3
Der Husumer Bahnhof war nur ein schmuckloser Regionalbahnhof außerhalb des Stadtzentrums. Doch als Krumme aus dem Zug stieg, kam er sich vor wie ein Wallfahrer, der endlich sein Ziel erreicht hat. Er schloss die Augen und konzentrierte sich ganz auf den Duft des nahen Meeres, lauschte dem Kreischen der Möwen, während ihm ein überraschend kalter Wind über das Gesicht strich, und holte tief Luft, um die eisige, nach der langen Zugfahrt angenehme Kälte einzuatmen. Er lächelte. Die erste Etappe war geschafft.
»Da ist er ja, unser Weltenbummler!«, ertönte auf einmal eine gemütliche Bassstimme. Ein Mann, dessen gewaltiger Bauch in einer grauen Windjacke steckte, stapfte strahlend auf Krumme zu. Unter seinen dichten Brauen blitzten muntere Augen, Nase und Wangen waren von winzigen roten Äderchen durchzogen, und aus einer Schiebermütze lugten ergraute Haare hervor. An seiner Seite ging ein Hüne. Mit wettergegerbtem Gesicht und einer ausgeblichenen blauen Latzhose schritt er in lehmverkrusteten Gummistiefeln neben dem Dicken her. Auch er lächelte freundlich, aber ihm war anzumerken, dass er sich hier auf dem Bahnhof, direkt neben dem gerade wieder losfahrenden Zug, unwohl fühlte.
»Krumme, lieber Freund, wie schön Sie wiederzusehen!«, begrüßte ihn Polizeihauptkommissar Mannsen, der Dicke, und breitete herzlich die Arme aus, eigentlich eher untypisch für einen geborenen Friesen, die normalerweise für ihre liebenswerte Verstocktheit bekannt waren. Da Krumme ihm schon die Hand entgegengestreckt hatte, gab es einen kurzen, peinlichen Moment, bis Mannsen sich durchsetzte und seinen Berliner Kollegen freundlich an die kräftige Brust drückte. Für einen Augenblick raubte Krumme die Mischung aus scharfem Schweißgeruch und Old Spice den Atem, dann ließ sein Freund ihn wieder los.
»Sie sind wirklich gekommen«, ächzte Krumme. »Aber das wäre doch nicht nötig gewesen.«
»Und wie das nötig ist!«, dröhnte Mannsen fröhlich und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Denken Sie, ich lasse Sie hier mutterseelenallein durch die Gegend juckeln?«
»Ich muss doch nur in den Bus steigen …«
»Nix da! Wir bringen Sie zur Fähre. Sie kennen sich hier doch gar nicht aus. Am Ende landen Sie noch in irgendeinem Priel und gehen verloren.«
Das bezweifelte Krumme. Wer mit den verwirrend vielen und chronisch überfüllten Berliner Verkehrsmitteln keine Probleme hatte, würde bestimmt auch einen Bus auf einem fast ausgestorbenen Busbahnhof finden. Aber egal. Offensichtlich bedeutete es Mannsen viel, ihm helfen zu können. Und Krumme wollte nicht unhöflich sein.
Der nordfriesische Polizeibeamte zeigte auf seinen Begleiter.
»Harke wollte unbedingt mitkommen. Obwohl er sonst so gut wie nie in die Stadt fährt.«
Krumme bedachte den riesenhaften Mann mit einem verständnisvollen Nicken. Harke arbeitete als Knecht und Landarbeiter in Kleebüll. Ob das kleine Husum die einzige Stadt war, die er bisher gesehen hatte? Kaum vorstellbar, dass er schon mal in Hamburg gewesen war. Oder Berlin.
Harke lächelte verlegen. Anders als Mannsen reichte er Krumme nur seine riesige Pranke.
»Hallo«, sagte er und warf dabei einen unsicheren Blick auf den dampfenden Güterzug, der gerade auf dem anderen Gleis durch den Bahnhof rauschte.
»Hallo, Harke, schön dich wiederzusehen.« Krummes Freude war echt. Harke war ein Spinner – aber er hatte Krumme das Leben gerettet. Er hatte ihn damals in Kleebüll schwerverletzt auf dem Deich gefunden und auf seinen starken Armen durch Sturm und Regen zum nächsten Arzt getragen.
Harke nickte nur, machte aber keine Anstalten, die Hand des Kommissars wieder loszulassen. Dabei fixierte er Krumme so aufmerksam, als wollte er mit seinen meerwasserblauen Augen direkt in die Tiefen seiner Seele blicken. Irritiert versuchte Krumme seine Hand wieder zurückzuziehen, aber es gelang ihm nicht.
Mannsen verdrehte seufzend die Augen und klopfte dem hünenhaften Knecht freundlich auf die breite Schulter.
»Na komm, min Jung, Schluss mit den Spielereien. Greif dir seinen Koffer und ab zum Auto.«
Harke löste sich aus seiner inneren Starre, strich sich mit seiner Pranke verwirrt über die Stirn und schnappte sich dann das Gepäck. Mannsen beugte sich vertraulich zu Krumme hinüber, während sie ihm folgten.
»Keine Ahnung, was er hat. Eigentlich konnte er es kaum erwarten, Sie endlich wiederzusehen. Seit Tagen hat er von nichts anderem geredet.«
Krumme machte eine wegwerfende Handbewegung. Seine Geduld für Harkes Spleens war nach den Erlebnissen jener düsteren Nacht grenzenlos.
Der Husumer Bahnhof befand sich neben dem Stadtzentrum an einer Seitenstraße. Der kleine Parkplatz lag genau gegenüber einem nüchternen Bau aus den siebziger Jahren – dem Polizeipräsidium. Krumme betrachtete es nachdenklich, während Harke seinen Rollkoffer in Mannsens zugemüllten zehn Jahre alten Volvo-Kombi hievte, der alleine im Schatten des Bahndamms stand.
Mannsen stellte sich neben seinen Berliner Kollegen und folgte dessen Blick zum Präsidium auf der anderen Straßenseite.
»Und? Was macht das Geschäft?«, erkundigte sich Krumme.
»Keine Ahnung, was die da gerade treiben.« Mannsen zuckte mit den Schultern. »Bei uns ist im Moment alles ruhig. Ändert sich bestimmt, wenn die Hauptsaison beginnt und die ganzen Städter wieder über uns herfallen. Wollen wir? Sonst verpassen wir die Fähre.«
Krumme nickte. Je schneller er auf dem Schiff war, desto eher hatte er seine Ruhe. Während Mannsen zur Fahrerseite stapfte, sah er fragend zu Harke hinüber, um zu klären, wer vorne sitzen sollte. Aber der hatte die Entscheidung schon getroffen und quetschte sich, ohne zu zögern, auf den Beifahrersitz.
Wieder wandte sich Mannsen hinter vorgehaltener Hand an Krumme. »Harke sitzt immer vorne«, raunte er.
»Kein Problem«, flüsterte Krumme.
War es dann aber doch. Denn als er sich hinter Mannsens Sitz drücken wollte, musste er feststellen, dass er auf der nach alten Männern und muffigen Socken riechenden Rückbank nicht alleine war: Reiko, Harkes Dobermann, saß hinter dem weit nach hinten geschobenen Sitz seines Herrchens und musterte Krumme stumm mit schwarzglänzenden Augen.
Mannsen quälte seinen massigen Körper leise ächzend hinter das Steuer, dann drehte er sich zur Rückbank um. »Tut mir leid«, meinte er, als er Krummes erschrockene Miene bemerkte. »Den hatte ich ganz vergessen.«
»Reiko wollte unbedingt mitkommen«, meldete sich Harke und lächelte dabei zum ersten Mal über das breite Gesicht. »Du bist doch sein Freund.«
Das musste wohl so sein. Nach Harkes Aussage war es Reiko gewesen, der ihn damals auf dem Deich gefunden hatte. Nur wenig später und er wäre elendig auf dem nassen Boden verblutet.
Krumme hatte dem Vierbeiner also sein Leben zu verdanken. Trotzdem war er nie richtig warm mit ihm geworden. Als Berliner war er Hunde in allen Spielarten gewohnt, aber Dobermänner hatte er noch nie leiden können. Er versuchte das Eis zu brechen, indem er Reikos Hals kraulte.
»Ach … hallo, mein Lieber, schön dich wiederzusehen«, behauptete er mit leicht nervöser Miene. Sofort fing Reiko leise an zu knurren. In seinen Augen meinte Krumme lodernde Flammen zu erkennen.
»Na, Reiko, sagst du dem Kommissar guten Tag?«, erkundigte sich Harke fröhlich.
Mannsen fing Krummes unbehaglichen Blick auf und grinste.
»Keine Sorge. Sobald wir losfahren, ist er ganz friedlich.«
Tatsächlich verstummte Reiko in dem Augenblick, als Mannsen den Volvo startete und vom Parkplatz fuhr. Ja, zu Krummes Überraschung legte er seinen Kopf sogar plötzlich auf seinen Schoß und schien von einer Sekunde zur anderen zu schlafen.
»Na, was hab ich gesagt?«, meinte Mannsen, »Reiko liebt Autofahren.«
Ganz im Gegensatz zu seinem Herrchen. Als Mannsen den Volvo durch die Stadt lenkte, vorbei an Husums kleinem Hafen und entlang der Bahnlinie hinaus Richtung Norden, krallte Harke seine Hände wie ein kleines Kind in die Konsole und zuckte bei jedem Auto zusammen, das ihnen entgegenkam oder sie überholte.
»Und? Gute Fahrt gehabt?«, versuchte Mannsen die Konversation in Gang zu bringen.
»Ja.«
»War nicht viel los im Zug, was?«
»Mm«, machte Krumme nur, in der Hoffnung, dass Mannsen verstand, dass ihm gerade nicht nach Reden zumute war. Lieber wollte er aus dem Fenster die nordfriesische Landschaft betrachten. Sie fuhren über Schobüll hinaus Richtung Norden. Auf der linken Seite zeigte sich endlich das Meer. Seit er heute Morgen seine Wohnung in Neukölln verlassen hatte, hatte er sich auf diesen Moment gefreut. Zur Belohnung glitzerte die Nordsee wie auf einer Ansichtskarte endlos in der Mittagssonne. Im warmen Wagen konnte man sich gar nicht vorstellen, dass draußen eisige Kälte herrschte. Nur ein paar blasse Wolkenschleier trieben über den ansonsten strahlend blauen Himmel und spiegelten sich im Wasser, über das gerade ein kleiner Kutter an der Eiderstedter Halbinsel vorbei hinaus auf die offene See fuhr.
»Schön, oder?«, schien Mannsen seine Gedanken zu erraten.
Krumme atmete tief durch. Oh ja, das war es.
Sie bogen links nach Nordstrand ab. Das im Verhältnis zum belebten Husum eher karge Eiland war früher eine Insel gewesen, ein Überbleibsel der großen Burchard-Flut von 1634, die halb Nordfriesland zerstört und die Küstenlinie komplett verändert hatte. Doch dann war Nordstrand Anfang des 20. Jahrhunderts in einem aufwendigen Projekt wieder durch einen fast drei Kilometer langen Damm mit dem Festland verbunden worden. Seitdem war es weder eine Insel noch eine richtige Halbinsel – ein Zwitter im Herzen des nordfriesischen Wattenmeeres mit seinen vielen Eilanden und Halligen.
Ohne ein Wort zu sprechen, fuhren sie weiter. Krumme fiel auf, dass Harke immer noch seltsam angespannt wirkte. Den Kopf dicht unter das niedrige Wagendach gepresst starrte er auf die lange, gerade Straße, die sich vor ihnen durch das üppige Grün zog. Woran der große Mann wohl dachte? Krumme hatte schon gelernt, dass Harkes Fantasie ein geheimnisvolles Land war.
Endlich hatten sie es geschafft. Nach einer letzten Auffahrt über einen Deich erblickten sie Strucklahnungshörn, Nordstrands kleinen, aber im Moment sehr belebten Fährhafen. Die Fähre lag schon vor Anker. Ein großes, stolzes Schiff. Weiß in der Sonne glänzend lag es im Hafen, mit aufgeklapptem Bug, durch den sich ein langer Strom aus Passagieren, Autos und sogar Bussen schob. Kriminalhauptkommissar Theo Krumme lächelte zufrieden. Er hatte die letzte Etappe seiner kleinen Reise erreicht.