Buch

Und so begab es sich, dass die Zwölf vom Antlitz der Erde getilgt wurden, und alle Menschen waren frei.

Die hundertjährige Schreckensherrschaft der Zwölf – einstige Schwerstkriminelle, die durch ein Virus zu unsterblichen Wesen mutierten – ist endlich vorüber, und die Überlebenden wähnen sich in Sicherheit. Denn mit den Zwölf starben auch deren Armeen aus infizierten Virals. Und so strömen die Menschen aus und wagen sich an den Wiederaufbau.

Ein folgenschwerer Fehler: Im fernen New York lauert Zero, der erste Mensch, der einst im Dschungel infiziert wurde. Seit er die Liebe seines Lebens auf tragische Weise verlor, dürstet er nach Rache. Als er seine Truppen zu einem letzten großen Angriff versammelt, sind die Menschen nicht nur hoffnungslos in der Unterzahl, sie haben den bis ins Detail durchdachten Plänen des brillanten Wissenschaftlers auch nur wenig entgegenzusetzen.

Und so ist die einzige Chance der Menschheit das Mädchen, das einst aus dem Nirgendwo kam: Amy. Denn nur sie ist Zero wirklich ebenbürtig ...

Weitere Informationen zu Justin Cronin und lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Justin Cronin

Die Spiegelstadt

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Rainer Schmidt

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »City of Mirrors«

bei Ballantine Books, a division of Random House Inc., New York.

S. 797: aus: T. S. Eliot, »J. Alfred Prufrocks Liebesgesang«, in: ders., Werke in vier Bänden, Band 4: Gesammelte Gedichte 1909–1962. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Eva Hesse, © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1972/1988.

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Copyright © der Originalausgabe 2016 by Justin Cronin

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Waltraud Horbas

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © Trevillion Images/Charlotte Grimm

Karten und Illustrationen: © 2016 by David Lindroth, Inc.

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-20256-9
V005

www.goldmann-verlag.de

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Für meine Familie

Was fang ich an, wenn Gott und Menschenkind

Doch immerzu verteufelt ratlos sind,

Ich, ein Fremder und kein Held,

In nicht von mir geschaff’ner Welt?

A. E. Housman, Last Poems

Inhalt

Prolog

I Die Tochter

II Der Liebende

III Der Sohn

IV Der Raub

V Die Liste

VI Die Stunde Zero

VII Das Erwachen

VIII Die Belagerung

IX Die Falle

X Exodus

XI Die Spiegelstadt

XII Das wilde Jenseits

XIII Der Berg und die Sterne

XIV Der Garten am Meer

Epilog: Der Millennialist

Dramatis Personae

Danksagung

PROLOG

Aus den Schriften des Ersten Chronisten (»Das Buch der Zwölfe«)

Vorgelegt auf der Dritten Internationalen Tagung zur Nordamerikanischen Quarantäne-Periode

Zentrum zur Erforschung menschlicher Kulturen und Konflikte

University of New South Wales, Indo-Australische Republik

16.–21. April 1003 n. V.

Fünftes Kapitel

1. So begab es sich, dass Amy und ihre Gefährten zurückkehrten nach Kerrville im Lande Texas.

2. Dort aber sollten sie erfahren, dass drei aus ihrer Zahl verloren waren. Und diese drei waren Theo und Mausami, seine Frau, und Sara, genannt Sara die Heilerin, Frau des Hollis.

3. Denn der Ort Roswell, da sie Zuflucht genommen, ward belagert von einer großen Heerschar von Virals, die da töteten alles, was lebte. Und nur zwei aus ihrer Zahl blieben am Leben. Diese waren Hollis der Starke, Ehemann der Sara, und Caleb, der Sohn Theos und Mausamis.

4. Und eine große Traurigkeit befiel sie alle wegen der Freunde, die sie verloren.

5. Und an dem Ort Kerrville lebte Amy unter den Schwestern, die da waren die Frauen GOTTES, und desgleichen tat Caleb und lebte unter Amys Obhut.

6. Und es geschah zu derselben Zeit, dass Alicia, genannt Alicia Blades »von den Messern«, und Peter, der Mann der Tage, zu den Waffen griffen und sich zugesellten den Expeditionstruppen, die Soldaten waren von Texas, und sich aufmachten, die Zwölf zu suchen, da sie wussten, dass sie, töteten sie einen der Zwölf, auch töteten seine Vielen und ihre Seelen sandten zu dem HERRN.

7. So ward manche Schlacht geschlagen und manches Leben verloren. Doch sie konnten die Zwölf nicht töten noch die Orte finden, da sie hausten, denn es war nicht der Wille GOTTES.

8. So gingen die Jahre dahin, fünfe an der Zahl.

9. Und am Ende dieser Zeit empfing Amy ein Zeichen, und dieses Zeichen war ein Traum. Und in diesem Traum kam Wolgast zu ihr und hatte die Gestalt eines Mannes. Und Wolgast sprach:

10. »Mein Meister wartet, und der Ort, da er wartet, ist ein großes Schiff, in welchem er haust. Denn ein Wandel geht über das Land. Bald werde ich kommen und dich holen, um dir den Weg zu weisen.«

11. Dieser aber war Carter, der Zwölfte der Zwölf, den man sollte heißen Carter den Traurigen, ein rechtschaffener Mann in seiner Generation und geliebt von GOTT.

12. Und so harrte Amy der Wiederkehr Wolgasts.

Sechstes Kapitel

1. Zu jener Zeit aber gab es noch eine weitere Stadt der Menschheit, nämlich im Lande Iowa, und sie trug den Namen Homeland.

2. In dieser Stadt lebte ein Volk von Menschen, die hatten getrunken vom Blut eines Virals, auf dass sie lebten und herrschten über viele Generationen. Diese aber nannte man Rotaugen. Der Größte unter ihnen war Guilder, der Direktor, ein Mann aus der Zeit Davor.

3. Und der Viral, von dem sie sich nährten, war Grey, genannt die Quelle. Denn in seinem Blute war die Saat des Zero, der war der Vater der Zwölf. Und Grey schmachtete in Ketten und litt große Qualen.

4. An diesem Ort lebten die Menschen als Gefangene der Rotaugen. Sie mussten ihnen dienen und tun nach ihrem Begehr. Es zählte aber zu diesen Gefangenen Sara, die Heilerin, entführt von dem Ort Roswell, und ihre Freunde wussten nicht, dass sie noch lebte.

5. Und Sara hatte eine Tochter namens Kate, doch das Kind ward ihr genommen. Und die Rotaugen sagten Sara, ihre Tochter sei nicht am Leben geblieben, und trugen damit großes Weh in ihr Herz.

6. Es begab sich aber, dass dieses Kind einer Frau unter den Rotaugen gegeben ward, und die Frau war Lila, Wolgasts Weib.

7. Denn Lilas Tochter war gestorben in der Zeit Davor, und obgleich viele Jahre vergangen waren, brannte die Wunde noch heiß in ihrem Herzen, und sie fand Trost in Kate und sah in ihr das Kind, das sie verloren.

8. Und es begab sich weiter, dass etliche Menschen in Homeland sich erhoben wider ihre Unterdrücker, und diese hieß man die Rebellen. Und Sara wurde eine von diesen, und sie ward gesandt zu Lila, ihr zu dienen in der Kuppel, jenem Ort, an dem die Rotaugen wohnten, auf dass sie lerne, wie sie lebten. So gewahrte sie, dass ihre Tochter noch lebte.

9. Und zu derselben Zeit entdeckten Alicia und Peter das Nest des Martínez, der war der Zehnte der Zwölf, an dem Ort Carlsbad, und sie kämpften dort mit seinen Vielen. Doch fanden sie Martínez nicht, er hatte jenen Ort längst verlassen.

10. Denn Zero hatte Guilder, dem Direktor, befohlen, eine mächtige Festung zu erbauen, in der die Zwölf sollten Wohnung nehmen und sich nähren vom Blute der Tiere und auch vom Blute der Homelander. Ihre Vielen hatten fast jedes Lebewesen auf der Erde verschlungen und sie so zum Ödland gemacht, das weder für Mensch noch Viral oder irgendein Tier taugte.

11. Und dieser Absicht gemäß befahlen die Zwölf ihren Vielen, zu verlassen ihre Orte der Dunkelheit, um zu sterben. Dieses aber hieß man die Abstoßung.

12. Und die Zwölf begaben sich auf die Reise nach Homeland, das viele Meilen weit entfernt war, auf dass sie herrschen mögen über die Erde.

Siebtes Kapitel

1. Doch gab es einen, der der Worte Zeros nicht achtete, und das war Carter der Traurige, Zwölfter der Zwölf. Er hieß den Wolgast, Amy zu führen an den Ort, da er hauste, auf dass sie beide sich verbünden könnten wider seine Gefährten.

2. Und Amy gehorchte seinem Befehl und ging vom Ort Kerrville nach der Stadt Houston, und es begleitete sie Lucius der Getreue. Er stand ihr zur Seite und war ein rechtschaffener Mann in den Augen GOTTES.

3. Und in der Stadt Houston fand Amy das Schiff, welches hieß Chevron Mariner, darin Carter seine Wohnung genommen. Vielerlei begab sich zwischen ihnen, und als Amy hervorkam, war ihr Körper nicht länger der eines Kindes, sondern der einer Frau, und gemeinsam mit Lucius machte sie sich auf den Weg nach Homeland, um dort zu kämpfen mit den Zwölf.

4. Zu der Zeit aber reisten auch Peter, der Mann der Tage, und Michael, genannt der Clevere, sowie Hollis, der Ehemann der Sara, nach Homeland, um zu sehen, was dort geschah. Denn sie ahnten, dass Sara gefangen war an jenem Ort, und viele andere mit ihr.

5. Und bei ihnen waren noch zwei Gefährten. Die eine war Lore, genannt Lore die Pilotin, und der zweite war ein Verbrecher, Tifty der Gangster geheißen.

6. Und wiederum zur selben Zeit begab Alicia sich auf die Reise nach Iowa und folgte Martínez, dem Zehnten der Zwölf, da sie gelobt hatte, ihn zu töten. Martínez nämlich war der Ruchloseste unter diesen Dämonen, ein Mörder vieler Frauen und eine Geißel der Erde.

7. Alicia aber geriet in Gefangenschaft im Homeland und ertrug mancherlei Drangsal von der Hand der Rotaugen und ihrer Gehilfen, die Kols genannt wurden. Und der Schlimmste der Kols hieß Sod. Doch Alicia war stark und beugte sich nicht.

8. Und als Sod eines Nachts wieder in ihre Zelle kam, um sie gefügig zu machen nach seiner finsteren Art, sprach Alicia zu ihm: »Löse doch meine Ketten, auf dass du deine Wollust desto leichter befriedigen kannst.« Und sie schlang ihm die Ketten um den Hals und tötete ihn auf diese Weise. Und sie entfloh und tötete dabei noch viele.

9. Und in der Wildnis hinter den Mauern von Homeland erschien ihr Amy, und Alicia sah, dass sie nun eine Frau war an Körper und Geist. Und Amy tröstete sie, denn sie waren Schwestern im Blute.

10. Alicia aber hatte ein Geheimnis, und das war der Blutdurst. Denn die Saat der Zwölf in ihr wurde stark und machte aus ihr einen Viral. Darob aber ward ihr das Herz sehr schwer, denn sie liebte ihre Gefährten innig und wollte nicht von ihnen getrennt sein.

11. Und zu derselben Zeit ward Sara entdeckt von den Rotaugen und geriet in Gefangenschaft, wo sie mancherlei Misshandlung erlitt. Denn Guilder, der Direktor, verlangte, dass alle, die sich erhoben hatten wider ihn, das ganze Ausmaß seines Zorns spüren sollten.

12. Doch die Stunde der Abrechnung war nah, denn Amy und Alicia hatten sich zu den Rebellen gesellt, um sich wider die Rotaugen zu erheben. Und gemeinsam ersannen sie einen Weg, die Menschen von Homeland zu befreien und die Zwölf zu vernichten und zugleich Sara zu erretten.

Achtes Kapitel

1. Und es begab sich, dass Peter und seine Gefährten eintrafen im Lande Iowa, sodass sie nun alle zugegen waren und eine starke Heerschar bildeten. Aber die Größte unter ihnen war Amy.

2. Denn sie hatte sich den Rotaugen ergeben und also zu ihnen gesprochen: »Ich bin die Anführerin der Rebellen. Tut mit mir, wie ihr wollt.« Denn es war ihr Trachten, dass Guilder in seiner Wut die Zwölf entfessele, auf dass sie sie töteten.

3. Und alles geschah so, wie Amy es vorausgesehen hatte, und die Stunde ihrer Hinrichtung ward festgesetzt. Die aber sollte vollzogen werden im Stadion, einem großen Amphitheater aus der Zeit Davor, sodass die Bewohner von Homeland zu Zeugen würden.

4. Und Alicia und die anderen verbargen sich an jenem Ort, auf dass sie, sollten die Zwölf offenbar werden, ihre Waffen könnten richten auf sie und auch auf die Rotaugen.

5. Und Amy ward vor die Menge geführt, in Ketten gelegt und an ein Gerüst aus Metall gehängt. Und Guilder fand großes Entzücken an ihrem Leiden und ermunterte die Menge, es ihm gleichzutun.

6. Aber Amy gab ihm keine Genugtuung, und Guilder befahl den Zwölfen, sie zu verschlingen, auf dass alle, die zugegen waren, seine Macht erfahren und sich verbeugen sollten vor ihm.

7. Amy aber sah, dass sie nicht allein war, denn unter den Zwölfen war Wolgast, welcher Carters Platz eingenommen hatte, auf dass er sie beschütze. Und Amy sprach zu den Zwölfen:

8. »Meine Brüder, hallo. Ich bin Amy, eure Schwester.« Und weiter sprach sie kein Wort.

9. Denn sie begann zu zittern, und ihr Körper ward zu einem hellen Licht, das die Dunkelheit zerschmetterte, und mit wütendem Gebrüll verwandelte Amy sich in eine von ihnen und nahm an die Gestalt eines Virals, furchtbar anzusehen. Dies aber war das Loslassen. Einer, der es sah, war Peter, eine andere Alicia, ein Dritter war Lucius, und alle anderen sahen es auch.

10. Und die Ketten zerrissen, eine mächtige Schlacht begann, und ein großer Sieg ward errungen, doch viele verloren ihr Leben. Einer von ihnen war Wolgast, der sich opferte, um Amy zu retten, denn er liebte sie wie ein Vater sein Kind.

11. Und so begab es sich, dass die Zwölf vom Antlitz der Erde getilgt wurden, und alle Menschen waren frei.

12. Von Amys Schicksal jedoch wussten ihre Freunde nichts, denn sie war nirgends zu finden.

I

Die Tochter

98–101 n. V.

Es gibt eine andere Welt, doch es ist diese.

Paul Éluard

1

Central Pennsylvania
August 98 n. V.
Acht Monate nach der Befreiung Homelands

Der Boden unter ihrer Klinge war nachgiebig und setzte den schwarzen Geruch von Erde frei. Die Luft war heiß und feucht, und in den Bäumen sangen Vögel. Sie kauerte auf Händen und Knien, stach in die Erde und stocherte sie auf. Handvoll für Handvoll schaufelte sie sie beiseite. Die Schwäche hatte nachgelassen, aber sie war nicht weg. Ihr Körper fühlte sich wacklig an, desorganisiert, ausgelaugt. Da war Schmerz, und da war die Erinnerung an Schmerz. Drei Tage waren vergangen, oder waren es vier? Schweißperlen glänzten auf ihrem Gesicht, und als sie sich die Lippen leckte, schmeckte sie Salz. Sie grub und grub. Der Schweiß lief in Rinnsalen an ihr herab und tropfte auf die Erde. Alles geht dorthin, dachte Alicia. Am Ende. Alles geht in die Erde.

Der Haufen neben ihr wuchs. Wie tief war tief genug? Nach knapp einem Meter begann sich die Erde zu verändern. Sie wurde kälter und roch nach Ton. Es war wie ein Zeichen. Sie wippte auf den Stiefelfersen zurück und trank in tiefen Zügen aus ihrer Flasche. Ihre Hände waren wund; ein großes Stück Haut am Daumenballen hatte sich abgeschält. Sie nahm das Stück zwischen Daumen und Zeigefinger in den Mund, trennte den Hautlappen mit den Zähnen ab und spuckte ihn auf den Boden.

Soldier wartete am Rand der Lichtung, und seine Kiefer arbeiteten geräuschvoll an einem Büschel des hüfthohen Grases. Die anmutige Hinterhand, die volle Mähne und das Blue-Roan-Fell, die prachtvollen Hufe und Zähne, die Augen, glänzend wie große schwarze Murmeln – eine glorreiche Aura umgab ihn. Wenn er wollte, konnte er absolut ruhig sein, und im nächsten Moment vollbrachte er bemerkenswerte Leistungen. Er hob das kluge Gesicht, als er sie kommen hörte. Ich verstehe. Wir sind bereit. Er wendete in einem langsamen Kreisbogen, den Kopf gesenkt, und folgte ihr unter die Bäume zu der Stelle, wo sie ihre Plane aufgespannt hatte. Auf dem Boden neben Alicias blutigem Schlafsack lag das kleine Bündel, in eine fleckige Decke gewickelt. Ihre Tochter hatte weniger als eine Stunde gelebt, aber in dieser Stunde war Alicia zur Mutter geworden.

Soldier beobachtete sie, als sie wieder hervorkam. Das Gesicht des Babys war bedeckt. Alicia schlug das Tuch zurück, und Soldier senkte den Kopf zu dem Kind herunter, blähte die Nüstern, atmete seinen Duft ein. Winzig, die Nase und die Augen und der Rosenknospenmund, verblüffend in ihrer ganzen Menschlichkeit. Der Kopf war mit weichem roten Haar bedeckt. Aber da war kein Leben, kein Atem. Alicia hatte sich gefragt, ob sie in der Lage sein würde, sie zu lieben – dieses Kind, empfangen inmitten von Entsetzen und Schmerz, gezeugt von einem Ungeheuer. Von einem Mann, der sie geschlagen, vergewaltigt, beschimpft hatte. Wie töricht sie gewesen war.

Sie kehrte zurück auf die Lichtung. Die Sonne stand senkrecht über ihr; Insekten summten im Gras, rhythmisch pulsierend. Soldier stand neben ihr, als sie ihre Tochter ins Grab legte. Als die Wehen einsetzten, hatte Alicia angefangen zu beten. Mach, dass ihr nichts fehlt. Als eine Stunde der Qual in der nächsten zerfloss, hatte sie die kalte Gegenwart des Todes in sich gefühlt. Das Hämmern des Schmerzes dröhnte in ihr, ein Wind aus Stahl, und hallte in ihren Zellen wider wie Donner. Etwas stimmte nicht. Bitte, Gott, beschütze sie, beschütze uns. Aber ihre Gebete blieben ungehört.

Die erste Handvoll Erde war die schwerste. Wie tat man das? Alicia hatte schon viele Menschen begraben. Manche hatte sie gekannt, andere nicht. Nur einen hatte sie geliebt. Den Jungen, Hightop. So lustig, so lebendig – und dann fort. Sie ließ die Erde durch die Finger rieseln. Mit einem leisen Prasseln traf sie auf das Tuch, wie die ersten Regentropfen auf dem Laub. Stück für Stück verschwand ihre Tochter. Leb wohl, dachte sie, leb wohl, meine Liebste, meine Einzige.

Sie kehrte zu ihrem Zelt zurück. Es war, als sei ihre Seele zerschmettert. Eine Million Glassplitter füllten ihre Brust, und ihre Knochen schienen aus Blei zu sein. Sie brauchte Wasser und etwas zu essen, denn ihre Vorräte waren erschöpft. Aber Jagen kam nicht in Frage, und der Bach, fünf Minuten weiter unten am Berg, kam ihr meilenweit entfernt vor. Die Bedürfnisse des Körpers – was bedeuteten sie schon? Nichts war mehr wichtig. Sie legte sich auf ihren Schlafsack und schloss die Augen, und bald war sie eingeschlafen.

Sie träumte von einem Fluss. Es war ein breiter, dunkler Fluss, und darüber schien der Mond. Sein Licht schimmerte auf dem Wasser wie eine goldene Straße. Was vor ihr lag, wusste Alicia nicht; sie wusste nur, dass sie diesen Fluss überqueren musste. Sie tat den ersten, vorsichtigen Schritt auf die glänzende Oberfläche, innerlich im Zwiespalt: Einerseits staunte sie über diese unwahrscheinliche Art des Vorankommens, andererseits überhaupt nicht. Als der Mond das andere Ufer berührte, erkannte sie, dass sie getäuscht worden war. Der glänzende Weg löste sich auf. Sie fing an zu laufen und versuchte verzweifelt, das andere Ufer zu erreichen, bevor der Fluss sie verschlang. Aber der Weg war zu weit, und mit jedem Schritt, den sie tat, sprang der Horizont ein Stück weiter zurück. Das Wasser schwappte um ihre Knöchel, ihre Knie, ihre Hüften. Sie hatte nicht die Kraft, gegen den Sog anzukämpfen. Komm zu mir, Alicia. Komm zu mir, komm zu mir, komm zu mir. Sie versank, der Fluss holte sie, sie stürzte ins Dunkel …

Sie erwachte in einem gedämpften orangegelben Licht. Der Tag war fast vorüber. Bewegungslos blieb sie liegen und sammelte ihre Gedanken. Sie hatte sich an diese Alpträume gewöhnt. Die Bestandteile veränderten sich, aber das Gefühl nie – die Vergeblichkeit, die Angst. Aber diesmal war doch etwas anders gewesen. Ein Aspekt des Traums war in ihr Leben vorgedrungen. Ihr Hemd war nass. Sie schaute hinunter und sah wachsende Flecke. Ihr Milchfluss hatte begonnen.

Zu bleiben war keine bewusste Entscheidung. Der Wille zum Weitergehen war einfach nicht da. Ihre Kraft kehrte zurück, mit kleinen Schritten zunächst, und dann war sie plötzlich da, wie ein lange erwarteter Gast. Sie baute sich eine Hütte aus Ästen und Ranken und benutzte die Zeltplane als Dach. Der Wald wimmelte von Leben: Es gab Eichhörnchen und Kaninchen, Wachteln und Tauben und Rehe. Manches war zu flink für sie, aber nicht alles. Sie stellte Fallen auf und wartete auf Beute, oder sie benutzte die Armbrust: ein Schuss, ein sauberer Tod, und dann ein Abendessen, roh und warm. Wenn am Ende des Tages das Licht schwand, badete sie im Bach. Das Wasser war klar, und die Kälte war jedes Mal ein Schock. Einmal sah sie dabei die Bären. Ein Rascheln, zehn Meter weit stromaufwärts, etwas Schweres, das sich im Gebüsch bewegte, und dann erschienen sie am Ufer, eine Bärenmutter mit zwei Jungen. Alicia hatte solche Tiere noch nie leibhaftig gesehen, nur in Büchern. Sie stöberten zusammen im seichten Wasser und wühlten mit den Schnauzen im Schlamm. Ihre Anatomie wirkte irgendwie unverbunden und halb fertig, als wären die Muskeln unter dem dicken, von Zweigen durchflochtenen Pelz nicht fest mit der Haut vernäht. Eine Wolke von Insekten umgab sie, funkelnd im letzten Tageslicht. Die Bären bemerkten sie anscheinend nicht, und wenn doch, hielten sie sie nicht für wichtig.

Der Sommer verging. Gerade befand sie sich noch in einer Welt aus dicken grünen Blättern und dichtem Schatten, und dann explodierte der Wald in einem Tumult aus Farben. Morgens knirschte der Waldboden von Reif. Winterkälte senkte sich auf das Land und brachte ein Gefühl der Reinheit mit. Schnee lag schwer auf der Erde. Die schwarzen Reihen der Bäume, die kleinen Fußspuren der Vögel, der weiße Himmel, aus dem jede Farbe herausgewaschen war – alles war auf das Wesentliche reduziert. Welcher Monat war es? Welcher Tag? Mit der Zeit wurde die Nahrung zu einem Problem. Stundenlang, ja, über ganze Tage hinweg bewegte sie sich kaum und sparte ihre Kräfte. Seit fast einem Jahr hatte sie mit keiner Menschenseele mehr gesprochen, und nach und nach merkte sie, dass sie nicht mehr in Worten dachte, als wäre sie ein Geschöpf des Waldes geworden. Sie fragte sich, ob sie dabei war, den Verstand zu verlieren. Sie fing an, mit Soldier zu reden, als wäre er eine Person. Soldier, sagte sie, was wollen wir heute Abend essen? Soldier, meinst du nicht, es wird Zeit, Feuerholz zu sammeln? Soldier, sieht der Himmel nach Schnee aus?

Eines Nachts wachte sie in der Hütte auf und begriff, dass sie schon seit einer Weile Donner hörte. Ein nasser Frühlingswind wehte in richtungslosen Böen und wirbelte in den Baumwipfeln herum. Mit einem Gefühl, als betreffe es sie nicht, hörte Alicia, wie das Unwetter heraufzog, und dann war es plötzlich da. Ein Blitz zuckte über den Himmel und brannte das Bild der Umgebung in ihre Augen. Ein ohrenbetäubender Donnerschlag folgte. Sie ließ Soldier in die Hütte, als die Schleusen des Himmels sich öffneten und Regentropfen ausspien, so schwer wie Gewehrkugeln. Das Pferd zitterte vor Entsetzen, und Alicia musste es beruhigen: Nur eine panische Bewegung in dem engen Raum, und der mächtige Körper würde die Hütte zertrümmern. Du bist mein braver Junge, sagte sie und streichelte seine Flanke. Mit der freien Hand schlang sie ihm den Strick um den Hals. Mein braver, braver Junge. Was meinst du? Leistest du einem Mädel in einer Regennacht Gesellschaft? Sein Körper war angespannt, eine Mauer aus harten Muskeln, aber als sie Kraft aufwandte, um ihn herunterzuziehen, ließ er es zu. Vor den Wänden der Hütte erstrahlten die Blitze, und der Himmel schien zu schwanken. Mit machtvollem Seufzen ließ er sich auf die Knie fallen und drehte sich neben ihrem Schlafsack auf die Seite, und so schliefen sie beide, während der Regen die ganze Nacht herunterprasselte und den Winter wegwusch.

Zwei Jahre blieb sie an diesem Ort. Das Fortgehen fiel nicht leicht; der Wald war ein Trost für sie. Sie hatte seinen Rhythmus übernommen. Aber als der dritte Sommer begann, regte sich ein neues Gefühl in ihr. Es wurde Zeit weiterzuziehen. Zu vollenden, was sie begonnen hatte.

Den Rest des Sommers verbrachte sie mit Vorbereitungen. Dazu gehörte der Bau einer Waffe. Zu Fuß zog sie los und besuchte die kleinen Städte am Fluss, und als sie nach drei Tagen zurückkam, schleppte sie einen klirrenden Sack. Sie kannte die Grundlagen dessen, was sie vorhatte, denn sie hatte den Vorgang schon viele Male mitangesehen, und die Details würden sich durch systematisches Ausprobieren ergeben. Ein flacher Steinblock am Bach sollte ihr als Amboss dienen. Am Rand des Wassers entfachte sie ein Feuer und sah zu, wie es zu Kohle herunterbrannte. Es kam darauf an, die richtige Temperatur zu halten. Als sie das Gefühl hatte, dass alles stimmte, nahm sie das erste Teil aus dem Sack: eine Stange O1-Stahl, fünf Zentimeter breit, einen knappen Meter lang, einen Zentimeter dick. Als Nächstes holte sie einen Hammer heraus, eine Eisenzange und ein Paar dicke Handschuhe. Sie schob das Ende der Stahlstange in die Glut und sah zu, wie die Farbe sich veränderte, als das Metall heiß wurde. Dann machte sie sich an die Arbeit.

Sie musste noch dreimal stromabwärts wandern und Material holen, und das Resultat war plump, aber am Ende war sie zufrieden. Sie umwickelte das glatte Metall am Griff mit groben, faserigen Ranken, sodass sie es fest mit der Faust umschließen konnte. Das Gewicht lag angenehm in der Hand, und die polierte Spitze glänzte in der Sonne. Aber die eigentliche Prüfung wäre der erste Schnitt. Bei ihrem letzten Ausflug stromabwärts war sie an einem Feld mit menschenkopfgroßen Melonen vorbeigekommen. Sie wuchsen dort dicht an dicht in einem Gewirr von Ranken und Blättern, geformt wie greifende Hände. Sie hatte eine ausgesucht und sie im Sack nach Hause genommen. Jetzt legte sie sie vorsichtig auf einen umgestürzten Baumstamm, zielte und ließ das Schwert in einem senkrechten Bogen niederfahren. Die beiden getrennten Hälften rollten träge voneinander weg, als wären sie betäubt, und klatschten auf den Boden.

Jetzt hielt sie nichts mehr an diesem Ort. Am Abend vor ihrem Abschied besuchte Alicia das Grab ihrer Tochter. Sie wollte es nicht in letzter Sekunde tun. Ihr Abschied sollte sauber sein. Die Stätte war zwei Jahre lang unmarkiert geblieben. Nichts war ihr würdig genug erschienen. Aber sie unbezeichnet zu verlassen kam ihr falsch vor. Aus dem Stahl, den sie noch hatte, formte sie ein Kreuz, schlug es mit dem Hammer in den Boden und kniete davor nieder. Der Leichnam würde inzwischen nicht mehr da sein. Vielleicht noch ein paar Knochen, oder der Abdruck von Knochen. Ihre Tochter war in die Erde übergegangen, in die Bäume, die Steine, ja, sogar in den Himmel und die Tiere. Sie war an einem Ort jenseits allen Wissens. Ihre nie erprobte Stimme war im Gesang der Vögel, die rote Haube ihres Haars im flammenden Laub des Herbstes. An das alles dachte Alicia und berührte mit einer Hand die weiche Erde. Aber sie hatte keine Gebete mehr in sich. Ein Herz, das einmal gebrochen war, blieb gebrochen.

»Es tut mir leid«, sagte sie.

Ein wenig bemerkenswerter Morgen dämmerte herauf: windstill, grau, die Luft kompakt von Nebel. Das Schwert in seiner Scheide aus Hirschleder hing schräg über ihrem Rücken, und die Messer klemmten unter den Patronengurten x-förmig vor ihrer Brust. Eine Schutzbrille mit dunklen Gläsern und ledernen Abschirmungen an den Schläfen verbarg ihre Augen. Sie befestigte die Satteltasche an ihrem Platz und schwang sich auf Soldiers Rücken. Seit Tagen schweifte er rastlos umher; er spürte, dass sie bald aufbrechen würden. Werden wir tun, was ich vermute? Mir gefällt es hier eigentlich ganz gut, weißt du Sie hatte vor, ostwärts am Bach entlangzureiten und seinem Lauf durch die Berge zu folgen. Mit etwas Glück würde sie New York erreichen, bevor die ersten Blätter fielen.

Sie schloss die Augen und wartete, bis ihr Kopf ganz leer war. Erst wenn alles frei wäre, würde die Stimme kommen. Sie kam von dort, wo auch die Träume herkamen, und wisperte in ihr Ohr wie der Wind aus einer Höhle.

Alicia, du bist nicht allein. Ich kenne deine Trauer, denn es ist meine eigene. Ich warte auf dich, Lish. Komm zu mir. Komm nach Hause.

Sie stieß Soldier die Fersen in die Flanken.