Täter und Opfer

Stephan Lucas

Täter und Opfer

Der Rechtsanwalt über Verbrechen,
die Leben zerstören

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Über Stephan Lucas

Stephan Lucas, geboren 1972 in Frankfurt am Main, ist Rechtsanwalt und verteidigt seit bald 25 Jahren bundesweit mutmaßliche Straftäter. 2006 gründete er in München seine eigene Kanzlei. Seither wirkte der Fachanwalt für Strafrecht in zahlreichen medienpräsenten Strafprozessen mit (»Winnenden«, »NSU«). Das Fernsehpublikum kennt ihn als strengen »Staatsanwalt« aus der TV-Show »Richter Alexander Hold« und als einfühlsamen Anwalt aus der Fernsehserie »Im Namen der Gerechtigkeit«. Darüber hinaus meldet sich Stephan Lucas in verschiedenen Sendungen regelmäßig als Rechtsexperte zu Wort (»Maischberger«, »Volle Kanne«). 2012 erschien bei Knaur sein erstes True-Crime-Buch »Auf der Seite des Bösen«, 2017 – ebenfalls bei Knaur - sein Spiegel-Bestseller »Garantiert nicht strafbar«. Mit den gleichnamigen Bühnenprogrammen tourt der Rechtsanwalt seit 2018 durch Deutschland. Als Nächstes möchte Stephan Lucas das Thema »Opfer« auf Deutschlands Kleinkunstbühnen bringen – Grundlage für das »True Crime«-Liveprogramm wird sein Buch »Täter und Opfer« sein.

Die in diesem Buch geschilderten Fälle spiegeln die Erfahrungen und Erlebnisse des Autors wider. Jedoch wurden Namen und Ortsangaben geändert und Sachverhalte und Dialoge verfremdet, insbesondere um der anwaltlichen Schweigepflicht Rechnung zu tragen. Mag sich also die eine oder andere Begebenheit tatsächlich anders zugetragen haben, so sind doch alle Schilderungen, Vorkommnisse und Dialoge im Buch an die Wirklichkeit angelehnt oder hätten sich so zutragen können.

Meinem Großvater,
dem Schriftsteller Carl Johannes Rummel, gewidmet

Vorbemerkung

Wo Menschen miteinander zu tun haben, passieren Straftaten. Schon immer. Es gibt wenig Grund, zu hoffen, dass sich das jemals ändern wird. Oft genügt eine Kleinigkeit, und man wird zum Opfer. Vom kleinen Diebstahl bis hin zum Mord kann es jeden treffen. Und wenn nicht uns selbst, dann womöglich von uns geliebte Menschen. Wir alle tragen diese Möglichkeit in uns. Erst auf dem Sterbebett wissen wir, ob sie Wirklichkeit wurde. Bis dahin kann sich jeder bis zu einem gewissen Grad davor schützen, in eine Straftat verwickelt zu werden. Die wahren Geschichten über Täter und Opfer erzählen davon, wie das gelingen kann.

Hetzjagd durch die Nacht

Was macht der da vorne denn?«

Marc war genervt. Er befand sich mit seiner Schwester Julia auf dem Ausläufer der A 661 in Richtung Frankfurter Berg. Keine zwei Kilometer mehr, und sie würden zu Hause sein. Doch trotz der schnurgeraden Straße schlich der Fahrer des alten 3er BMW mit knapp dreißig km/h in Richtung grüne Ampel vor ihrem Mini her. Es war früher Donnerstagmorgen. Marc und Julia hatten die Sommernacht gemeinsam mit Freunden in ihrem Lieblingsclub in der Nähe von Frankfurt verbracht. Jetzt waren sie müde und wollten nur noch ins Bett. Marc fuhr näher an den Vordermann heran und blendete kurz auf. Den BMW-Fahrer schien das nicht zu beeindrucken; er setzte seine Fahrt in unverändert langsamem Tempo fort.

»So ein Depp!« Marc gab Gas. Kurz vor Erreichen der Stoßstange des Vordermanns scherte er ruckartig nach links aus und überholte den BMW geräuschvoll bei überhöhter Drehzahl.

»Natürlich wieder ein Mann.« Julia konnte sich den Spruch nicht verkneifen.

Marc grinste. Beim Einscheren schnitt er den BMW und bremste ihn kurz aus, ehe er wieder kräftig Gas gab. Ohne sich vorher abgesprochen zu haben, setzten die Geschwister noch eins drauf und zeigten dem Kriecher durch die geöffneten Fenster den Mittelfinger. Beide lachten.

»Vielleicht schnallt der Typ ja jetzt, dass er nervt.« Marc gab noch stärker Gas und erreichte die vor ihnen liegende Ampel gerade noch bei Dunkelgelb. Mit quietschenden Reifen bog er links ab in die Homburger Landstraße.

 

Julia und Marc wohnten im Blumenviertel im Stadtteil Frankfurter Berg, wo die Eltern vor langer Zeit ein kleines Fachwerkhaus gekauft hatten. Mit Baujahr 1937 war es zwar für ein Fachwerkhaus nicht alt, aber insgesamt doch deutlich in die Jahre gekommen. Ein riesiger Garten bei 90 Quadratmetern Wohnfläche: So hatte man in den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts gebaut, als Gärten noch zur Viehhaltung und zum Anbau von Obst und Gemüse dienten. Mittlerweile lebten die Geschwister allein in ihrem »Hexenhäuschen«, sozusagen als WG, was sich manchmal immer noch ungewohnt anfühlte. Schließlich hatten sie schon den Großteil ihrer Kindheit dort zusammen verbracht. Marc war beim Einzug zehn Jahre alt gewesen, Julia acht. Mit dem Umzug aus der früheren Hochhauswohnung im achten Stock hatte sich damals für ihre Mutter ein Traum verwirklicht. Leider nur ein kurzer Traum, denn nur vier Jahre später war sie an Krebs gestorben.

Zu ihrem Vater hatten die Geschwister bis heute ein tolles Verhältnis. Nachdem erst Marc und dann Julia das Abi gemacht hatten, war er ausgezogen und hatte ihnen das Haus überlassen. »Mich kommt es billiger, wenn ich mir etwas anderes suche und ihr beiden einfach hier wohnen bleibt,« hatte er scherzhaft gesagt, aber es war natürlich etwas Wahres daran.

Mittlerweile war Marc 22 und studierte an der Frankfurter Johann-Wolfgang-Goethe-Universität BWL. Die 20-jährige Julia ließ sich in Bad Homburg zur Europasekretärin ausbilden. Bei ihren ursprünglich getrennten Freundeskreisen hatten sich im Laufe der Zeit immer mehr Überschneidungen ergeben, und da sich inzwischen alle irgendwie untereinander kannten, legten die Geschwister private Unternehmungen immer öfter zusammen. So war es auch in dieser Nacht gewesen.

 

»Wo kommt denn der Typ auf einmal wieder her!«

Marc warf einen irritierten Blick in den Rückspiegel, in dem der 3er BMW aufgetaucht war. Der Fahrer musste hinter ihnen bei Rot über die Ampel gefahren sein. Zuvor hatte er offensichtlich ordentlich Gas gegeben.

»Was hat denn der für ein Problem? Erst schleicht er wie eine Schnecke und legt es förmlich darauf an, mit uns das Grün zu verpassen. Und jetzt klebt er uns am Hintern.«

»Vergiss den Spinner«, sagte Julia und gähnte.

Das war allerdings nur schwer möglich, da der Mann mit seinem BMW unangenehm nah auffuhr.

»Der will’s echt wissen. Ich sag dir, der verfolgt uns.«

Jetzt wurde auch Julia ein wenig nervös: »Du musstest ihm ja unbedingt zeigen, wer der Stärkere ist. Kannst du ja gleich machen, wenn wir anhalten und der Typ dich herausfordert.«

Marc fand die Bemerkung höchst überflüssig, ging aber nicht darauf ein. An der ersten Kreuzung bog er nach links in den Berkersheimer Weg ab. Ein besorgter Blick in den Rückspiegel: Der Fahrer des BMW tat es ihm gleich. Na und? Vielleicht wohnte der ja einfach auch hier. Eine Möglichkeit, mit der Marc sich zu beruhigen versuchte, ohne recht an sie zu glauben. Naheliegender war, dass der Mann sich über das Fahrmanöver und die gestreckten Mittelfinger geärgert hatte. Marc bereute die bescheuerte Aktion inzwischen. So etwas war eigentlich gar nicht seine Art, aber das Herumkriechen im Schneckentempo hatte ihn einfach genervt, und von dem lustigen Abend war er zwar müde, aber gleichzeitig auch aufgekratzt. Blöd gelaufen, okay, aber das war ja wohl trotzdem kein Grund, ihnen mitten in der Nacht hinterherzufahren.

Marc war ein friedlicher Mensch, das Gegenteil von aggressiv. Die einzige Prügelei seines Lebens hatte er in der Grundschule erlebt. Er war zwar seit Jahren Mitglied im Boxverein, aber das war reiner Freizeitsport. Das Letzte, was er sich gerade wünschte, war eine nächtliche Auseinandersetzung mit einem fremden Autofahrer. Aber daran konnte der andere ja wohl auch kein ernsthaftes Interesse haben. Wahrscheinlich würde er an der nächsten Ecke in die andere Richtung abbiegen und die Situation sich in Wohlgefallen auflösen. Marc fuhr weiter und versuchte, den Wagen hinter ihm zu vergessen. Gerade wollte er den Blinker setzen, um in ihre Straße einzubiegen, als Julia ihn aus seinen Gedanken riss: »Nicht abbiegen, fahr geradeaus weiter!«

»Was, wieso? Wir sind fast zu Hause.«

»Ja, eben«, antwortete Julia hektisch. »Wenn der Typ uns tatsächlich verfolgt, dann müssen wir ihm das ja nicht gerade auf die Nase binden.«

»Na toll, und wohin sonst?«, fragte Marc etwas genervt.

»Bieg einfach zwei Straßen später ab. Wenn er dranbleibt, dann biegst du noch mal ab.« Julia klang plötzlich wieder sehr wach. »Einfach weiter! Ist doch vollkommen wurscht, wo wir langfahren. Hauptsache, wie hängen den Typen ab. Irgendwann wird der ja hoffentlich die Lust verlieren.«

»Wenn er uns überhaupt verfolgt – das wissen wir doch gar nicht«, gab Marc zu bedenken.

»Eben drum! Also, bieg da vorne ab. Und wenn er das zwei, drei Mal mitmacht, dann ist der Fall klar.«

Marc sah ein, dass Julia recht hatte. Also bog er nicht wie üblich links ab, sondern erst einige Hundert Meter später nach rechts in den Ebereschenweg. Erneut schaute er in den Rückspiegel. Der BMW bog ebenfalls ab.

»Scheiße, Julia. Das ist kein Zufall.« Marc gab ordentlich Gas. Der BMW-Fahrer beschleunigte sein Fahrzeug ebenfalls. Kurz ging Marc der Gedanke durch den Kopf, wie gut es war, dass er den ganzen Abend keinen Tropfen Alkohol getrunken hatte.

»Jetzt da vorne rechts!« Julias Stimme klang angespannt.

Marc bog rechts ab. Der BMW-Fahrer ebenfalls. Den Geschwistern wurde immer mulmiger zumute.

»Jetzt wieder zurück auf den Berkersheimer Weg«, befahl Julia.

»Das wollte ich eh«, entgegnete Marc gereizt. »Und dann in den Fliederweg.« Gesagt, getan. Um diese Zeit war auf den Straßen des kleinen Frankfurter Stadtteils nichts los. Nur Marc und Julia fuhren hier durch die Nacht, gefolgt von dem 3er BMW, dessen Fahrer ganz offensichtlich nicht von ihnen ablassen wollte.

»Ich kotze gleich. Kann der Typ uns nicht einfach in Ruhe lassen?! Okay, die Aktion war scheiße, aber was soll denn das jetzt hier!? Es ist doch echt nichts passiert.«

»Noch nicht«, sagte Julia leise.

Marc dachte in dem Moment dasselbe, auch wenn es ihm lieber gewesen wäre, wenn Julia es nicht ausgesprochen hätte. Sie hatten ein handfestes Problem, da gab es nichts zu beschönigen. Und er hatte gerade keine Ahnung, wie er es lösen sollte.

Im Schlehenweg bremste Marc den Wagen leicht ab. Notgedrungen tat es ihm ihr Hintermann gleich. Marc blickte erneut in den Rückspiegel. Sosehr er sich bemühte, das Gesicht des Fahrers konnte er nicht erkennen. Es wurde auch nicht leichter, als dieser zu allem Überfluss auch noch das Fernlicht einschaltete. Marc fuhr in gleichbleibendem Tempo weiter. Als plötzlich der Motor des BMW hinter ihm laut aufheulte, versuchte er, trotz des aufgeblendeten Fernlichts im Rückspiegel etwas zu erkennen. Was war jetzt los, wieso verschwand der BMW immer mehr nach links aus seinem Blickfeld? Erst als der Motor des BMW ein weiteres Mal aufheulte, wurde Marc klar, was der andere vorhatte. »Verdammt, der will uns überholen!«

Der fremde Mann steuerte sein Fahrzeug auf den linken Fußweg, auf dem keine Autos parkten, und versuchte ganz offensichtlich, neben den Mini von Marc und Julia zu gelangen. Der BMW kam von hinten gefährlich nahe.

»Marc, los, gib Gas!«

Marc zögerte keine Sekunde. Er durfte den anderen auf gar keinen Fall vorbeilassen. »Wenn der uns überholt und ausbremst, sind wir am Arsch!«

Marc fühlte Panik in sich aufsteigen. Was sollte er denn bloß machen? Und was wollte dieser Irre hinter ihnen? Es gelang ihm, den Abstand zum BMW vorübergehend zu vergrößern. Hektisch und viel zu schnell bog er nach rechts in den Holunderweg ein. Der BMW blieb an ihm dran, aber die Gefahr eines Überholmanövers war erst einmal gebannt, da auf beiden Seiten der Straße Autos parkten. Stattdessen hing er ihnen jetzt praktisch an der Stoßstange.

»Wenn ich jetzt bremsen würde, dann hätten wir den Kerl in unserem Kofferraum«, hörte Marc sich sagen, obwohl ihm überhaupt nicht nach Scherzen zumute war. In Wahrheit hatte er Angst. Zugleich war er wütend. Vor allem auf sich selbst.

Julia schien ihn gar nicht gehört zu haben. Sie hatte angefangen, wild in ihrer Tasche herumzukramen. »Ich ruf jetzt die Polizei!«, schrie sie. »Die müssen sofort kommen!«

»Das bringt doch nichts«, wehrte Marc ab, während er mit zusammengekniffenen Augen in den Rückspiegel spähte. »Was willst du denen denn sagen? Dass wir kreuz und quer durch das Blumenviertel kurven und ein anderer hinter uns herfährt?«

Julia ließ ihre Tasche fallen und fing an zu weinen. »Der fährt doch nicht einfach hinter uns her. Der verfolgt uns«, schluchzte sie, »der bedroht uns! Wir müssen doch irgendetwas machen!«

Im nächsten Moment packte sie Marc am Arm. »Fahr in den Wickenweg!«, rief sie.

Marc hielt kurz inne. Dann verstand er, worauf sie hinauswollte. Außer den Anwohnern wusste kaum jemand, dass es in der kleinen Straße eine Polizeiinspektion gab. Warum war er nicht schon früher darauf gekommen? Vor lauter Erleichterung fing er an zu lachen. »Na, dann fahren wir doch jetzt alle zusammen zur Polizei.«

Er steuerte den Mini in den Wickenweg, ihren Verfolger im Schlepptau, der keinen Verdacht zu schöpfen schien. Die Polizei war in einem kleinen und eher unscheinbaren Haus auf der linken Seite der Straße untergebracht. Marc bog auf den dazugehörigen Parkplatz ein, hielt den Wagen an und schaltete den Motor aus. Ihr Verfolger parkte sein Fahrzeug ganz knapp hinter ihnen. Erst einmal passierte gar nichts. Der andere blieb in seinem Fahrzeug sitzen. Und die Geschwister hatten ohnehin nicht vorgehabt auszusteigen. In der Dienststelle schien sich niemand für die beiden Autos zu interessieren. Kurz entschlossen drückte Marc auf die Hupe, die in der nächtlichen Stille überlaut klang. Immer und immer wieder, bis sich nach kurzer Zeit die Tür der Polizeiinspektion öffnete. Na endlich. Drei Beamte rannten auf die beiden Wagen zu, als plötzlich das Quietschen von Autoreifen zu hören war. Offenbar hatte ihr Verfolger die Situation erst jetzt umrissen. Jedenfalls raste er im selben Moment mit hoher Geschwindigkeit davon.

»Was ist hier los? Was soll das Gehupe?«, rief einer der Beamten.

Marc entschuldigte sich durch das geöffnete Fenster für den Krach – immerhin war es halb vier Uhr morgens. Mit Julias Unterstützung schilderte er den Polizisten in wenigen Sätzen, was vorgefallen war.

»Eine Nötigung ist das allemal, sicherlich auch eine strafbare Gefährdung des Straßenverkehrs«, meinte einer der Beamten schließlich. »Sie können Anzeige erstatten. Haben Sie das Kennzeichen?«

Marc schüttelte betreten den Kopf, und auch Julia zuckte die Schulter. Zu ärgerlich, darauf hatten sie in der Aufregung nicht geachtet.

»Das bringt dann vermutlich nichts«, meinte Marc mit fragendem Blick.

»Da haben Sie leider recht«, bestätigte einer der Beamten freundlich. »Vermutlich war der Typ besoffen und hat deshalb Reißaus genommen. Wenn der nicht einmal gemerkt hat, dass er auf einem Polizeiparkplatz steht …«

Bei den saloppen Worten des Polizisten merkten die Geschwister, wie die Anspannung nach und nach von ihnen abfiel und sie sogar schon wieder lachen konnten. Gleichzeitig wurde die Müdigkeit übermächtig. Sie entschieden sich, die Sache abzuhaken und so schnell wie möglich nach Hause und ins Bett zu kommen. Das Wichtigste war, dass sie den Verfolger abgeschüttelt hatten. Also verabschiedeten sie sich höflich und verließen den Parkplatz. Noch drei Mal abbiegen, und sie wären endlich zu Hause.

 

»Scheiße, was soll das?« Einige Hundert Meter und eine Kurve weiter trat Marc abrupt auf die Bremse und starrte entsetzt durch die Windschutzscheibe. Die Straße war versperrt. Frontal vor ihnen stand der BMW von vorhin. Ansonsten war weit und breit kein Auto zu sehen, die Straße war menschenleer. Zum Wenden war sie zu eng. »Das ist doch ein Psychopath, völlig durchgeknallt. Wir müssen zurück!«

Ohne zu zögern, legte er den Rückwärtsgang ein und fuhr los. Irgendwie musste er es wieder zur Polizeiinspektion oder jedenfalls in deren Hör- oder besser noch Sichtweite schaffen. Leider war die Straße nicht nur sehr schmal, sondern auch noch rechts und links mit Autos zugeparkt. Bloß jetzt nicht ein parkendes Auto rammen! Trotz des enormen Drucks, unter dem Marc stand, schaffte er es, den Mini unfallfrei rückwärts zwischen den Autos hindurchzusteuern. Der Abstand zum BMW wurde immer größer. Plötzlich hörte er Julia laut aufschreien. Er drehte sich um, schaute nach vorn und sah ein grelles Licht auf sich zukommen.

Der BMW hatte sich in Gang gesetzt und raste mit aufgeblendetem Fernlicht auf sie zu. Auch Marc gab Gas und versuchte, rückwärts zu entkommen. Aber es war klar, dass er gegen den unaufhaltsam herannahenden Gegner keine Chance hatte. Im nächsten Moment krachte der BMW frontal in den Mini, der dadurch seitlich verschoben wurde. Nach dem Aufprall standen beide Fahrzeuge sekundenlang still. Dann nahm Marc wahr, dass der BMW wieder zurücksetzte. Verzweifelt versuchte er, diesen Moment zu nutzen. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass der Mini noch fahrfähig war, brachte ihn in eine gerade Position und gab erneut Gas. Es konnte nicht mehr weit bis zu der Kurve sein, hinter der die Polizeistation lag. Hatte denn kein Mensch den Krach des Aufpralls gehört? Etwas entfernt blendete erneut das Fernlicht des BMW auf. Dann setzte der fremde Fahrer zum zweiten Crash an. Das Scheinwerferlicht wurde greller und greller, bis das Fahrzeug den Mini zum zweiten Mal aus ungebremster Fahrt rammte.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße, Julia, ich kann nichts machen! Ich komme nicht weg! Bist du okay? Sag doch was!«

Marc war verzweifelt und merkte, wie Panik ihn übermannte. Julia hatte aufgehört zu schreien. Starr vor Angst schaute sie nach vorne durch die Frontscheibe auf das, was sich da vor ihren Augen abspielte. Erneut versuchte Marc, dem BMW rückwärts zu entkommen. Vergeblich. Ein dritter Aufprall traf den Mini von vorne. Durch die Wucht der Kollision wurde er zur Seite gedrückt und in einen am Straßenrand geparkten Opel Corsa geschoben. Eingekeilt zwischen Corsa und BMW, gab es endgültig kein Vor und kein Zurück mehr.

 

Die nun folgenden Sekunden fühlten sich für Julia und Marc an wie eine Ewigkeit. Wie in Zeitlupe nahmen sie wahr, dass der Fahrer des BMW ausstieg. Langsam kam er auf den Mini zu. Geblendet durch das Fernlicht des BMW, konnten die Geschwister nur seine Umrisse erkennen. Erst kurz bevor er den Mini erreichte, konnten sie ein weißes T-Shirt, eine Jeans und zu einem Zopf gebundene lange braune Haare ausmachen. Ein junger Mann, höchstens Mitte zwanzig, der ihnen bei einer zufälligen Begegnung mit Sicherheit nicht aufgefallen wäre.

Dieser Durchschnittstyp war der Irre, der sie seit einer Stunde hartnäckig verfolgt und gerade brutal zusammengefahren hatte? Irritiert, aber vor allem angsterfüllt starrten sie auf den Fremden, der sich neben der Fahrertür aufbaute. Hinterher würde Julia sich immer wieder fragen, warum keiner von ihnen einen Notruf abgesetzt hatte, aber jetzt fühlte sie sich in dieser unwirklich erscheinenden Situation wie gelähmt. Dann gab es einen lauten Schlag. Und noch einen. Der BMW-Fahrer musste schwere Stiefel tragen, mit denen er mehrfach kraftvoll gegen die Fahrertür trat.

Viel zu spät merkte Marc, dass die Türen des Mini nicht verriegelt waren. Während er noch verzweifelt nach dem Verriegelungsknopf tastete, riss der Mann die Fahrertür auf, und bevor Marc reagieren konnte, traf ihn schon eine Faust ins Gesicht. Dann ging alles sehr schnell. Der BMW-Fahrer packte ihn mit beiden Händen, zerrte ihn aus dem Auto und schubste ihn mit voller Wucht zu Boden. Marc gelang es, wieder auf die Füße zu kommen. Er holte seinerseits zum Schlag aus. Im Boxen war er wahrhaftig kein Anfänger, und der Treffer saß. Marc konnte erkennen, dass der andere im Gesicht blutete. Julia, die nach wie vor auf dem Beifahrersitz kauerte, hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Sie hörte Flüche und Rufe der beiden Kontrahenten, die dumpfen Laute von Schlägen, war jedoch außerstande hinzusehen. Plötzlich vernahm sie einen lauten Aufschrei von Marc. Dann wurde es still. Julia wagte es nicht, sich zu bewegen, sondern harrte in ihrer Stellung aus. Die Stille hielt an, wurde immer beängstigender. Dann hörte sie Motorengeräusche. Der BMW entfernte sich. Erst jetzt war Julia in der Lage, mit zitternden Händen nach ihrem Smartphone zu fummeln und 110 zu wählen. Danach blieb sie reglos sitzen. Sie hatte keine Kraft, die Tür zu öffnen und auszusteigen.

Nicht einmal zwei Minuten später traf die erste Polizeistreife mit Blaulicht und Sirene ein. Eine Polizistin half Julia aus dem Auto und führte sie zum Polizeiwagen. »Was ist mit Marc? Wo ist er? Was ist mit ihm?«, stammelte Julia immer wieder. Die Polizistin antwortete nicht, sie redete nur beruhigend auf sie ein. Kurz darauf fuhr ein Krankenwagen vor.

Wie Julia später erfuhr, hatte die Polizei Marc blutüberströmt auf der Fahrerseite des Mini am Boden liegend vorgefunden. Er war nicht ansprechbar gewesen, hatte auf Fragen der Sanitäter nicht reagiert und nur sehr flach geatmet. Immer wieder hatte er das Bewusstsein verloren. Man hatte ihn auf dem schnellsten Weg in die Unfallklinik und dort sofort in den Operationssaal gebracht. Erst dort stellten die Ärzte fest, was passiert sein musste. Nach dem Verletzungsbild hatte Marc einen Stich mit einem spitzen Gegenstand in die linke Schläfe erlitten, mutmaßlich mit einem Schraubenzieher. Das gefährliche Werkzeug hatte seinen Schädelknochen mit einem siebzig Millimeter tiefen Stichkanal bis zur rechten Orbitalspitze durchdrungen. Im Inneren waren dadurch Knochen, Nerven und insbesondere wichtige Blutgefäße verletzt worden.

 

Der Vorfall rief die Staatsanwaltschaft auf den Plan, die umgehend ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt einleitete. Der Tatvorwurf gegen den BMW-Fahrer lautete: versuchter Totschlag, gefährliche Körperverletzung, Nötigung und gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr. Da Julia bei der Polizei den Fahrzeugtyp und die Farbe des Tatfahrzeugs angeben konnte und der BMW durch die Kollisionen erheblich beschädigt sein musste, gingen die Ermittler anfangs davon aus, dass man den Wagen schnell würde ausfindig machen können. Auch der Täter musste aufgrund der heftigen Gegenwehr von Marc deutlich erkennbare Verletzungen davongetragen haben. Selbst wenn es sich bei dem BMW nicht um sein eigenes Fahrzeug handeln sollte, schienen die Chancen gut zu stehen, seine Identität ermitteln zu können, sobald der Fahrzeughalter bekannt sein würde. Aber ganz so einfach war es leider nicht, und das Ermittlungsverfahren kam schnell ins Stocken.

 

Julia hatte sich bereits am Tag nach dem schrecklichen Vorfall in meiner Kanzlei gemeldet und mich dringend um Hilfe gebeten. Wir waren uns schnell einig geworden, dass ich sie und Marc, der auf der Intensivstation im Koma lag, vertreten würde. Während die Ermittlungen gegen den unbekannten Täter stagnierten, schrieb ich Polizei und Staatsanwaltschaft an und informierte sie, dass ich die Geschwister anwaltlich vertrat und diese sich dem Verfahren gegen den unbekannten Beschuldigten als Nebenkläger anschließen wollten.

 

Aus Medienberichten über Prozesse mit vielen Opfern wie die Verfahren wegen der NSU-Morde oder wegen der Katastrophe bei der Love Parade hat fast jeder schon einmal von »Nebenklage« und »Nebenklägern« gehört. Was sich dahinter verbirgt, ist eine besondere Form der Beteiligung von Opfern an einem Strafprozess gegen den Täter, die es seit 1986 gibt.

Anders als der Begriff nahelegt, geht es nicht darum, dass das Opfer den Täter verklagt oder gar anklagt; das ist und bleibt alleinige Aufgabe der Staatsanwaltschaft. Ohne die Nebenklage beschränkt sich die Rolle des Opfers im Strafprozess auf die eines ganz normalen Zeugen, der erst von der Polizei vernommen wird und Monate später von einem Gericht eine Ladung erhält, um dort in einer Hauptverhandlung gegen den mutmaßlichen Täter erneut auszusagen. Ansonsten läuft das Verfahren komplett am Opfer vorbei. Mit einer Nebenklage dagegen wird das Opfer über die Zeugenrolle hinaus neben Staatsanwaltschaft, Angeklagtem und Verteidiger zum Prozessbeteiligten, mit einem Anwesenheitsrecht in der Hauptverhandlung und mit der Befugnis, Zeugen und Sachverständige zu befragen, selbst Anträge zu stellen, Erklärungen abzugeben, ein Plädoyer zu halten und, je nach Ausgang des Prozesses, Rechtsmittel gegen das Urteil einzulegen bzw. einen Anwalt zu beauftragen, der all dies für das Opfer übernimmt. Bei Straftaten, bei denen das Opfer selbst zu Tode kommt, geht das Recht zu einer Nebenklage auf die hinterbliebenen Angehörigen über.

Die Erfahrung zeigt, dass eine aktive Beteiligung als Nebenkläger am Strafverfahren einen Beitrag dazu leisten kann, als Opfer oder Hinterbliebener mit den Folgen der Tat besser umgehen zu können. Geht es manchen Opfern einer Straftat primär um Sühne, haben insbesondere Hinterbliebene meist in erster Linie das Ziel, über den Strafprozess herausfinden zu können, wie die Tat im Einzelnen abgelaufen ist. Sie wollen das Motiv des Täters, der so viel Leid über die Familie gebracht hat, zu begreifen versuchen und wenigstens einen Erklärungsansatz für das Unfassbare bekommen.

Wieder andere legen den Schwerpunkt der Nebenklage darauf, einen späteren Schadensersatz- und Schmerzensgeldprozess gegen den Täter vorzubereiten. Straf- und Zivilverfahren sind zwei Paar Schuhe. Während im Strafverfahren die Staatsanwaltschaft darum kämpft, dass ein mutmaßlicher Straftäter zu einer angemessenen Geld- oder Freiheitsstrafe verurteilt wird, streiten im Zivilprozess Bürger gegen Bürger um mögliche finanzielle Ansprüche.

Im Falle von Körperverletzungen oder Tötungsdelikten geht es regelmäßig um Schadensersatz- und Schmerzensgeldforderungen. Der strafrechtliche Schuldspruch ergeht in der zeitlichen Abfolge meist vor einer Entscheidung des Zivilgerichts und sagt noch nichts über den Ausgang im späteren Zivilverfahren aus. Denn es gilt in Deutschland die sogenannte richterliche Unabhängigkeit. Jeder Richter trifft eine völlig eigenständige Entscheidung. Es ist daher durchaus möglich, dass ein Angeklagter von einem Strafgericht wegen einer erwiesenen Körperverletzung zu einer Geld- oder Freiheitsstrafe verurteilt wird, das zuständige Zivilgericht, vor dem das Opfer ihn dann auf die Zahlung eines Schmerzensgeldes verklagt, die Tat jedoch als nicht bewiesen ansieht und die Klage abweist.

Weil der Ausgang eines zivilrechtlichen Schmerzensgeldprozesses daher alles andere als gesichert und das zusätzliche Verfahren außerdem langwierig und belastend sein kann, machen Nebenkläger immer öfter von der Möglichkeit eines sogenannten Adhäsionsverfahrens Gebrauch. Es bietet den Opfern und Hinterbliebenen die Möglichkeit, den späteren Zivilprozess bereits im Rahmen des Strafprozesses zu führen. Der Strafrichter kann im Laufe des Verfahrens neben der verhängten Geld- oder Freiheitsstrafe zusätzlich auch rechtsverbindlich entscheiden, dass der Angeklagte das Opfer in einer bestimmten Höhe finanziell zu entschädigen hat.

 

So verschieden die Menschen sind, so unterschiedlich gehen sie auch mit Straftaten um, deren Opfer sie selbst oder nahe Angehörige geworden sind. Jeder leidet oder trauert auf seine Weise. Daher haben sie auch als Nebenkläger unterschiedliche Vorstellungen, wie sie diese Rolle ausüben möchten, welches Ziel sie damit verfolgen und welche Erwartungen sie an den Ausgang des Strafverfahrens haben. Manchen Nebenklägern ist es z.B. wichtig, selbst im Gerichtssaal anwesend zu sein und den Prozess persönlich zu verfolgen; andere wiederum ertragen die Vorstellung einer Begegnung mit dem Täter nicht und lassen sich ausschließlich von ihrem Anwalt vertreten. Dem einen geht es vielleicht um eine möglichst hohe Strafe, während es der anderen schon genügt, dass der Täter sich überhaupt vor Gericht verantworten muss, und für ein drittes Opfer mag ein Schmerzensgeld im Vordergrund stehen. Oftmals ist es auch eine Mischung aus allem mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung.

 

Auch im Fall von Julia und Marc galt es deshalb für mich herauszufinden, worauf es ihnen ankam, um eine maßgeschneiderte Linie für ihre Vertretung im anhängigen Strafverfahren finden zu können. Wenn ich eine Nebenklagevertretung übernehme, stelle ich mich auf ausführliche und intensive Gespräche ein, in denen ich mit den Mandanten das Ziel herausarbeite, für das ich mich im Strafverfahren starkmachen soll. Auch Julia wusste noch gar nicht, was genau sie erreichen wollte. Zudem war der Hauptbetroffene ja Marc, der daher auch die Marschrichtung vorgeben sollte. Er lag jedoch nach wie vor mit lebensgefährlichen Verletzungen auf der Intensivstation und kämpfte um sein Leben. Niemand konnte sagen, ob er es schaffen würde.

 

»Sie haben den BMW immer noch nicht gefunden.« Viel mehr konnte ich Julia bei unserem ersten Gespräch nicht sagen. Ich hatte zuvor kurz mit dem Staatsanwalt gesprochen. Von dem gesuchten Fahrzeug gab es keine Spur. Gut möglich, dass es längst entsorgt war. Die Kiesgruben rund um Frankfurt bargen ganze Schätze an Autos jeden Fahrzeugtyps.

»Polizei und Staatsanwaltschaft arbeiten auf Hochtouren«, versicherte ich Julia. »Ohne jeden Hinweis auf das Kennzeichen ist die Suche sehr aufwendig. Aber sobald wir den Wagen haben, kriegen wir auch den Täter.«

Hoffnung auf eine baldige Identifizierung des Täters machte den Ermittlern – und auch mir – außerdem jede Menge DNA-Material, das man an Körper und Kleidung von Marc gefunden hatte und das jetzt ausgewertet wurde. Bestenfalls hatten wir es mit einem Vorbestraften zu tun, dessen DNA-Profil bereits gespeichert war. Dann würde der Polizeicomputer bald einen Namen und ein Geburtsdatum ausspucken. Daher war der Optimismus, den ich im Erstgespräch mit Julia zeigte, durchaus ernst gemeint.

Julia selbst sagte nicht viel. Sie schaute mich die ganze Zeit beinahe regungslos an. Sie stand immer noch stark unter dem Eindruck der nächtlichen Verfolgungsfahrt und des Angriffs auf ihren Bruder. Die Angst um ihn stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie haderte damit, dass sie sich auf das riskante Überholmanöver und die überflüssige Beleidigung durch die gestreckten Mittelfinger eingelassen hatten. Aber Selbstvorwürfe waren in dieser Situation ebenso müßig wie Vorwürfe durch einen Außenstehenden, zumal es hinterher immer leicht ist, Kritik zu üben. Natürlich hatten die beiden sich nicht korrekt verhalten, aber kein Mensch hätte damit rechnen können, dass der Fahrer des BMW mit einem derart brutalen Akt der Selbstjustiz reagieren würde. Normalerweise hätten ihnen schlimmstenfalls eine Strafanzeige und ein Verfahren gedroht, am Ende vielleicht eine Geldstrafe. Das wäre sicher ärgerlich, aber nicht unverdient gewesen für das selbstgerechte und rücksichtslose Verhalten im Straßenverkehr, das auch zu einem Unfall hätte führen können. Dass die Aktion jedoch eine Bluttat auslösen würde, erschien auch im Nachhinein noch völlig unfassbar. Kann man, fragte ich mich, bei einem solchen Verlauf irgendjemandem außer dem Täter selbst einen Vorwurf machen? Trifft jemanden wie Marc eine Verantwortung, wenn er als Erster einen Fehler macht und dann am Ende zum Opfer wird?

 

Bei den meisten Straftaten, bei denen es zu einer Konfrontation zwischen Täter und Opfer kommt, lässt sich – sinnbildlich gesprochen – eine rote Linie ausmachen, mit deren Übertretung die Tat überhaupt erst ihren Lauf nimmt. Studiere ich als Anwalt eine Verfahrensakte, suche ich immer auch nach dem fatalen Moment, in dem diese rote Linie überschritten wurde: Wann ist es passiert und unter welchen Umständen? Erst durch die Beziehung, die jemand zwischen sich und dem späteren Täter herstellt, wird ab einem gewissen Punkt ein unaufhaltsamer Ablauf in Gang gesetzt, bei welchem ganz am Ende das Opfer zu Fall kommt.

 

Im Fall von Marc war es zweifelsohne die von ihm geschürte Konfrontation mit dem Fahrer des BMW, die ihn am Ende zum Opfer einer brutalen Straftat hatte werden lassen. Er hatte – völlig wertungsfrei – objektiv eine Situation geschaffen, ohne die es die spätere Straftat nicht gegeben hätte. Er hatte den Anlass und die Voraussetzung geschaffen, später Opfer seines gewaltbereiten Gegenübers zu werden. In welcher Intensität auch immer.

 

Im Umgang mit anderen hält das Leben oft mehrere imaginäre Linien parat, bis der »point of no return« erreicht ist. Dann ist es mit dem Überschreiten der ersten noch nicht zu spät, sondern ich kann womöglich noch das Übertreten einer zweiten oder zumindest einer dahinter lauernden dritten vermeiden. In anderen Fällen reicht dagegen schon ein einziger falscher Schritt, mit dem man die Lawine lostritt, unter der man am Ende selbst begraben wird. So war es bei Marc gewesen, als er sich mit dem schleichenden BMW-Fahrer angelegt und mit dem Überholmanöver und dem gestreckten Mittelfinger die rote Linie überschritten hatte – auch wenn er das selbst zu dem Zeitpunkt nicht hatte ahnen können. Andere begeben sich mit einem einzigen Schritt gar in eine dauerhafte Lage, in der sie immer und immer wieder zum Opfer werden, meist desselben Täters. Man denke an Menschen, die in einer Beziehung vom eigenen Partner fortwährend beleidigt, gedemütigt oder geschlagen werden, sich trotzdem nicht daraus lösen können und damit immer wieder neue Angriffsflächen bieten. Eine weitere Steigerung sind Menschen, die die Opferrolle vollständig verinnerlicht haben oder sich sogar darüber definieren. Das kann dazu führen, dass sie sich von einer von Gewalt geprägten Beziehung in die nächste begeben, in der sich das Muster wiederholt, ohne dass sie sich jemals zur Wehr setzen. Am Ende prägt die Opferrolle sogar banale Alltagssituationen, wenn sie sich z.B. in einer Schlange im Supermarkt grundlos und klaglos wegdrängeln lassen.

 

In gewissem Maße haben wir es in der Hand, ob wir zum Opfer werden oder nicht. Eine sich zuspitzende Situation kann man verlassen, einer sich anbahnenden Eskalation entgegenwirken, einem übergriffigen Gegenüber frühzeitig Grenzen setzen. Doch dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass Menschen sich womöglich in völlig unterschiedlichen Lebenskontexten befinden. Bildungsgrad, finanzielle Verhältnisse, soziales Umfeld, Erlebnisse in der Kindheit, psychische Verfassung, das alles sind Faktoren, die uns bei der Annahme oder Vermeidung einer Opferrolle beeinflussen. Deshalb ist es nicht leicht, sich in allen Lebenssituationen gegen potenzielle Täter verschiedenster Straftaten zu wappnen. Je mehr wir uns jedoch kritisch mit dem, was um uns herum geschieht, beschäftigen, desto stärker können wir uns davor schützen, dass unser Leben durch ein Verbrechen zerstört werden könnte.

 

»Vielleicht schlafen Sie in den nächsten Tagen erst einmal bei einem Freund oder einer Freundin. Oder haben Sie jemanden, der bei Ihnen im Haus bleiben kann?« Mit meinem Vorschlag rannte ich bei Julia offene Türen ein.

»Ich gehe momentan nur noch tagsüber ins Haus, schaue nach der Post und hole ein paar Sachen ab. Meine Freundin Laura gewährt mir Asyl.«

Ich war beruhigt, dass Julia nach dem traumatischen Erlebnis, mit ihrer Angst um Marc und mit womöglich ständig um die Tat kreisenden Gedanken nicht allein in dem gemeinsamen Haus hockte. Sie hatte zweifellos schreckliche Bilder aus der Tatnacht im Kopf. Allerdings gab es erhebliche Lücken. Bilder von den Geschehnissen, nachdem ihr Bruder das Auto verlassen hatte, ließen sich einfach nicht abrufen. Sie wusste, dass es zu einer heftigen Schlägerei gekommen war. Sie wusste auch, dass der Fremde aus dem BMW am Ende mit brutaler Gewalt auf ihren Bruder eingestochen haben musste. Doch gesehen hatte sie nach dem ersten Schlagabtausch von alledem nichts. Die ganze Zeit über hatte sie auf dem Beifahrersitz gekauert und weggeschaut: »Ich hatte solche Panik, wollte nur, dass es endlich aufhört. Ich war wie unter Schock.«

Das war verständlich, aber nichtsdestotrotz misslich. Denn Julia war in dem Strafverfahren eine wichtige Zeugin. Außer Marc war sie die einzige Person, die die ganze Verfolgungsjagd unmittelbar miterlebt hatte, die Attacken auf den Mini und den Beginn der körperlichen Auseinandersetzung zwischen ihrem Bruder und dem unbekannten Täter. Sehr präsent war ihr noch der Schrecken, als sie mit ihrem Bruder in die vom Täter inszenierte Straßensperre geraten war. Auch da hatte sie zunächst alles ganz genau wahrgenommen. Doch danach tat sich ein schwarzes Loch auf. Erinnerungen hatte Julia erst wieder ab dem Zeitpunkt, in dem sie nach ihrem Handy gegriffen und die Polizei angerufen hatte. Vorher ganz vage noch das Motorengeräusch eines sich entfernenden Autos. Aber da war draußen schon alles vorbei gewesen, der Täter längst auf und davon. Dass ihr Gedächtnis sie derart im Stich ließ, machte Julia schwer zu schaffen.

Ich versuchte, sie zu beruhigen: »Das ist doch schon eine ganze Menge, was Sie da berichten können. Und jetzt geben Sie Ihrem Bruder einfach noch ein paar Tage, bis er von der Intensivstation runter und ein wenig zu Kräften gekommen ist. Die Polizei will ihn nach Möglichkeit bereits übermorgen vernehmen. Und dann wird er sicherlich ganz genau schildern können, wie die Schlägerei im Einzelnen abgelaufen ist.«

Viel wichtiger war aus meiner Sicht, dass der Täter endlich gefunden würde. Der Fall selbst erschien mir recht klar zu sein, aber ich rechnete damit, dass der Anwalt des BMW-Fahrers im Falle einer Anklage und einer Verhandlung versuchen würde, auch Marc in die Verantwortung zu nehmen. Immerhin hatte er die Sache zusammen mit seiner Schwester ins Rollen gebracht. Diese »Tatprovokation« würde am Ende bei der Frage, wie hart der Täter zu bestrafen sein würde, durchaus eine ganz wesentliche Rolle spielen können. Ebenso wichtig war es, aufzuklären, wie die körperliche Auseinandersetzung zwischen den beiden Kontrahenten genau abgelaufen war. Marc war ein guter Boxer. Ich wollte der Verteidigung auf gar keinen Fall Raum dafür geben, das brutale Zustechen des BMW-Fahrers auch nur irgendwie zu relativieren oder gar zu rechtfertigen. Aber erst einmal musste der Täter überhaupt gefunden werden.

 

»Wir haben leider immer noch keine Spur vom Auto.« Die Worte des ermittelnden Staatsanwalts betrübten mich sehr. Auch der DNA-Abgleich war negativ verlaufen: Die DNA des Unbekannten war nicht in der Datenbank erfasst. Damit hatte ich nicht gerechnet. Sein brutales Vorgehen gegen Marc hatte mich sehr darauf setzen lassen, dass der Täter mehrfach einschlägig vorbestraft und daher schon längst erkennungsdienstlich behandelt worden war. Aber der Spurenabgleich hatte keinen Treffer ergeben.

 

Julia weinte, als sie mich schon frühmorgens auf meinem Handy anrief. Sie war unfähig, einen vernünftigen Satz herauszubringen. Ich bat sie, erst einmal tief Luft zu holen, und nach ein paar Anläufen konnte sie endlich sprechen. Vor ihrer Haustür hatte ein Unbekannter mit Kreide eine Botschaft hinterlassen: »Hallo, junge Frau! Wieder unterwegs?« Sie hatte keine Ahnung, wer das geschrieben hatte. Etwa der Fahrer des BMW? Die Frage, ob sie wieder unterwegs sei, konnte eine Anspielung auf die schreckliche Heimfahrt vor wenigen Tagen sein. Woher aber sollte der Fahrer wissen, wo sie wohnte? Immerhin war es Marc und ihr in der fatalen Nacht wenigstens gelungen, ihren Verfolger nicht zu sich nach Hause zu lotsen. Und jetzt diese Nachricht – das konnte doch kein Zufall sein. Reichte es dem Täter nicht, dass Marc lebensgefährlich verletzt im Krankenhaus lag? Sollte jemand die Absicht gehabt haben, sie mit der Botschaft in Panik zu versetzen, dann war ihm dies jedenfalls gelungen. Denkbar, dass sich der BMW3BMW

 

Ich verstand Julia sehr gut. Ich versprach ihr, die Staatsanwaltschaft zu informieren. Vielleicht konnte sie auf die Schnelle herausfinden, ob jemand illegal Zugriff auf Marcs Daten genommen hatte. »Sie bleiben bitte bei Ihrer Freundin!«

Ich wusste allerdings, dass Julia selbst sich von der geplanten Vernehmung nicht viel versprach. Bei ihrem Besuch bei Marc zwei Tage zuvor hatte er die ganze Zeit über geschlafen. Er war zwar von der Intensivstation verlegt worden, aber immer noch an ein Dutzend Schläuche angeschlossen gewesen und hatte blass ausgesehen. Das sei völlig normal, hatten die Ärzte erklärt. Und dass er sich nach dem anfangs sehr kritischen Zustand auf einem sehr guten Weg befinde. Keine Frage: Dass Marc wieder ganz gesund werden würde, war wichtiger als jede Vernehmung. Trotzdem hoffte ich auf einen baldigen Durchbruch bei den Ermittlungen. Dass der Täter immer noch nicht gefasst war, machte mir große Sorgen. Ebenso wie diese Kreidebotschaften.

Die Polizei bekam Marc an diesem Tag allerdings gar nicht erst zu Gesicht. »Er wollte die beiden Herren nicht sprechen«, sagte mir der zuständige Staatsanwalt. Eine Erklärung hatten die Ärzte den beiden Vernehmungsbeamten nicht gegeben. Vermutlich war Marc noch viel zu geschwächt und von einem längeren Gespräch über das traumatische Erlebnis physisch und psychisch überfordert. In seiner gesundheitlichen Situation gab es andere Prioritäten, als der Polizei bei der Aufklärung der Tat zu helfen. »Die Polizei wird in drei Tagen einen erneuten Versuch unternehmen. Wir brauchen einfach noch etwas Geduld.« Das Wort »einfach« sagte sich für den Staatsanwalt sehr leicht. Einfach war hier gar nichts. Im Gegenteil. Es wurde alles nur schwerer.

Am nächsten Tag ging alles sehr schnell. Marc war zurück auf die Intensivstation verlegt worden. Sein gesundheitlicher Zustand hatte sich massiv verschlechtert. »Er wird in den nächsten Tagen sterben.« Der Staatsanwalt teilte mir mit, worüber ihn die Ärzte zuvor informiert hatten. Ich war entsetzt. Damit hatte niemand rechnen können. Die Prognosen waren doch eher gut gewesen. Es hatte sogar schon geheißen, Marc könne eventuell in wenigen Tagen entlassen werden. »Es ist zu schweren Komplikationen gekommen«, führte der Staatsanwalt zu seinem Gespräch mit dem Krankenhaus näher aus: »Ihr Mandant hatte plötzlich starke Blutungen aus Mund und Nase. Durch den massiven Blutverlust hatte er einen Schock erlitten und musste vierzig Minuten reanimiert werden. Trotz Blutkonserven und Ringerlösungen war es zunächst zu einem Herz-Kreislauf-Stillstand gekommen.«

Ich konnte es nicht fassen, wollte nicht wahrhaben, was mir der Staatsanwalt da berichtete. Vor allem begriff ich nicht, weshalb die Ärzte Marc offenbar schon aufgegeben hatten. Dass sie vor Ort alles gaben, um ihren Patienten zu retten, daran hatte ich keinen Zweifel. Die schockierende Begründung folgte auf den Fuß: »In der Bildgebung kann man laut dem zuständigen Arzt wohl leider sehen, dass das Gehirn Ihres Mandanten komplett schwarz erscheint. Das heißt in der Konsequenz, dass er einen hypoxischen Hirnschaden erlitten hat. Sobald man die Medikamente absetzt, wird er nach Einschätzung der Ärzte versterben.«

Zu einer Vernehmung würde es nun nicht mehr kommen. Der Sachbearbeiter der Polizei hatte klare, kalte Worte gegenüber dem behandelnden Arzt gefunden. »Bitte denken Sie daran, dass der Leichnam nach dem Tod Ihres Patienten von uns sichergestellt und eine Obduktion angeordnet wird. Und bitte informieren Sie den Vater des Patienten, dass die Staatsanwaltschaft mit einer Organentnahme nicht einverstanden ist.«

BMW

 

 

 

180

Die Nachricht des Staatsanwalts hatte etwas Endgültiges. Marc würde ein schwerer Pflegefall bleiben. Wie in einem Film zogen viele Bilder an mir vorbei. Die beiden Geschwister hatten viel zu früh ihre Mutter verloren. Julia hatte mir so viel von ihr erzählt. Marc und sie pflegten eine enge Beziehung zueinander, ebenso zu ihrem Vater. Gemeinsam lebten sie in ihrem alten Familienhaus, hatten dort eine tolle WG. Marc war Student, seine Schwester Auszubildende. Beide hatten einen großen Freundeskreis mit allem, was dazugehört. Sie feierten Partys. Und sie zogen um die Häuser, wie es junge Leute immer tun. Doch eine Augenblicksentscheidung der beiden hatte das alles für immer zunichtegemacht. Marc hatte sich in jener Nacht selbst in die Opferposition manövriert. Er hatte sich aktiv in eine Beziehung mit dem Täter begeben. Sein Schicksal würde in einer späteren Hauptverhandlung zwar sicherlich auf viel Verständnis des Gerichts stoßen. Doch ganz gleich, wie hoch die Strafe für den Täter auch ausfallen, wie akribisch die Tat aufgeklärt und wie überzeugend der Täter Reue zeigen würde, an der traurigen Diagnose würde es nichts ändern. Den alten Marc gab es nicht mehr. Julias Bruder würde für immer ein Pflegefall bleiben.

In dieser Situation war es für Julia nur ein schwacher Trost, dass die Polizei den Täter endlich fand. Ein Freund des BMW-Fahrers hatte noch in der Tatnacht den Wagen in seiner Werkstatt von den massiven Unfallspuren befreit. Jedoch war die Reparatur dilettantisch erfolgt. Der Täter hatte sich zu sicher gefühlt, als er den Wagen danach tagelang in der Blumensiedlung des Frankfurter Bergs geparkt hatte, wo er schließlich aufgefallen war. Ein anschließender DNA-Abgleich mit einer beim Verdächtigen entnommenen Probe ließ keinen Raum für Zweifel.

BMW

 

So viel Glück wurde Marc nicht zuteil. Sein Lebensplan war zerstört. Ebenfalls endgültig. Nichts und niemand konnte die Tatfolgen ungeschehen machen. Niemand konnte Julia ihre frühere Unbefangenheit und ihr Urvertrauen zurückgeben, niemand ihr und ihrem Vater die Trauer nehmen. In der Sache hatten wir recht bekommen, der Täter war verurteilt worden. Das niedrige Strafmaß spiegelte diesen Erfolg jedoch nicht wider. Mein Mandat war beendet. Mehr hatte ich für Marc und seine Familie als Anwalt nicht erreichen können.

Als Urheber der Kreidekritzeleien stellte sich ein Arbeitskollege von Julia heraus. Für eine Verurteilung wegen Stalkings reichte es nicht, auch wenn seine Aktion Julia in der damaligen Situation den Rest gegeben hatte. Seine Schmierereien waren nicht in Ordnung gewesen, aber ohne das Trauma der Sommernacht und mit Marc an ihrer Seite hätte Julia vermutlich darüber gelacht. Auch sie war nicht mehr dieselbe. Sie war ängstlich geworden. Sie konnte sich Menschen gegenüber nicht mehr öffnen. Ihr unbeschwertes Leben gab es nicht mehr. Ihr Bruder und sie waren in jener Nacht Täter gewesen. Vor allem aber waren sie zu Opfern geworden. Ein für alle Mal.