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Jimmy Poletti wohnte in einem Bonzenviertel im Westen der Stadt. Nach dem Lebenslauf in der Akte, die Connie mir gegeben hatte, war er zum dritten Mal verheiratet, hatte zwei erwachsene Söhne und besaß noch ein Sommerhaus auf Long Beach Island.
Ich fuhr die Hamilton Avenue entlang, kreuzte die State Street, bog ab und kurvte so lange herum, bis ich das große Backsteinhaus im Kolonialstil gefunden hatte, das Poletti und seine Frau Trudy bewohnten. Ich setzte mich in die Einfahrt, und Lula und ich stiegen aus und schauten uns um. Vier Garagen, zwei Stockwerke, eine überdimensionale Haustür aus Mahagoni. Irgendwo im Haus bellte ein Hund, der aber eher wie ein Pinscher klang.
Ich klingelte, und eine Frau öffnete. Schlank, um die vierzig, langes braunes Haar. Sie trug eine Pilates-Hose und ein orangefarbenes, tailliertes T-Shirt.
»Ich suche Jimmy Poletti«, sagte ich.
»Da sind Sie nicht allein«, sagte sie. »Wir alle suchen ihn.«
»Dann ist er also nicht hier?«
»Zuletzt gesehen hab ich ihn am Freitag, beim Frühstück. Ich bin zu meinem Pilates-Kurs gegangen, und als ich wiederkam, war er weg.«
»Haben Sie das der Polizei gemeldet?«
»Nein. Warum sollte ich? Er wurde ja nicht entführt.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Er hat mir einen Zettel hingelegt, zur Erinnerung, montags und donnerstags den Müll rauszubringen.«
»Das ist alles? Mehr stand nicht auf dem Zettel?«
»Nein.«
»Keine Spuren von Gewalt oder Einbruch?«
»Auch nicht.«
»Hat er irgendetwas mitgenommen?«
»Ein paar Kleidungsstücke und ein Auto, den Mustang.«
»Seitdem haben Sie nichts von ihm gehört?«
»Kein Wort.«
»Sie wirken nicht gerade beunruhigt.«
»Das Haus ist abbezahlt, es läuft auf meinen Namen, und er hat mir den Hund und den Mercedes dagelassen.« Sie sah auf die Uhr. »Ich muss mich beeilen. Ich komme zu spät zu meinem Pilates.«
»War wohl eine Liebesehe«, sagte Lula.
»Ja«, sagte Trudy. »Ich habe sein Geld geliebt, und er liebt nur sich allein.«
Ich gab ihr meine Visitenkarte. »Ich vertrete seine Kautionsagentur. Sollte er sich bei Ihnen melden – ich wäre dankbar, wenn Sie mir Bescheid gäben.«
»Mach ich«, sagte sie und knallte die Tür zu.
Lula und ich stiegen wieder in meinen Ford Explorer.
»Die meldet sich garantiert nicht bei dir«, sagte Lula.
Ich rief Connie an.
»Hast du Polettis Autohäuser überprüft?«, fragte ich sie. »Ist er zur Arbeit erschienen?«
»Eins hat geschlossen. Bei den zwei anderen Niederlassungen habe ich nur die Geschäftsführer erreicht, und die haben ihn seit seiner Verhaftung nicht gesehen. In der Zwischenzeit hatte er wohl telefonischen Kontakt mit ihnen, aber seit seinem Verschwinden auch nicht mehr.«
»Hast du die Adressen seiner Kinder?«
»Die eine ist in North Trenton, die andere in Hamilton Township. Ich schicke Lula die genauen Anschriften per SMS, und die dienstlichen.«
Ich kehrte zurück zur State Street, Richtung North Trenton.
»Ein Sohn wohnt in der Cherry Street«, sagte Lula mit Blick auf die SMS von Connie. »Arbeitet anscheinend in der Knopffabrik.«
Zwanzig Minuten später parkte ich vor Aaron Polettis Hütte, einem schmalen zweistöckigen Reihenhaus, ähnlich dem meiner Eltern in Chambersburg. Handtuchschmaler Vorgarten, mittendrin eine Statue der Jungfrau Maria, an der Fahnenstange der winzigen Veranda die amerikanische Flagge.
»Das ist aber eine schöne Jungfrau«, sagte Lula. »Besonders das hellblaue lange Kleid gefällt mir. Sieht irgendwie himmlisch und friedlich aus. Nur die Macke am Kopf stört. Wahrscheinlich von einem Baseball getroffen.«
Lula und ich gingen zur Haustür. Ich klingelte, und eine junge Frau mit einem kleinen Kind auf dem Arm öffnete.
Ich stellte mich vor und sagte, ich suchte ihren Schwiegervater.
»Keine Ahnung, wo der steckt«, antwortete sie. »Der soll sich hier bloß nicht blicken lassen. Ein furchtbarer Mensch. Wirklich. Ich hab eine kleine Tochter, und was er getan hat, ist sowas von widerlich.«
»Hat er Kontakt zu Ihrem Mann?«
»Nein! Jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Aaron überhaupt noch mit ihm spricht.«
»Arbeitet Aaron in der Knopffabrik?«
»Am Fließband. Sein Vater wollte, dass er in seine Firma einsteigt, aber das hat Aaron abgelehnt. Die beiden haben sich noch nie gut verstanden.«
Ich gab ihr meine Visitenkarte und bat sie, mich anzurufen, falls sie Neues über ihren Schwiegervater erfuhr.
»Das war’s dann wohl. Die wird dich nämlich auch nicht anrufen«, sagte Lula, als wir wieder im Auto saßen. »Hier wird sich Jimmy Poletti ganz sicher nicht verstecken.«
Wahrscheinlich hatte sie recht, aber man weiß ja nie.
»Fahren wir jetzt zu Sohn Nummer Zwei?«, fragte Lula.
»Wenn wir schon mal dabei sind.«
Sohn Nummer Zwei hatte eine Wohnung in Hamilton Township. Connies Informationen zufolge war er zweiundzwanzig, Single und arbeitete als Burgerbrater in Fran’s Fish House an der Route 31.
Die Apartmentanlage bestand aus drei fantasielosen roten Backsteinklötzen, die um einen asphaltierten Parkplatz herum kauerten. Jeder Klotz hatte zwei Geschosse, eine einfache Tür in der Mitte als Eingang. Kein Garten, kein Beet, nichts. Unterste Mietkategorie.
Ich stellte mich auf den Parkplatz, Lula und ich betraten den mittleren der drei Bunker und stiegen in den ersten Stock. Das Haus war zweckmäßig und das Treppenhaus schwach erleuchtet, vielleicht ganz gut so, denn der Teppichboden war kein schöner Anblick. Wir fanden die Wohnung 2C auf Anhieb und klingelten.
Die Tür wurde aufgerissen, und ein mageres Kerlchen glotzte uns an. Er war knapp einen Meter achtzig groß, hatte blutunterlaufene Augen und einen Strubbelkopf. Er stank nach Marihuana, und seine Arme waren übersät mit Brandnarben, wahrscheinlich von der Arbeit in der Braterei. Er trug rosa Boxershorts mit aufgedruckten roten Herzen.
»Oswald Poletti?«, sagte ich.
»Ja. Seid ihr von den Pfadfinderinnen und verkauft Cookies?«
»Hübsches Höschen«, sagte Lula.
Er sah an sich herab, als fielen ihm die Shorts erst jetzt auf.
»Die hat mir irgendeine Frau geschenkt.«
»Die muss Sie wirklich hassen«, sagte Lula.
Ich stellte mich vor und sagte ihm, dass wir seinen Vater suchten.
»Den hab ich lange nicht gesehen«, sagte er. »Wir stehen uns nicht gerade nahe. Er ist noch ein größeres Arschloch als ich. Ich meine, echt jetzt, wer gibt seinem Kind den Namen Oswald?«
»Können Sie mir sagen, wo ich ihn finde?«
»Vielleicht in Mexiko.«
Ich gab ihm meine Visitenkarte und sagte mein Sprüchlein auf, er solle mich anrufen, falls, und so weiter.
»Kein Treffer heute«, sagte Lula unten im Auto. »Der ruft dich nur an, wenn du ihm Cookies mitbringst.«
»Jimmy Polettis Jungs mögen ihren Vater nicht. Seine Frau mag ihn nicht. Wer könnte ihn mögen?«
»Seine Mutter.«
Ich rief Connie an. »Hast du die Adresse von Jimmy Polettis Mutter?«
Zwei Minuten später las ich sie von meinem Handy-Display ab.
»Sie wohnt in Burg«, sagte ich. »Elmer Street.«
»Langsam wird es langweilig. Keiner will mit uns reden. Keiner weiß was. Wenn das so weitergeht, brauch ich was zu essen.«
Ich bog von der Hamilton ab in die Spring Street, nach zwei Straßen in die Elmer, dann noch einen Block weiter und parkte schließlich hinter einem Leichenwagen. Der Wagen stand unmittelbar vor dem Haus der Polettis, und die Haustür war offen.
»Kein gutes Zeichen«, stellte Lula fest. »Schon wieder einer, der uns nichts sagen will oder kann. Es sei denn, es ist Jimmy. Dann wäre – Hurra! – der Fall abgeschlossen.«
Ich stieg aus und betrat das Haus. Mehrere Personen hielten sich in den Räumen auf, unter anderem zwei Männer, anscheinend vom Bestattungsinstitut, ein alter Herr, der sich die Nase mit einem Taschentuch tupfte, ein Mann in den Fünfzigern, der gleichmütiger wirkte, und zwei Frauen. Von den Frauen kannte ich eine, Mary Klotz.
»Was ist passiert?«, fragte ich sie.
»Es war das Herz, sehr wahrscheinlich«, sagte Mary. »Sie war schon lange krank. Ich wohne gegenüber. Ständig war der Notarzt hier. Mindestens einmal die Woche habe ich das Blaulicht gesehen.«
»Die beiden Männer …«
»Ihr Ehemann und ein Verwandter. Ich glaube, ein Neffe oder so.«
»Und ihr Sohn?«
»Der hat sich hier nicht oft blicken lassen. Sie suchen wohl nach ihm, nehme ich an.«
»Er ist nicht zu seinem Gerichtstermin erschienen.« Ich gab ihr meine Visitenkarte. »Wäre nett, Sie melden sich, falls er auftaucht.«
Lula wartete im Auto auf mich. Sie kann keine Toten sehen.
»Und?«, sagte sie.
»Polettis Mutter. Ein natürlicher Tod, wie es aussieht. Sein Vater lebt noch, aber ich habe ihn nicht gesprochen. Ich wollte mich nicht aufdrängen.«
»Hast du sie dir angeguckt?«
»Nein.«
Lula schauderte am ganzen Körper. »Ich kriege es schon mit der Angst zu tun, wenn ich mich nur hier aufhalte. Böse Geister schwirren um das Haus herum. Ich höre sie förmlich heulen.«
»Heulen?«
»Ja. Geister heulen. Sie holen sich die Seelen der Toten. Gehst du denn nie ins Kino? Schon mal einen von den Harry-Potter-Filmen gesehen? Na ja, egal. Allmählich kriege ich Hunger. Ich könnte einen Clucky Burger vertragen, mit extrascharfer Soße und Schinken und Käsepommes.«
Ich brachte Lula zum Autoschalter von Cluck-in-a-Bucket, setzte sie danach am Büro ab und fuhr weiter zu meinen Eltern. Sie wohnen nur ein paar Meter weiter, im Herzen von Chambersburg, kurz Burg, in einem Zweifamilienhaus, Wand an Wand mit einer äußerst netten Witwe, die steinalt ist. Sie lebt extrem genügsam, kommt mit der Rente ihres Mannes gerade so über die Runden. Tagsüber läuft ununterbrochen der Fernseher, und sie backt ständig Kuchen.
Grandma Mazur stand schon an der Tür, als ich vor dem Haus parkte. Meine Oma ist zu meinen Eltern gezogen, als mein Opa sich zur großen Reality-Show im Himmel davonmachte. Vier Wochen nachdem meine Oma eingezogen war, versteckten wir das Gewehr meines Vaters. Wenn sich bei Tisch sein Gesicht manchmal rot verfärbt, seine Fingerknöchel weiß hervortreten, dann weiß ich, dass wir richtig gehandelt haben, das Objekt der Versuchung außer Reichweite zu bringen. Meine Mutter wird auf ihre Weise damit fertig. Sie trinkt. Ich finde meine Oma zum Schreien komisch, aber ich muss ja auch nicht mit ihr zusammenwohnen.
»Gerade rechtzeitig zum Resteessen«, sagte Grandma und stieß die Fliegengittertür auf. »Sandwichs mit Hackbraten.«
Ich folgte ihr in die Küche. Meine Eltern haben keine zentrale Klimaanlage, stattdessen Standventilatoren in allen Räumen, im Wohnzimmer einen Air Conditioner, der schlapp in einem Fenster hängt, und ähnliche Kästen in den zwei Schlafzimmern. Die Küche ist das reinste Inferno. Meine Mutter nimmt diesen Umstand mit stummer Resignation hin, dafür ist ihr Gesicht ständig erhitzt, und gelegentlich tropfen ihr Schweißperlen in die Suppe. Meiner Großmutter scheint die Hitze nichts auszumachen. Seit sie ihre Eierstöcke los sei, funktionierten auch ihre Schweißdrüsen nicht mehr, behauptet sie.
Ich setzte mich an den kleinen Küchentisch und stellte meine Tasche auf dem Boden ab.
»Bist du hinter Jimmy Poletti her?«, fragte Grandma. »Er soll ja auf der Flucht sein.«
»Ich hab mich schon bei seiner Frau und seinen beiden Söhnen erkundigt, aber Papa scheint nicht besonders beliebt zu sein, jedenfalls wissen sie nicht, wo er sich versteckt hält.«
»Kann ich verstehen. Jimmy Poletti ist ein echter Stinkstiefel. Sogar seine eigene Mutter konnte ihn nicht riechen.«
»Ich wollte sie sprechen, aber leider ist sie gestorben.«
»Ja, ich weiß«, sagte Grandma. »Rose Krabchek hat vor einer Stunde angerufen. Mrs Poletti wird in dem Beerdigungsinstitut in der Hamilton Avenue aufgebahrt. Das wird eine schöne Totenfeier. Jetzt, wo ihr Sohn auf der Flucht ist, gehört sie zu den Promis.«
In Burg gibt es kein Kino, deswegen gehen die Leute alle zu den öffentlichen Aufbahrungen in dem Beerdigungsinstitut in der Hamilton Avenue.
»Was wird denn so über Jimmy gemunkelt?«, fragte ich Grandma.
»Verwertbares ist jedenfalls nicht dabei. Früher besaß er noch ein Haus an der Küste, aber das soll mit dem letzten Hurricane weggespült worden sein. Ich hab Fotos gesehen, da ist überhaupt kein Strand. Was ist damit passiert? Gehört ihm jetzt auch ein Teil des Ozeans?«
Meine Mutter stellte Teller auf den Küchentisch und legte Papierservietten daneben. »Wer möchte ein Hackfleischsandwich?«
Ich hob die Hand. »Mit ganz viel Ketchup.«
»Und Chips«, ergänzte Grandma. »Ich möchte eins mit Chips und eingelegter Gurke.«
Meine Mutter ist eine ältere Version von mir, mit kürzeren braunen Haaren und einer rundlicheren Taille. Meine Oma sah früher meiner Mutter sehr ähnlich, doch die Schwerkraft hat ihren Tribut gefordert, und heute hat Grandma eine schlaffe Suppenhuhnhaut und stahlgraues Haar, Ringellöckchen, Minipli. Sie ist in einem Alter, in dem man keine Angst mehr zu haben braucht, und sie hat eine Energie wie ein Kraftwerk.
»Jimmy Poletti war zwar in seiner eigenen Familie nicht populär«, sagte Grandma, »aber als Autoverkäufer eine Kanone. Angenehme Erscheinung, wie aus dem Fernsehen. Wenn ich ein neues Auto brauchte, ich würde es bei ihm kaufen. Er trug immer schöne Anzüge, und man sah, dass er ordentlich was in der Hose hatte.«
»Er hat im Hinterzimmer seines Autohandels junge Mädchen verschachert«, sagte meine Mutter. »Er ist ein abscheulicher Mensch.«
»Ich hab ja nicht behauptet, dass er ein guter Mensch ist«, sagte Grandma. »Nur dass er ein beeindruckendes Gehänge hat. Vielleicht war es nicht echt, kann sein. Vielleicht hat er sich Tennisbälle in seine Calvin Kleins gesteckt oder sie mit Toilettenpapier ausgestopft. Glaubst du, dass Männer sowas machen?«
In meinem Leben gab es zwei Männer, und keiner brauchte sich was in die Unterhose zu stopfen.
Meine Mutter servierte uns die Hackbratensandwichs und setzte sich zu uns an den Tisch. »Seine zweite Frau habe ich hin und wieder in der Kirche getroffen. Manchmal hatte sie Blutergüsse. Schrecklich. Sie hat gebetet und geweint, die arme Frau. Wir waren alle heilfroh, als sie ihn verlassen hat.«
»Ich hab seine dritte Frau kennengelernt«, sagte ich. »Die geht bestimmt nicht in die Kirche, um zu beten und sich auszuheulen.«
»Man kann nie wissen«, sagte meine Mutter. »Ein Mann wie der hat keine Achtung vor dem Leben. Der würde alles tun.«
»Der Hackbraten ist lecker«, sagte meine Oma und biss in ihr Sandwich. »Besonders die Barbecuesoße obendrauf.«
»Die habe ich aus einer Kochshow im Fernsehen«, sagte meine Mutter.
»Und das Fleisch ist richtig saftig.«
Meine Mutter kaute und schluckte den Bissen hinunter. »Das habe ich ja auch vorher in Bourbon eingelegt.«