Buch

Sami Macbeth hat gerade eine dreijährige Gefängnisstrafe verbüßt für ein Verbrechen, das er nicht begangen hat. Er war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort und im Besitz einiger Dinge, die er eigentlich nicht hätte haben dürfen. Das Einzige, was Samis Moral aufrechterhielt, war der Gedanke an seine Schwester und seine Freundin. Nach seiner Entlassung will er auch zuerst diese beiden wiedersehen. Doch nur knapp entgeht er einer dubiosen Gruppe von Männern, die ihm gleich vor den Toren des Gefängnisses auflauern. Und dann kann er seine Schwester nicht finden. Ist sie etwa in Gefahr? Sami sucht erst einmal Unterschlupf bei seiner Freundin. Als er sich auf die Suche nach seiner Schwester macht, wird er allerdings in einen Raub verwickelt – ausgerechnet die Asservatenkammer des Strafgerichtshofes in London ist betroffen – und dann sogar in eine Bombenexplosion in der Londoner U-Bahn. Wieder einmal zur falschen Zeit am falschen Ort ist Sami nun erneut auf der Flucht. Eigentlich wollte er sein normales Leben, das er vor der Zeit im Gefängnis geführt hat, wieder aufnehmen, doch der Albtraum scheint kein Ende zu nehmen. Er braucht dringend Hilfe. Und hier kommt Vincent Ruiz ins Spiel, der raubeinige ehemalige Detective Inspector der Londoner Polizei …

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sowie zu lieferbaren Titeln des Autors
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Michael Robotham

Bis
du stirbst

Thriller

Deutsch
von Sigrun Zühlke

Die englische Originalausgabe erschien 2008
unter dem Titel »Bombproof«
bei Sphere in Australien und Neuseeland.

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Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2013
Copyright © der Originalausgabe 2008 by Michael Robotham
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotive: plainpicture / Millennium / Davies Marcus

Gestaltung der Umschlaginnenseiten:
UNO Werbeagentur, München
Motiv der Umschlaginnenseiten: plainpicture / Millennium / Davies Marcus
NG · Herstellung: Str.
Satz: DTP Service Apel, Hannover
ISBN: 978-3-641-06302-3
V004
www.goldmann-verlag.de

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Dieses Buch ist für meinen Vater

Ein ganz schlechter Tag

Some days are diamonds. Some days are stones. John Denver hatte das gesungen, bevor sein Flugzeug in die Monterey Bay stürzte. Es war kein Diamonds-Tag für ihn gewesen.

Sami Macbeths Tag bestand bis jetzt nur aus Stolpersteinen. Als er aus der U-Bahn-Station Oxford Circus heraustritt, blinzelt er ins Sonnenlicht und muss so heftig husten, dass es sich anfühlt, als wolle sein Schließmuskel durch die Lunge hochkommen. Seine Kleider sind zerrissen und voller Blutflecken. Sein Gesicht ist schweißbedeckt. Seine Haut mit Staub überzogen.

Sami duckt sich unter dem Absperrband hindurch. Leute weichen ihm aus und starren ihn an wie ein Gespenst.

Sechseinhalb Pfund TATP – übelstes Teufelszeug – haben gerade ein klaffendes Loch in einen voll besetzten Waggon der Central Line gesprengt, das Dach abgeschält, als ob ein Riese eine Dose Pfirsiche geöffnet hätte.

Es war schrecklich da unten. Chaos. Im einen Augenblick noch stand Sami an den Türen, und im nächsten lag er auf dem Rücken, mit Armen und Beinen zappelnd wie ein umgedrehter Käfer. Papier flog durch die Luft, Glas regnete auf ihn herab, und der Zug erbebte und hielt an.

Einen Moment lang wurde es ruhig und vollkommen dunkel. Dann begann das Schreien.

Menschen waren verletzt. Starben. Gott weiß wie viele. Wer hatte im anderen Wagen neben Dessie gesessen? Ein Kerl in einem Jesus-T-Shirt, eingeschlafen, sein Kopf nickte wie bei einem Wackeldackel. Daneben ein Anzugmensch mit Aktentasche. Ein Mädchen hatte auch noch dagestanden, an der Tür, mit einer kurzen Jacke. Das weiße Kabel ihrer Ohrstöpsel hing unter ihren langen Haaren heraus.

Sami blickt die Oxford Street hinauf und hinunter. Der Verkehr steht still. Busse, Lieferwagen, PKWs und Taxis – nichts geht mehr. Jemand gibt ihm eine Flasche Wasser. Er kippt sie sich über den Kopf. Ruß rinnt in seinen Mund, und es knirscht zwischen seinen Zähnen.

Als er zwischen zwei Lastwagen hindurch über die Straße geht, vergisst er, die Füße zu heben, und stolpert über den Bordstein. Der Fahrer ruft ihm etwas zu. Sami antwortet nicht. Er biegt in die Argyll Street ein und geht über die Great Marlborough, weicht Fußgängern aus. Er geht schnell.

Die Leute sehen sich an. Schockiert. Ratlos. Sami hört Fetzen ihrer Gespräche. »… Terroristen …«, »… eine Bombe …«, »… U-Bahn …«

Sie haben Angst. Sami hat auch Angst. Dessie hat sich gerade direkt ins verdammte Himmelreich gebombt. Er wird keinen großen Sarg brauchen – eine Y-förmige Kiste, damit seine Beine und seine Eier noch reinpassen.

Der Rucksack schlägt gegen Samis Rücken. Den sollte er fallen lassen und wegrennen. Das Risiko eingehen. Aber was würde Murphy dann mit Nadia machen?

Welche Ansage ist am Bahnsteig immer zu hören? »Bitte lassen Sie Ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt. Melden Sie jedes verdächtige Verhalten unverzüglich einem Mitarbeiter der Bahn«.

Sami sollte Murphy anrufen. Die ganze Sache erklären. Doch was sollte er ihm sagen? »Hey, Mr Murphy, auf dem Nachhauseweg ist uns was Komisches passiert. Wir haben aus Versehen einen Zug in die Luft gejagt, und Dessie hat den Kopf und noch ein bisschen mehr dabei verloren …«

Sami hat kein Handy. Dessie hatte das nicht gewollt. Jetzt bemerkt er jemanden, der eine SMS schickt. Der Kerl ist unrasiert, trägt tief sitzende Levis, die seine Arschritze sehen lassen.

Sami fragt, ob er das Handy kurz ausleihen dürfe. Der Kerl starrt ihn an. »Warst du da unten, Mann? Respekt.« Er gibt Sami das Handy. »Nimm. Ich komm sowieso nicht durch.«

Sami tippt eine Nummer. Nichts geschieht.

»Zu viele Gespräche. Alle wollen jetzt telefonieren«, sagt der Arschritzentyp. »Das Netz ist überlastet.«

Sami gibt ihm das Handy zurück und geht weiter, überquert an der nächsten Kreuzung die Straße. Er entdeckt ein schwarzes Taxi. Öffnet die Tür. Rutscht auf den Rücksitz. Lässt den Rucksack zwischen seinen Füßen auf den Boden fallen.

»Soll das ein Witz sein, mein Freund?«, fragt der Fahrer. Er zeigt auf die Straße vor ihnen. »Ich hab mich in vierzig verdammten Minuten keinen Zentimeter bewegt.«

Sami sieht sich im Rückspiegel. Sein Gesicht ist mit dunklem Ruß verschmiert, abgesehen von zwei weißen Linien, eine auf seiner Nasenspitze und die andere ein Rinnsal aus Schweiß, das über den Wangenknochen am Hals hinunterläuft. Wie Kriegsbemalung. Er kommt aus einer Schlacht.

Der Fahrer hört Radio.

»Was ist passiert?«, fragt Sami.

»Eine Bombe«, sagt der Fahrer. »Da könnten noch mehr sein.«

»Mehr was?«

»Selbstmordattentäter.« Der Fahrer sieht ihn an. »Sie müssen da unten gewesen sein. Sie sehen aus wie der verdammte Al Jolson.«

»Wer ist das?«

»Sie haben noch nie vom verdammten Al Jolson gehört?«

»Nein.«

»Das war ein Weißer, der sein Gesicht schwarz bemalt und wie ein Nigger gesungen hat.«

»Warum?«

»Weiß der Geier.«

Der Fahrer hat seine Tür offen stehen. Er steckt sich eine Zigarette an, der Rauch wird sofort verweht.

»Haben Sie ein Telefon«?, fragt Sami.

»Ja.«

»Könnte ich das leihen«?

»Wird Ihnen nicht viel nützen. Die haben das Netz lahmgelegt, oder das ganze Teil ist zusammengebrochen. Die halbe Welt versucht gerade, zu Hause anzurufen.«

»Warum sollten sie das Netz lahmlegen?«

»Um zu verhindern, dass die noch mehr Bomben zünden. So machen das die Turbanträger doch – sie nehmen Handys. Eine Nummer wählen und bumms. Keine Ahnung, was das soll. Leben und leben lassen, sag ich immer. Wir sollten einen Deal mit den Terroristen machen – wir marschieren nicht mehr in ihre verdammten Länder ein, und sie hören auf, uns in die Luft zu jagen.«

»Vielleicht waren es gar keine Terroristen«, gibt Sami zu bedenken.

»Aber natürlich waren es die verdammten Terroristen«, antwortet der Fahrer.

»Sie bluten doch nicht etwa, oder? Ich will kein verdammtes Blut auf meinen Sitzen.«

»Ich glaube nicht.«

»Sie sind voll mit dem schwarzen Scheiß. Vielleicht sollten Sie doch besser aussteigen.«

»Kann ich nicht einfach nur hier sitzen?«

»Sieht mein Taxi vielleicht aus wie ein verdammtes Rucksackhotel?«

Sami steigt aus. Schwingt sich den Rucksack über eine Schulter. Lässt den Kopf hängen und geht weiter.

Als er aus der Rupert Street in die Shaftesbury Avenue einbiegt, rennt er fast einen großen, fetten Bullen um, der an der Ecke steht und den Verkehr regelt. Wirklich fett, weit über zwei Zentner. Seine Weste, die über und über mit Polizeispielzeugen behängt ist, lässt ihn noch fetter aussehen.

Sami entschuldigt sich. Der Bulle befiehlt ihm, langsamer zu gehen und zu gucken, wo er hintritt. Dann bemerkt er Samis Klamotten und den Rucksack.

»Was trägst du da mit dir herum, Junge?«

»Nichts.«

»Sieht für nichts aber ziemlich schwer aus.«

»Dreckige Wäsche.«

»Zeig mal.«

»Da ist ein Zahlenschloss dran.«

»Schließt du deine Schmutzwäsche immer ein?«

»Es laufen ’ne Menge Perverse rum«, sagt Sami. »Man kann gar nicht vorsichtig genug sein.«

Der Bulle greift schon nach dem Funkgerät an seinem Arm.

Er befiehlt Sami, den Rucksack abzusetzen und langsam rückwärtszugehen.

Samis Eingeweide lassen ihn im Stich. Seine Haare sind voller Glassplitter. Seine Kleider total verdreckt. Er kann das hier jetzt nicht brauchen. Nicht heute. Nicht nach allem, was er durchgemacht hat. Irgendwo in seinem Unterbewusstsein zwinkert der Verschluss einer Kamera, und er sieht ein Dutzend Jahre Gefängnis vor sich. Der Verschluss zwinkert wieder, und dieses Mal sieht er seine Schwester Nadia auf dem Bild, wie sie auf einem Bett liegt, ihr Kleid klebt an ihrem Körper, eine Cracknutte für Tony Murphy.

Der schwarze Polizist packt Samis Arm. Der reagiert instinktiv. Rammt seinen Kopf in den Bauch des Bullen, hört, wie Luft pfeifend aus dessen Mund und Nase entweicht. Jetzt stürmt er los, rempelt Fußgänger an, springt über einen angeleinten Hund, bricht durch eine Warteschlange, überrennt einen Mann, der ein Tablett mit Sandwichs trägt.

Die U-Bahn ist geschlossen. Die Treppen wie leer gefegt. Bahnpolizei an den Stufen. Auf der anderen Straßenseite, zwischen Krankenwagen und Feuerwehrautos, stehen noch mehr Polizisten, sie halten die Menschenmenge zurück. Neugierige. Gaffer.

Sami prallt gegen einen Cafétisch, wobei er eine Weinflasche umkippt und eine Frau, die gerade beim Essen ist, umreißt. Ein Kellner beschimpft ihn. Er rennt weiter. Den Rucksack über einer Schulter. Der klatscht gegen seinen Rücken. Er sollte stehen bleiben und die Gurte fester ziehen, den Hüftgurt schließen, das Gewicht besser verteilen, aber er hat zu viel Angst, um stehen zu bleiben.

Lauf. Das sagen ihm alle seine Sinne. Lauf einfach. Weg von hier. Versuch, einen ruhigeren Ort zu finden. Den Rucksack zu verstecken. Einen Moment auszuruhen, um nachdenken zu können.

Er duckt sich in eine Gasse, lehnt sich mit dem Rücken an eine Wand. Der Rucksack hält ihn aufrecht. Er horcht. Sirenen. Stecken im Verkehr fest. Wer versucht, vor denen wegzurennen, verliert garantiert. Sie werden ihn einkreisen und auf Verstärkung warten.

Sami muss von der Bildfläche verschwinden. Abtauchen. Er hat jetzt Geld – den Vorrat aus dem Tresor. Aber zuerst muss er aus dem West End herauskommen … raus aus London.

Auf der anderen Seite des Platzes ist eine Kirche. Darin kann er sich verstecken. Den Rucksack in eine dunkle Ecke stellen. Ein Gebet sprechen. Das ist ein guter Plan.

Er kommt aus der Gasse und sieht sich drei Polizisten gegenüber. Einer von ihnen hat eine Waffe und beugt sich vor, die Waffe in beiden Händen, als wüsste er, wie man damit umgeht.

»Keine Bewegung!«, schreit er. »Lass die Tasche fallen.«

Sami guckt hinter sich, dann nach vorn. Reckt die Faust hoch, den Daumen aufgerichtet. Leer, aber das wissen die nicht.

»Ich hab eine verdammte Bombe«, schreit er und erkennt seine eigene Stimme nicht wieder. »Bleibt mir vom Leib, oder ich puste hier alles weg.«

Die Bullen werfen sich zu Boden. Sami rennt an ihnen vorbei. Der mit der Waffe versucht, auf die Ellbogen gestützt im Liegen zu zielen. Sami bleibt in Bewegung und schlägt Haken.

Eine Bombe. Er hat ihnen gesagt, er hätte eine Bombe. Was für eine erstklassige Scheiße hat er da gebaut. Was für ein Witz! Sami hat nicht einfach nur Pech; er ist ein richtiger Pechvogel, ein Unglücksrabe, eine Einmann-Abrisstruppe. Und er hat sich selbst in Teufels Küche gebracht.

Vor drei Tagen erst ist er aus dem Knast entlassen worden und hatte sich geschworen, dass er nie wieder dorthin zurückkehren würde. Vor sechsunddreißig Stunden hat er Kate Tierney gevögelt, die Frau seiner feuchten Träume, in einer Suite im Savoy, und dachte, sein Leben würde besser. Jetzt schleppt er einen Rucksack mit sich herum durchs Londoner West End, der ihn für den Rest seines Lebens hinter Gitter bringen könnte, und hat sich gerade zum meistgesuchten Mann Englands gemacht.

Und das kam so.

Vor drei Tagen

1

An seinem letzten Morgen im Knast wachte Sami Macbeth früh auf, putzte sich die Zähne, faltete seine Decken ordentlich zusammen und setzte sich wartend auf das Bett.

Er hat sich gesagt, dass er alles, was er machte, zum letzten Mal machte. Es war das letzte Mal, dass er in einen Metalltopf pinkelte; das letzte Mal, dass man ihn einer Leibesvisitation unterzog oder dass er entlaust wurde. Oder dass er zum morgendlichen Chor von Fürzen, Rülpsern, Fluchen und Husten erwachte.

Weil er nicht stillsitzen kann, zählt er sich durch hundert Liegestütze, wobei er durch die Nase atmet. Er steht auf und blickt in den Rasierspiegel, ist nicht mehr überrascht, als er sich mit kurz geschorenen Haaren sieht. Die wachsen schnell nach. Er hat zugenommen. Das meiste sind wahrscheinlich Muskeln, aber er ist nicht wie die Knackis, die jeden wachen Moment damit verbringen, Gewichte zu heben und sich vor dem Spiegel zu dehnen. Wen wollen die damit beeindrucken?

Mit zwei raschen Schritten springt Sami gegen die Wand, setzt seinen Fuß in Brusthöhe auf und schlägt einen kompletten Salto, bevor er wieder auf den Füßen landet. Das macht er noch einmal … und noch einmal.

Eine Stimme von unten unterbricht ihn.

»Hör auf mit dem Scheiß, Arschloch, ich versuch hier zu schlafen.«

»Bin fast fertig«, sagt Sami.

»Noch einmal, und ich bring deine gesamte Familie um.«

Samis Zelle liegt im ersten Stock, Nummer 47. Flügel D. Sie ist 2,50 breit und 3 Meter lang, mit Backsteinwänden und Zementfußboden. Das einzige Fenster, hoch oben in der Wand, hat winzige Glasquadrate, von denen ein paar fehlen oder zerbrochen sind. Als er hier ankam, Mitte Februar, pfiff der Wind durch die Löcher, und die Zelle war eiskalt. Irgendwann hat er die Ritzen mit Klopapier ausgestopft, das er zu einer Masse zerkaut und wie Kitt in die Löcher geklemmt hat.

Er muss sich um einen weiteren Winter keine Sorgen mehr machen. Heute Mittag ist er hier raus. Nicht vollkommen frei, aber so gut wie. Bewährung ist eine tolle Sache.

Sami gähnt und reibt sich die Augen. Er hat nicht gut geschlafen. Gestern ist ein Neuer gekommen, und sie haben ihn in die Nachbarzelle gesteckt. Der Junge versuchte, locker zu wirken und den Taffen zu mimen, aber seine Augen waren so groß wie Untertassen, und er sah die Leute von der Seite an wie ein Vogel im Käfig.

Die Häftlinge nannten ihn Baby Ray, und er hat die ganze Nacht damit verbracht, Sami vollzuquatschen – zu viel Angst, um einzuschlafen. Das Zittern der ersten Nacht. Hat jeder. Er hat Sami erzählt, dass er nicht lange bleiben würde, nur für kurze Zeit, nur eine Nacht. Am nächsten Tag hätte er eine Kautionsverhandlung, und sein alter Herr würde zahlen, wie viel auch immer nötig wäre, um ihn rauszukriegen.

»Dein alter Herr muss tiefe Taschen haben«, hat Sami gesagt.

»Ich bin sein einziger Sohn.«

Baby Ray hatte eine Engelszunge, eine scharfe Zunge, eine Zunge für jede Furche. Er erzählte von den Mädchen, die er gevögelt hat, den Kämpfen, die er gewonnen hat, den Deals, die er gemacht hat. Es störte Sami nicht. Er würde in seiner letzten Nacht sowieso nicht schlafen. Er würde die Stunden zählen.

Baby Ray muss entweder zum Frühstück gegangen sein oder noch schlafen. Samis Magen knurrt. Normalerweise ist das die einzige Mahlzeit, die er nicht versäumt. Das Frühstück kann keiner vermasseln. Man macht Rührei, man grillt Würstchen, man wärmt Bohnen auf; niemand kann ein Frühstück vermasseln.

Heute geht er nicht hin. Er will nicht, dass irgendetwas schiefgeht. Kein Gedrängel in der Essensschlange, keine Schlägereien, keine Schikanen, nichts, was ihm eine Anklage einbringen kann oder einen Widerruf seiner Bewährung. Stattdessen sitzt er auf seinem Bett, starrt die Wand an und denkt an Nadia.

Nadia ist seine Schwester. Sie ist neunzehn. Wunderschön.

Sie sehen nicht aus wie Geschwister. Nadia hat langes braunes Haar, braune Augen und goldbraune Haut. Sie ist halb Algerierin. Sami auch, aber er hat die blauen Augen seines Vaters geerbt und dessen dunkelblondes Haar.

Nadia war erst siebzehn, als Sami eingebuchtet wurde. Sie ging noch zur Schule. Jetzt arbeitet sie als Sekretärin und geht zweimal die Woche abends ins College. Sie hat eine Wohnung gemietet und fährt ihr eigenes Auto – einen von diesen Smarts, die aussehen, als gehörten sie zum Happy Meal.

Sami hat sie seit Weihnachten nicht mehr gesehen. Er ist erst vor zwei Wochen aus dem Leicester-Knast hierher nach The Scrubs zurückgeschickt worden, das war eine weite Reise für Nadia, sogar mit einem Berechtigungsschein für die Eisenbahn.

Jemand hatte sie gefahren, um ihn zu besuchen. Wartete draußen. Ihr Freund. Sie wollte Sami seinen Namen nicht nennen. Er hatte einen Sportwagen und fuhr mit offenem Verdeck, was ihre Haare durcheinandergebracht hatte.

Als alle zum Frühstück gegangen sind, verlässt Sami seine Zelle, um seine letzte Telefonkarte zu benutzen. Er ruft Nadia an. Sie geht nicht dran. Schon seit drei Tagen nicht. Sie weiß, dass er heute rauskommt.

Er geht zurück in seine Zelle. Sitzt. Wartet. Beobachtet die Uhr.

Die Zeit hat für ihn eine besondere Bedeutung. Er hat sie genau erkundet und die Kunst erlernt, sich ihr Verstreichen vorzustellen. Zwei Jahre, acht Monate und dreiundzwanzig Tage lang ist er zum Experten dafür geworden, wie viel eine Minute von einer Stunde wegnimmt und wie viel eine Stunde von einem Tag wegnimmt. Wie schnell ein Fingernagel wächst. Wie lange sein Pony braucht, um seine Augen zu bedecken.

Er hat zwei Geburtstage verpasst, zwei Weihnachten, zweimal Neujahr und zahllose Gelegenheiten für bedeutungslose One-Night-Stands mit ledigen Londoner Mädchen, die eine Schwäche für Gitarristen haben. Das wird er aufholen müssen.

Um 11:30 Uhr bringt Mr Dean, der Oberbulle des D-Flügels, ihm seine Sachen in einem Kopfkissenbezug.

Mr Dean wartet, dass er sich seine Jeans anzieht, ein Hemd, eine lederne Bomberjacke und Turnschuhe. Sami muss seine Gefängnisausstattung zurückgeben, die Mr Dean auf einer Liste abhakt. Danach geht er vor dem Wärter her zum Aufnahmezentrum, seine persönlichen Besitztümer im Arm. Das sind nicht viele: eine Armbanduhr, ein Transistorradio, drei Fotografien – zwei von Nadia –, ein Bündel Briefe, ein Handy mit leerer Batterie und eine Plastiktüte, die zweiunddreißig Pfund und fünfundsiebzig Pence enthält. Sami muss das Geld zählen und an drei Stellen dafür unterschreiben. Während er den Flur und die Metalltreppe hinuntergeht, rufen ihm ein paar andere Insassen etwas hinterher.

»Hey, Sparkles, wenn du rauskommst, lass dich für mich flachlegen.«

»Sauf dir einen an«, schreit jemand anders.

Drei Minuten nach zwölf tritt Sami durch die schmale Tür in den viel größeren Toren des Wormwood-Scrubs-Gefängnisses nach draußen. Es hat geregnet, aber der Schauer ist vorüber. In den Senken stehen Pfützen und spiegeln den blauen Himmel. Blauer jetzt, wo er draußen ist. Er hebt den Kopf und blinzelt in den Himmel. Atmet tief durch. Das ganze Gerede, von wegen dass Freiheit süß ist – es hat seinen Grund.

Er geht weiter über das Kopfsteinpflaster, weg von den Toren. Keine Spur von Nadia. Vielleicht hat sie sich verspätet. Londoner Verkehr. Auf der anderen Straßenseite, an einer Bushaltestelle, parkt ein Auto, ein großer Allrad-Lexus mit so dunkel gefärbten Fenstern, wie es gerade noch legal ist.

Als Sami daran vorbeigeht, gleitet ein Fenster herunter.

»Bist du Sami Macbeth?«, fragt eine Quietschstimme aus einem Kopf, so rund und glatt, dass es aussieht, als müsste er am Ende einer Schnur wippen. Das könnte die Stimme erklären, denkt Sami.

Im Auto sitzen noch drei andere Kerle, alle in dunklen Anzügen, als würden sie für einen Guy-Ritchie-Film vorsprechen. Das sind keine Freunde von Nadia, und sie sind auch nicht vom hiesigen Taxiunternehmen.

»Bist du verflucht noch mal taub?«, fragt der Kerl mit dem Luftballonkopf.

Sami kratzt seine Wange. Versucht, ruhig zu bleiben. »Was wollt ihr von Macbeth?«

»Bist du das oder nicht?«

»Nein, Kumpel«, sagt Sami und schwingt sich seine Tasche über die Schulter. »Macbeth hat’s heute Morgen versaut. Hat sich mit einem Typen gestritten und ihm eine Tasse Tee ins Gesicht geschüttet. Sie haben ihn drinbehalten.«

»Wie lange?«

Sami zeigt über die Schulter nach hinten. »Klopft doch an und fragt. Vielleicht sagen sie’s euch.«

Dann macht er einen kleinen Hüpfer und geht weg, wobei er sich ermahnt, nicht zurückzuschauen. Was wollen diese Kerle von ihm? Wo ist Nadia?

Weiter die Straße herunter findet er eine Bushaltestelle. Setzt sich hin. Wartet noch ein Weilchen.

Ein Bus hält. Das Poster an der Seite zeigt eine Frau in einem Bikini auf einem Liegestuhl. Goldene Haut. Helle Augen. Sami ist so damit beschäftigt, das Mädchen anzusehen, dass er vergisst einzusteigen. Der Bus fährt ab.

Er wartet. Noch ein Bus hält. Der Fahrer sieht ihn nicht an.

»Wo wollen Sie hin?«

»U-Bahn«.

»Welche?«

»Die nächste.«

»Zwei Mäuse.«

Sami nimmt einen Fensterplatz. Sieht auf die Sportplätze. Nadia musste wohl arbeiten. Bestimmt hat sie einen Zettel in der Wohnung hinterlassen. Sie feiern dann später. Werden ein Curry bestellen. Eine DVD gucken.

Seit ihre Mutter gestorben ist, haben Sami und Nadia aufeinander aufgepasst. Und sogar vorher hat er Nadia immer beschützt, wenn einer der geilen Freunde seines Vaters sich an sie heranmachen wollte.

Sie wollte mit sechzehn mit der Schule aufhören, Sami hat dafür gesorgt, dass sie weitermachte. Er hat Botenjobs übernommen, einen Lieferwagen gefahren. Nachts Gigs gespielt. Er ist nicht im Geld geschwommen, hatte aber genug, um die Wölfe fernzuhalten.

Sami hatte sich oft gefragt, was das Sprichwort wohl bedeutete. Welche Art Wolf damit gemeint war – der aus den Märchen, wie in »Rotkäppchen«, oder bei den drei kleinen Schweinchen oder eher die menschliche Variante?

Sie waren nicht immer eine glückliche Familie. Sami und Nadia bekamen sich oft fürchterlich in die Haare. So ist das mit Nadia. Sie ist kein Unschuldsengel. Dauernd macht sie Schwierigkeiten. Schule schwänzen. Sich als Minderjährige betrinken. Sich schon mit fünfzehn in Nachtclubs schleichen.

Nadia hatte außerdem ein paar dunkle Tage. Das lag in der Familie. Ein Vertrauenslehrer wollte sie zu einem Psycho-was-auch-immer schicken, aber Sami hat das nicht zugelassen. Außerdem hat er sich mit dem Sozialamt anlegen müssen, damit sie bei ihm wohnen konnte. Er war vor Gericht gegangen. Hatte gewonnen. Hat’s nicht raushängen lassen. Man darf denen keine Vorwände liefern.

Lange Zeit wusste Nadia gar nicht, dass sie schön war. Die Kerle hätten alles getan, um sie zu kriegen, aber das war ihr egal. Später merkte sie es dann.

Sie ließ ein paar Model-Fotos machen, als sie siebzehn war, professionelle Hochglanzbilder, mit Weichzeichner um die Ränder. Sie zeigte ihre Mappe bei ein paar Agenturen herum, doch die meinten nur, sie hätte nicht den Look, den sie suchten, den magersüchtigen Lass-mich-nicht-an-den-Kühlschrank-Heroin-Tussen-Look.

Sie hatte etwas. Die Fotografen wussten das. Einer von den Agenten wusste es. Nadia hatte diesen verletzlichen, große Augen, volle Lippen, Gerade-gevögelt-worden-Look, den Regisseure so lieben. Regisseure von Pornofilmen.

Süße, aber nicht ganz so unschuldige Nadia.

Sami rettete sie vor den Wölfen.

Dafür sind große Brüder schließlich da.

2

Vincent Ruiz’ schlimmster Albtraum beinhaltet immer einen orangefarbenen Kinderschlitten und einen eisbedeckten See mit einem Loch in der Mitte. Ein Kind wird herausgezogen, blaue Lippen, blaue Haut. Er ist schuld.

In seinem zweitschlimmsten Traum tritt ein Mann mit dem Namen Ray Garza auf wie der Geist vergangener Weihnachtsfeste und führt Ruiz sein Scheitern in der Vergangenheit vor Augen.

Garzas Gesicht ist scharf geschnitten, mit einer Narbe quer über dem Hals, wo mal jemand versucht hat, ihm die Kehle aufzuschlitzen, aber nicht tief genug geschnitten hatte. Hoffentlich war derjenige erfolgreicher dabei gewesen, sich die eigene Kehle durchzuschneiden, denn wahrscheinlich möchte man schnell sterben, wenn man Ray Garza in die Quere gekommen ist.

Garza ist jetzt ein Stützpfeiler der Gesellschaft, ein Mitglied des Establishments, zu reich, um es noch beziffern zu können. Er wird zum Dinner in die Downing Street eingeladen, bekommt Medaillen von Ihrer Majestät und wird in der Zeitung als Philanthrop und Kunstmäzen erwähnt.

Dennoch, jedes Mal, wenn Ruiz ein Foto von ihm auf irgendeiner Wohltätigkeitsveranstaltung sieht oder auf irgendeiner Filmpremiere, erinnert er sich an Jane Lanfranchi. Das war vor zweiundzwanzig Jahren. Sie war erst sechzehn. Eine Möchtegern-Schönheitskönigin.

Garza wollte sie zum Mädchen von Seite drei aufbauen, der nächsten Samantha Fox. Das war, bevor er sie in den Arsch fickte und ihr in die Wange biss. Tief ins Fleisch.

So ein schönes Gesicht, zerstört. So ein süßes Mädchen, traumatisiert. Ruiz versprach Jane, dass er sie beschützen würde. Er versprach ihr, wenn sie mutig genug wäre, um gegen Garza auszusagen, würde er ihn ins Gefängnis bringen. Ein Versprechen, das er nicht halten konnte.

Jane Lanfranchi beging zwei Tage vor dem Prozess Selbstmord, weil sie ihren Anblick im Spiegel nicht mehr ertragen konnte. Die Anklage wurde fallen gelassen. Garza kam frei. Auf den Stufen des Gerichts lächelte er Ruiz an. Sein schiefer Mund wurde gerade, wenn er grinste, und seine aknenarbigen Wangen sahen aus wie Krater in einer Mondlandschaft.

Ruiz war immer ein Pragmatiker gewesen. Es gibt schlechte Menschen auf der Welt – Vergewaltiger, Mörder, Psychopathen –, viele davon namenlose, gesichtslose Männer, die nie gefasst werden. Der Unterschied dieses Mal war, dass er Ray Garzas Namen kannte, wusste, wo er wohnte, wusste, was er getan hatte, es aber nie würde beweisen können.

Einer von Ruiz’ Freunden, ein Psychologe mit Namen Joe O’Loughlin, sagte ihm mal, dass manche Träume Probleme lösten, während andere unseren Seelenzustand widerspiegelten. C. G. Jung glaubte, dass »große Träume« so mächtig waren, dass sie unser Leben formten.

Ruiz hielt das für Blödsinn, sagte es aber nicht. Die Geschichte zeigte, dass jedes Mal, wenn er versuchte, Joe O’Loughlin zu widersprechen, er am Ende als der Dumme dastand. Ruiz weiß, warum er diesen Traum hatte. Es passiert jedes Jahr. Genau vor seinem Geburtstag. Heute wird er zweiundsechzig. In ein paar Stunden kommt die Morgenpost. Es werden eine Geburtstagskarte von seinem Sohn Michael und eine von seiner Tochter Claire dabei sein. Zwillinge. Seine Exfrau Miranda wird ihm etwas Witziges schicken, von wegen, dass er immer nur so alt ist wie die Frau, als die er sich fühlt.

Und noch eine Karte wird kommen, von Ray Garza. Er schickt jedes Jahr eine – eine aufreizende, rachsüchtige, giftige Erinnerung an Jane Lanfranchi, an gebrochene Versprechen, an Versagen.

Ruiz sieht auf die Uhr neben seinem Bett. Es ist sechs. Er fühlt sich weder erholt noch verjüngt. Eins der ärgerlichen Vermächtnisse des Alters ist das reichliche Wasserlassen und das Kennenlernen der Gerüche verschiedener Gemüse und Getränke.

Schmerz ist das andere Vermächtnis, ein anhaltender Schmerz in seinem linken Bein, das kürzer ist als sein rechtes und stark vernarbt. Eine Kugel hat den Schaden angerichtet. Hochgeschwindigkeit. Dum-Dum-Geschoss. Am schwersten war es, von den Schmerzmitteln loszukommen. Sogar jetzt noch, wo er im Bett liegt, fühlt es sich an, als würden Ameisen an seinem narbigen Fleisch nagen.

Der Schmerz weckt ihn immer langsam. Er muss ganz still liegen, fühlt sein Herz rasen und den Schweiß sich in seinem Nabel sammeln. Diese Art Nachwirkung ist zu erwarten gewesen, sie hat nichts mit seinem Bein zu tun. Ruiz hat gestern Nacht eine halbe Flasche Scotch getrunken und wäre fast auf dem Sofa eingeschlafen, zu kalt, um es sich dort bequem zu machen, und zu besoffen, um ins Bett zu gehen.

Jetzt ist es Morgen. Sein Geburtstag. Er wünschte, er wäre schon vorbei.

Ruiz steht um sieben auf. Dreht den Kaltwasserhahn im Badezimmer auf. Füllt seine hohlen Hände. Versenkt sein Gesicht im Wasser. Er zieht sich langsam und methodisch an, als arbeitete er nach Plan. Socken, Hose, Hemd, Schuhe. Es herrscht Ordnung in seinem Leben. Er ist zwar pensioniert, aber er hat seine Routine. Er geht hinunter und setzt Kaffee auf.

Zweiundsechzig. Wenn man erst mal so alt ist, dann hört man auf, Geburtstage zu zählen, vergisst sie vielmehr. Ist er jetzt alt?

Die meisten Leute können sich mit großer Klarheit an ihre Kindheit erinnern, und später im Leben verschwinden ganze Jahrzehnte in den Äther. Ruiz ist da anders. Für ihn hat es so etwas wie Vergessen nie gegeben. Nichts ist verschwommen oder ungenau oder an den Rändern ausgefranst. Er hortet Erinnerungen wie ein Geizhals, der sein Gold zählt – Namen, Daten, Orte, Zeugen, Verdächtige und Opfer.

Er sieht die Dinge nicht fotografisch. Stattdessen stellt er Verbindungen her, die er miteinander verspinnt, wie eine Spinne ihr Netz webt, indem sie einen Strang mit dem nächsten verknüpft. Deshalb kann er zurückgreifen und Details von Kriminalfällen von vor fünf, zehn Jahren herauspflücken und sich an sie erinnern, als wären sie erst gestern passiert. Er kann Tatorte heraufbeschwören, Unterhaltungen aufleben lassen und dieselben Lügen noch einmal hören.

Er sieht aus dem Fenster. Es regnet. Wasser rieselt auf die Themse, die voll mitgeschwemmter Blätter und anderem Zeug ist. Seit fünfundzwanzig Jahren lebt er am Fluss, und er ist ihm immer noch ein Rätsel.

Vielleicht kommt die Post ja nicht, wenn es regnet. Der Postbote wird im Sortierbüro bleiben. Im Trockenen. In diesem Fall wird Ray Garzas Karte morgen kommen. Er wird dann noch eine Nacht lang warten. Träumend.

Darcy kommt herunter, als der Kaffee fertig ist. Sie kann ihn wohl riechen. Sie trägt schwarze Tanzhosen, Turnschuhe, einen Pulli und eine ärmellose Daunenweste.

»Herzliche Glückwunsch, mein Alter.«

»Ach, hau doch ab.«

»Magst du keine Geburtstage?«

»Ich mag keine Teenager.«

»Aber wir sind die Zukunft.«

»So helfe uns Gott.«

Darcy ist weder seine Tochter noch seine Enkelin. Sie ist eine Untermieterin. Das ist eine lange Geschichte. Ihre Mutter ist tot, und ihren Vater hat sie erst kürzlich kennengelernt. Sie ist achtzehn und studiert Tanz an der Royal Ballet School.

Sie setzt sich auf einen Stuhl, kreuzt die Beine und hält ihren Kaffeebecher mit beiden Händen. Sie kann sich biegen wie ein Schilfrohr und lautlos bewegen.

»Ich werde dir einen Kuchen backen«, verkündet sie.

»Das brauchst du nicht.«

»Was für einen willst du? Magst du Schokolade? Alle mögen Schokolade. Wie alt bist du geworden?«

»Zweiundsechzig.«

»Das ist alt.«

»Nicht das Baujahr zählt, sondern die gelaufenen Kilometer.«

»Was soll das heißen?«

»Auch egal.«

Sie hat ein Stück Obst entdeckt. Frühstück. Sie ist sehr schlank.

»Wirst du irgendwann noch mal heiraten?«, fragt sie.

»Nie mehr.«

»Warum nicht?«

»Zu teuer, nur um seine Wäsche gewaschen zu kriegen.«

Darcy findet ihn nicht lustig.

»Wie oft warst du verheiratet?«

»Musst du nicht bald zum Unterricht, dich strecken, Pirouetten drehen und so?«

»Ist dir das peinlich?«

»Nein.«

»Okay, dann erzähl’s mir. Ich bin neugierig.«

»Meine erste Frau ist an Krebs gestorben, und meine zweite Frau hat mich für einen argentinischen Polospieler verlassen.«

»Waren da noch andere?«

»Meine dritte Frau scheint vergessen zu haben, dass wir geschieden sind.«

»Du meinst, sie ist eine Freundin mit gewissen Vorzügen.«

»Eine was?«

»Eine Freundin, die dich mit ihr schlafen lässt.«

»Mein Gott! Wie alt bist du eigentlich?«

Darcy antwortet nicht. Sie nippt an ihrem Kaffee. Ruiz fängt an, darüber nachzudenken. Mit Miranda zu schlafen – das ist eigentlich eine nette Idee. Sie ist immer noch eine gutaussehende Frau, und wenn ihn die Erinnerung nicht täuscht, haben sie früher die Bettlaken zerfetzt. Der Sex war so gut, dass sogar die Nachbarn danach eine Zigarette brauchten.

Sie haben sich vor fünf Jahren scheiden lassen, sind aber in Kontakt geblieben. Und die Zwischenzeit ist nicht ohne Vorzüge gewesen. Sie hatten ein stürmisches Wochenende in Schottland, als einer ihrer Neffen heiratete, und ein anderes kurzes Techtelmechtel, als Ruiz in Amsterdam niedergestochen wurde und Miranda ihn für ein paar Tage versorgt hat.

Eine Freundin mit gewissen Vorzügen – an die Idee könnte er sich gewöhnen.

»Worüber lächelst du?«, fragt Darcy.

»Nichts.«

Ein metallisches Scheppern hallt durch den Hausflur. Die Post. Ruiz fühlt sich innerlich wie ausgehöhlt. Darcy springt auf und holt die Umschläge, sucht die Geburtstagskarten heraus und legt sie auf den Tisch.

»Willst du sie nicht aufmachen?«

»Später.«

»Oh, bitte!«

Michael hat eine Postkarte von den Bermudas geschickt. Er segelt Charteryachten. Claires Karte ist das Porträt einer Bulldogge, nur Lefzen und Sabber. Sie wird anrufen und ihn zum Mittagessen ausführen. Sie hat jetzt einen Freund – einen Anwalt, der all die skurrilen Gerüchte kennt, die in London kursieren. Ruiz hat den Verdacht, er ist ein Tory.

Auf Mirandas Karte ist ein Cartoon mit einer nackten Frau, die einen Astronautenhelm trägt. Darunter steht: »Sehr lustig, Scotty, und jetzt beam mir meine Klamotten runter.«

Da ist noch ein Umschlag. Quadratisch. Weiß.

»Jetzt den hier«, sagt Darcy und gibt ihn ihm.

Ruiz schiebt seinen Daumen unter die Lasche. Reißt ihn auf. Auf der Vorderseite ist ein Kätzchen abgebildet, das mit einem Wollknäuel spielt. »Alles Gute zum Geburtstag.« Ray Garza hat mit seinen Initialen unterschrieben und ein Postskriptum angehängt.

Sie ist noch immer der beste Fick, den ich je hatte.

Ruiz faltet die Karte. Seine Hände zittern.

»Von wem ist die?«, fragt Darcy.

»Professor Moriarty«.

3

Sami Macbeth war für den Hampstead Juwelenraub eingelocht worden, was aber nicht die ganze Geschichte ist. Er wurde eingelocht, weil ein Kumpel, der einen Lieferwagen hatte, über sechs Spuren einer Autobahn gerannt war und dann von einem deutschen Schwertransporter plattgefahren wurde, der achtzehn Tonnen Roheisen geladen hatte.

Andy Palmer war nicht einmal ein richtiger Kumpel gewesen. Er war ein Mann, der einen Lieferwagen hatte und der ihre Ausstattung zu den Aufführungen karrte: die Verstärker, Kabel, Mikrofone und das Schlagzeug. Er war ein Roadie. Ein Depp. Ein Mitläufer. Andy konnte kein Instrument spielen, er konnte kaum Auto fahren, aber er liebte Bands, und er liebte Musik.

An diesem besonderen Sonntagnachmittag waren er und Sami auf dem Weg nach Oxford, um einen Gig vorzubereiten. Sie hielten an einer Autobahnraststätte, weil Andy die Nacht vorher die Sau rausgelassen hatte und einen von diesen koffeingeladenen Energy-Drinks brauchte und Tic Tacs. Sami wartete im Wagen, hörte Nirvana und machte seine Kurt-Cobain-Imitation.

Ein Polizeiauto hielt neben dem Lieferwagen. Einer der Beamten nickte Sami zu. Samis Augen waren geschlossen, aber sein Kopf schwang vor und zurück.

In dem Augenblick kam Andy, eine Dose Red Bull schlürfend, durch die automatischen Türen. Er erspähte das Polizeiauto neben dem Lieferwagen und rannte los, an den Zapfsäulen vorbei und rutschte die Böschung hinunter. Er spurtete über drei Fahrspuren der Autobahn Richtung Westen und sprang über die Mittelleitplanke, ohne seinen Rhythmus zu unterbrechen.

Da waren die Bullen schon hinter ihm her, aber Andy blieb nicht stehen. Er wich einem BMW aus, sprang vor einem Wohnwagen zur Seite, schob sich zwischen einen Lieferwagen und einen Audi-Kombi und entkam gerade noch einem mit einer Plane bezogenen Lastzug mit Anhänger, der seitlich ausscherte, um ihm auszuweichen.

Die Bullen saßen immer noch auf dem Mittelstreifen fest und versuchten, den Verkehr anzuhalten. Andy dachte, er hätte es geschafft. Sechs Fahrspuren. Er hatte sie alle überquert. Der blöde Arsch hatte die Ausfahrt nicht bedacht, weshalb ein deutscher Fernfahrer ihn sechsfach in eine Fahrbahnschwelle verwandelte. Bumm. Bumm. Bumm. Bumm. Bumm. Bumm.

Sami sah zu, wie es geschah. Nirvana spielte immer noch. Die Gitarren jaulten genauso wie die Lastwagenreifen.

Was Sami nicht wusste, war, dass Andy Palmer ein bisschen Sonderladung im Wagen hatte. In einem Verstärker versteckt lag ein Collier mit einem Dutzend Smaragde und einem Diamanten von der Größe eines Wachteleis.

Der Schmuck gehörte einer reichen Witwe aus Hampstead, deren Mann Diamantenhändler in Antwerpen gewesen war. Sie war keine liebe alte Tattergreisin, die ihre Sächelchen in einem Kopfkissenbezug aufbewahrte. Sie hatte einen topmodernen, hochsicheren, aus Amerika importierten Safe mit Bewegungsmeldern und Alarmanlage. Er war feuersicher, erdbebensicher, bombensicher, aber aus irgendeinem Grund war er nicht Andy-Palmer-sicher gewesen.

Sami konnte das kaum glauben. Derselbe Andy Palmer, der mit beiden Händen seinen eigenen Hintern nicht finden konnte, sollte den allersichersten Safe der Welt geknackt haben. Das war unbegreiflich – ein ewiges Rätsel.

Samis Anwalt erkannte den Witz an der Sache nicht. Sein Klient saß in einem Lieferwagen und spielte Luftgitarre, als man ihn für den größten Juwelenraub des Jahrzehnts kassierte. Gleichzeitig wurde aus Andy Palmer – dem unwahrscheinlichsten Safeknacker der Welt – ein Reifenabdruck auf einer Autobahnausfahrt.

Der Prozess war eine Farce. Der Beamte, der ihn festgenommen hatte, bezeugte, dass er Sami erst einen halben Kilometer weit verfolgen musste, bevor er ihn überwältigen konnte. Der fette Arsch wog sicher über hundert Kilo. Der hätte nicht mal einen Verkehrsleitkegel eingeholt.

Die Staatsanwaltschaft bot Sami einen Deal an. Wenn er sich des Besitzes gestohlenen Eigentums schuldig bekannte, dann würden sie die Anklage wegen Raubüberfall fallen lassen. Samis Anwalt hielt das für ein gutes Angebot. Samis Anwalt hatte eine Villa in der Toskana und wollte ab ins lange Wochenende.

»Sie glauben doch, dass ich unschuldig bin, oder?«, fragte ihn Sami.

»Mr Macbeth, ich würde noch an den Weihnachtsmann glauben, wenn er nicht damit aufgehört hätte, mir Geschenke zu bringen.«

»Können Sie nicht auf etwas Geringfügigeres plädieren?«

»Was denn? Pinkeln in einem Telefonhäuschen?«

»Könnten Sie das?«

»Seien Sie nicht sarkastisch, Mr Macbeth. Nehmen Sie den Deal an.«

»Ich habe aber nichts gestohlen.«

»Gestohlenes Gut zu besitzen ist ein ernstes Vergehen.«

»Ich habe das Zeug aber nicht besessen. Ich wusste nicht mal, dass es im Wagen war.«

»Dann ist das eben ein weiteres schönes Beispiel dafür, dass Sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Nehmen Sie den Deal an.«

Der Gerichtssaal war viktorianisch, riesig, mit hoher Decke und Holztäfelung. Der Richter in seiner Perücke befahl Sami aufzustehen. Dann begann er, davon zu reden, wie die Gesellschaft vor Übeltätern wie ihm geschützt werden müsse.

Der kann nicht mich meinen, dachte Sami.

Nadia weinte auf der Zuschauertribüne.

Fünf Jahre. Sami war wie betäubt. Sie brachten ihn nach unten, mit Handschellen an einen Polizisten gefesselt. Draußen wartete ein Wagen, um ihn ins Gefängnis zu bringen. Er hatte eine Nummer. Er war im Computer. Er gehörte jetzt in das ausgedehnte Menschentransportsystem, das still und unsichtbar Männer in England herumschob, von einem Gefängnis zum nächsten. Erst war es Wormwood Scrubs, dann Parklea, dann Leicester, bevor es wieder zurück in die Scrubs ging.

In der ersten Nacht hatte Sami Angst. Er kannte all die Geschichten über Gefängnisbullying und die Gangs, die Schwestern, die Motorradfahrer, die Sadisten.

Aber auf dem Weg zum Sportplatz geschah etwas Lustiges. Sami kümmerte sich um niemanden, versuchte, jeglichen Augenkontakt zu vermeiden, als ein fetter Kerl auf ihn zukam und ihm eine Zigarette anbot.

Der Kerl nannte ihn »Sparkles« – Glitzer. Das wurde Samis Spitzname.

Sami hatte einen Ruf. Die Häftlinge hielten ihn für einen Juwelendieb. Nicht für irgendeinen Juwelendieb, sondern für den Mann, der den größten, übelsten Safe der Welt geknackt hatte. Er hatte ihn wie eine Banane geschält, wie einen Motor auseinandergenommen, wie eine Sardinenbüchse geöffnet.

Und so hatte es Sami fast drei Jahre lang geschafft, im Knast weder angemacht noch zu jemandes Matratze zu werden. Andere Neulinge machten sich Sorgen, wenn die Lichter ausgingen oder sie sich vorbeugen mussten, um an die Seife zu kommen, aber nicht Sami; er wurde von Knackis als ihresgleichen behandelt, die andernfalls seinen Körper durch den Hof gekickt hätten, nur so zum Spaß.

Trotz seines neu entdeckten guten Rufes lernte Sami allerdings, dass die kriminelle Bruderschaft nichts Brüderliches an sich hatte. Das Einzige, was zählte, war die Angst, die man verbreiten konnte, oder der Respekt, der einem gezollt wurde. Entweder war man ein skrupelloser Scheißkerl, oder man hatte ein besonderes Talent.

Sami war ohne sein Wissen, durch Zufall ein Talent zugeschrieben worden. Er war ein geschickter Einbrecher, ein Safeknacker, ein Meister seines Fachs, einer von den ganz Großen.

Trotzdem gab er sich Mühe, sein Talent herunterzuspielen. Er saß seine Zeit so still wie möglich ab. Hielt sich fern von Sexualstraftätern und Pädophilen. Schloss sich weder den ernsthaften Schwerverbrechern noch den komplett Verrückten an. Fünfundneunzig Prozent der Insassen waren komplette Vollidioten mit IQs, die nicht einmal an ihre Schuhgröße heranreichten, weswegen sie immer wieder geschnappt wurden.

Jetzt ist Sami draußen. Frei. Er geht nach Hause. »Sparkles« ist toter als Andy Palmer.

Und egal, was sonst noch in seinem Leben passiert, er wird nie wieder in den Bau gehen. Darauf kannst du Gift nehmen.

Eine Busfahrt. Zwei Züge. Sogar die Tube riecht gut im Vergleich zum Knast. Sami kommt aus der U-Bahn und sieht sich nach etwas Bekanntem um. Es hat sich nicht viel verändert in Brixton, soweit Sami das sagen kann. Es ist immer noch voller zweistöckiger, kleiner Reihenhäuser in schmalen Straßen, die trostlos, grau und farblos sind. Die Eckläden sind mit Metallgittern verrammelt, mit Vorhängeschlössern und Alarmanlagen, Natodraht auf den Dächern.

Mittelklassehypotheken-Sklaven, die sich Balham und Clapham nicht leisten können, haben ein paar Straßen aufgemotzt, Blumenkübel bepflanzt und ihre Reihenhäuser in Pastellfarben gestrichen, um den hiesigen Kids mit ihren Spraydosen eine bessere Leinwand zu verschaffen.

Ton-of-Brix ist kein Ort zum Verlieben, sondern ein Ort zum Überleben. Hatte sein Vater immer gesagt, was ironisch ist, wo er doch jetzt tot ist.

Als er bei Nadias Wohnung ankommt, prüft er sein Spiegelbild im Nachbarfenster. Eine Frau macht auf, als er klopft. Sie ist Mitte dreißig mit einem Gesicht wie eine Tortenplatte. Sami guckt an ihr vorbei, erwartet, Nadia zu sehen.

»Wer sind Sie?«

»Ich wohne hier. Wer sind Sie?«

Sami guckt auf die Nummer an der Tür.

»Wo ist Nadia?«

»Wer?«

»Meine Schwester.«

»Woher soll ich das wissen?« Sie versucht, die Tür zu schließen. Sami erspäht Umzugskartons und prall gefüllte Plastiktüten im Flur hinter ihr. Sie ist gerade erst eingezogen.

»Die Frau, die hier gewohnt hat – hat sie eine Nachsendeadresse hinterlassen?«

»Nein.«

»Hat sie gesagt, wo sie hingezogen ist?«

Sie versucht, Sami davon abzuhalten, an ihr vorbeizusehen.

»Ich hatte ein paar Sachen hier«, sagt er. »Kleider, CDs, einen Fernseher.«

»War leer hier.«

»Ich hatte eine Gitarre.«

»Hab ich keine gesehen.«

»Eine Gibson Fender.«

»Wer ist das?«

Sami kann im Hintergrund Oprah hören. Er schiebt sich an der Frau vorbei ins Wohnzimmer. Sie ist nicht froh darüber. Schreit. Sie beschimpft ihn. Sagt, sie holt die Polizei, den Vermieter, das Sozial- …

»Das ist mein Fernseher«, sagt Sami.

»Beweisen Sie das!«

»Wie soll ich das machen?«

»Ich hab ihn dem Vermieter abgekauft«, sagt sie, in der Defensive. »Er ist einbehalten worden. Mietrückstand.«

Sami sieht auf ihre Hände, die von Arthritis gekrümmt sind. Er bewegt sich auf unsicherem Boden. Zwei Stunden aus dem Knast und schon gegen die Bewährungsauflagen verstoßen.

Nadia ist vor die Tür gesetzt worden. Sie wäre nicht umgezogen, ohne es ihm zu sagen. Sie hätte ihn benachrichtigt.