Buch

Ein eisiger Wind weht im Reich des Westens. Zwischen den drei blutig vereinten Königreichen Limeros, Auranos und Paelsia schwelen die Konflikte. Gleichzeitig erhebt sich jenseits der Silbernen See ein tödlicher Feind: Das mächtige Reich Kraeshia strebt nach der Elementia, der uralten Magie der Elemente, und steht nun dem Reich des Westens bedrohlich gegenüber. Für die drei jungen Thronfolger von Limeros, Auranos und Paelsia scheint die Lage auswegloser denn je. Während Blutkönig Gaius nach Kraeshia segelt, muss sein Sohn Magnus, der nach außen hin kühle Prinz von Limeros, den Thron besteigen. Magnus sucht die Anerkennung seines Vaters – und doch ist ihm dessen grausame Herrschaft zutiefst zuwider. Seine neue Stellung belastet auch sein Verhältnis zu Prinzessin Cleiona aus dem besiegten Hause Auranos. Einerseits ist Cleiona in der Ehe mit Magnus gefangen und wünscht sich nichts sehnlicher, als ihr Königreich zurückzuerobern, andererseits hegt sie starke Gefühle für ihn. Doch Cleo verbindet auch eine Freundschaft mit dem kämpferischen Jonas von Paelsia, der an nichts anderes mehr denken kann, als sie zu befreien. Als sich die skrupellose Thronerbin von Kraeshia anschickt, die Herrschaft über alle Reiche an sich zu reißen, könnte nur ein Bündnis zwischen Magnus, Cleo und Jonas die Gefahr noch abwehren …

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Morgan Rhodes

Eisige

Gezeiten

Falling Kingdoms

Band 4

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Anna Julia Strüh

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Frozen Tides« bei Razorbill, an Imprint of Penguin Random House, New York.

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1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2017

Copyright © der Originalausgabe 2015 by Penguin Random House LLC

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in

any form. This edition published by arrangement with Razorbill, an imprint of

Penguin Young Readers Group, a division of Penguin Random House LLC.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München, Landkarte: © Penguin Random House LLC

Redaktion: Lothar Strüh

KS · Herstellung: kw

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-21050-2
V001

www.goldmann-verlag.de

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PERSONEN DER HANDLUNG

LIMEROS

Magnus Lukas Damora

Der Prinz

Lucia Eva Damora

Adoptierte Prinzessin; prophezeite Magierin

Gaius Damora

Der König von Mytica

Felix Gaebras

Assassine des Kobra-Klans

Gareth Cirillo

Königsvasall

Kurtis Cirillo

Sohn von Lord Gareth

Lord Francus

Mitglied des Königlichen Rats

Lord Loggis

Mitglied des Königlichen Rats

Hohepriester Danus

Mitglied des Königlichen Rats

Milo Iagaris

Palastwache

Enzo

Palastwache

PAELSIA

Jonas Agallon

Anführer der Rebellen

Lysandra Barbas

Rebellin

Olivia

Eine Hexe

Laelia

Eine Tänzerin in einer ­Taverne

AURANOS

Cleiona (Cleo) Aurora Bellos

Prinzessin von Auranos

Nicolo (Nic) Cassian

Cleos bester Freund

Nerissa Florens

Cleos Zofe

Galyn

Tavernenbesitzer

Bruno

Galyns Vater

KRAESHIA

Cyrus Cortas

Imperator

Dastan

Prinz, Erstgeborener

Elan

Prinz, Zweitgeborener

Ashur Cortas

Prinz, Drittgeborener

Amara Cortas

Prinzessin, Viertgeborene

Neela

Amaras Großmutter

Mikah Kasro

Kraeshianische Wache

Taran

Revolutionär

DAS HEILIGTUM

Timotheus

Ältester

Kyan

Die Feueressenz

PROLOG

35 JAHRE ZUVOR

Das schwarze Monster streckte seine grässlichen langen Klauen nach dem Jungen aus, drückte ihn aufs Bett, nahm ihm die Luft zum Atmen. Das tat es jede Nacht. Und jede Nacht hatte er schreckliche Angst.

»Nein«, flüsterte er. »Das ist kein Monster, sondern nur die Dunkelheit. Es ist nur die Dunkelheit!«

Er war kein kleines Kind mehr, das sich im Dunkeln fürchtete. Er war fast acht, und er schwor bei der Göttin, dass er diesmal nicht nach seiner Mutter schreien würde.

Doch seine Entschlossenheit hielt nur kurz an, dann gewann die Angst die Oberhand. »Mama!«, rief er. Wie immer kam sie sofort und setzte sich zu ihm auf die Bettkante.

»Mein Liebling.« Sie nahm ihn in die Arme, und er klammerte sich an sie, obwohl er sich dabei wie ein schwächlicher Versager fühlte, vergrub das Gesicht an ihrer Schulter und schluchzte.

»Jetzt ist alles gut. Ich bin bei dir.«

Licht schien auf, als sie die Kerze neben seinem Bett entzündete. Obwohl ihr schönes Gesicht im Schatten lag, konnte er die Wut darin sehen, doch er wusste, dass sie nicht ihm galt. »Ich habe ihnen so oft gesagt, dass sie nachts eine Kerze in deinem Zimmer brennen lassen sollen.«

»Vielleicht hat der Wind sie ausgeblasen«, wandte er ein, denn er wollte nicht, dass seine Kindermädchen seinetwegen Ärger bekamen.

»Ja, vielleicht.« Sie legte ihm eine Hand an die Wange. »Fühlst du dich jetzt besser?«

Nun, da die Finsternis vertrieben und seine Mutter bei ihm war, fühlte er sich nur noch lächerlich. »Tut mir leid. Ich hätte mutiger sein sollen.«

»Viele fürchten sich vor der Dunkelheit, und das aus gutem Grund«, erwiderte sie. »Du bist nicht der Einzige, der darin ein schreckliches Monster sieht. Aber ein Monster kann man nur besiegen, indem man … was tut?«

»Indem man sich mit ihm anfreundet.«

»Ganz genau.« Sie machte eine beiläufige Handbewegung in Richtung der Laterne an der Wand und entzündete sie mit ihrer Feuermagie. Starr vor Ehrfurcht schaute er zu, wie er es immer tat, wenn sie ihre Elementia einsetzte. Als sie sein entgeistertes Gesicht sah, hob sie eine Augenbraue. »Du denkst doch nicht, dass ich ein Monster bin, oder?«

»Natürlich nicht«, antwortete er ohne Zögern und schüttelte heftig den Kopf. Seine Mutter war eine Hexe – dieses Geheimnis hatte sie nur ihm anvertraut. Sie hatte ihm erzählt, dass manche Leute Angst vor Hexen hatten und sie für böse hielten, aber sie irrten sich. »Erzähl mir die Geschichte noch mal«, sagte der Junge.

»Welche Geschichte?«

»Über die Essenzen.« Das war seine Lieblingsgeschichte, und sie half ihm in unruhigen Nächten, wieder einzuschlafen.

»In Ordnung.« Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht, als sie die kleine Hand ihres Sohnes in ihre nahm. »Es waren einmal vier Kristallkugeln, die von Unsterblichen sorgsam gehütet wurden. Jede Kugel enthielt reine Elementarmagie – die Magie, die alles Leben möglich macht. Es hieß, man könne sehen, wie die Magie in ihnen endlos umherschwirrt, und jeder, der sie in der Hand hält, spüre ihre Macht. Die Bernsteinkugel barg Feuermagie. Der Aquamarin Wassermagie. Der Mondstein Luftmagie. Und die dunkelste Kugel, ein Obsidian, barg Erdmagie. Als die unsterblichen Göttinnen Valoria und Cleiona vor ihren Feinden flohen und hierher in unsere Welt kamen, brachten sie je zwei der Kugeln mit, die ihnen unvorstellbare Kräfte verliehen. Welche hat Valoria besessen und beschützt, Liebling?«

»Erde und Wasser.«

»Und Cleiona?«

»Feuer und Luft.«

»Richtig. Doch schon bald genügte es den Göttinnen nicht mehr, jeweils nur zwei der Essenzen zu besitzen. Sie wollten beide mehr, sodass sie alleine über die Welt herrschen und niemand ihnen mehr in die Quere kommen könnte.« Wenn seine Mutter diese Geschichten erzählte, nahmen ihre Augen immer einen verträumten, abwesenden Ausdruck an. »Leider ließ die Gier nach Macht die beiden Unsterblichen, die einst Schwestern gewesen waren, zu den erbittertsten Feindinnen werden. Sie kämpften in einem großen, fürchterlichen Krieg gegeneinander. Letztendlich trug keine von ihnen den Sieg davon. Sie wurden beide vernichtet, und die Kristalle gingen verloren. Seither schwindet die Magie aus dieser Welt – und sie wird weiter schwinden, bis jemand die Essenzen findet und ihre Magie freisetzt.

Eine uralte Prophezeiung besagt, dass eines Tages ein Kind mit mächtigen magischen Fähigkeiten geboren werden wird, wie sie seit tausend Jahren niemand zu Gesicht bekommen hat, mit denen es über alle vier Elemente gebieten kann.« Dazu wäre eine Hexe wie seine Mutter nie imstande. Sie konnte Feuermagie wirken – gerade genug, um eine Kerze zu entzünden – und mithilfe von Erdmagie seine aufgeschürften Knie und andere kleine Wunden heilen, aber mehr nicht. »Dieses prophezeite Kind wird der Schlüssel zu den Essenzen sein – und zu ihrer gewaltigen Macht.« Ihr Gesicht hatte sich vor Aufregung gerötet. »Natürlich halten das viele für einen Mythos.«

»Aber du glaubst, dass es wahr ist.«

»Von ganzem Herzen.« Sie drückte seine Hand. »Und außerdem glaube ich, dass du derjenige sein wirst, der dieses unendlich wichtige, magische Kind findet – du, mein Liebling, wirst diesen Schatz für dich beanspruchen. Das wusste ich bereits im Moment deiner Geburt.«

Wann immer sie ihm das sagte, fühlte er sich sehr besonders, aber es dauerte nie lange, dann schlichen sich die Zweifel wieder ein, und das Gefühl verging.

Als würde sie seine Unsicherheit spüren, nahm sie sein Gesicht in ihre Hände und sah ihm tief in die Augen. »Du wirst nicht immer Angst im Dunkeln haben. Eines Tages wirst du stark und mutig sein – von Jahr zu Jahr wirst du immer tapferer werden. Die Dunkelheit wird dir keine Angst mehr machen. Nichts wird dir Angst machen. Und wenn du erst frei von Furcht bist, wirst du deinen rechtmäßigen Platz in der Welt einnehmen und deine Bestimmung erfüllen.«

»Wie Vater?«

Ein Schatten legte sich über ihr Gesicht. »Nein. Du wirst viel stärker sein, als er es je sein könnte.«

Die Zukunft, die sie für ihn voraussah, klang so fantastisch, dass er sie jetzt gleich erleben wollte. »Wann werde ich mich ändern?«

Sie küsste ihn auf die Stirn. »Die wichtigsten Veränderungen erfordern Zeit und Geduld. Aber ich glaube an dich – fester als ich je an irgendjemand anderen geglaubt habe. Du bist zu Großem bestimmt, Gaius Damora. Und ich schwöre dir: Ganz gleich, was ich dafür tun muss, du wirst wahre Größe erlangen.«

KAPITEL 1

MAGNUS

LIMEROS

Frauen sind hinterlistige, gefährliche Kreaturen. Sie gleichen alle giftigen Spinnen, die mit einem einzigen Biss töten können. Denk immer daran.«

Dieser Rat, den sein Vater ihm einst gegeben hatte, klang in Magnus’ Erinnerung nach, während er vom Hafen in Rabenhorst zusah, wie das Schiff der Kraeshianer in der Dunkelheit verschwand. Der König hatte keiner Frau je völlig vertraut. Weder seiner Königin noch seiner früheren Geliebten und Beraterin, ja, nicht einmal der Unsterblichen, die ihm in seinen Träumen Geheimnisse zuflüsterte. Das meiste, was sein skrupelloser Vater sagte, ignorierte Magnus einfach, doch jetzt hatte er Bekanntschaft mit der gefährlichsten, hinterlistigsten Frau von allen gemacht.

Amara Cortas hatte die Essenz – eine Aquamarinkugel, die reine Wassermagie enthielt – gestohlen und auf ihrer Flucht eine Spur von Tod und Zerstörung hinterlassen.

Das bitterkalte Schneegestöber drang ihm unter die Haut und betäubte den Schmerz in seinem gebrochenen Arm. Es würde noch Stunden dauern, bis die Sonne aufging, und die Nacht war frostig genug, dass er sich den Tod holen könnte, wenn er nicht vorsichtig war.

Und dennoch starrte er weiter wie gelähmt auf das schwarze Wasser hinaus – irgendwo dort draußen war der gestohlene Schatz, der ihm zustand.

»Was jetzt?« Cleos Stimme riss ihn aus seinen düsteren Gedanken.

Einen Moment hatte er vergessen, dass er nicht allein war.

»Was jetzt, Prinzessin?«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, und bei jedem Wort bildeten sich kleine Dampfwolken vor seinem Mund. »Nun, ich denke, wir sollten die kurze Zeit genießen, die uns noch bleibt, ehe die Männer meines Vaters hier auftauchen und uns auf der Stelle hinrichten.«

Auf Verrat stand die Todesstrafe, selbst wenn der Betroffene der Thronerbe war. Und er hatte zweifellos Verrat begangen, als er ebenjener Prinzessin, die nun neben ihm stand, zur Flucht verholfen hatte.

»Ich habe einen Vorschlag, Eure Hoheit.« Es war Nics schneidende Stimme, die die Stille durchbrach. »Wenn Ihr damit fertig seid, das Wasser nach Hinweisen abzusuchen, springt doch einfach rein und schwimmt diesem mörderischen Miststück hinterher.«

Wie üblich, wenn er mit Magnus sprach, troff die Stimme von Cleos Lieblingslakai vor unverhohlener Verachtung. »Wenn ich eine Chance sehen würde, sie zu fassen, würde ich es tun«, entgegnete er in ebenso giftigem Ton.

»Wir werden uns die Essenzen zurückholen«, meinte Cleo. »Und Amara wird für ihre Taten büßen.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Eure Zuversicht teile.« Erst jetzt sah Magnus über die Schulter zu ihr hinüber; Prinzessin Cleiona Bellos, deren vertraute Schönheit momentan nur vom Licht des Mondes und ein paar Laternen entlang des Piers erleuchtet wurde.

Er sah sie noch immer nicht als Damora. Vor ihrer Hochzeit hatte sie darum gebeten, ihren Familiennamen behalten zu dürfen, und er hatte zugestimmt. Der König hatte ihn scharf dafür zurechtgewiesen, dass er ihr – einer Prinzessin, die zwangsverheiratet worden war, um die Eroberer, die ihr Königreich eingenommen hatten, in den Augen ihres Volkes besser dastehen zu lassen und hoffentlich einen Aufstand zu verhindern – überhaupt irgendwelche Freiheiten gewährte.

Trotz des pelzgefütterten Umhangs mit Kapuze, die sie sich über den Kopf gezogen hatte, um ihre goldenen Haare vor dem Schnee zu schützen, fröstelte Cleo. Ihr Gesicht war blass, und sie schlang die Arme fest um sich.

Auf ihrer zügigen Reise vom Tempel der Valoria zurück in die Stadt hatte sie sich kein einziges Mal über die Kälte beschwert. Überhaupt hatten sie bis jetzt kaum ein Wort miteinander gewechselt.

»Nenn mir doch einen einzigen Grund, warum du nicht zugelassen hast, dass Cronus mich einen Kopf kürzer macht«, hatte sie verlangt, als sie ihn in Lady Sophias Villa zur Rede stellte.

Und anstatt weiter zu leugnen, was er getan hatte – dass er den Hauptmann der Wache getötet hatte, weil der die eingekerkerte Prinzessin auf Geheiß des Königs hinrichten sollte –, hatte er ihr eine ehrliche Antwort gegeben. Die Worte hatten sich seiner Kehle entrissen, als hätte er keinerlei Kontrolle über sie.

»Du bist der einzige Lichtblick, den ich noch sehe«, hatte er geflüstert. »Und koste es, was es wolle, dieses Licht lasse ich nicht ausgehen

Magnus wusste, dass er Cleo mit diesen Worten viel zu viel Macht über sich gegeben hatte. Auch jetzt noch spürte er diese Schwäche – tausendfach verstärkt durch die Ereignisse letzte Nacht, angefangen mit dem welterschütternden Kuss nach seinem törichten Geständnis, wie viel sie ihm bedeutete.

Zum Glück waren sie unterbrochen worden, bevor er sich völlig in dem Kuss verlor.

»Magnus? Alles in Ordnung?« Cleo berührte ihn am Arm, doch er versteifte sich und entzog sich ihrem Griff, als hätte sie ihn verbrannt. In ihren blaugrünen Augen rangen Verwirrung und Sorge miteinander.

»Mir geht’s gut.«

»Aber dein Arm …«

»Mir geht’s gut!«, wiederholte er, diesmal nachdrücklicher.

Sie presste die Lippen aufeinander, und ihre Miene verfinsterte sich. »Schön.«

»Wir brauchen einen Plan«, warf Nic ungehalten ein. »Und zwar sofort, bevor wir hier draußen erfrieren.«

Magnus riss den Blick von der Prinzessin los und wandte sich dem rothaarigen, mit Sommersprossen übersäten Jüngling zu, der ihm immer wie ein schwächlicher Taugenichts vorgekommen war … zumindest bis heute Nacht.

»Du willst einen Plan?«, knurrte Magnus. »Hier hast du einen: Nimm deine heißgeliebte Prinzessin und verschwindet. Steigt aufs nächste Schiff nach Auranos. Wandert nach Paelsia. Macht, was Ihr wollt. Ich sage meinem Vater, Ihr wärt tot. Wenn Ihr am Leben bleiben wollt, müsst Ihr ins Exil gehen.«

Nics Augen funkelten vor Überraschung, als wäre dies das Letzte, was er von Magnus erwartet hätte. »Ist das Euer Ernst? Ihr lasst uns gehen?«

»Ja, verschwindet von hier.« Das war für alle das Beste. Cleo war zu einer gefährlichen Ablenkung geworden, und Nic war bestenfalls ein Ärgernis und schlimmstenfalls eine Bedrohung. »Das ist ein Befehl.«

Er schaute zu Cleo auf und erwartete, Erleichterung in ihren Augen zu sehen.

Doch stattdessen sah er nichts als ungläubige Wut.

»Ein Befehl, ja?«, fauchte sie ihn an. »Du hättest es bestimmt viel leichter, wenn wir nicht da wären, stimmt’s? Dann könntest du deine Schwester ganz einfach ausfindig machen und dir die übrigen Essenzen unter den Nagel reißen.«

Die Erinnerung an Lucia, die mit Alexius nach Limeros durchgebrannt war, um ihn zu heiraten, traf Magnus wie ein Schlag. Als sie den Tempel erreicht hatten, war überall Blut gewesen – und das konnte durchaus von Lucia stammen.

Sie muss noch leben. Er weigerte sich, irgendetwas anderes in Betracht zu ziehen. Sie war am Leben, und wenn er sie fand, würde er Alexius umbringen.

»Glaubt, was Ihr wollt, Prinzessin«, erwiderte er und wandte sich wieder dringlicheren Angelegenheiten zu. Natürlich wollte er die Essenzen für sich selbst. Erwartete sie etwa, dass er sie mit einem Mädchen teilte, das schon fast seit ihrer ersten Begegnung unentwegt auf eine Gelegenheit lauerte, ihren Thron zurückzuerobern? Mit der Macht der Essenzen könnte sie nicht nur ihren eigenen Thron erobern, sondern jeden Thron, den sie wollte.

Er selbst musste diese Macht erlangen – niemand sonst –, und dann würde er endlich die volle Kontrolle über sein Leben und seine Zukunft haben; dann müsste er sich vor niemandem mehr fürchten und wäre niemandem mehr Rechenschaft schuldig.

Daran konnte nicht einmal das, was zwischen Cleo und ihm vorgefallen war – was immer das auch gewesen sein mochte –, etwas ändern. Sie waren Widersacher, die beide für sich dasselbe wollten, und nur einer von ihnen konnte sein Ziel erreichen. Er würde nicht alles aufgeben, wonach er immer schon gestrebt hatte – für niemanden.

Ein bisschen Farbe war in die Wangen der Prinzessin zurückgekehrt, und ihre Augen blitzten vor Verärgerung. »Ich gehe nirgendwohin. Wir werden gemeinsam zum Palast fahren. Und wir werden gemeinsam nach Lucia suchen. Und wenn dein Vater kommt, um uns zu töten, werden wir uns seinem Zorn gemeinsam stellen.«

Magnus starrte die erboste Prinzessin grimmig an. Sie begegnete seinem Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. Die Schultern gestrafft, das Kinn gereckt, erinnerte sie an eine Fackel, die selbst in dieser kalten, endlosen Nacht hell loderte.

Wie sehr er sich wünschte, er könnte sie hassen …

»Also gut«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Aber vergesst nicht, diese Entscheidung habt Ihr ganz allein getroffen.«

Kurz nach Sonnenaufgang erreichte ihre Kutsche das Palastgelände von Limeros und passierte den bewachten Kontrollpunkt. Am Rande der Klippe gelegen, die zur Silbernen See hinabfiel, stand das schwarze Schloss in starkem Kontrast zu seiner blütenweißen Umgebung. Die Obsidian-Türme ragten hoch in den Morgenhimmel wie die Klauen eines dunklen, mächtigen Gottes.

Viele empfanden diesen Anblick als bedrohlich, doch Magnus fühlte sich hier zu Hause. Ein Anflug von Nostalgie durchströmte ihn; Erinnerungen an einfachere Zeiten, an Ausritte und Schwertkampf-Übungsstunden mit den Söhnen hiesiger Adliger. An Erkundungsausflüge mit Lucia, die immer ein Buch dabeihatte. An die Königin, die sich in Pelze gehüllt nach draußen wagte, um wichtige Gäste zu empfangen, die zu einem Bankett angereist waren. An seinen Vater, der mit den Früchten einer erfolgreichen Jagd nach Hause zurückkehrte und seinen jungen Sohn mit einem seltenen Lächeln begrüßte.

Überall, wohin er auch sah, waren Geister der Vergangenheit.

Magnus stieg aus der Kutsche und die Dutzenden Stufen hoch, die zu dem großen, massiven Haupttor hinaufführten – auf seiner Elfenbein-Oberfläche prangten das limerianische Wappen (eine Kobra vor gekreuzten Schwertern) und das Credo STÄRKE, GLAUBE, WEISHEIT. Er konnte hören, wie Cleo und Nic, die ihm in einigem Abstand folgten, aufgeregt miteinander tuschelten.

Magnus hatte ihnen oft genug die Chance gegeben, sich einfach zu verdrücken, doch stattdessen hatten sie beschlossen, ihn hierher zu begleiten. Was immer jetzt geschehen mochte, hatten sie allein sich selbst zuzuschreiben.

Vor den Eingangstüren standen zwei Wachen in der steifen roten Uniform der limerianischen Palastgarde, zum Schutz gegen die Kälte in gefütterte schwarze Umhänge gehüllt. Magnus wusste, dass er sich nicht vorzustellen brauchte. Die Gardisten salutierten vor ihm.

»Eure Hoheit!«, rief der eine, dann breitete sich Überraschung auf seinem Gesicht aus, als er Cleo und Nic bemerkte. »Hoheiten«, verbesserte er sich. »Geht es Euch gut?«

Angesichts seines gebrochenen, unbeholfen angewinkelten Arms, seines zerschrammten Gesichts und seines allgemein ziemlich ramponierten Aussehens wunderte es Magnus nicht, dass der Wachmann sich danach erkundigte. »Gut genug«, meinte er. »Öffnet das Tor.«

Einem niederen Wachmann musste er nicht erklären, warum er unangekündigt und noch dazu in einer solchen Verfassung in den Palast zurückkehrte. Das hier war sein Zuhause, und es war sein gutes Recht herzukommen, insbesondere wenn er gerade knapp dem Tod durch Amaras Handlanger entronnen war.

Und dennoch konnte er nicht einfach über die beunruhigende Tatsache hinwegsehen, dass womöglich bereits ein Haftbefehl gegen ihn im Palast eingegangen war. Als die Wachen das Tor anstandslos öffneten, atmete er auf und merkte erst da, dass er unbewusst die Luft angehalten hatte.

Er nahm sich einen Moment Zeit, um die Fassung wiederzuerlangen, betrat die große Eingangshalle, ließ den Blick schweifen und begutachtete eingehend die gewundene, in die Steinwände eingemeißelte Treppe, als würde er nach Mängeln suchen. »Wer hat hier das Sagen, solange Lord Gareth in Auranos weilt? Ich nehme an, er ist noch nicht von der Hochzeit seiner Tochter zurückgekehrt.«

»Lord Gareth wird erst in einigen Wochen zurückerwartet. In seiner Abwesenheit wurde Lord Kurtis zum Königsvasallen ernannt.«

Magnus traute seinen Ohren nicht. »Lord Kurtis Cirillo wurde zum Königsvasallen ernannt?«, fragte er nach einem Moment verblüfften Schweigens.

»Ja, Hoheit.«

Kurtis Cirillo, Lord Gareths ältester Sohn, herrschte derzeit über Limeros. Das war gelinde gesagt eine Überraschung, da Magnus vor Monaten das Gerücht zu Ohren gekommen war, Kurtis sei auf Reisen im Ausland ertrunken.

Doch offenbar entsprach das Gerücht nicht der Wahrheit – leider.

»Ich bin Euch bei meinem letzten Besuch hier begegnet«, sagte Cleo zu dem Wachmann und nahm ihre Kapuze ab. »Enzo, richtig?«

»Ja, genau.« Der Gardist beäugte sichtlich betroffen ihren zerrissenen Umhang und das getrocknete Blut in ihren goldblonden Haaren. »Hoheit, soll ich den Palastarzt rufen?«

Cleo berührte gedankenverloren die kleine, aber fiese Wunde an ihrer Stirn, die ihr einer von Amaras Handlangern zugefügt hatte. »Nein, nicht nötig. Danke.« Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Ihr seid sehr freundlich. Daran erinnere ich mich noch vom letzten Mal.«

Enzos Wangen waren im Nu so knallrot angelaufen wie seine Uniform. »Ihr macht es einem sehr leicht, freundlich zu sein, Hoheit.«

Magnus verkniff sich ein entnervtes Augenrollen. Wie es schien, hatte die Prinzessin noch eine unglückselige Fliege in ihrem Netz gefangen.

»Enzo«, sagte er in gebieterischem Ton, und sofort galt die Aufmerksamkeit des Wachmanns ganz allein ihm. »Sag Lord Kurtis, dass ich ihn umgehend im Thronsaal sprechen möchte.«

»Ja, Hoheit.« Der junge Gardist verbeugte sich hastig und eilte ohne ein weiteres Wort davon.

»Kommt«, sagte Magnus zu Cleo und Nic, drehte sich auf dem Absatz um und machte sich auf den vertrauten Weg durch die Palastgänge.

»Kommt«, schnaubte Nic. »Er kommandiert uns rum wie dressierte Hunde.«

»Ich bin nicht sicher, ob der Prinz je gelernt hat, wie man höflich mit jemandem spricht«, meinte Cleo.

»Und dennoch«, gab Magnus ausdruckslos zurück, »folgt Ihr mir.«

»Fürs Erste. Aber Ihr solltet daran denken, dass man mit Charme viel mehr Türen öffnet als mit barschen Worten.«

»Und mit einer scharfen Axt öffnet man jede Tür.«

Am Eingang zum Thronsaal standen mehrere Wachen, die alle salutierten, als sie Magnus sahen. Hier war keine Axt erforderlich – sie drückten die Türen so schnell auf, dass er hindurchlaufen konnte, ohne auch nur eine Sekunde innezuhalten.

Drinnen blickte er sich um. Auf der einen Seite des riesigen Raums erhob sich der schwarze, aus Eisen und Leder gefertigte Thron seines Vaters auf einem Podest, auf der anderen stand ein langer, bestuhlter Tisch für die Ratssitzungen. Die Wände waren mit limerianischen Bannern und Wandteppichen behängt, und Fackeln erleuchteten die Zierleisten, wo das Licht, das durch die großen Fenster hereinschien, nicht hingelangte.

Dieser Saal wurde für viele offizielle Anlässe genutzt. Hier empfing der König die limerianischen Bittsteller und entschied über ihre zahllosen Gesuche um finanzielle Unterstützung oder Gerechtigkeit im Hinblick auf irgendwelche Missetaten, deren Opfer sie geworden waren. Hier verurteilte er Gefangene für ihre Verbrechen und hielt Zeremonien ab, bei denen sowohl Würdige als auch Unwürdige hochtrabende Titel wie Königsvasall verliehen bekamen.

Aus dem Augenwinkel sah Magnus, dass Cleo näher an ihn herangetreten war.

»Ihr kennt Lord Kurtis bereits, nicht wahr?«, wollte sie wissen.

Magnus hielt seinen Blick auf den Thron gerichtet. »Ja.«

»Und Ihr mögt ihn nicht.«

»Ich mag niemanden, Prinzessin.«

Nic schnaubte.

Stille senkte sich über den Raum, während Magnus überlegte, wie er mit dem komplizierten Schlamassel, zu dem sein Leben geworden war, umgehen sollte. Er fühlte sich in eine Ecke gedrängt: verwundet, unbewaffnet und viel zu verletzlich. Sein gebrochener Arm pochte, doch anstatt den Schmerz zu ignorieren, konzentrierte er sich darauf, um sich von dem unaufhörlichen Tumult in seinem Innern abzulenken.

Seine letzte Begegnung mit Kurtis Cirillo war sechs Jahre her, dennoch erinnerte er sich so deutlich daran, als wäre es gestern gewesen.

An jenem Tag hatte die Sonne ungewohnt hell und warm geschienen, und der Schnee war so weit geschmolzen, dass Eislilien aus dem gefrorenen Boden gewachsen waren. Ein hierzulande äußerst seltener Sommerschmetterling, die goldenen Flügel mit blauen und violetten Punkten gesprenkelt, war im Garten am Rand der Klippe auf einer der Blumen gelandet. In Limeros galten Sommerschmetterlinge als Glücksbringer, da sie nie länger lebten als einen Tag.

Magnus hatte die rechte Hand ausgestreckt, und zu seinem Erstaunen kletterte der Falter auf seinen Knöchel, seine dünnen Beinchen kitzelten auf seiner Haut. Aus der Nähe war der Schmetterling so wunderschön, dass er fast nicht von dieser Welt zu sein schien.

»Ist das ein Schmetterling?«

Beim Klang von Kurtis’ schneidender Stimme überlief es Magnus eiskalt. Kurtis war vierzehn, er selbst erst zwölf, und der König bestand darauf, dass er stets freundlich zu dem älteren Jungen war, wenn Lord Gareth zu Besuch kam. Zu Kurtis freundlich zu sein, war allerdings alles andere als leicht, denn er verursachte Magnus schon aus zehn Schritten Entfernung eine Gänsehaut.

»Ja«, antwortete Magnus widerwillig.

Kurtis kam näher. Er war einen ganzen Kopf größer als Magnus. »Du solltest ihn töten.«

Magnus riss entsetzt die Augen auf. »Was?«

»Wenn er so dumm ist, einfach nur auf deiner blassen kleinen Hand zu hocken, verdient er es zu sterben.«

»Nein.«

»Du bist der Kronprinz. Irgendwann musst du mal erwachsen werden. Du wirst Menschen töten müssen, ohne danach rumzuheulen. Dein Vater würde dieses Viech ohne Zögern zerquetschen. Und ich auch. Sei nicht so ein Schwächling.«

Magnus wusste bereits, dass Kurtis gerne Tiere quälte. Bei seinem letzten Besuch hatte er eine streunende Katze abgeschlachtet und ihre zuckenden Überreste in einem Korridor hinterlassen, wo Lucia sie, wie er wusste, ganz sicher finden würde. Sie hatte tagelang geweint.

»Ich bin kein Schwächling!«, stieß Magnus zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Kurtis grinste. »Dann beweis es. Töte das Biest, bevor es wegfliegen kann, oder ich schwöre dir, wenn ich das nächste Mal zu Besuch komme, werde ich …«, er beugte sich vor und flüsterte Magnus ins Ohr, »… deiner Schwester den kleinen Finger abschneiden.«

Wie betäubt vor Entsetzen starrte Magnus ihn an. »Das werde ich meinem Vater erzählen. Dann darfst du nie wieder herkommen.«

»Nur zu, geh petzen. Ich werde einfach alles abstreiten. Wer wird dir schon glauben?«, entgegnete Kurtis lachend. »Also, was soll es sein? Dieser Schmetterling oder der Finger deiner Schwester? Ich werde ganz langsam schneiden und ihr sagen, dass du mich dazu angestiftet hast.«

Magnus wollte die Drohung als Bluff abtun, aber die Erinnerung an die abgeschlachtete Katze schnürte ihm die Kehle zu.

Er wusste, dass er keine Wahl hatte. Also presste er die linke Hand in die rechte und spürte, wie die zarten Flügel langsam in sich zusammenfielen, als er die wunderschöne, friedliche Kreatur zerquetschte.

Kurtis’ Mund verzog sich zu einem gehässigen Schmunzeln. »Oh Magnus. Weißt du denn nicht, dass es Unglück bringt, einen Sommerschmetterling zu töten?«

»Prinz Magnus, Ihr seht aus, als wärt Ihr gerade aus dem Krieg zurückgekehrt.« Kurtis’ Stimme riss Magnus aus der grauenhaften Erinnerung.

Schnell fasste er sich und setzte einen möglichst wohlwollenden Gesichtsausdruck auf, ehe er sich umdrehte. Kurtis war immer noch unglaublich groß – sogar noch ein Stück größer als Magnus. Mit seinen rötlich-braunen Haaren, schlammgrünen Augen und seinem spitzen Gesicht hatte er Magnus schon immer an ein Wiesel erinnert.

»Aus dem Krieg nicht direkt. Aber die letzten Tage waren fordernd.«

»Das sehe ich. Euer Arm …«

»Darum werde ich mich kümmern, sobald ich ein paar geschäftliche Dinge erledigt habe. Es freut mich zu sehen, dass es Euch gut geht, Kurtis. Mir ist das schreckliche Gerücht zu Ohren gekommen, dem sei nicht so.«

Kurtis setzte sein typisches schmieriges Grinsen auf und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ah ja, das Gerücht, ich wäre tot. Diese absurde Geschichte habe ich einem sehr leichtgläubigen Freund aufgetischt, und er hat sie im Nu in der ganzen Welt verbreitet. Aber wie Ihr sehen könnt, geht es mir prächtig.« Kurtis’ Blick schweifte zu Cleo, die neben Magnus stand, und dann zu Nic, der sich ein Stück abseits bei den Wachen an der Tür hielt.

Offensichtlich erwartete er, vorgestellt zu werden.

Magnus beschloss, fürs Erste mitzuspielen. »Prinzessin Cleiona Bellos, das ist Lord Kurtis Cirillo, der Königsvasall von Limeros.«

Cleo nickte, während Kurtis ihre Hand nahm und sie küsste. »Es ist mir eine Ehre, Euch kennenzulernen«, sagte sie.

»Die Ehre ist ganz meinerseits«, antwortete Kurtis. »Mir wurde von Eurer Schönheit berichtet, aber Ihr habt meine Erwartungen bei Weitem übertroffen.«

»Ihr seid zu freundlich, wo ich heute Morgen doch sicher schrecklich aussehe.«

»Nicht doch. Ihr seid absolut bezaubernd. Aber bitte, Ihr müsst mir versichern, dass Ihr keine Schmerzen habt.«

Ihr Lächeln blieb unverändert. »Nein, keine Sorge.«

»Das freut mich zu hören.«

Beim Klang der schmeichlerischen Stimme des »Königsvasallen« hatte sich jeder Muskel in Magnus’ Körper angespannt. »Und das ist Nicolo Cassian, Prinzessin Cleionas …« Wie sollte er am besten erklären, wer der Junge war und was er hier machte? »… Diener

Kurtis’ Augenbrauen schossen in die Höhe. »Ein männlicher Diener? Wie ungewöhnlich.«

»Nicht im Süden.« Nic steckte die Beleidigung erstaunlich locker weg, das musste man ihm lassen. »Dort erachtet man meine Tätigkeit als ehrenwert und äußerst mannhaft.«

»Natürlich.«

Magnus hatte genug von dieser aufgesetzten Höflichkeit. Es war höchste Zeit, endlich zum Punkt zu kommen.

»Ihr fragt Euch sicherlich, warum meine Frau und ich hier in Limeros sind und nicht bei meinem Vater in Auranos. Oder wurdet Ihr über unsere derzeitige Situation in Kenntnis gesetzt?«

»Nein. Euer Besuch ist eine unerwartete, aber höchst angenehme Überraschung.«

Die Anspannung in Magnus’ Schultern löste sich etwas. »Dann verrate ich Euch ein gut gehütetes Geheimnis: Wir suchen hier nach meiner Schwester, die mit ihrem Tutor durchgebrannt ist. Wir müssen sie davon abhalten, diesen schrecklichen Fehler zu begehen … und womöglich noch weitere.«

»Ach du meine Güte …« Kurtis verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Lucia steckt seit jeher voller Überraschungen, nicht wahr?«

Du hast ja keine Ahnung. »Ja, in der Tat.«

Mit einem wissenden Nicken stieg Kurtis das Podest hinauf und setzte sich auf den Thron. Fassungslos sah Magnus dabei zu, entschied sich aber, den Mund zu halten.

»Ich werde Euch für diese wichtige Suche ein Dutzend Soldaten zur Verfügung stellen«, verkündete Kurtis, dann wandte er sich an einen der Gardisten am Eingang: »Kümmere dich umgehend darum und kehr dann hierher zurück.«

Der Soldat verneigte sich. »Ja, Eure Hoheit.«

Magnus sah zu, wie der Wachmann aus dem Saal eilte. »Sie befolgen Eure Befehle ohne Widerrede.«

»Ja, dazu wurden sie ausgebildet. Limerianische Soldaten nehmen jeden Befehl widerspruchslos an und führen ihn auf der Stelle aus.«

Magnus nickte. »Mein Vater würde nichts anderes zulassen. Alle, die auch nur das geringste Anzeichen von Schwäche zeigen, werden … diszipliniert.« Das war ein viel zu milder Ausdruck für die grausamen Strafen, die sein Vater an all jenen vollstreckte, die sich nicht mit Leib und Seele ihrem Dienst für das Vaterland verschrieben.

»Und das sollten sie auch«, meinte Kurtis. »Nun denn, ich werde Quartiere für Euch, Eure wunderschöne Frau und ihren Diener herrichten lassen.«

»Gut. Ich werde in meinem üblichen Zimmer wohnen. Die Prinzessin benötigt ein eigenes, ihres Standes würdiges Gemach. Und Nic …« Er beäugte den Jungen prüfend. »Für Nic genügt eine Dienstbotenunterkunft. Vielleicht eins der größeren Zimmer.«

»Wie nett von Euch«, sagte Nic grimmig.

»Getrennte Schlafzimmer für Mann und Frau?«, hakte Kurtis stirnrunzelnd nach.

»Das habe ich doch gesagt«, entgegnete Magnus, ehe ihm schlagartig bewusst wurde, dass das ein seltsames Anliegen für ein glücklich verheiratetes Paar war.

»Magnus ist so nett, für mich darum zu bitten«, ergriff Cleo das Wort, um Kurtis’ Bedenken zu zerstreuen. »In meiner Familie ist es seit jeher Brauch, das erste Ehejahr in getrennten Zimmern zu schlafen – das bringt Glück, und außerdem wird die Zeit, die wir zusammen verbringen, dadurch … aufregender und unvorhersehbar.« Sie errötete und senkte den Blick, als brächte sie dieses Eingeständnis in Verlegenheit. »Eine alberne Tradition, ich weiß.«

»Keineswegs«, erwiderte Magnus, beeindruckt, dass die Prinzessin sofort die passende Lüge parat hatte.

Kurtis nickte, anscheinend stellte ihn die Erklärung zufrieden. »Also gut. Ich werde dafür sorgen, dass Ihr bekommt, was Ihr benötigt.«

»Gut.« Magnus richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den »Königsvasallen«. »Außerdem muss ich einige Männer umgehend zum Tempel der Valoria schicken. Dort hat letzte Nacht ein heftiger Eissturm gewütet und viele getötet. Die Opfer sollten bis heute Mittag beerdigt und der Tempel so schnell wie möglich in all seiner Pracht restauriert werden.«

Gemäß den religiösen Bräuchen von Limeros mussten die Verstorbenen innerhalb von zwölf Stunden nach ihrem Tod begraben werden, in von einem Priester mit Weihwasser besprenkelter Erde.

Magnus’ Blick schweifte wie von selbst zu Nic, dessen Gesicht bei der Erwähnung der Toten beim Tempel einen schmerzerfüllten Ausdruck angenommen hatte. Unter den Verstorbenen war auch Prinz Ashur, Amaras Bruder. Zwischen ihm und Nic hatte sich eine innige Freundschaft entwickelt, ehe seine Schwester ihn kaltblütig ermordet hatte.

»Ein Eissturm?« Kurtis zog verblüfft die Augenbrauen hoch. »Kein Wunder, dass Ihr alle so mitgenommen ausseht. Ich bin sehr dankbar, dass Ihr und Eure Frau mit dem Leben davongekommen seid. Sicher müsst Ihr Euch nach einer solchen Erfahrung erst einmal ausruhen.«

»Das kann warten.«

»Wie Ihr wünscht.« Kurtis umfasste die Armlehnen des Throns. »Was denkt Ihr, wie lange uns die Ehre Eurer Anwesenheit zuteilwird, ehe Ihr nach Auranos zurückkehrt?«

Ein Dutzend Soldaten betraten den Thronsaal und lenkten Magnus’ Aufmerksamkeit einen Augenblick ab. Ganz gleich, wie eifrig die limerianischen Wachen auch Befehle ausführten, zwölf von ihnen würden nicht einmal ansatzweise ausreichen, um seine Schwester ausfindig zu machen.

»Ich habe nicht vor, nach Auranos zurückzukehren«, sagte Magnus und wandte sich wieder Kurtis zu.

Sichtlich irritiert neigte Kurtis den Kopf. »Ich kann Euch nicht ganz folgen.«

»Dies ist mein Zuhause, mein Palast, mein Königreich. Und in Abwesenheit meines Vaters steht der Thron, auf dem Ihr Euch niedergelassen habt, mir zu.«

Kurtis starrte ihn einen Moment ungläubig an, dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Das verstehe ich vollkommen. Allerdings hat der König mich zu seinem Stellvertreter ernannt. Ich habe diese Aufgabe bereitwillig – und äußerst erfolgreich – übernommen und werde sie erfüllen, solange er und mein Vater außer Landes sind. Der Rat hat sich bereits daran gewöhnt, meine Befehle zu befolgen.«

»Dann müssen sie sich daran gewöhnen, von jetzt an meine Befehle zu befolgen.«

Kurtis’ Lächeln verblasste. Er setzte sich noch aufrechter hin, machte aber keine Anstalten aufzustehen. »Magnus …«

»Prinz Magnus, meint Ihr wohl. Oder Eure Hoheit.« Selbst vom Fuß der Treppe aus konnte Magnus sehen, wie Kurtis’ grüne Augen vor Wut blitzten.

»Verzeiht, Prinz Magnus, aber ohne vorherige Benachrichtigung von König Gaius muss ich Protest gegen diese plötzliche Änderung einlegen. Vielleicht solltet Ihr …«

»Wachen«, sagte Magnus, ohne sich umzudrehen. »Ich verstehe, dass Ihr in den letzten Wochen Befehle von Lord Kurtis angenommen habt, wie es Eure Pflicht war. Aber ich bin Euer Prinz, der Thronerbe von König Gaius, und jetzt, da ich hier bin, untersteht Ihr allein meinem Kommando.« Mit hartem, stechendem Blick starrte er in die Augen des Jungen, den er schon seit seiner Kindheit bis aufs Blut hasste. »Der Königsvasall hat mich mit seinem Protest beleidigt. Holt ihn von meinem Thron herunter und schneidet ihm die Kehle durch, wenn ich es Euch sage.«

Die heiße Wut in Kurtis’ Gesicht wich in Sekundenschnelle kalter Angst, als die Wachen auf ihn zukamen. Ehe er irgendetwas unternehmen konnte, waren vier von ihnen das Podest hinaufgestürmt, zerrten ihn vom Thron und schleiften ihn die Treppe hinunter, wo sie ihn auf die Knie zwangen. Magnus nahm seinen Platz auf dem Podest ein.

Mit diesem kalten, harten, unerbittlichen Thron verband Magnus eine Menge unschöne Erinnerungen, aber bis heute hatte er nie darauf gesessen.

Er war um einiges bequemer, als er erwartet hatte.

Die rot uniformierten Wachen standen vor ihm und sahen alle ohne Zweifel oder Bedenken zu ihm auf. Cleo umklammerte Nics Arm, alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, und sie wirkte vollkommen verunsichert.

Zu Magnus’ Füßen kniete Kurtis, die Augen vor Angst weit aufgerissen, das Gesicht schweißüberströmt. An seiner Kehle ruhte das Schwert eines Gardisten.

»Eure Hoheit«, stieß er panisch hervor. »Wenn ich Euch in irgendeiner Form beleidigt habe, tut es mir leid – das war nicht meine Absicht!«

»Das mag sein.« Magnus beugte sich vor und musterte ihn nachdenklich. »Bettel um dein Leben, dann werde ich dir vielleicht nur den kleinen Finger abschneiden.«

Einen Augenblick wirkte Kurtis verwirrt, dann dämmerte es ihm.

Ganz recht, dachte Magnus. Jetzt sind unsere Rollen vertauscht.

»Bitte«, ächzte Kurtis. »Bitte, Eure Hoheit, lasst mich leben. Ich flehe Euch an. Bitte, ich tue alles, um mich in Euren Augen zu beweisen und mir Eure Vergebung zu verdienen.«

Eine Woge reiner Macht durchflutete Magnus. Beim Anblick des jammernden Wiesels vor seinem Thron erschien ein echtes Lächeln auf seinem Gesicht.

»Sag noch einmal ›bitte‹.« Als Kurtis nicht sofort reagierte, nickte Magnus dem Wachmann zu, woraufhin der sein Schwert fester an Kurtis’ blasse Kehle drückte. Ein Tropfen Blut quoll unter der Klinge hervor.

»Bitte«, presste Kurtis heraus.

Magnus wedelte mit der Hand, und sofort zog der Gardist sein Schwert zurück und steckte es weg. »Na, siehst du? Fühlst du dich jetzt nicht besser?«

Kurtis zitterte am ganzen Leib. Vielleicht war er im Gegensatz zu Magnus noch nie körperlich für seine Fehler gemaßregelt worden.

Er senkte demütig den Kopf. »Danke, Eure Hoheit. Ich stehe Euch zu Diensten.«

»Das freut mich zu hören«, sagte Magnus. »Also, ich muss meinem Vater schnellstmöglich eine Nachricht zukommen lassen. Er sollte wissen, weshalb ich hier im Norden bin. Schließlich möchte ich nicht, dass er sich Sorgen um mich machen muss.«

»Natürlich nicht, Hoheit.«

»Seid ein braver Königsvasall und holt mir Papier und Tinte, ja?«

Kurtis’ Gesicht verfinsterte sich, aber er riss sich rasch zusammen. »Ja, Hoheit.«

Cleo beobachtete, wie Kurtis hastig aus dem Thronsaal eilte, aber sie sagte nichts, und auch Nic schwieg. Als sie sich wieder Magnus zuwandte, funkelten ihre Augen vorwurfsvoll. Anscheinend gefiel es ihr nicht, dass er den jungen Königsvasallen wegen eines – wie es für sie scheinen mochte – kleinen Vergehens zu einem unterwürfigen Sklaven herabgesetzt hatte.

Ja, Prinzessin, dachte Magnus. Ich bin der Sohn von Gaius Damora, dem Blutkönig. Und es ist höchste Zeit, dass ich mich entsprechend verhalte.