Hermann-Josef Frisch

Man ist dann mal weg

Über das Pilgern
in den Weltreligionen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Inhalt

Ultreïa et suseia – weiter und darüberhinaus

Lebensweg – mit Leib und Seele unterwegs

Achtsames Gehen – Gehen als Lebenskunst

Miteinander unterwegs – Gemeinschaft erfahren

Stille und Feier – zur Ruhe und zur Freude finden

Woher komme ich – Besinnung auf den eigenen Weg

Rückblick – Dankbarkeit und Buße

Wozu lebe ich – was macht mein Leben aus

Unterwegs sein – Gehen als Wandlungsprogramm

Wohin gehe ich – neue Horizonte

Herausforderung – Hoffnung auf ein gutes Ziel

Begegnung mit Fremdem und Fremden

Begegnung mit dem Göttlichen

Schon immer – Pilgern in der Antike

Ganz im Heute – Politik, Pop und Sport

Nur mal schauen – touristisches Pilgern

Weiter und darüber hinaus

Orte der Gottbegegnung

Berge und Quellen – Orte der Natur

Geburt und Tod – Orte der Religionsstifter

Erinnerungen an die Großen – Orte der Heiligen

Zur Gemeinschaft finden – Orte der Religionen

Sich dem Geheimnis nähern – mystische Orte

Judentum

Tempelwallfahrt damals – das Herz des Judentums

Die Wallfahrten zum Jerusalemer Tempel

Jerusalem heute – Sehnsucht nach Erlösung

Das Heilige Land – Orte der Gottbegegnung

Christentum

Jesus – auf dem Weg

Christen – auf dem Weg

Das Heilige Land – Erinnerungen an Jesus

Jesus vor Ort – Erinnerungen weltweit

Die Zwölf – Erinnerungen an die Apostel

Mutter vor Ort – Erinnerungen an Maria

Helfer – Erinnerungen an die Heiligen

Neue Bewegungen – Orte der Spiritualität

Islam

Hadsch nach Mekka – fünfte Säule des Islam

Medina und Jerusalem – die heiligen Stätten

Erinnerungen an Märtyrer – schiitische Pilgerorte

Sufis – der Weg zum Himmel

Hinduismus

Berg und Fluss – Himalaya und Ganges

Nektar der Unsterblichkeit – die Kumbh Mela

Konzentration des Göttlichen – die sieben Heiligen Städte

Shivas Licht – zwölf Jyotirlingam-Orte

Der Weltenschöpfer – Brahmas Ort Pushkar

Türme zum Himmel – Pilgerorte in Indiens Norden

Einheit in Vielheit – Pilgerorte in Indiens Süden

Jeder Ort ist heilig – Pilgern auf Bali

Jeder Ort ist heilig – Pilgern in Nepal

Buddhismus

Das Mittlere Land – den Buddha-Weg nachgehen

Theravada-Buddhismus – den Buddha erinnern

Mahayana-Buddhismus – die Buddhas verehren

Vajrayana-Buddhismus – die Buddhas aufsuchen

Der Weg zur Erleuchtung – Pilgerwege in Japan

Der Weg auf den Berg – heilige Berge in China

Lotoslaternenparade – den Buddha feiern

Andere Religionen

Jainismus – auf dem Weg der Furtbereiter

Sikhismus – Orientierung für den Lebensweg

Daoismus – sich eingliedern in die Natur

Konfuzianismus – Integration in die Gesellschaft

Shinto – das Geheimnis allerorts erspüren

Bahai – die Einheit der Menschen suchen

Naturreligionen – von guten Geistern begleitet

Wo der Glaube laufen lernt

Bild- und Textnachweis

Ultreïa et suseia – weiter und darüberhinaus

Pilger in Kotahira, Japan

An jedem Morgen, da treibt’s uns hinaus,
An jedem Morgen, da heißt es: Weiter!
Und Tag um Tag, da klingt der Weg so hell:
Es ruft die Stimme von Compostell’:
Ultreïa, ultreïa et suseia,
Deus adjuva nos!

(ein Pilgerlied des Jakobsweges)

Bereits seit tausend Jahren grüßen sich die Pilger auf den vielen Jakobswegen quer durch Europa mit dem Ruf »Ultreïa!« oder ausführlicher »Ultreïa et suseia!«. Dieser Pilgergruß findet sich auch in manchen der Pilgergesänge, die den weiten Weg über die Routen nach Santiago de Compostela begleiten, wo das (vermeintliche) Grab des Apostels Jakobus in der dortigen Kathedrale das Ziel solcher Jakobswege ist, die wie ein Netz das westliche und südwestliche Europa durchziehen.

Die beiden Begriffe stammen aus dem Spätlateinischen und dem daraus abgeleiteten Spanischen. Lateinisch »ultra, ulterius«, ebenso das Spanische »ultra, ulterior« bedeutet »weiter hinaus, jenseits, hinüber, ferner«; lateinisch »sus« und spanisch »¡sus!« ist ein mutmachender Aufruf »Wohlan, lasst uns anfangen!«; Ähnliches drückt das lateinische »eia« aus. Die beiden Grußworte verweisen also auf Bewegung, einen Anfang, ein Losgehen und zwar in eine weite Ferne, in einen noch nicht sichtbaren Bereich.

Damit war und ist natürlich zuerst einmal die körperliche Anstrengung der unter Umständen mehrere tausend Kilometer langen Wege gemeint. Vor allem im Mittelalter waren die wochen- und monatelangen Pilgerfahrten auf den Jakobswegen ein beschwerliches und auch gefährliches Unterfangen, für das sich die Pilgerkameraden immer wieder Mut zusprechen mussten: »Weiter auf unserem Weg!«

Doch geben die beiden Grußworte eine Losung vor, die tiefer reicht: Nicht nur um das äußere Tun auf dem Pilgerweg geht es, sondern um eine innere Haltung, um die grundsätzliche Motivation, die die Pilger bewegt hat und auch heute noch bewegt, sich auf anstrengende und unsichere Wege zu begeben: Pilgern ist körperliches Tun, aber zugleich auch eine innere Haltung – das Hinausgehen aus dem Gewohnten und das Hinausschreiten ins Ungewohnte, um so neue Perspektiven für das eigene Leben zu erlangen: Pilgern ist ein spirituelles Tun, eine geistige Haltung, die sich körperlich ausdrückt. Der Mensch ist eine Einheit von leiblichen, seelischen, geistigen Aspekten – das wird kaum irgendwo so deutlich wie beim Pilgern. Der Pilger macht sich auf einen Weg hin zum Fremden und letztlich zum Göttlichen, das er auf seinem Weg und dann am Ziel tiefer erfahren will und das ihm Kraft und Hoffnung für seinen weiteren Weg geben soll. Anders als Trecking, Bergtouren und Exkursionen ist die innere Mitte des Pilgerns eine geistliche Anstrengung, die der körperlichen vorangeht. Pilgern bedeutet, dass der Glaube – gleich welcher Art, dies werden wir bei den Weltreligionen sehen – laufen lernt. Pilgern ist die Verkörperlichung von Religion.

Lebensweg – mit Leib und Seele unterwegs

Der Mensch bewegt sich durch diese Welt – seit Urzeiten ist er ein Wandernder, der sich immer wieder neu auf den Weg macht. Es läuft ihm allerlei über den Weg, was sein Leben prägt und formt, was ihm auch eine neue Ausrichtung geben kann. Nicht ohne Grund spricht man vom Lebensweg, den ein Mensch bewältigen muss – im Guten wie im Belastenden. Doch den Lebensweg gehen Menschen nicht allein, sondern mit Weggefährten, die stützen und helfen können. Allein und gemeinsam bleibt es eine lebenslange Aufgabe, den Weg durch das Leben zu suchen, nach Orientierung und Wegweisern Ausschau zu halten in den Höhen und Tiefen des Lebensweges. Auch Mut ist nötig – Weg hat mit Wagnis zu tun.

In solchem Sprechen vom Weg klingen Motive an, die sich in den drei Grundfragen des Menschen zusammenfassen lassen: »Woher kommen wir? Wozu leben wir? Wohin gehen wir?« Alle Religionen versuchen, auf diese Fragen tragfähige Antworten zu geben. Dazu greifen sie das Motiv des Weges, der Wanderschaft, der Pilgerschaft auf dem Lebensweg auf. So gibt es in allen Religionen und Kulturen Wandermönche und Pilger, die oft monatelang unterwegs sind, um ein vorgegebenes oder selbst gestecktes Ziel zu erreichen. Es gibt Prozessionen und große Wallfahrten, von einzelnen, meist aber von Gemeinschaften unternommen. Solche religiös begründeten Be»weg«ungen von Menschen zeigen ihre Suche nach einem Weg durch das Leben, nach einem letzten tragenden Sinn überhaupt, nach einem sinnvoll gestalteten Leben, das auf ein letztes, den Menschen übersteigendes und transzendentes Ziel ausgerichtet ist.

Pilgern und wallfahren – das ist, meist unabhängig von religiösen Dogmen und der »reinen« Lehre einer Religion, die häufige Praxis einer Volksreligiosität, die oft auf uralte Traditionen aufbaut und sie in neue Zeiten fortführt. Dabei geben die beiden Begriffe Hinweise zum Verständnis dieses religiösen Tuns: Das Wort Pilger kommt vom lateinischen peregrinus (später abgewandelt zu pelegrinus, heute im Italienischen noch pellegrino, im Französischen pèlerin, im Englischen pilgrim) und hat die Bedeutung von »fremd, ausländisch, aus der Fremde stammend«. Der Pilger ist also auf seinem Weg in die Ferne ein Fremdling, der auf der Suche nach seinem Ziel ist. Das Wort Wallfahrt verweist auf heftige Bewegung; Flüssigkeiten können wallen und hoch aufkochen. Der Wallfahrer unternimmt also eine Reise (Fahrt), bei der eine intensive und anstrengende Bewegung erforderlich ist, um das Ziel der Wallfahrt zu erreichen.

Es geht also um ein Unterwegssein mit Leib und Seele, eine physisch wie psychisch einfordernde Reise in die Fremde, um ein Ziel zu erreichen, das verspricht, auf dem Lebensweg weiterzuhelfen. Solche Ziele sind in den Religionen unterschiedliche Kultstätten, die dem Pilger die Zusage machen, dass er hier in außergewöhnlicher Weise eine Beziehung zur verehrten Gottheit aufbauen kann. Die Ziele der Pilgerreisen und Wallfahrten sind also herausragende Orte der Gottesbegegnung. An den Pilgerorten soll durch eine den Alltag unterbrechende und übersteigende Weise eine vertiefte Gotteserfahrung ermöglicht werden. Die Gottheit wird herbeigerufen und erscheint dem Pilger in vielfacher Weise – gestärkt und geschützt kann er danach seinen Rückweg in sein alltägliches Leben antreten, oft tief verändert durch die spirituellen Erfahrungen auf seinem Pilgerweg.

Pilger machen sich aus unterschiedlichen Motivationen heraus auf den Weg zu den heiligen Orten der Gottesbegegnung. Das kann die Suche nach Heilung (physisch wie psychisch) sein und nach Heiligung, also Stärkung einer besonders intensiven Beziehung zur Gottheit. Pilgerfahrten können angesichts der Fehlbarkeit und Kontingenz menschlichen Lebens als Buße unternommen werden, Umkehr und Neubeginn stehen dann im Vordergrund. Umgekehrt machen sich Pilger auch aus Dankbarkeit auf den Weg, etwa für Heilung von einer Krankheit; die vielfältigen Votivtafeln und Dankesgaben (etwa Nachbildungen von geheilten Gliedern) an christlichen, aber auch hinduistischen Wallfahrtsorten zeigen dies auf.

In unserer Zeit sind zudem viele Menschen auf Pilgerwegen unterwegs (etwa auf den Jakobswegen oder dem Shikoku-Pilgerweg, vgl: Seite 195ff.), die nicht oder kaum von religiösen Motiven bewegt sind. Pilgern nicht nur als religiöse, sondern auch als säkulare Bewegung liegt im Trend. Vor allem jüngere Menschen gehen um des Gehens und der körperlichen Anstrengung willen. Sie suchen eine körperliche und sportliche Herausforderung unter dem Motto »Ich laufe gerne«. Sie setzen sich weite Ziele unter dem Motto »Ich leiste etwas«. Solches »Pilgerwandern« dient der Selbstbestätigung und Stärkung des eigenen Ichs, aber es führt naturgemäß – das ist auf Pilgerwegen einfach nicht zu verhindern – auch zu neuen Erfahrungen mit sich selbst, mit anderen Menschen, denen man begegnet, und vielleicht auch mit etwas, das den Menschen übersteigt.

Achtsames Gehen – Gehen als Lebenskunst

Das afrikanische Volk der Ovambo in Namibia kennt den Spruch: »Nur im Vorwärtsgehen erreicht man das Ziel der Reise.« Gehen ist ein zielgerichtetes Tun, doch kann es unterschiedlich gefüllt sein. Im Alltag ist unser Gehen allein auf die Fortbewegung von einem Ort zu einem anderen ausgerichtet, schnell oder langsam, je nach unserer Zeit. Angesichts der heutigen Möglichkeiten wählen wir oft Verkehrsmittel, um schneller an unser Ziel zu kommen. Der Weg dorthin wird eher als lästig und zeitraubend angesehen.

Anders das Gehen bei Wallfahrten, Prozessionen und vor allem auf Pilgerwegen: Hier geht es natürlich auch um ein Ziel (etwa Santiago de Compostela), aber der Weg dorthin hat seine eigene Berechtigung, seinen eigenen Inhalt, seine eigene Aufgabe. Er darf deshalb auch nicht abgekürzt werden (etwa durch Verkehrsmittel), sondern muss aus eigener Kraft erwandert werden, gleich wie lange es dauert und wie mühsam es ist. Dabei vollzieht sich im Pilger auf dem Weg ein körperlich-geistiger Prozess, der später im Buch (vgl. Seite 22) näher dargestellt wird.

Als Pilger auf dem Weg sein bedeutet ein achtsames Gehen, eine Aufmerksamkeit nicht nur der äußeren Sinne, um den richtigen Weg zu finden – dies ist angesichts von Wegmarkierungen und Navis heute sowieso nicht mehr komplex. Es geht um eine innere Achtsamkeit, eine Offenheit für eigenes und fremdes Lebens, das Aufmerksamwerden für Wandlungsprozesse im eigenen Leben, das Bedenken der Lebensschwerpunkte, Werte und Ziele sowie um eine Achtsamkeit auch auf religiöse Themen hin. Die Religionen setzen hierzu – entsprechend ihrer ja sehr unterschiedlichen Traditionen – unterschiedliche Akzente, doch treffen sie sich darin, dass für ein richtiges Pilgern die Beweglichkeit der Seele, des Geistes, des Herzens (wie immer man den inneren Wesenskern einer Person benennen will) wichtiger ist als die Bewegung der Beine.

In manchen buddhistischen Klöstern (Theravada wie Zen) gibt es Gehmeditationen im Wechsel mit Sitzmeditationen, bei denen man sich in einem ganz bestimmten Rhythmus bewegt und dadurch zu geistiger Anstrengung angeregt wird. Hier wird das Gehen zu einer Lebenskunst, das körperliche Tun befördert das geistig-geistliche. Nichts anderes ist das Pilgern: Der Glaube bewegt sich, läuft körperlich wie geistig.

Gustav Caillebotte (1848–1894), Homme portant une blouse

Novizen in Pindaya, Myanmar

Miteinander unterwegs – Gemeinschaft erfahren

Pilgerfahrten und Wallfahrten sind natürlich zuerst einmal die Entscheidung jedes einzelnen, der sich als Suchender und Glaubender auf den Weg macht, um an besonderen Orten die Erfahrung von Transzendenz, von einer den Menschen übersteigenden Kraft und – je nach seiner kulturreligiösen Prägung und Zugehörigkeit zu einer religiösen Richtung (oder auch nicht) – einen neuen und tieferen Zugang zum Göttlichen, zu Gott, zu den Göttern, dem Absoluten zu erhalten. Die Besinnung auf das eigene Leben, die Neuausrichtung auch des Lebens, die Erfahrung von Dankbarkeit und Hoffnung und vieles andere mehr prägen einen individuellen Weg: Doch das ist nur die eine Seite des Pilgerns.

Denn Pilgerfahrten und Wallfahrten haben einen intensiven Bezug zu einer Gemeinschaft. Das wird in besonderer Weise beim islamischen Hadsch (vgl. Seite 97ff.), aber auch bei den hinduistischen Kumbh Mela Pilgerfahrten (vgl. Seite 122ff.) deutlich, wo Millionen von Pilgern an einem Ort zusammenkommen. Die Tempelfeste im Jerusalem des alten Judentums waren ebenfalls von einem Gemeinschaftsgedanken (Volk Gottes) geprägt, das Christentum übernimmt diesen Gedanken (Volk Gottes auf dem Weg) für Prozessionen und Wallfahrten. Ähnliches gibt es auch in anderen Religionen.

Pilgern also ist ein Wechselspiel von allein und gemeinsam, von Rückzug auf das eigene Ich und Ausschalten von außen kommender Einflüsse. Auf der anderen Seite bedeutet es Einbindung in eine pilgernde Gemeinschaft, Hilfe und Stütze, Gespräch und Beratung, Mahl und Fest. Individualität und Sozialität können beim Pilgern wie eine Waage ausgewogen sein, doch viele Pilger setzen auch hier entsprechend ihrer Lebenssituation und ihrer Vorstellungen eigene Schwerpunkte.

Alles ist jedoch auf dem Weg nicht planbar. Und so gibt es immer wieder überraschende Begegnungen, Menschen, die durch ihre Lebensart, ihre Redensweise, ihre persönlichen Erfahrungen, ihre Lebensgeschichte, aber auch ihre Probleme und Schmerzen die eigenen Vorstellungen anregen und Neues sichtbar werden lassen. Auch hier gilt der Spruch des Buddha, dass Einseitigkeit vermieden werden muss und ein wahres Fortschreiten im Mittleren Weg liegt, der jedes Extrem vermeidet. Die Wahrnehmung der eigenen inneren Zustände und die Empathie anderen Menschen gegenüber können auf dem Pilgerweg zu einer ausgewogenen Balance führen. Jeder geht alleine und ist doch nicht allein.

Stille und Feier – zur Ruhe und Freude finden

Diese Ausgewogenheit, einen eigenen Weg zu gehen und doch Gemeinschaft zu erfahren, gilt auch für zwei Grundhaltungen, die das Pilgern der Weltreligionen in einem steten Zusammenspiel bestimmen: Es geht um Stille und um Feier, um den Rückzug ins eigene Ich und um das Hinausgehen zu anderen, um Ruhe und um gemeinsame Freude.

Auf dem Jakobsweg etwa, aber auch auf anderen Pilgerwegen im Buddhismus und im Hinduismus, fällt auf, dass viele Pilger bewusst alleine gehen und sich erst abends in den Herbergen wieder mit anderen Pilgern zusammentun, um zusammen zu essen und den Abend zu verbringen. Ein solches Alleinsein auf dem Weg wird dann erst am Ende des Weges abgelöst durch die gemeinsame Feier, das Pilgerfest, den festlichen Gottesdienst – beim Jakobsweg etwa in der Kathedrale von Santiago de Compostela.

Der Weg – beim Jakobsweg zudem meist in Richtung Westen, der Todesrichtung der untergehenden Sonne, steht dabei für den Lebensweg, der für glaubende Menschen hin zu einem Ziel führt: der Vollendung im Jenseits. Das (Gottesdienst-)Fest am Ende symbolisiert danach gleichsam die erhoffte Vollendung des Lebensweges durch Gott in der jenseitigen Welt – im himmlischen Jerusalem, in der goldenen Stadt, im Paradies, in der Befreiung (hinduistisch moksha), in einem Dasein ohne Leid und Tod (buddhistisch nirvana oder Paradies des Westens).

Der Weg in die Stille, bei vielen Pilgern und Asketen in Europa wie in Asien oft mit einem bewussten Verzicht auf Sprechen tagsüber verbunden, soll das Bewusstsein konzentrieren auf das Wesentliche und alle Ablenkung vermeiden. In der bewusst gesuchten Stille erhofft man sich einen Zugang zur Transzendenz, zum Göttlichen, zu Gott selbst. Ein solcher Weg in die Stille unterscheidet sich grundsätzlich vom Beten mit formulierten (oft von anderen vorformulierten) Worten. Der dänische Philosoph und Theologe SØren Kierkegaard (1813–1855) formulierte: »Zu beten bedeutet nicht, dass man sich selbst sprechen hört, sondern dass man das Schweigen erreicht und dass man im Schweigen verharrt, darauf wartet, dass der Beter Gott vernimmt.« Nichts anderes ist das Ziel vieler Pilger, wenn sie möglichst allein und in Stille ihren Weg zurücklegen. Aus einer neu gewonnenen Begegnung mit dem Göttlichen heraus stellen sie sich dann neu die drei entscheidenden Fragen menschlichen Lebens »Woher komme ich? – Wozu lebe ich? – Wohin gehe ich?« (vgl. Seite 17, 21, 23).

Der Weg des Schweigens und der Stille, um zur inneren Mitte zu gelangen, ist nur die eine Seite der Begegnung mit der Transzendenz. Ebenso geschieht der Zugang zum ganz Anderen, den Menschen Übersteigenden, das in abrahamitischen Religionen Jahwe, Gott, Allah genannt wird, im Fest, im Jubel, in Musik und Tanz, selbst in der Ekstase einer gleichgesinnten Gemeinschaft. Das ist nicht nur im Festgottesdienst in Santiago de Compostela zu erfahren, sondern vielleicht stärker noch beim Hadsch in Mekka mit Millionen Pilgern, bei der Kumbh Mela in Indien mit über 100 Millionen Pilgern, an den Wallfahrtsstätten des sufistischen Islam in Afrika, etwa im marokkanischen Moulay Idriss (vgl. Seite 116) oder im senegalesischen Touba. Die Freude, sein Pilgerziel erreicht zu haben, mischt sich mit der intensiv empfundenen Erfahrung einer großen Gemeinschaft (der Weltkirche, der muslimischen Umma, der buddhistischen Sangha …) und den über alle Religionen hinweg ähnlichen Formen religiöser Feste mit ihrer bunten Vielfalt und Symbolik von Licht, Wasser, Weihrauch, bunten Farben, Musik und Trommelrhythmus, gemeinsamem Essen und Trinken. Stille und Feier sind beide Grundbestandteile des Pilgerns.

Woher komme ich – Besinnung auf den eigenen Weg

Viele unternehmen eine Pilgerfahrt anlässlich einer Lebenswende und Neuorientierung des eigenen Lebens. Somit ist ein Wesenszug des Pilgerweges der Rückblick auf das eigene Leben, eine Besinnung auf den eigenen Lebensweg mit seinen Höhen und Tiefen, mit seinen guten und schlechten Erfahrungen, mit seinem Gelingen und Scheitern. Oft werden in der Stille und beim gleichmäßigen Rhythmus des Gehens verschüttete Erinnerungen wieder wach, unbearbeitete Probleme der Vergangenheit kommen hoch und müssen neu eingeordnet werden. Es gibt Erinnerungen an Ereignisse der Vergangenheit wie an die unterschiedlichen Menschen, denen man auf gute oder auch belastende Weise begegnet ist. Doch die Vielzahl solcher Erinnerungen kann die einzelnen relativieren und zu einem größeren Gesamtbild führen: Nicht nur Gutes prägt den Weg eines Menschen, sondern auch sein Leid. Es gilt, schwierige Wegstücke des Lebens nicht zu verdrängen, sondern sie zuzulassen als Teile des eigenen Lebens, als etwas, das ebenso zur eigenen Persönlichkeit gehört wie die guten Erfahrungen. Es gilt zu akzeptieren, dass auch das Schmerzhafte und selbst die härtesten Zumutungen in das Gesamt einzuordnen sind und deshalb sogar einen verborgenen Sinn haben können.

Hinduistische Pilger an der Heiligen Quelle Tirta Empul, Bali, Indonesien

Die Besinnung auf dem Weg ist somit Teil der Identitätsfindung, die für jeden Menschen eine lebenslange Aufgabe ist. Wer bin ich – wie bin ich geworden? Wer hat mich auf meinem Weg geprägt – wem bin ich gefolgt, wer war mir Vorbild und Maßstab? Wovon habe ich mich distanziert, was abgelehnt? Was hat mich belastet, mich in eine Richtung gewiesen, die nicht die meine sein kann? Eine realistische, vielleicht sogar im Blick auf sich selbst schonungslose Bestandaufnahme des eigenen Lebens kann auf dem Pilgerweg erfolgen. Nicht jeder macht das so; viele gehen einfach ihren Weg, blicken auf Landschaft und Natur, haben ihr Ziel des Tages oder der ganzen Reise vor Augen. Wer aber tiefer blickt, der gelangt zu zwei Haltungen:

Rückblick – Dankbarkeit und Buße

Die Wahrnehmung der eigenen Person und ihres Lebensweges über Höhen und Tiefen hinweg bringt glaubende Menschen zur Dankbarkeit. Der Dank kann sich beziehen auf die Menschen, die begleitet und gefördert haben, auf Ereignisse, die beglückend waren, auf eigenes Wachsen, Reifen und Vorankommen, auf glückende Beziehungen zu anderen, auf das Beziehungsnetz von Familie, Freundeskreis und nachbarschaftlicher Gemeinschaft. Die Dankbarkeit kann sich durchaus auch auf schwierige Lernprozesse beziehen, auf Konflikte, die man überstanden hat, auf leidvolle Phasen des Lebens, die man aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer überwunden hat. Für glaubende Menschen kann sich die Dankbarkeit auch darauf beziehen, dass es Erfahrungen von Führung und Begleitung, von Schutz und Segen, von Sicherheit und Geborgenheit gegeben hat, die über alltägliche Erfahrungen hinausweist auf einen tieferen Grund des Lebens, auf ein Fundament, das der Glaubende Gott nennt. Solche Dankbarkeit kann mit Staunen verbunden sein über den Reichtum und der Vielfalt des Lebens: Nichts ist selbstverständlich – so darf der Glaubende dankbar sein für jeden einzelnen Tag, für das Geschenk des Lebens selbst. Wer sich so – bildlich gesprochen – über die Sonne am Morgen freut und dafür dankbar ist, der kann zum Frieden mit sich selbst finden. Wer sich als gesegnet erfährt, kann zum Segen für andere werden (vgl. Genesis 12,2: »Gott spricht zu Abraham: ›Ich will dich segnen – ein Segen sollst du sein.‹). Ein chinesischer Chan-(Zen-)Meister formuliert diese Einsicht so: »Jeden Tag Ja zum Leben sagen, nicht zu viel Energie an Widerstände verschwenden und dankbar sein für alles.«

Neben der Dankbarkeit erwächst aus dem Rückblick auf das eigene Leben eine zweite Haltung, die der Buße. Das Wort Buße hat in unserer Zeit einen schlechten Klang, doch ist Buße – richtig verstanden – ein Grundthema nicht nur der jüdisch-christlichen Bibel und des islamischen Koran, sondern auch der anderen Religionen. In Religionen mit einem als Person verstandenen Gott wird Buße als Entgegenkommen Gottes verstanden, der in seiner überwältigenden Barmherzigkeit (vgl. Koran) zu Vergebung und Versöhnung bereit ist und den Menschen neu annimmt. Buße bedeutet von diesem Glauben auf einen menschenfreundlichen Gott her eine Umkehr, die befreit, ein »neues Herz« schenkt und einen Aufbruch zu Liebe und Gemeinschaft darstellt.

Pilger bei der Semana Santa, der Heiligen Woche, Sevilla, Spanien

Auf dem Pilgerweg kann Buße als Umkehr so verstanden werden, dass sich ein Mensch über das Belastende und auch Einengende seiner Geschichte bewusst wird und er durch Akzeptanz auch unter diese Seiten seines Lebens eine Art Schlussstrich ziehen kann – ein Aufbruch zu neuen Horizonten (vgl. Seite 23) wird möglich. Aus dem »Gefängnis der Vergangenheit« erfolgt ein Aufbruch zu neuen Lebensmöglichkeiten, eine Versöhnung mit sich selbst, mit Gott und den Menschen. Solche neu gewonnene Freiheit wird durch das Bildwort des »neuen Herzens« ausgedrückt, das eine Lebenswende meint. Dies drückte der biblische Prophet Ezechiel (36,26) so aus: »Gott spricht: ›Ich schenke euch ein neues Herz. Ich nehme das Herz von Stein aus eurer Brust und gebe euch ein Herz aus Fleisch.‹« Diese Neuorientierung – für den Glaubenden auf dem Pilgerweg ein Geschenk Gottes – gibt die Kraft, Böses und Schlimmes zurückzulassen und einen Aufbruch zur Liebe und zum Guten zu wagen. Buße und Umkehr haben von da aus einen aufbauenden und heilenden Charakter.

Viele Pilgerwege und Pilgerorte sind von den Haltungen Dankbarkeit und Buße geprägt. Es gibt Votivtafeln, auf denen Menschen solche Dankbarkeit bekunden – oft bei Heilungen und nach Krankheiten oder Verletzungen durch die bildhafte Darstellung von Gliedmaßen, manchmal auch nur durch Schrifttafeln mit dem Wort »Danke«. Solche Votivtafeln finden sich nicht nur in christlichem oder muslimischem Umfeld, sondern auch in hinduistischen Tempeln. Von der Haltung der Buße geprägt sind aber auch die Prozessionen der andalusischen Semana Santa, wo einige Teilnehmer – vergleichbar bei Prozessionen und Wallfahrten im hinduistischen und buddhistischen Bereich – barfuß gehen, zudem in einfachen Gewändern, asketisch. Auch das fragwürdige Motiv der Selbstbestrafung taucht bei Pilgerfahrten auf, etwa im schiitischen Islam bei den Selbstgeißelungen anlässlich der schiitischen Passionsfeiern (Ta‘ziya oder Muharram); hier geht es um Trauer um die im Kampf gefallenen Imame, aber auch um Buße für individuelle und kollektive Schuld.

Wozu lebe ich – was macht mein Leben aus

Die Umkehr als Pilgerhaltung führt den Pilger aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurück. Aus der Besinnung auf den Lebensweg ergibt sich die Besinnung auf das Heute: Was folgt aus den guten und schlechten Erfahrungen des Lebens, aus den Höhen und Tiefen, aus den glückenden und schwierigen Begegnungen für die Bewältigung des Alltags und der täglichen Aufgaben. Diese zweite Grundfrage der Menschen führt zum Begriff der Verantwortung.

Der Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry (1900–1944) schreibt: »Was ich am tiefsten verabscheue, ist die Rolle des Zuschauers, der unbeteiligt ist oder tut. Man soll nie zuschauen. Man soll Zeuge sein, mittun und Verantwortung tragen.« Wer demnach bewusst lebt – und jeder Pilgerweg soll zum bewussten Leben führen, der wird sich der Verantwortung bewusst werden, die er für sein eigenes Leben, für das Leben anderer, für die Umwelt, für Frieden und Gerechtigkeit hat und die sich nur in konkretem Handeln erweist. In seinem Werk »Der kleine Prinz« schreibt Antoine de Saint-Exupéry: »Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast.«

Pilgern erscheint oft als Sonderwelt abseits des alltäglichen Lebens mit besonderen Herausforderungen, oft besonderer Kleidung und Lebensweise. Doch führt der Pilgerweg nicht nur zu einem religiösen Ziel, sondern letztlich nach allen Erfahrungen auf dem Weg wieder zurück nach Hause, in den Alltag, in das Eingebundensein menschlichen Lebens. Hier ist die je individuelle Verantwortung auszuüben, über die man auf dem Pilgerweg nachgedacht hat. Der chinesische Daoismus fordert vom Menschen und erst recht vom religiös ausgerichteten Glaubenden ein richtiges Handeln, das dazu beiträgt, die Harmonie im Kosmos wiederherzustellen und zu erhalten. Der Konfuzianismus, gleich ob man ihn als Religion betrachtet oder als Lebensphilosophie, nennt ren (Menschlichkeit), li (sittlich geordnetes Leben) und shu (Gegenseitigkeit, Beziehung) als Grundforderungen seiner Ethik und zugleich als Grundlage jeder gesellschaftlichen und kosmischen Ordnung. Nichts anderes meint auch der in den westlichen Religionen genutzte Begriff Verantwortung. Für den Buddhismus ist damit der achtfache richtige Pfad gemeint, den der Glaubende beschreiten muss, um Leben zu schützen und zu fördern und aus dem Leidenskreislauf der Wiedergeburten auszubrechen. Im Hinduismus zählen u.a. ahimsa (Gewaltlosigkeit), atma vichara (Selbsterkundung), bhakti (Hingabe an eine Gottheit), Jnana ([grundlegendes] Wissen), yama (Selbstkontrolle) zu den Realisierungen menschlicher Verantwortung. Im christlichen Bereich fordert das Gleichnis Jesu vom barmherzigen Samariter (Lukas 10,25–37) zu verantwortlichem Handeln auf, ähnliche Forderungen gibt es im Koran.

Buddhistische Pilger bei Mandalay, Myanmar

Unterwegs sein – Gehen als Wandlungsprogramm

Ein Lied im Evangelischen Gesangbuch (EG 395) beginnt mit den Worten: »Vertraut den neuen Wegen, auf die der Herr uns weist, weil Leben heißt: sich regen, weil Leben wandern heißt.« Um Umkehr und Rückblick, dann aber verstärkt um Aufbruch, Neubeginn und Wandlung geht es auch beim Pilgern. Viele Pilger sprechen von Neuorientierung, sie erzählen, dass der oft lange und mühsame Pilgerweg etwas mit ihnen gemacht hat, sie verändert hat: Werte werden nun anders gesetzt, oft stehen nach einem Pilgerweg nicht länger materielle Werte im Vordergrund der Lebensgestaltung, weniger auch ein berufliches Vorankommen und Erfolgsstreben. Man strebt mehr nach Ruhe und Stille, statt sich erneut der Hektik des Alltags hinzugeben. Es gibt immer wieder auch Menschen, die sich nach einem Pilgerweg grundsätzlich verändern – in ihrer Beziehung zu einem Partner vielleicht, in ihrer beruflichen Ausrichtung, in ihren Hobbys und Freundeskreisen. Menschen kommen verändert nach Hause. Auf hinduistischen Pilgerwegen sind Gelübde wichtig – nicht allein die Gelübde, die man vorher macht, einen solchen Weg zu gehen, sondern auch die Gelübde, die man am Ziel der Pilgerreise macht und mit denen man der Gottheit oder auch nur sich selbst eine neue Lebensausrichtung gelobt, die es nach der Reise zu verwirklichen gilt. Das Gehen auf dem Weg be»weg«t den Menschen nicht nur äußerlich, sondern in der Regel auch innerlich, in seinen Haltungen und Denkweisen, in seinen Handlungen und Worten, in dem, was er künftig tut oder unterlässt. Pilgern kann deshalb als ein Wandlungsprogramm bezeichnet werden – mit dem Wort eines Paulusschülers ausgedrückt: »Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit« (Epheser 4,24).

Wohin gehe ich – neue Horizonte

Der Rückblick auf die Vergangenheit und die daraus folgenden Haltungen von Dankbarkeit und Buße (= Umkehr), zudem eine veränderte Haltung in der Gegenwart, die geprägt ist von Verantwortung für sich selbst, für andere, für das Leben überhaupt – all das führt zur dritten Grundfrage menschlichen Lebens: Wohin gehe ich?

Diese Frage wird von Pilgern auf ihren Wegen in doppelter Weise verstanden. Es ist zum einen die Frage nach der konkreten Zukunft eines Menschen, nach dem, was ihn erwartet, nach dem, was er selbst für seine Zukunft tun kann. Es ist die Frage nach den »innerweltlichen« Hoffnungen, die bei der Besinnung des Pilgers aufkommen. Sie sind berechtigt, weil solche Hoffnungen nicht nur Träume sind, sondern Kraft geben für neue Horizonte und einen Neubeginn.

Doch der Blick von Pilgern, die sich an ihre jeweilige Religion gebunden wissen, geht tiefer und weiter. Es geht auch um »außerweltliche« Hoffnungen, letztlich um die existentiellen Fragen nach Sterben, Tod und Jenseits. Der chinesische Philosoph Lü Buwe (ca. 300–236 v. Chr.) fasst dies wie folgt zusammen: »Gründlich das Leben zu kennen ist des Weisen wichtigste Aufgabe. Gründlich den Tod zu kennen ist der Weisheit letzter Schluss.« Man kann für den »Weisen« auch Pilger einsetzen. Der Pilgerweg ist also für einen nachdenklichen Menschen die Gelegenheit, die oft tabuisierte Frage nach dem eigenen Tod und seinen Jenseitshoffnungen nachzugehen. Dabei steht er nicht allein, sondern kann auf die jeweiligen Traditionen und Hoffnungsbilder seiner Glaubensgemeinschaft zurückgreifen.

Alle Religionen fragen nach dem Woher des Menschen und zugleich nach dem Wohin. Sie versuchen, einen Ausblick darauf zu bekommen, was auf die Menschen zukommt. Die Religionen wissen von der Vergänglichkeit allen Lebens auf dieser Erde und in diesem Kosmos und von der Angst vor Sinnlosigkeit und dem Tod. Alle Religionen der Welt richten sich auf ein Letztes, Unbedingtes, ein den Menschen und die Welt übersteigendes Geheimnis aus, ein Absolutes, das sie entsprechend ihrer Traditionen unterschiedlich benennen (Gott, die Götter, die Geister, das Göttliche, das All-Eine …). Alle Religionen der Welt gehen davon aus, dass der Mensch im Letzten von diesem unbedingten und unfassbaren Geheimnis abhängig ist, dass sein Leben von Anfang (Schöpfung) bis Ende (Auferweckung, Befreiung …) in einem unlösbaren Zusammenhang damit steht. Ja mehr noch, sie künden von der Hoffnung, dass der Mensch auch nach seinem Tod in einer nicht beschreibbaren Weise in diesem Absoluten geborgen ist, sie künden von einem Jenseits in Gemeinschaft mit Gott, dem letzten und tiefsten Geheimnis der Welt.

Eine solche grundsätzliche Aussage konkretisiert sich in den Religionen in unterschiedlicher Weise, immer aber in bildhafter, metaphorischer, symbolischer, gleichnishafter Sprache. Doch künden alle Religionen von der Hoffnung, dass das Ende ein Anfang ist, der Tod ein Tor und dass die Menschen zu einem Leben in Vollendung berufen sind. Der Pilgerweg mit Aufstieg und Abstieg, mit Tag und Nacht, mit Mühe und Freude kann dazu beitragen, sich dieser Sicht des Glaubens tiefer bewusst zu werden.

Herausforderung – Hoffnung auf ein gutes Ziel

Auch dieser dritte Bereich, die Zukunft, kennt seine eigenen Grundhaltungen, es sind Mut und Hoffnung. Wer aus glaubender Sicht in die Zukunft schaut, kann mit unerschütterlichem Mut seinen weiteren Lebensweg angehen, er ist zudem geprägt von der Grundhaltung der Hoffnung.

Es gibt Lebensmut, der nicht von einer Vertröstung auf ein Jenseits geprägt ist, wie es glaubenden Menschen manchmal vorgeworfen wird, sondern von der gewissen Erfahrung, dass unser Leben gehalten und getragen wird – selbst im Leid und in einer persönlichen oder gesellschaftlichen Notsituation. Der Pilger ist geprägt vom »Mut des Glaubens«, die Herkunft des Wortes Mut verweist auf einen starken Willen und ein heftiges Streben; der Pilger geht aus dieser Haltung nicht nur den eigentlichen Pilgerweg, sondern danach auch seinen Weg in die Zukunft.

Dabei gilt es durchaus, manches Gewohnte, manche Tradition, manches Liebgewonnene zurückzulassen. Der französische Autor André Gide (1869–1951) meinte dazu: » Man entdeckt keine neuen Erdteile, ohne den Mut zu haben, alte Küsten aus dem Auge zu verlieren.« Wenn ein Mensch dazu bereit ist, kommt er zu einer neuen Sicht seines Lebens, wie der venezianische Schriftsteller Giacomo Casanova (1725–1798) formulierte: » Das Dasein ist köstlich, man muss nur den Mut haben, sein eigenes Leben zu führen.« Eigentlich geht es beim Pilgern um diesen Mut aus der Anbindung an die Erfahrung der Transzendenz heraus.

Wer dies wagt, lebt aus der Hoffnung. Doch Hoffnung ist wie ein Pfad. Am Anfang existiert dieser noch nicht; er entsteht erst, wenn man sich auf den Weg macht. »Glaube und Hoffnung sind keine Voraussage der Zukunft; sie erblicken im Gegenwärtigen den Zustand der Trächtigkeit«, so Erich Fromm (1900–1980). Hoffnung ist ein Vorschuss auf zukünftiges Glück. Hoffnungen können rein innerweltlich ausgerichtet sein und viele Pilger bitten und hoffen auf ein besseres und sichereres Leben, tragen manchmal ganz konkrete Hoffnungen (etwa Heilung bei sich selbst oder bei einem Angehörigen …) mit sich, manchmal auch recht materialistische Wünsche (Wohlstand, beruflichen Erfolg …). Doch kann die Hoffnung das menschliche Leben überschreiten und sich auf Vollendung richten. Die Bitte um eine gute Sterbestunde etwa im marianischen Gebet des »Gegrüßet seist du, Maria«, das an Marienwallfahrtsorten vielhundertfach gesprochen wird, kündet davon ebenso wie der Besuch mulimischer Sufi-Gräber in der Hoffnung, einmal mit diesen Heiligen vereint in Gottes Paradies zu sein. In den indischen Religionen ist es vielleicht die Hoffnung auf eine bessere Wiedergeburt im nächsten Leben, beziehungsweise die alles übersteigende Hoffnung auf Befreiung und Erleuchtung, also auf die Überwindung des Geburtenkreislaufes und das Erreichen eines vollendeten Glücks.

Begegnung mit Fremdem und Fremden

Pilgerwege sind meist durch lange Traditionen geprägt (der Jakobusweg etwa ab 11. Jahrhundert) und oft präzise festgelegt, etwa der buddhistische 88- oder 33-Tempelweg in Japan (Shigoku und Saigoku). Pilger können deshalb immer auf Erfahrungen früherer Pilger zurückgreifen, auf ihre Erfahrungsberichte und Wegschilderungen, zudem auf Wegmarkierungen und Orientierungspunkte. Es gibt auf der Pilgerschaft viel Bekanntes.

Aber dennoch überwiegt das Neue und Fremde. Der Weg eröffnet hinter jeder Biegung und auf jedem Bergpass neue Perspektiven, die Landschaft verändert sich ebenso wie das Wetter, das Essen und vor allem die Natur und Kultur einer jeden durchpilgerten Landschaft. Wichtiger aber noch sind die bislang unbekannten Menschen, denen man auf dem Weg begegnet: Menschen am Rande des Weges, Menschen, die gastfreundlich sind, Menschen, die den gleichen Weg gehen und sich das gleiche Ziel setzen. Die Begegnung mit Fremdem und Fremden ist ein eigener Schatz jeder Pilgerreise, weil dadurch der eigene Horizont erweitert, die Sicht umfassender, das Mosaik des Lebens reicher wird.

Das Fremde aber verändert den Pilger. Der islamischer Gelehrte Muhammad Asad (1900–1992) sagte: »Sinn jeder Reise ist es, die Fremdheit der Welt zu berühren und dadurch zu sich selbst zu kommen.« Das Fremde wird somit zu einem Spiegel, durch den man zuerst aufgefordert wird, sich selbst in Frage zu stellen, in dem man aber schließlich sich selbst neu entdecken kann. Wenn man offen ist, fordert das Fremde heraus – zur Nachdenklichkeit, zur Überprüfung des eigenen Standpunktes, der eigenen Werte und Haltungen. Das Fremde und der Fremde bereichern unser eigenes Leben in einer oft nie geahnten Weise.

Das Fremde hat eine große Anziehungskraft, es kann bewegen. Max Frisch (1911–1991) spricht von »unserem Heimweg nach der Fremde.«

Pilger im Wat Doi Suthep, Chiang Mai, Thailand

Begegnung mit dem Göttlichen

Dies gilt auch und in besonderer Weise von der Erfahrung des Göttlichen auf dem Weg. Gott erscheint vielen Menschen unserer Zeit und Kultur als fremd, unfassbar und unbegreiflich – nicht zu greifen in dieser Welt. So machen sich Menschen bei ihren Pilgerfahrten auf die Suche nach Gott. Sie erhoffen sich neue religiöse Erfahrungen, eine neue Begegnung mit dem Göttlichen.

Denn suchende und glaubende Menschen spüren hinter allen Erscheinungen in der Welt das Göttliche, den persönlichen Gott, die den Kosmos durchwebenden und tragenden Kräfte. Der Hindu Mahatma Gandhi (1869–1948) hat dies unübertrefflich ausgedrückt: »Ich halte es für falsch, in dieser Welt Sicherheit zu erwarten, denn außer Gott, der die Wahrheit selber ist, ist alles ungewiss. Alles, was mit uns und um uns erscheint und geschieht, ist unsicher. Aber dahinter ist als Sicherheit ein höchstes Wesen verborgen. Und wer gesegnet ist, kann einen Schimmer dieser Sicherheit erhaschen und den Karren seines Daseins daran hängen.«

Der Pilger hofft auf seinem Weg auf einen Zugang zum unbegreiflichen Gott oder dem Göttlichen. Er vertraut darauf, dass Gott an herausragenden Orten – den Pilgerorten – in besonderer Weise erfahrbar und spürbar werden kann. Dieses Vertrauen darf er haben, weil bereits vor ihm unzählige andere Menschen von vergleichbaren Erfahrungen an solchen Orten berichtet haben und viele andere, ähnlich motiviert, mit ihm auf dem Weg sind. Pilgerorte sind Orte der Gottbegegnung; im zweiten Kapitel ab Seite 36 werden solche Orte in ihrer Eigenart näher vorgestellt.

Dennoch muss sich der Pilger bewusst machen, dass Gott an jedem und an keinem Ort ist. Gotteserfahrung ist im Alltag ebenso möglich wie auf dem Weg. Und letztlich bleibt Gott der ganz Andere, den »unsere Blicke nie erreichen können«, wie es im Koran (Sure 6,103) heißt. Doch der Pilger vertraut darauf, dass »die Blicke Gottes ihn erreichen«, wie die Sure fortfährt. Die Dinge dieser Welt, gleich ob heilige Orte, Pilgerstätten, die Natur, die Menschen, der Blick zu den Sternen und vieles mehr – all das ist nur Zeichen und Symbol für Gott selbst, der Mensch aber bleibt auf dem Weg zu ihm.

Schon immer – Pilgern in der Antike