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An seinem letzten Morgen im Knast wachte Sami Macbeth früh auf, putzte sich die Zähne, faltete seine Decken ordentlich zusammen und setzte sich wartend auf das Bett.
Er hat sich gesagt, dass er alles, was er machte, zum letzten Mal machte. Es war das letzte Mal, dass er in einen Metalltopf pinkelte; das letzte Mal, dass man ihn einer Leibesvisitation unterzog oder dass er entlaust wurde. Oder dass er zum morgendlichen Chor von Fürzen, Rülpsern, Fluchen und Husten erwachte.
Weil er nicht stillsitzen kann, zählt er sich durch hundert Liegestütze, wobei er durch die Nase atmet. Er steht auf und blickt in den Rasierspiegel, ist nicht mehr überrascht, als er sich mit kurz geschorenen Haaren sieht. Die wachsen schnell nach. Er hat zugenommen. Das meiste sind wahrscheinlich Muskeln, aber er ist nicht wie die Knackis, die jeden wachen Moment damit verbringen, Gewichte zu heben und sich vor dem Spiegel zu dehnen. Wen wollen die damit beeindrucken?
Mit zwei raschen Schritten springt Sami gegen die Wand, setzt seinen Fuß in Brusthöhe auf und schlägt einen kompletten Salto, bevor er wieder auf den Füßen landet. Das macht er noch einmal … und noch einmal.
Eine Stimme von unten unterbricht ihn.
»Hör auf mit dem Scheiß, Arschloch, ich versuch hier zu schlafen.«
»Bin fast fertig«, sagt Sami.
»Noch einmal, und ich bring deine gesamte Familie um.«
Samis Zelle liegt im ersten Stock, Nummer 47. Flügel D. Sie ist 2,50 breit und 3 Meter lang, mit Backsteinwänden und Zementfußboden. Das einzige Fenster, hoch oben in der Wand, hat winzige Glasquadrate, von denen ein paar fehlen oder zerbrochen sind. Als er hier ankam, Mitte Februar, pfiff der Wind durch die Löcher, und die Zelle war eiskalt. Irgendwann hat er die Ritzen mit Klopapier ausgestopft, das er zu einer Masse zerkaut und wie Kitt in die Löcher geklemmt hat.
Er muss sich um einen weiteren Winter keine Sorgen mehr machen. Heute Mittag ist er hier raus. Nicht vollkommen frei, aber so gut wie. Bewährung ist eine tolle Sache.
Sami gähnt und reibt sich die Augen. Er hat nicht gut geschlafen. Gestern ist ein Neuer gekommen, und sie haben ihn in die Nachbarzelle gesteckt. Der Junge versuchte, locker zu wirken und den Taffen zu mimen, aber seine Augen waren so groß wie Untertassen, und er sah die Leute von der Seite an wie ein Vogel im Käfig.
Die Häftlinge nannten ihn Baby Ray, und er hat die ganze Nacht damit verbracht, Sami vollzuquatschen – zu viel Angst, um einzuschlafen. Das Zittern der ersten Nacht. Hat jeder. Er hat Sami erzählt, dass er nicht lange bleiben würde, nur für kurze Zeit, nur eine Nacht. Am nächsten Tag hätte er eine Kautionsverhandlung, und sein alter Herr würde zahlen, wie viel auch immer nötig wäre, um ihn rauszukriegen.
»Dein alter Herr muss tiefe Taschen haben«, hat Sami gesagt.
»Ich bin sein einziger Sohn.«
Baby Ray hatte eine Engelszunge, eine scharfe Zunge, eine Zunge für jede Furche. Er erzählte von den Mädchen, die er gevögelt hat, den Kämpfen, die er gewonnen hat, den Deals, die er gemacht hat. Es störte Sami nicht. Er würde in seiner letzten Nacht sowieso nicht schlafen. Er würde die Stunden zählen.
Baby Ray muss entweder zum Frühstück gegangen sein oder noch schlafen. Samis Magen knurrt. Normalerweise ist das die einzige Mahlzeit, die er nicht versäumt. Das Frühstück kann keiner vermasseln. Man macht Rührei, man grillt Würstchen, man wärmt Bohnen auf; niemand kann ein Frühstück vermasseln.
Heute geht er nicht hin. Er will nicht, dass irgendetwas schiefgeht. Kein Gedrängel in der Essensschlange, keine Schlägereien, keine Schikanen, nichts, was ihm eine Anklage einbringen kann oder einen Widerruf seiner Bewährung. Stattdessen sitzt er auf seinem Bett, starrt die Wand an und denkt an Nadia.
Nadia ist seine Schwester. Sie ist neunzehn. Wunderschön.
Sie sehen nicht aus wie Geschwister. Nadia hat langes braunes Haar, braune Augen und goldbraune Haut. Sie ist halb Algerierin. Sami auch, aber er hat die blauen Augen seines Vaters geerbt und dessen dunkelblondes Haar.
Nadia war erst siebzehn, als Sami eingebuchtet wurde. Sie ging noch zur Schule. Jetzt arbeitet sie als Sekretärin und geht zweimal die Woche abends ins College. Sie hat eine Wohnung gemietet und fährt ihr eigenes Auto – einen von diesen Smarts, die aussehen, als gehörten sie zum Happy Meal.
Sami hat sie seit Weihnachten nicht mehr gesehen. Er ist erst vor zwei Wochen aus dem Leicester-Knast hierher nach The Scrubs zurückgeschickt worden, das war eine weite Reise für Nadia, sogar mit einem Berechtigungsschein für die Eisenbahn.
Jemand hatte sie gefahren, um ihn zu besuchen. Wartete draußen. Ihr Freund. Sie wollte Sami seinen Namen nicht nennen. Er hatte einen Sportwagen und fuhr mit offenem Verdeck, was ihre Haare durcheinandergebracht hatte.
Als alle zum Frühstück gegangen sind, verlässt Sami seine Zelle, um seine letzte Telefonkarte zu benutzen. Er ruft Nadia an. Sie geht nicht dran. Schon seit drei Tagen nicht. Sie weiß, dass er heute rauskommt.
Er geht zurück in seine Zelle. Sitzt. Wartet. Beobachtet die Uhr.
Die Zeit hat für ihn eine besondere Bedeutung. Er hat sie genau erkundet und die Kunst erlernt, sich ihr Verstreichen vorzustellen. Zwei Jahre, acht Monate und dreiundzwanzig Tage lang ist er zum Experten dafür geworden, wie viel eine Minute von einer Stunde wegnimmt und wie viel eine Stunde von einem Tag wegnimmt. Wie schnell ein Fingernagel wächst. Wie lange sein Pony braucht, um seine Augen zu bedecken.
Er hat zwei Geburtstage verpasst, zwei Weihnachten, zweimal Neujahr und zahllose Gelegenheiten für bedeutungslose One-Night-Stands mit ledigen Londoner Mädchen, die eine Schwäche für Gitarristen haben. Das wird er aufholen müssen.
Um 11:30 Uhr bringt Mr Dean, der Oberbulle des D-Flügels, ihm seine Sachen in einem Kopfkissenbezug.
Mr Dean wartet, dass er sich seine Jeans anzieht, ein Hemd, eine lederne Bomberjacke und Turnschuhe. Sami muss seine Gefängnisausstattung zurückgeben, die Mr Dean auf einer Liste abhakt. Danach geht er vor dem Wärter her zum Aufnahmezentrum, seine persönlichen Besitztümer im Arm. Das sind nicht viele: eine Armbanduhr, ein Transistorradio, drei Fotografien – zwei von Nadia –, ein Bündel Briefe, ein Handy mit leerer Batterie und eine Plastiktüte, die zweiunddreißig Pfund und fünfundsiebzig Pence enthält. Sami muss das Geld zählen und an drei Stellen dafür unterschreiben. Während er den Flur und die Metalltreppe hinuntergeht, rufen ihm ein paar andere Insassen etwas hinterher.
»Hey, Sparkles, wenn du rauskommst, lass dich für mich flachlegen.«
»Sauf dir einen an«, schreit jemand anders.
Drei Minuten nach zwölf tritt Sami durch die schmale Tür in den viel größeren Toren des Wormwood-Scrubs-Gefängnisses nach draußen. Es hat geregnet, aber der Schauer ist vorüber. In den Senken stehen Pfützen und spiegeln den blauen Himmel. Blauer jetzt, wo er draußen ist. Er hebt den Kopf und blinzelt in den Himmel. Atmet tief durch. Das ganze Gerede, von wegen dass Freiheit süß ist – es hat seinen Grund.
Er geht weiter über das Kopfsteinpflaster, weg von den Toren. Keine Spur von Nadia. Vielleicht hat sie sich verspätet. Londoner Verkehr. Auf der anderen Straßenseite, an einer Bushaltestelle, parkt ein Auto, ein großer Allrad-Lexus mit so dunkel gefärbten Fenstern, wie es gerade noch legal ist.
Als Sami daran vorbeigeht, gleitet ein Fenster herunter.
»Bist du Sami Macbeth?«, fragt eine Quietschstimme aus einem Kopf, so rund und glatt, dass es aussieht, als müsste er am Ende einer Schnur wippen. Das könnte die Stimme erklären, denkt Sami.
Im Auto sitzen noch drei andere Kerle, alle in dunklen Anzügen, als würden sie für einen Guy-Ritchie-Film vorsprechen. Das sind keine Freunde von Nadia, und sie sind auch nicht vom hiesigen Taxiunternehmen.
»Bist du verflucht noch mal taub?«, fragt der Kerl mit dem Luftballonkopf.
Sami kratzt seine Wange. Versucht, ruhig zu bleiben. »Was wollt ihr von Macbeth?«
»Bist du das oder nicht?«
»Nein, Kumpel«, sagt Sami und schwingt sich seine Tasche über die Schulter. »Macbeth hat’s heute Morgen versaut. Hat sich mit einem Typen gestritten und ihm eine Tasse Tee ins Gesicht geschüttet. Sie haben ihn drinbehalten.«
»Wie lange?«
Sami zeigt über die Schulter nach hinten. »Klopft doch an und fragt. Vielleicht sagen sie’s euch.«
Dann macht er einen kleinen Hüpfer und geht weg, wobei er sich ermahnt, nicht zurückzuschauen. Was wollen diese Kerle von ihm? Wo ist Nadia?
Weiter die Straße herunter findet er eine Bushaltestelle. Setzt sich hin. Wartet noch ein Weilchen.
Ein Bus hält. Das Poster an der Seite zeigt eine Frau in einem Bikini auf einem Liegestuhl. Goldene Haut. Helle Augen. Sami ist so damit beschäftigt, das Mädchen anzusehen, dass er vergisst einzusteigen. Der Bus fährt ab.
Er wartet. Noch ein Bus hält. Der Fahrer sieht ihn nicht an.
»Wo wollen Sie hin?«
»U-Bahn«.
»Welche?«
»Die nächste.«
»Zwei Mäuse.«
Sami nimmt einen Fensterplatz. Sieht auf die Sportplätze. Nadia musste wohl arbeiten. Bestimmt hat sie einen Zettel in der Wohnung hinterlassen. Sie feiern dann später. Werden ein Curry bestellen. Eine DVD gucken.
Seit ihre Mutter gestorben ist, haben Sami und Nadia aufeinander aufgepasst. Und sogar vorher hat er Nadia immer beschützt, wenn einer der geilen Freunde seines Vaters sich an sie heranmachen wollte.
Sie wollte mit sechzehn mit der Schule aufhören, Sami hat dafür gesorgt, dass sie weitermachte. Er hat Botenjobs übernommen, einen Lieferwagen gefahren. Nachts Gigs gespielt. Er ist nicht im Geld geschwommen, hatte aber genug, um die Wölfe fernzuhalten.
Sami hatte sich oft gefragt, was das Sprichwort wohl bedeutete. Welche Art Wolf damit gemeint war – der aus den Märchen, wie in »Rotkäppchen«, oder bei den drei kleinen Schweinchen oder eher die menschliche Variante?
Sie waren nicht immer eine glückliche Familie. Sami und Nadia bekamen sich oft fürchterlich in die Haare. So ist das mit Nadia. Sie ist kein Unschuldsengel. Dauernd macht sie Schwierigkeiten. Schule schwänzen. Sich als Minderjährige betrinken. Sich schon mit fünfzehn in Nachtclubs schleichen.
Nadia hatte außerdem ein paar dunkle Tage. Das lag in der Familie. Ein Vertrauenslehrer wollte sie zu einem Psycho-was-auch-immer schicken, aber Sami hat das nicht zugelassen. Außerdem hat er sich mit dem Sozialamt anlegen müssen, damit sie bei ihm wohnen konnte. Er war vor Gericht gegangen. Hatte gewonnen. Hat’s nicht raushängen lassen. Man darf denen keine Vorwände liefern.
Lange Zeit wusste Nadia gar nicht, dass sie schön war. Die Kerle hätten alles getan, um sie zu kriegen, aber das war ihr egal. Später merkte sie es dann.
Sie ließ ein paar Model-Fotos machen, als sie siebzehn war, professionelle Hochglanzbilder, mit Weichzeichner um die Ränder. Sie zeigte ihre Mappe bei ein paar Agenturen herum, doch die meinten nur, sie hätte nicht den Look, den sie suchten, den magersüchtigen Lass-mich-nicht-an-den-Kühlschrank-Heroin-Tussen-Look.
Sie hatte etwas. Die Fotografen wussten das. Einer von den Agenten wusste es. Nadia hatte diesen verletzlichen, große Augen, volle Lippen, Gerade-gevögelt-worden-Look, den Regisseure so lieben. Regisseure von Pornofilmen.
Süße, aber nicht ganz so unschuldige Nadia.
Sami rettete sie vor den Wölfen.
Dafür sind große Brüder schließlich da.