Wendy Heard
Thriller
Aus dem amerikanischen Englisch
von Frauke Czwikla
Knaur eBooks
Wendy Heard wurde in San Francisco geboren, hat Bildende Kunst und Pädagogik studiert und lebt in Los Angeles. Wenn sie nicht gerade schreibt, findet man sie beim Wandern in den Santa Monica Mountains, beim U-Bahn-Fahren (was sie stets bereut), oder im Buchladen um die Ecke. Außerdem moderiert sie mit zwei anderen Autorinnen einen Podcast über Frauenfiguren, denen es egal ist, ob man sie leiden kann oder nicht.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The Kill Club« bei Mira Books, Toronto.
© 2019 Wendy Heard
© 2022 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag
Published by Arrangement with Wendy Heard
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Das Motto stammt aus dem Gedicht Love Poem to Los Angeles von Louis J. Rodriguez. © 2016 Louis J. Rodriguez. Alle Rechte liegen beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.
Redaktion: Sabine Thiele
Covergestaltung: Sabine Schröder
Coverabbildung: Collage aus Arcangel, Shutterstock und Istock Motiven.
ISBN 978-3-426-46035-1
This is »riot city« after all.
Luis J. Rodriguez
Jazz
Irgendwo brennt es, ich kann es riechen.
Ich parke meinen Truck am Randstein vor Carols kleinem Haus. Die Straße ist ruhig, die Palmen schwarz vor dem anthrazitgrauen Abendhimmel.
Ich kurbele die Scheibe hinunter und atme ein. Ja. Feuer. Irgendwo im Osten.
Joaquin neben mir kichert aufgedreht. »Eine ganze Tasse Kaffee. Er hat sie direkt auf seine Lehrerin gekippt. Ich dachte, er würde sterben. Im Ernst. Sterben.«
»War der Kaffee heiß?« Ich schalte die Scheinwerfer ab.
Joaquin keucht. »O mein Gott, was, wenn er heiß war?« Wieder kichert er hysterisch. »Und, Jazz, der Typ ist echt schüchtern. Er hat mir so leidgetan. Es sah aus, als hatte sich die Lehrerin in die Hose gepinkelt.« Sein Gelächter wird eine Oktave höher. Das quietschende Geräusch reißt mich mit, und ich lache so heftig, dass mir die Tränen kommen. Joaquin hat mir von dieser Mathelehrerin erzählt, eine autoritäre Frau, die ständig mit einem Zollstock herumläuft wie eine Nonne aus dem neunzehnten Jahrhundert.
Ich wische mir über die Augen. »Hat er Ärger bekommen?«
»Nee. Sie war tatsächlich ziemlich cool. Meinte, das hätte sie davon, dass sie zu viel Kaffee trinkt.«
»Das ist gut.« Ich zupfe seine langen Ponyfransen zurecht, die sich zu einem idiotischen Mittelscheitel geteilt haben. Sein Haar ist heller als meins, eher braun als schwarz, wie bei meiner leiblichen Mutter.
»Hör auf«, protestiert er und windet sich.
»Willst du wie der Nerd aussehen, der du bist?« Ich packe ihn und zwinge ihn, mich seine Haare richten zu lassen.
Die Verandabeleuchtung flammt auf. Unsere Köpfe fahren herum. Mein Magen verkrampft sich, als wäre ich in einem Fahrstuhl. Carol. Der Name, schon der Gedanke an sie erfüllt mich mit Furcht.
»Die Aufseherin beobachtet uns«, sage ich.
»Sie ist im Augenblick völlig durchgeknallt, Mann, sie geht wieder zu dieser Schlangenbeschwörer-Kirche.«
»Nein«, stöhne ich. »Nicht schon wieder, ich ertrage das nicht. Nicht noch mal.«
»Sie redet in Zungen, wenn sie Abendessen und so macht. Abbadabba schrrrammdabba hanna schackalacka …« Er verdreht die Augen und hebt die Hände. Eine perfekte Imitation von Carol. »Sie muss beten, damit sie besser kocht. Gestern hat sie die Käsemakkaroni anbrennen lassen, und der Rauchmelder ging los. Wie kann man Käsemakkaroni anbrennen lassen?«
Ich schüttele den Kopf. »Sie wird versuchen, mich mit zur Kirche zu schleppen, damit ich da meine Sünden bereue. Was mühsam ist, du weißt ja, die Liste ist ziemlich lang.« Ich klappe die Sonnenblende herunter und kontrolliere mein Spiegelbild, zupfe meinen eigenen Pony zurecht, der struppig über meinen dunklen Augen hängt. Der Eyeliner ist total verschmiert. Ich befeuchte einen Finger und versuche mich in Schadensbegrenzung.
Joaquin holt sein Smartphone heraus und öffnet Snapchat. »Sie hat mir mein Miley-Cyrus-Poster weggenommen. Hat es einfach geklaut, als ich in der Schule war.«
Ich werfe ihm einen Blick von der Seite zu. »Weil sie weiß, dass du davor wichst, du kleiner Perversling.«
Er stößt mir den Ellbogen in die Seite, weswegen ich mir den Finger ins Auge ramme. Ich schreie protestierend auf. Er stößt mich noch einmal. Ich hebe die Faust, als wollte ich ihn schlagen, und er duckt sich theatralisch. Ich wende mich wieder meinem Eyeliner zu, er vertieft sich wieder in Snapchat. Er seufzt. »Egal. Sie hat mir meine kostbare Miley weggenommen.«
»Zu meiner Zeit haben wir uns Victoria’s-Secret-Kataloge angeschaut, wie ganz normale Menschen.«
Er wedelt mit dem Handy. »Stell einfach den Jugendschutz auf dem Ding ab, dann sehe ich mir damit anderes Zeug an.«
»Auf gar keinen Fall!«
»Du weißt, dass ich schon Pornos gesehen habe«, sagt er gedehnt in seinem erwachsensten Tonfall.
Darauf bereitet einen keiner vor. Ich drehe mich zu ihm um. »Nur weil du so was schon mal gesehen hast, heißt das nicht, dass ich möchte, dass du ganz allein in deinem Zimmer Zugang zum gesamten Internet hast. Da draußen gibt es echt kranken Mist.«
»Böse Schwester«, grollt er.
»Gute Schwester.«
Sein Mundwinkel verzieht sich schelmisch. Er hat mein schiefes Lächeln. »Du bist konservativ, weil du alt bist.«
»Halt die Klappe, du kleiner Scheißer!« Er weiß, dass ich mich jetzt schon unbehaglich fühle, weil die dreißig näher rückt, auch wenn es noch zwei Jahre dauert.
Die Haustür springt auf, und Carol erscheint, eine schlanke Silhouette vor dem goldenen Wohnzimmerlicht. »Die Zeit ist um«, sage ich. »Hiermit entlasse ich dich aus dem lesbischen Kerker der Sünden und übergebe dich dem keuschen Tempel von Jesus.«
Er greift nach seinem Rucksack und steckt das Handy wieder ein. »Danke fürs Abendessen.«
Ich umarme ihn fest, presse mein Gesicht in seinen Hoodie, genieße die Düfte von Schule und Deo und Weichspüler. »Ich liebe dich, Kleiner.« Er erwidert die Umarmung, nach wie vor manchmal anlehnungsbedürftig, trotz der beginnenden Pubertät. Ich lasse ihn los und tätschle seine Wange. »Dein Insulin muss nachgefüllt werden. Treffen wir uns am Montag nach der Schule?«
»Was ist mit deinem Gig?«, fragt er.
»Ich muss nicht vor neun Uhr da sein. Ich habe genug Zeit.« Ich packe seinen Ärmel. »Passt du auf dich auf? Kontrollierst du deinen Blutzucker und die Broteinheiten?«
»Mir geht es gut. Ich bin brav.« Überraschend beugt er sich zu mir und küsst mich auf die Wange. Sein Gesicht ist glatt und weich. Ich weiß, dass er sich Bartstoppeln wünscht, aber ich bin trotzdem froh, dass sie noch nicht wachsen. »Mach dir keine Sorgen«, sagt er.
»Aber du bist doch mein kleiner Engel.«
»Hör auf!« Er springt aus dem Truck auf den Bürgersteig.
»Mein Baby!«, rufe ich ihm hinterher. Er zieht sich die Kapuze über den Kopf und geht zum Haus.
Ich steige aus, schalte die Diebstahlsicherung am Truck ein und folge ihm über die Straße. Die Pitbulls des Nachbarn hören uns kommen und brechen in Gebell aus. Durch den Maschendrahtzaun sehe ich ihre Schatten im Hinterhof, wo sie an ihren Ketten zerren. Mir ist ganz schlecht vor lauter Mitleid mit ihrer ewigen Gefangenschaft.
Die Frühlingsluft streicht kühl über meine Haut. Ich reibe mir die Arme, fahre mit den Fingern über meine Tätowierungen, die von den Schultern bis zu den Handgelenken reichen, und gehe die drei Zementstufen zur Veranda hoch. Joaquins altes Spielgerüst auf dem toten Rasen wirkt verwundet, als wäre es bei einem Fluchtversuch mitten im Humpeln erstarrt. Carols alter Ford Taurus duckt sich hinter den uralten Chevy, der schon seit meiner Zeit hier in der Einfahrt verrostet. Früher hat es sich mal wie mein Zuhause angefühlt, doch heute kommt es mir vor, als kehrte ich an einen Tatort zurück.
Joaquin schiebt sich mit einem gemurmelten »Hi« an Carol vorbei und verschwindet direkt in seinem Zimmer. Ich spüre eine Welle boshafter Befriedigung, weil er mich so offensichtlich mehr liebt als sie. Das ist albern, selbstverständlich liebt er mich mehr. Sie ist einfach zu schrecklich. Aber trotzdem.
Carol sieht mir entgegen. Ihr spülwasserblondes Haar fällt glatt auf ihre Schultern, ihr verwittertes Gesicht ist missbilligend verzogen. Ihr Blick gleitet an meinem Trader-Joe’s-T-Shirt hinunter.
»Wie geht’s?«, frage ich in dem angespannten Ton, den ich sonst nicht an mir kenne.
»Du bringst ihn zu spät zurück«, sagt sie mit ihrer altmodischen Raucherstimme.
Mir sträuben sich die Nackenhaare. »Es ist erst acht Uhr.«
Sie packt den Türknauf. »Wenn du schon mal da bist, kann ich es dir auch gleich sagen. Wir werden die Abendessen am Sonntag eine Weile aussetzen.«
»Was? Warum?«
»Ich habe jetzt keine Zeit, mit dir darüber zu diskutieren, Jasmine.«
Ich strecke den Arm aus, aber sie schiebt die Tür zu. »Das war nicht abgemacht. Wenn du die Sonntage streichst, musst du mir einen anderen …«
Die Tür fällt ins Schloss.
Ich will dagegen hämmern, sie einschlagen und ihr Joaquin wegnehmen. Aber ich darf nicht. Ich muss einfach hier stehen und die Tür anstarren wie ein kleines Hündchen, während sie sich an einem weiteren Sieg weidet.
Devin
Auf dem weichen Sand unter dem Santa Monica Pier, wo die Lichter des Riesenrads auf den Wellen funkeln, jagen wie Möwen kreischende Kinder in durchnässten T-Shirts einander mit Seetang. Devin stützt die Ellbogen auf das splitternde Holzgeländer und gibt vor, ihnen von oben zuzusehen. In Wirklichkeit hat er nur Augen für Amber.
In der Nähe lehnt eine Frau mittleren Alters am Geländer. Er merkt, wie sie ihn mustert, und schaudert. Als würde er sich für ältere Frauen interessieren, die wie Fußballmuttis aussehen. Er richtet den Blick wieder auf Amber.
Auf hohen Absätzen schlängelt sich Amber vorsichtig auf der Promenade durch die Touristengruppen. Sie ist schön heute Abend, aber das ist sie ja immer. Ihre seidigen blonden Haare wehen in der salzigen Brise, ihre glatten, runden Wangen und Lippen sind engelhaft in den bunten Lichtern, die aus Geschäften und Restaurants scheinen. Sie trägt noch immer das schwarze Kleid, das sie bei der Arbeit anhatte, aber es sieht aus, als hätte sie ihr Make-up aufgefrischt. Ihre Lippen leuchten scharlachrot.
Sie verschwindet in Rusty’s Surf Ranch. Wen trifft sie dort? Vielleicht ihre beste Freundin; sie hängen häufig abends zusammen ab. Devin wird auf jeden Fall dafür sorgen, dass sie sicher nach Hause gelangt.
Er weiß, dass Amber die Bis(s)-Romane liebt – sie hat alle vier Bücher und ein Edward-Cullen-Poster in ihrem Apartment –, und er hat sich durch die Reihe gearbeitet, um herauszufinden, was sie mag und was nicht. Dabei hat er gelernt, dass Edward immer, immer versucht, Bella zu beschützen, genau wie Devin es bei Amber tut.
Devin zieht sich die Baseballkappe in die Stirn und betritt das Restaurant mit Strandmotto. »Kann ich …«, spricht ihn eine Angestellte an der Tür an, aber er winkt ab und geht zur Bar.
Er setzt sich mit dem Rücken zum Raum auf einen Hocker und bestellt bei einem muskulösen Barkeeper mit strahlend weißem Gebiss ein Bier. Er hat gelernt, Dienstleister wie diesen zu fürchten, nachdem sein Vater ein Leben lang in Restaurants von solchen Leuten mit ihren Sedcards belästigt wurde.
Sobald Devin sein Bier hat, dreht er sich um und sucht den Raum nach Amber ab. Das Gesicht verbirgt er weiter hinter seinem Glas und unter dem Schirm seiner Mütze. Er tut das aus Rücksicht auf Ambers Gefühle; er hat alles Recht, hier zu sein. Das Kontaktverbot ist vor drei Monaten abgelaufen, und man wird es nicht erneuern, wenn er nicht Ambers Leben bedroht, was er selbstverständlich nie tun würde. Nun, da es kein Kontaktverbot mehr gibt, hofft Devin, dass sie die nächste Phase in ihrer Beziehung einleiten können.
Bei Bis(s) wären sie jetzt in dem Teil des Buchs, in dem Edward auf Bella aufpasst, aber Bella das nicht wissen darf, weil ansonsten das Familiengeheimnis der Cullens in Gefahr wäre. Ein Risiko, das Edward einzugehen gewillt ist. So sehr liebt er Bella, und so sehr liebt Devin Amber.
Dort ist sie, in einer der Nischen in der Nähe der Bühne, auf der eine Sängerin untermalt von ihrer akustischen Gitarre vor sich hin klagt. Amber sitzt dicht bei ihrem Begleiter, einem attraktiven, gut angezogenen Asiaten. Wer zur Hölle ist das?
Während Devin sie beobachtet, sieht sie den Mann aus ihren blauen Augen an und beglückt ihn mit einem sonnigen Lächeln, das ihre schneeweißen Zähne zeigt. Ihre blonden Haare ergießen sich in Wellen über Schultern und Dekolleté.
Glühende, zornige Hitze brennt in Devins Gliedern.
Das ist zu viel. Er muss die Kontrolle übernehmen, so wie Edward in Port Angeles, wo Bella beinah von einer Gruppe Kerle vergewaltigt worden wäre. Genau, in diesem Teil der Geschichte befinden sie sich gerade. In dem Teil, in dem Edward die Kontrolle übernimmt.
Ein paar Hocker von Devin entfernt sitzt jemand. Er schaut kurz hinüber und lacht schnaubend. Es ist wieder die ältere Frau. Sie lächelt ihn schüchtern an.
Er will ihr sagen, dass sie ihre Zeit verschwendet, dass er schon ein Mädchen hat, das zwanzig Jahre jünger als sie ist und zwanzigmal heißer, aber sie zieht ein Klapphandy aus der Handtasche, öffnet es und hält es ans Ohr. Ein Klapphandy? Echt? Sie ist arm und alt. Na ja, träumen kann sie ja.
Amber und das Arschloch beenden das Essen und fahren mit dem Riesenrad. Sie spielen an den Automaten in der Spielhalle. Sie schlendern über die Bohlen des Piers. Das Stück Scheiße ist kaum größer als Amber. Devin selbst ist einen Meter fünfundachtzig.
Amber und ihr Date nehmen auf einer Bank am Ende des Piers Platz, in der Nähe eines Straßenmusikers mit elektrischer Gitarre und einem Papagei. Hinter dem Musiker schwappt friedlich der dunkle Ozean, und der Vollmond scheint über dem Wasser. Sie lehnt ihren Kopf an die Schulter des Asiaten.
Devins Hände und Füße sind ganz taub. Die Eifersucht, die durch seine Eingeweide strömt, zieht das Blut aus allen anderen Körperteilen.
Schließlich stehen sie auf und schlendern zurück zum Eingang des Piers. Sie beugt sich zum Ohr ihres Dates und sagt etwas, zeigt auf die Spielhalle. Der Waschlappen lehnt sich an einen Pfahl. Amber betritt den Bereich mit den Spielautomaten – oh, einfach perfekt. Sie geht zur Toilette.
Devin hastet an Kleiner Schwachkopf vorbei und unterdrückt dabei den Drang, ihn zu schlagen. Er eilt durch die laute Spielhalle, vorbei an Kicker spielenden Teenagern und Gruppen von Mädchen, die aufgeregt zu einem Videospiel tanzen. Der Hintereingang entlässt ihn in die leere, ruhelose Nacht. Ein Damentoiletten-Schild leuchtet hell zwischen Betonpfeilern und Stapeln leerer Kisten und Paletten. Er schleicht an der Gebäudewand entlang, lauscht auf Stimmen, das Rauschen von Toilettenspülungen, irgendeinen Hinweis, dass außer Amber noch weitere Frauen im Waschraum sind. Nichts.
Auf Zehenspitzen betritt er die grell erleuchtete, nach Urin und Putzmittel riechende Damentoilette. Gegenüber von zwei schmuddeligen Waschbecken stehen rechts vier Kabinen. Eine der Türen ist geschlossen.
Langsam, vorsichtig zieht er die Eingangstür hinter sich zu.
Das Plätschern von Urin auf Toilettenwasser hallt durch den Betonraum. Er hofft, dass sie einen Sitzschutz benutzt. Er will sich nicht irgendwelche Krankheiten einfangen.
Die Spülung rauscht. Er versteckt sich hinter der Tür zur ersten Kabine. Sie sollte eine Chance haben, sich die Hände zu waschen.
Sie öffnet die Kabinentür und stöckelt zum Waschbecken. Er kann sie im Spiegel sehen; ihre Wangen sind gerötet, und ein kleines Lächeln spielt um ihre roten Lippen. Sie drückt auf den Seifenspender und wäscht sich im Becken die Hände. Als sie sich umdreht, um den Handtrockner zu benutzen, entdeckt sie ihn.
Es geht los.
Sie wird bleich und stolpert keuchend über ihre Füße. Er springt heldenhaft vor und packt sie bei der Kehle. Sie windet sich in seinem Griff, was ihr Dekolleté verführerisch schaukeln lässt.
»Nein«, schreit sie. Sie schlägt um sich, gibt einen tierischen Laut von sich, befreit eine Hand und zerkratzt sein Gesicht. Ihre Augen sind geweitet, panisch. Er weicht ihren scharfen Fingernägeln aus. Sie windet sich seitwärts, fällt auf die Knie. Er wirft sich nach vorn, versucht, ihre Handgelenke zu fassen, ihre Taille, aber sie rollt fort. Ihre Schuhe fliegen durch die Luft. Sie rappelt sich auf und stürzt durch die Eingangstür, ein weiterer Schrei zerreißt den Moment. Er folgt ihr eine halbe Sekunde später.
Mit einer Hand am Türrahmen setzt sie zu einem entschlossenen, anmutigen Sprung in die Spielhalle an. Sie drängt sich durch einige Jungs, die vor einem Basketballspiel stehen. Devin folgt ihr. Blinder Zorn. Wut. Bella flieht nicht vor Edward. Bella liebt Edward.
Ein Fuß wird ausgestreckt, und Devin stürzt, knallt mit dem Kinn auf den Boden. Er wälzt sich auf den Rücken, die Hände vors Gesicht geschlagen, er blutet und stöhnt vor Schmerz.
»Was zur Hölle machst du da?« Eine Gruppe Latino-Teenager ragt über ihm auf. Der Redner trägt ein Bandana um den rasierten Schädel, sein Hals ist voller Tattoos, die sich bis hinauf in seine Wangen schlängeln. Das Klirren und Scheppern der Videospiele hallt vor einem lauten Popsong im Hintergrund und dem Geruch von Popcorn.
»Bist du hinter dem weißen Mädchen her?« Die Augen des Jungen wirken im farbigen Licht schwarz.
»Nein«, sagt Devin.
»Sah aber so aus.«
»Sie ist meine Freundin. Wir haben uns gestritten.«
»Hm.« Der Junge wirft einen Blick zum Haupteingang, durch den Amber auf den Pier verschwunden ist.
Devin zieht den Kragen seines T-Shirts hoch und drückt ihn gegen sein blutendes Kinn. »Alles in Ordnung. Absolut alles okay.«
»Das ist es erst, wenn du deinen Arsch bewegst und ruhig durch den Hintereingang abhaust und deine Lady in Ruhe lässt.« Der Junge zeigt in die Richtung, aus der Devin gekommen ist. Verdammt. Es wird so schwer, Amber einzuholen, wenn er hinten rausgeht.
Wütend starrt er zu dem Typen hoch, schätzt die Gruppe der Freunde mit Gesichtstattoos ab und sagt: »In Ordnung. Kann ich jetzt gehen?«
»Hau schon ab.«
Devin kommt unsicher auf die Beine. Sein Kinn blutet nicht sehr stark, aber es tut weh. Es schmerzt. Das ist Ambers Schuld. Wie konnte sie nur? Wie konnte sie es wagen?
Der Bandanatyp schubst ihn an. »Sei kein verschissener Psycho«, sagt er zum Abschied.
Aufgebracht, gedemütigt, blutbefleckt schiebt sich Devin durch die Spielhalle. Er geht direkt durch die Hintertür in Richtung Riesenrad, das hoch aufragt, voller Lichter und Lachen. Schultern drängen sich von allen Seiten gegen ihn – hat er sich aus Versehen für das Ding angestellt? »Verzeihung«, knurrt er. Er schiebt sich durch die Touristen und Teenager.
»He«, protestiert eine junge Frau, deren Brust er mit dem Ellbogen gestreift hat.
Da spürt er einen scharfen Stich im Rücken. Er schreit auf und schlägt mit der Hand danach, aber es fühlt sich an, als würde jemand ihn mit einem Bleistift stechen. »Was zur Hölle«, brüllt er, doch die Welt kippt zur Seite, und der Sauerstoff wird aus seinen Lungen gesaugt.
Die ältere Frau aus der Bar. Sie ist direkt neben ihm. Sie hat ihn mit etwas gestochen. Sie wirft ihm einen eisigen, gefährlichen Bick zu, und das scharfe Ding bohrt sich tiefer in seinen Rücken. Er versucht, danach zu greifen, aber seine Hand gehorcht nicht. Seine Beine geben nach. Er packt jemanden, klammert sich hilfesuchend an eine junge Frau. Sie schreit auf. Er reißt sie mit sich zu Boden, schnappt nach Luft wie ein sterbender Fisch. Sein Körper befindet sich in einem Vakuum; seine Lungen werden aus seiner Brust gesaugt.
Schmerz versengt seinen Magen und windet sich um ihn wie eine Schlange. Er öffnet den Mund zu einem Schrei, und Kotze spritzt heraus. Sie ist schaumig, dunkel von Blut. Er gräbt die Nägel in die rissigen Bohlen unter sich. Seine Hand schließt sich um ein kleines Rechteck aus Wachskarton. Sein Blick verschwimmt vor Schmerz, verengt sich bis auf einen winzigen Punkt. Stimmen schwirren in der Luft, Panik, Klangfragmente.
»Er atmet nicht!«
»Ruft den Notarzt!«
»Ich glaube, er hat einen Herzinfarkt. Was macht man da? Herzmassage?«
»Was hat er in der Hand?«
Jemand reißt ihm das Rechteck aus den Fingern. »Eine Spielkarte.«
Jazz
Durch den beigen Rauchschleier hoch oben in der Atmosphäre brennt die Sonne heiß und dunstig auf den Asphalt, und die Luft riecht nach verschmortem Kunststoff und kaltem Lagerfeuer. Ich werde von der Kinderhorde beinah niedergetrampelt, die aus meiner alten Schule strömt, einem Monument der ehemaligen Opulenz von East L.A. Eine Autoschlange schiebt sich zentimeterweise voran, bedeckt von einer feinen weißen Ascheschicht.
Die Kinder ignorieren mich völlig; viele ihrer Eltern sehen so aus wie ich mit meinen Tattoos. Eine Gruppe Mädchen stürmt so dicht an mir vorbei, dass mich eines an der Schulter anrempelt.
»Pass doch auf!«, fauche ich. Das Mädchen wirft mir einen verächtlichen Blick zu.
Ein untersetzter Mann schiebt einen Kühlwagen durch die Menschenmenge, von seinem Gesicht perlt der Schweiß. »Paletas!«, ruft er den Kindern zu. Eis am Stiel klingt wunderbar in dieser ekligen Hitze, aber ich würde vor Joaquins Augen nie etwas Süßes essen. Ich sage ihm immer, wenn er es nicht haben kann, esse ich es auch nicht.
Wo bleibt der Junge? Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche und wähle Joaquins Nummer. Der Anruf landet direkt in der Voicemail, wie schon das ganze Wochenende. Nach dem Piep sage ich: »Wo steckst du? Wehe, du hast dein Handy verloren. Ich habe dein Insulin und stehe vor der Schule.«
Ich schiebe meine Sonnenbrille herunter, glätte meinen Pony und suche das Meer dunkelhaariger Köpfe nach Joaquin ab. Ich entdecke Miguel und Antonio und winke ihnen zu. Ich erwarte, Joaquins Gesicht zwischen ihnen auftauchen zu sehen, aber als sie zu mir herüberkommen, ist er nicht da.
»Hey, Jazz«, begrüßt mich Miguel. Ich umarme ihn und reibe über seinen rasierten Schädel. Lächelnd sage ich: »Verdammt, du wirst immer größer. Womit füttert dich deine Großmutter?« Antonio versetzt mir einen spielerischen Schlag auf den Arm, und ich küsse ihn auf die Wange. Er ist ein talentierter Fußballer, klein, dunkel und drahtig.
»Wo ist Keenie?«, frage ich. Das ist der Name, mit dem wir Joaquin ärgern.
»Er war heute nicht da«, antwortet Miguel. »Ich dachte, du wärst hier, um seine Hausaufgaben abzuholen oder so.«
»Nicht da? Wieso?« Ich schaue zwischen ihnen hin und her. Sie zucken die Achseln. Eine vage Vorahnung schlägt in meinem Magen Wurzeln, und ich ziehe das Handy heraus, um ihm eine Nachricht zu schreiben. Ich frage: »Habt ihr am Wochenende mit ihm gesprochen?«
»Wir glauben, dass deine Mom ihm das iPhone weggenommen hat. Wir haben seit Freitag in der Schule nicht mehr mit ihm gesprochen«, erzählt Antonio.
Ich schaue vom Bildschirm auf. »Moment mal, ist das dein Ernst?«
Er nickt. Eindeutig ein Schicksal, über das man nicht lange nachdenken muss.
»Das kann sie nicht machen. Ich bezahle für das Handy.«
Sie schauen mich mitfühlend an. Die Ungerechtigkeit ist ihnen nicht entgangen.
Ich seufze zutiefst frustriert. »Sie ist wieder auf dem Religionstrip. Vermutlich deshalb. Sie hat seine Poster abgenommen und so.«
»Ooh«, stöhnen die beiden.
Eine Hupe schrillt. Ein Mann winkt ungeduldig aus einem in zweiter Reihe haltenden Ford. Antonio schultert seinen Rucksack. »Das ist mein Onkel. Ich habe Fußballtraining.«
»Du hast heute Training? Das ist bei dieser Wetterlage aber nicht gesund.« Ich deute zu dem schmutzig braunen Himmel.
»Wir haben nächstes Wochenende ein Spiel. Da kann ich keinen Tag fehlen.« Er rennt zum Auto, und ich verabschiede mich von Miguel. Ich laufe zurück zu meinem Truck und hole ein Sweatshirt, um meine Tattoos zu verbergen, und knöpfe es zu, während ich mich durch die vielen Kinder schlängle, die sich auf den Bürgersteigen drängen. Ein Hauch von schlechtem Gras dringt in meine Nase, als ich die Treppe hoch- und durch einen hohen, gewölbten Durchgang in den Verwaltungsflur haste. Ein vertrauter Abschnitt rostbraunen Linoleums führt mich zu einer Glastür am Ende des Flurs. Über der Tür hängt ein Schild mit der Aufschrift VERWALTUNG. Es ist albern, aber dieses Büro macht mich immer noch nervös.
Eine mürrisch wirkende Weiße sitzt hinter dem Tresen und mustert mich über den Rand ihrer türkisen Lesebrille hinweg. »Kann ich Ihnen helfen?« Die Aussicht bereitet ihr offensichtlich wenig Vergnügen.
»Kann ich mit Mrs. Galleguillos sprechen?«
»Mrs. Galleguillos ist im Ruhestand. Wir haben eine neue Konrektorin. Worum geht es?«
»Um meinen kleinen Bruder. Joaquin Coleman. Ich wollte ihm sein Insulin bringen, aber er ist heute nicht in der Schule, deshalb dachte ich, ich könnte es hier im Büro lassen, damit er es sich morgen abholen kann. Das haben Mrs. Galleguillos und ich schon häufiger so gemacht.«
»Und Sie sind?«
»Jasmine Benavides.«
»Nehmen Sie Platz.« Sie stemmt sich vom Schreibtisch hoch, stößt sich ab und humpelt zu einem Flur auf der linken Seite.
Ich sinke in den angebotenen Plastikstuhl, die Handtasche auf dem Schoß. Darin befindet sich meine wertvolle Fracht, die weiße Plastiktüte mit Joaquins Medikament. Ein Teenager besetzt den Platz neben mir, ein Baby auf dem Schoß und vor sich ein kleines Mädchen in einem Buggy mit einem Chili-Mango-Lutscher im Mund. Ich krümme meine Finger, und der verschwommene Schädel mit den gekreuzten Knochen auf meinem Ringfinger dehnt sich.
Eine braunhaarige Frau in schwarzer Hose und strenger weißer Bluse taucht aus einem Büro auf. »Jasmine?«, ruft sie, während ihr Blick über den Wartebereich schweift. »Jasmine Benavides?«
Ich hebe zögernd die Hand, wie ein Kind im Klassenzimmer. »Das bin ich.«
»Oh.« Sie mustert mich von Kopf bis Fuß, als würde mein Anblick sie überraschen. Mir wird bewusst, dass ich noch immer meine riesige Pilotensonnenbrille trage, und schiebe sie nach oben in die Haare. Sie lächelt. »Sofia Russo. Kommen Sie mit.«
Ich folge ihr durch einen kurzen Flur zu dem Büro, an das ich mich aus meiner eigenen Zeit hier erinnere. An der Tür klebt eine neue Plakette, die sie als Ms. Russo, Konrektorin bezeichnet.
Ich setze mich auf einen Holzstuhl vor dem Schreibtisch, und sie nimmt auf ihrem Bürostuhl vor dem Computer Platz. »Wie heißt Ihr Bruder?«
»Joaquin Coleman.«
Ms. Russo klickt ein paar Sachen mit der Maus an und tippt ein paar Wörter. Sie beugt sich zum Bildschirm. Sie ist jung, ungefähr in meinem Alter oder nur wenig älter, und auf mediterrane Art hübsch, mit dichten dunklen Brauen, hohen Wangenknochen, breitem Mund und üppigen dunklen Wimpern. Gegen das makellose Weiß ihrer Bluse heben sich Hals und Dekolleté goldbraun ab. Sie ist eine dieser Frauen, die einfach perfekt aussehen.
»Da haben wir ihn.« Sie klickt. »Welcher Jahrgang?«
»Acht. Er ist dreizehn.«
Ihre Augen leuchten auf. »Oh, ich kenne Joaquin. Er war Dritter beim Wissenschaftswettbewerb. Er ist ein ausgezeichneter Schüler.«
»Ja, das ist er.« Ein kleines, stolzes Lächeln spielt um meine Lippen. Es ist erst wenige Monate her, dass ich Carol dabei überraschte, wie sie ihm einen Anschiss verpasste, weil er Putzmittel gemischt und damit einen gigantischen Vulkan im Garten gebaut hatte. »Aber es funktioniert, er bricht aus«, hatte er protestiert.
Ms. Russo sagt: »Sie sind hier als Notfallkontakt aufgeführt. Jasmine Benavides. Richtig?«
»Bitte, nennen Sie mich Jazz. Ich hasse Jasmine.«
»Okay. Jazz. Aber Sie werden nicht als Vormund geführt. Das ist eine … Carol Coleman? Ihre Mutter?«
Nein. Keine Mutter. So darf sie sie nicht nennen. »Das ist unsere Pflegemutter. Joaquins Adoptivmutter.«
»Möchten Sie sie anrufen? Ich darf ohne ihre Erlaubnis keine Medikamente weitergeben, aber wir können ja schnell mit ihr sprechen, und dann kann ich …«
»Rufen Sie nicht an.« Mir wird schwindlig. Es gefällt mir nicht, auf diesem Anklagestuhl zu sitzen und die Einzelheiten unserer kaputten Familie vor dieser Frau auszubreiten. Alte Gefühle, die mit dem Dasein als Pflegekind verbunden sind, überwältigen mich. Der Fürsorgefall, dem man Blicke voller Mitleid zuwarf oder Ekel, als ich das erste Mal Läuse hatte. Das Raunen, wenn meine Kleidung nicht sauber war, wenn ich mich prügelte.
»Geht es Ihnen nicht gut?« Ihre Stimme ist freundlich und warm, und ich hasse den Klang.
Ich reiße mich zusammen. »Ich habe das früher schon so gemacht. Mrs. Galleguillos kennt uns. Carol kommt nicht mit Joaquins Medikamenten zurecht, deshalb umgehen wir sie irgendwie.«
Am Türrahmen klopft es. Die Frau vom Empfang. Sie reicht Ms. Russo ein paar neue Formulare. Ms. Russo überfliegt die Unterlagen und wirft ihr einen scharfen Blick zu. »Wann sind die gekommen?«
»Die Beratungsstelle hat sie gerade geschickt.« Die Sekretärin verlässt das Büro. Ms. Russo beißt sich auf ihre schimmernden Lippen und mustert stirnrunzelnd die Seiten vor sich. Sie blättert sie rasch durch, eins-zwei-drei, mustert dann wieder die erste Seite.
»Was ist los?«, frage ich.
Ihr Blick huscht zu meinem Schlüsselbein, wo meine Brusttätowierung, ein Paar Flügel, die sich von Schulter zu Schulter strecken, aus dem Kragen meines Sweatshirts ragt. Zögernd sagt sie: »Ich möchte Sie nicht beunruhigen. Sie hängen eindeutig sehr an Ihrem Pflegebruder, und Sie …«
»Nur Bruder«, korrigiere ich sie in schärferem Ton als beabsichtigt.
»Oh. Es tut mir leid. Ich habe angenommen …«
»Dieselbe Mutter, fünfzehn Jahre später. Was ist das?« Ich deute auf die Unterlagen.
Sie trommelt mit den Fingern auf den Tisch. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen darf, das sind vertrauliche Informationen.«
»Warum? Was ist das?«
»Das sind Abmeldeunterlagen.«
Ich starre sie ein paar Sekunden verwirrt und verständnislos an. »Er ist nicht mehr hier angemeldet?«
»Korrekt.«
In meinem Kopf dreht sich alles. »Aber … Warum?«
»Damit er zu Hause unterrichtet werden kann, zumindest steht das hier.«
»Von Carol? Sie ist keine Lehrerin. Sie hat keine Ahnung von Mathematik, und wenn ihr Leben davon abhinge. Sie hat nicht mal einen Highschool-Abschluss.«
»Ich glaube, das ist für den Heimunterricht der eigenen Kinder nicht erforderlich.«
Ich zermartere mir den Kopf in dem Versuch, den Sinn darin zu erkennen. »Aber wir haben schon die Highschool für ihn ausgesucht. Es ist eine auf Wissenschaft und Technik spezialisierte Schule von einem privaten Träger. Er ist schon ganz aufgeregt.« Mein Herz rast, panisch, aufgebracht.
»Glauben Sie, er ist in irgendeiner Weise gefährdet? Falls ja, können wir das Jugendamt anrufen.«
»Und was sagen wir denen? Dass ich nicht glaube, dass meine ehemalige Pflegemutter ausreichend acht auf den Diabetes meines Bruders gibt? Dass sie ihn nicht gut genug unterrichten wird?«
»Ja, gewiss.«
»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Glauben Sie, die würden …« Ich atme zu rasch. Selbst wenn das Jugendamt einen solchen Anruf ernst nehmen würde, was lachhaft ist, was wäre die Alternative? Joaquin zu anderen Pflegeeltern zu schicken, wo ich ihn nie sehen würde, wo er von vorn anfangen müsste, genau wie ich damals, wo womöglich unbekannte Schrecken auf ihn warten. Mir würde man ihn nicht überlassen; es ist ja nicht so, dass ich das nicht versucht hätte.
Ich muss hier weg.
Ich stehe auf und gehe. Ich stürme an der Sekretärin vorbei, die zusammenzuckt, und schlage im Korridor die Bürotür so kräftig hinter mir zu, dass die Scheiben klirren. Ich schiebe mich durch eine Horde Kinder, die sich im Flur um eine Schüssel Nachos drängt, nehme zwei Stufen auf einmal. »Warten Sie«, ruft eine Stimme hinter mir. Ich ignoriere sie. Eine Hand packt meine Schulter, um mich aufzuhalten. Ich wirbele angespannt herum und reiße meinen Arm weg.
Die Hand gehört Ms. Russo. Sie tritt zurück, ihre Miene ist argwöhnisch und ein wenig ängstlich.
Die Kinder beobachten uns aus riesigen Augen. Einer der Jungen schlägt die Hand vor den Mund.
Ich hebe die Hände. »Tut mir leid. Bitte fassen Sie mich nicht an. Es tut mir leid.«
Der Junge skandiert »Kampf, Kampf, Kampf«, laut genug, um die Mädchen zum Kichern zu bringen.
Ms. Russo wirft ihm einen strengen Blick zu, der ihn umgehend zum Schweigen bringt. Zu mir sagt sie: »Kommen Sie, gehen wir zurück. Ich möchte Ihnen helfen.«
»Nein, ich fahre zu Carol. Ich will herausfinden, was sie da treibt.«
»In Ordnung. Morgen kontaktiere ich als Erstes das Jugendamt. Wir kriegen das schon hin.«
»Ich sag’s Ihnen jetzt schon, die werden einen Scheiß tun.«
»Warum machen wir nicht einen Schritt nach dem anderen? Ich werde anrufen, wir werden sehen, was sie unternehmen, und dann überlegen wir uns, was wir als Nächstes tun.«
Sie ist nett zu mir. Sie ist nicht wütend auf mich, weil ich zornig bin und fluche. Ich habe ein schlechtes Gewissen. Sie versucht einfach nur zu helfen. »Okay. Rufen Sie an. Danke.«
»Ihre Telefonnummer habe ich, oder?«, fragt sie. »In der Datei mit Joaquins Notfallkontakten?«
»Ja. Das ist mein Handy.«
»Ich gebe Ihnen Bescheid, wie es läuft.«
Der braune, apokalyptische Himmel fühlt sich an wie ein Omen. Das ist nicht gut. Das ist überhaupt nicht gut.
Ich umklammere die weiße Plastiktüte und schleiche auf Zehenspitzen durch das kniehohe Unkraut an der Seite von Carols Haus. Die Dämmerung senkt sich langsam über die Stadt, kühlt die Luft vor dem Boden. Eins muss man zugeben: Der Rauch in der Luft sorgt für wunderbare, blutrote Sonnenuntergänge. Ich bleibe vor dem Haus stehen und sehe zu, wie das Rubinrot sich zu Violett und Grau verwandelt, und dann bleibt nur noch der trübe, sternenlose Himmel.
Ich drehe mich zum Garten und drücke leise das hüfthohe Tor im Maschendrahtzaun auf. Als ich unter dem Küchenfenster entlangschleiche, vibriert das Handy in meiner Hosentasche. Ich ziehe es heraus. Andre.
Ich wische nach rechts und halte es ans Ohr. »Hey, Kumpel, ich rufe zurück«, flüstere ich.
Seine Stimme dröhnt aus dem Handy. »Wo ist der Stapel Kabel, den wir zur Seite gelegt haben? Die extra langen? Matt kann sie nicht finden.«
Ich reguliere die Lautstärke herunter. »Die müssten neben Daos Pedalboard liegen.«
»Da sind sie nicht!«
»Tja, dann weiß ich es auch nicht! Ich muss los. Wir sehen uns im Club.« Ich lege auf und stecke das Handy zurück in die Tasche.
Ich krieche durch das hohe Gras zu Joaquins Fenster. Auf diese Weise kommuniziere ich mit ihm, wenn Carol total durchdreht. Wir haben vor langer Zeit eine Klappe aus dem Fliegengitter geschnitten. Letztes Jahr machte sie eine Fastenphase durch und begriff einfach nicht, dass Kinder mit Diabetes nicht auf Nahrung verzichten können, deshalb schob ich ihm jeden Tag Essen durch die Gitterstäbe. Es war lustig; sie konnte einfach nicht verstehen, warum er zunahm. Sie glaubte, Jesus würde ihn mit dem Heiligen Geist füttern. Nein, es war Jazz, die Botin Gottes, die ihn mit Hamburgern versorgte.
Ich hebe die Hand, um an die Scheibe zu klopfen, halte aber inne. Das Fenster sieht anders aus. Es ist seltsam dunkel.
Ich stelle die Plastiktüte ab, packe die schmiedeeisernen Gitterstäbe und ziehe mich hoch, um mir das näher anzuschauen. Das Fenster sieht irgendwie braun aus, unregelmäßig.
Moment. Ist es … Ist es mit Brettern verrammelt?
Ich lasse mich fallen, ziehe das Handy aus der Tasche, schalte die Taschenlampe ein und leuchte durch das Gitter.
Heilige Scheiße. Es ist von innen mit Brettern vernagelt.
Adrenalin und Wut durchströmen mich. Ich schnappe mir die Tüte, stapfe zurück durch das tote Gras und stürme zur Haustür hoch. Ich drücke heftig auf die Klingel, ein-, zwei-, dreimal.
Sie reagiert rasch. Vielleicht hat sie mich kommen sehen. Sie bleibt hinter der Fliegengittertür stehen, eine Hand am Türgriff.
»Ich muss mit dir reden«, sage ich.
»Worüber?« Ihr dünnes Haar ist zu einem tiefsitzenden Pferdeschwanz zurückgebunden, ihre Brust abgezehrt unter einem ausgebeulten rosa T-Shirt.
»Über Joaquin. Was fällt dir ein? Warum zum Teufel ist sein Fenster verrammelt? Warum sagt seine Schule, dass er nicht mehr kommt?«
Sie seufzt, öffnet die Fliegengittertür und tritt zu mir hinaus auf die Veranda. Sie trägt ihre üblichen Achtzigerjeans und schmuddelige weiße Sneakers. Sie bedeutet mir mit einer Geste, dass wir uns auf die Treppe setzen sollen, und ich lasse mich auf die Zementstufe neben ihr sinken.
Sie blickt mir in die Augen. Ihre sind verwaschen grau, mit Falten in den Winkeln. »Ich weiß, dass du dich um ihn sorgst. Niemand bezweifelt das. Aber ich bin seine Mutter. Nicht du.«
Diese Worte sind für mich am schwersten zu ertragen, ich werde mich niemals daran gewöhnen, egal, wie viele Jahre vergehen.
Meine Stimme ist rau. »Wenn du so eine tolle Mutter bist, willst du dann auch die Arzttermine übernehmen? Weil du ja die letzten zehn Jahre so getan hast, als würde sein Diabetes nicht existieren.«
»Er hatte seit Jahren keine Symptome mehr, Jasmine.«
»Weil er Medikamente bekommt!«
»Du hast dieses Bedürfnis zu bestimmen, ihn zu kontrollieren. Du musst loslassen. Nicht er ist krank. Sondern du.«
Das Verlangen, sie zu schlagen, schwillt in mir an, aber ich muss ruhig bleiben. Ich atme tief ein und zwinge mich, meine geballten Fäuste zu lockern. »An jedem Feiertag ist es immer wieder derselbe Scheiß. Du versuchst, ihm Süßigkeiten anzudrehen, die er nicht essen darf, versuchst zu beweisen, dass er gesund ist. Er ist nicht gesund, Carol. Er könnte sterben. Willst du das?«
»Ärzte können Symptome behandeln. Heilen kann ihn nur Gott.«
»Diabetische Ketoazidose. Ohne Insulin setzt sie nach zwei Tagen ein und würde ihn innerhalb einer Woche umbringen. Hältst du das für ein beschissenes Spiel? Weißt du nicht mehr, was passiert ist?« Ich bin aufgesprungen; ich kann mich nicht beherrschen. Es reißt mir das Herz heraus, meine nackte Seele bebt vor Wut.
Vor drei Jahren, ehe Joaquin lernte, besser auf sich aufzupassen, kniete ich an einem grauenhaften Weihnachtstag über ihm in seinem Bett und versuchte verzweifelt, ihn wach zu rütteln. Das Laken unter ihm war uringetränkt, sein Puls schwach und unregelmäßig. Ich warf ihn mir über die Schulter und rannte zu meinem Truck. Diese Fahrt in die Notaufnahme war die längste Autofahrt meines Lebens.
Unwillkommene Bilder blitzen in meinem Kopf auf – Joaquin, der schlaff und von Pisse durchtränkt nur vom Sicherheitsgurt aufrecht gehalten wird, während ich durch die Tränen, die meine Sicht fast bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen lassen, versuche, die Straße zu erkennen.
»Und der Herr wird alle Krankheiten von euch nehmen«, fährt Carol fort. »Er muss fester im Glauben werden, und das kann er nicht, wenn er in der Schule mit Lügen gefüttert wird, wenn du ihn mit Lügen fütterst. Er muss von der Schrift umgeben sein.«
»Hat man dir das in der Kirche erzählt? Nachdem man ein Zehntel deines Wohlfahrtsschecks kassiert hat? Weißt du nicht mehr, was die Ärzte dir letztes Mal gesagt haben? Oder hältst du es für Gottes Willen, dass Joaquin im diabetischen Koma stirbt, ehe er die Highschool besuchen kann?«
Sie steht auf und wischt sich die Hände an der Jeans ab. »Römer, 1:26.«
»Stopp.«
»Und Gott lieferte sie entehrenden Leidenschaften aus: Selbst Frauen vertauschten den natürlichen Verkehr mit dem widernatürlichen.«
Ich schiebe das zur Seite, um mich ein anderes Mal damit zu beschäftigen. »Es geht nicht um mich. Du kannst über mich denken, was immer du willst, aber …«
»Du erschöpfst mich, Jasmine.« Sie geht zurück ins Haus und schließt die Tür hinter sich.
Ich schlage mit der Faust gegen die stählerne Fliegengittertür. »Willst du, dass er stirbt? Willst du das?«
Ich stolpere die Stufen hinunter, ziehe den Schlüssel aus der Tasche und umklammere ihn so fest, dass er in meine Handfläche schneidet. Ich bin in meinem Truck, ohne zu wissen, wie ich dorthin gekommen bin. Ich stecke den Schlüssel in die Zündung und lege den ersten Gang ein. Der Truck löst sich zu schnell vom Randstein. An der Cesar Chavez Avenue trete ich auf die Bremse, umklammere das Steuer und schreie aus vollem Hals.