrem Kleid.«
Da sah Needy auf, und McLean sah die Trauer in seinen Augen und bemerkte die tiefe Verbundenheit, die zwischen dem Sergeant und seinem Vater bestanden hatte. Wie viele Jahre war es jetzt her, dass seine eigenen Eltern gestorben waren? Zu viele, um sie zu zählen, und er war zu jung gewesen, um es wirklich zu begreifen.
»Ich weiß aber immer noch nicht, wie Sie das geschafft haben. Nach allem, was er Ihnen angetan hat. Gott weiß, ich hätte ihn zu Brei geschlagen, wenn ich ihn gefunden hätte.« Needy streckte die Hände aus, klauenartig und von Leberflecken übersät. »Ich hätte ihn da an Ort und Stelle erwürgt.«
McLean griff nach seinem Bier und schluckte so viel davon, wie er sich traute, ohne an die krustigen Stückchen zu geraten, die sich auf dem Grund des Glases drehten. Er sah auf die Uhr.
»Ich hab daran gedacht. Tu es immer noch. Aber jetzt muss ich los. Eigentlich sollte ich Dagwoods Besprechung um sechs vorbereiten, und es wäre schön, vorher noch nach Hause zu gehen und zu duschen.«
»Aye, Sie haben recht.« Needy nahm sein Glas und verwirbelte das Bier, das noch darin war. »Aber ich glaube, ich trinke noch eins. Vielleicht hilft das dem Geschmack auf die Sprünge.«
»Kommen Sie nach Hause?«
»Machen Sie sich keine Sorgen um mich, Inspector. Wir Needhams überleben. Das haben wir immer, und das werden wir auch weiterhin.«
Ölige Pfützen zitterten auf dem Asphalt, als McLean aus der Zeitschleife des Pubs in die richtige Welt hinaustrat. Der Regen hatte aufgehört, aber ein schneidender Wind wehte vom Meer herein. Zu bequem, um Umwege zu machen, ging er durch alles hindurch, was ihm in den Weg kam, und raubte alle Wärme, die er finden konnte. McLean zog abwehrend die Schultern hoch, schlug den Mantelkragen hoch und machte sich auf den langen Weg nach Hause. Bei diesem Wetter erkannte er den Sinn darin, ein Auto zu besitzen. Oder vielleicht, ein richtiges Auto. Nicht den unpraktischen, altmodischen Alfa Romeo, den ihm seine Großmutter hinterlassen hatte. Es wäre schön, es warm und trocken zu haben. Andererseits kroch der Verkehr langsamer dahin, als er zu Fuß ging, und wenn er ein Auto hätte, wäre zu Hause kein Parkplatz frei, und obendrauf hätte er noch eine gewaltige jährliche Steuer von der Gemeinde für dieses Privileg zu entrichten. Ein Taxi wäre die Lösung, natürlich, aber es war gerade keins zu sehen. Nicht hier, nicht jetzt.
Das Telefon vibrierte tief in der Manteltasche gegen seine Hand. McLean zog beides hervor und schaute auf das Display, um herauszufinden, wer anrief. Es war das Revier. Zweifellos wollte Dagwood ihm wieder das Leben zur Hölle machen.
»Tony? Sind Sie zu Hause?«
Nicht Dagwood. »Oh, Chief Superintendent, Ma’am. Äh … nein, ich bin unterwegs, zu Fuß. Es …« Er wusste nicht, was er sagen sollte. Needy hatte ihm den Eindruck vermittelt, dass nur wenige Bescheid wussten und dass der Sergeant es vorzog, es so lange wie möglich dabei bleiben zu lassen. Andererseits entging Jayne McIntyre kaum etwas. »Ich war mit Needy im Pub.«
Das Schweigen am anderen Ende zeigte, dass die Chefin darüber nachdachte, was das zu bedeuten hatte. Es gereichte ihr zur Ehre, dass sie nicht lange dafür brauchte.
»Verdammt. Das wird ihm zu schaffen machen.«
»Er schafft das schon, Ma’am. Die Needhams sind harte Hunde.«
»Aye, damit haben Sie recht. Aber trotzdem.« Sie verstummte erneut.
»Aber deswegen rufen Sie wahrscheinlich nicht an, oder?« McLean nahm an, dass die Nachricht von seinem morgendlichen Pfusch bis nach ganz oben durchgedrungen war, zweifellos noch ausgeschmückt von Duguid, der ihn noch dümmer aussehen lassen wollte, als er sich bereits fühlte. Er würde morgen früh zu einem ausgewachsenen Anschiss antreten müssen.
»Nein, es ist etwas anderes.« McIntyre hielt wieder inne, als suchte sie nach den richtigen Worten. Herrgott, er hatte es doch nicht so schlimm vergeigt, oder?
»Ich dachte, Sie sollten es zuerst von mir hören. Bevor es herumgetratscht wird. Es geht um Anderson.«
McLean spürte eine Kälte bis tief in seine Eingeweide, die mit dem Wind nichts zu tun hatte. »Ach ja? Wird er wegen guter Führung entlassen oder was?«
»Nicht ganz, Tony. Ich habe gerade eine Nachricht aus Peterhead bekommen. Es scheint, als hätte ihn jemand in der Küche mit einem Messer angegriffen. Er ist tot.«