Wissenschaft und Technik
im Aufbruch
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Redaktion: Alessandra Kreibaum, Leinfelden-Echterdingen
Layout, Satz und Prepress: schreiberVIS, Bickenbach
Einbandabbildung: Alexander von Humboldt
Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim
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ISBN 978-3- 978-3-534-26721-7
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-534-74022-2
eBook (epub): 978-3-534-74023-9
Für Wolfgang
Vorwort
Teil I
Humboldt im kameralistischen Preußen
1. Humboldt botanisiert im Berliner Tiergarten (1789)
2. Naturforschung für das Gemeinwohl
3. Weichenstellungen
4. Gleditsch und Willdenow verknüpfen Botanik, Forstwirtschaft und Nutzpflanzenzucht
5. Ersatz von Importen – Achards Rübenzuckerprojekt
Teil II
Faustische Ambitionen
6. Humboldt betritt die Welt der Berg- und Hüttenwerke (1791)
7. Staatlicher Bergbau und Bergbeamte – das sächsische Vorbild
8. Humboldt in der Berliner Bergwerks- und Hüttenadministration (1792)
9. Carl Abraham Gerhard: Bergrat und Naturforscher
10. Eine Bergakademie in Berlin?
11. Gerhard experimentiert im bergbehördlichen Laboratorium
12. Heinitz reorganisiert die preußische Bergbeamtenausbildung
13. Neue Ausbildungswege für Baubeamte: die Bauakademie
14. Nützliches Wissen für Färber
Teil III
Humboldts Bergmeisterleben
15. Humboldt inspiziert Gruben in Franken (1792)
16. Oberbergmeister Humboldt
17. Der Erfinder Humboldt
18. Naturforschung und Erfindungsarbeit
19. Humboldt quittiert den Staatsdienst (1797)
Teil IV
Entdecken und Erfinden
20. Experimentierende Apotheker
21. Klaproth: analytischer Chemiker, Experte, Geschäftsmann
22. In der Akademie der Wissenschaften
23. Experimente im Akademielabor
24. Achards Zuckergewinnung im Akademielabor
25. Arcanisten und Laboranten in der Berliner Porzellanmanufaktur
26. Heinitz reformiert die KPM
27. Klaproth experimentiert mit dem Laboranten Bergling: Erfindung neuer Porzellanfarben
28. Humboldt experimentiert in der KPM (1793)
Teil V
Reformstrategien
29. Nützliches Wissen in der Berliner Universität
30. Klaproths private Finanzierung von Lehre und Forschung
31. Humboldt reorganisiert die Akademie der Wissenschaften (1805–1807)
32. Das Zusammenspiel von Wissenschaft, Technik und Staatsbürokratie
Anhang
Fußnoten
Literaturverzeichnis
Register
Alexander von Humboldt war ein genialer Naturforscher, der als technikbegeisterter 22-Jähriger an der Freiberger Bergakademie studierte und dann weitere fünf Jahre in der Welt der Gruben und Hüttenwerke verbrachte. Dort initiierte er grubentechnische Verbesserungen und arbeitete unter Einsatz seiner ganzen Energie an Erfindungen, die die Arbeit der Bergmänner erleichtern sollten. In diesen Jahren als preußischer Bergmeister erwarb er auch Wissen, messtechnisches Können und experimentelles Geschick für seine Forschung während der späteren Weltreisen. Der junge Alexander von Humboldt engagierte sich gemeinsam mit anderen Naturforschern, Technikern und reformorientierten Staatsbeamten wie Karl August von Hardenberg für den technischen Fortschritt und das „Gemeinwohl“. Während in Frankreich eine Revolution tobte, setzte die preußische Elite auf allmähliche Reformen. Dabei verband sie das Ziel technischer Innovation mit der Hoffnung auf soziale und ökonomische Verbesserungen.
Das Buch beschreibt die Frühphase der Industrialisierung Preußens – nicht als anonymen Prozess, mithilfe von Zahlenkolonnen und Tabellen, sondern als gelebte Praxis der Akteure. Es skizziert deren Aufbruchsstimmung ebenso wie deren Erfolge und Misserfolge beim Arbeiten, Experimentieren und Erfinden. Humboldt und die zahlreichen anderen Naturforscher und Techniker, deren Aktivitäten hier unter die Lupe genommen werden, verwandelten ihre Arbeitswelt in ein Laboratorium der Natur- und Technikforschung. Der Prozess der Industrialisierung war somit auch ein Prozess der Herausbildung der exakten Natur- und Technikwissenschaften.
Im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts avancierte Deutschland mit Preußen an der Spitze zu einer führenden Industriemacht. Das Land, das jahrzehntelang im Schatten der englischen Industrie gestanden hatte, wurde Motor der Industrialisierung in ganz Europa und Hochburg innovativer Technologien und Naturwissenschaften. Die deutsche Elektrotechnik und synthetische Farbenindustrie profitierten im großen Stil von den gut ausgebildeten Ingenieuren, Technikern und Naturwissenschaftlern des Landes. Was wie ein plötzliches Aufwachen aus tiefstem Dornröschenschlaf aussah, war in Wirklichkeit Resultat eines langen, steinigen Wegs, auf dem Männer wie der junge Alexander von Humboldt ihr ganzes Tun und Denken in die Waagschale warfen, um oft nur kleine Verbesserungen zu erringen. In Preußen ging die Industrialisierung zuerst vom Staat aus und innerhalb des Staats von Beamten wie Humboldt und Hardenberg.
Technische Innovationen erfordern den sachkundigen Einsatz durch Menschen, die sie bewerkstelligen können. Sie sind kein Selbstläufer und schon gar nicht das Resultat einer frei flotierenden technischen Rationalität. In Preußen formierte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Bündnis aus technisch versierten und naturwissenschaftlich gebildeten Staatsbeamten, Technikern und Naturforschern. Den Kitt dieser soziokulturellen Allianz, die mehrere Generationen bis zur Blüte der Industrialisierung Preußens im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts umspannte, bildete folgender Grundkonsens: Das preußische Gewerbe müsse durch staatliche Maßnahmen – die Unterstützung technischer Verbesserungen und Erfindungen und die systematische Ausbildung von Technikern und Naturwissenschaftlern – gefördert werden. Technisch interessierte Naturforscher wie der junge Alexander von Humboldt traten in den Staatsdienst ein, um selbst praktisch Hand anzulegen und gemeinsam mit Technikern und Reformbeamten technische Fortschritte in die Wege zu leiten. Im Geist der Aufklärung identifizierten sie technischen Fortschritt mit der Förderung des Gemeinwohls. Gleichzeitig organisierten diese Männer die Ausbildung technischer Sachverständiger und die Zusammenstellung „nützlicher Wissenschaften“, dem Vorläufer der Technikwissenschaften.
Der preußische Staat unterstützte Manufakturen und Bergwerke zwar schon seit langem, aber erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann er, wissenschaftlich-technische Experten systematisch zu rekrutieren. Die ersten preußischen Techniker, die über eine rein praktische Lehre hinaus auch eine wissenschaftlich-technische Ausbildung erhielten, waren Beamte in Staatsbehörden, die den Bergbau, das Zivilbauwesen und andere Gewerbezweige unterstützten und teilweise auch direkt organisierten. In den Behörden hielt ein neuer Beamtentyp Einzug, der naturwissenschaftlich gebildete und technisch kompetente Beamte, der wichtige Impulse an Industrie und Wirtschaft gab. Der junge preußische Bergbeamte Alexander von Humboldt erlebte diese Veränderungen und gestaltete sie aktiv mit.
Neben den staatlichen Behörden, dem Bergbau und Teilen des Gewerbes war auch die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften ein Ort, an dem technisch komplexe Projekte in Angriff genommen und nützliche Wissenschaften im Verein mit exakten, analysierenden Naturwissenschaften entwickelt wurden. Die Mitglieder der mathematischen und physikalischen Klasse der Akademie der Wissenschaften übernahmen Beraterfunktionen für die oberste preußische Regierungsbehörde, arbeiteten als Sachverständige in staatlichen Inspektionskommissionen und beteiligten sich persönlich an der Planung und Organisation technischer Projekte wie der Urbarmachung des Oderbruchs oder dem Gießen von Kanonen mit schlesischem Eisen. Der Mathematiker Leonhard Euler zum Beispiel arbeitete während seines 25-jährigen Aufenthalts in Berlin die analytische Methode der Differenzialund Integralrechnung aus und wandte sie sowohl auf die theoretische Mechanik als auch auf die ballistischen Experimente der Artillerie und die praktischen Probleme des Schiffsbaus an. Von 1744 bis 1746 war er an der Wiederherstellung des Oder-Havel-Finowkanals und kurz danach an der Planung der Trockenlegung des Oderbruchs beteiligt. Der Akademiechemiker und Apotheker Andreas Sigismund Marggraf analysierte um dieselbe Zeit Pflanzen und entdeckte dabei Zucker in einheimischen Rübenarten. Bereits 1747 verwies er auf den praktischen Nutzen seiner Entdeckung, die sein Schüler Franz Carl Achard, von 1782 an Direktor des Laboratoriums der Akademie der Wissenschaften, gegen Ende des Jahrhunderts zu einer großtechnisch nutzbaren Erfindung ausbaute. Während sich Alexander von Humboldt im Februar 1789 noch den Kopf darüber zerbrach, wie man den Preußen die Nützlichkeit der Botanik erklären konnte, beugte sich Achard bereits über die Ergebnisse seiner Experimente mit Zuckerrüben. Bei seinen großtechnischen Versuchen der Zuckergewinnung aus Rübensaft unterstützte ihn Preußens berühmtester Chemiker Martin Heinrich Klaproth, der 1789 Uran entdeckte und „Urangelb“ für die Porzellanmalerei in der Königlich Preußischen Porzellanmanufaktur erfand.
Das Reformbündnis aus Staatsbeamten, Technikern und Naturforschern, das sich für technische Verbesserungen und die Ausbildung wissenschaftlich-technischer Expertise engagierte, war auch durch den ständigen Kampf um Geld geprägt. Bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts ersannen die reformorientierten Minister und Staatsbeamten eine ganze Palette von Mitteln, um die preußischen Könige für die Finanzierung ihrer Projekte zu gewinnen. Der wiederholte und vor 1860 erfolglose Versuch der Gründung einer preußischen Bergakademie ist nur ein Beispiel für die zahlreichen Schwierigkeiten, mit denen sich diese Reformer im absolutistischen Preußen konfrontiert sahen.
Auch die Wissenschaften selbst veränderten sich in dem allmählichen Prozess technischen Wandels während der Frühphase der preußischen Industrialisierung. Aus den „nützlichen Wissenschaften“ des späten des 18. Jahrhunderts entwickelten sich die „Technikwissenschaften“ und aus der „Naturforschung“ entstand ein weit verzweigtes System spezialisierter Naturwissenschaften. Heute denken wir bei der Bezeichnung Technikwissenschaften meist schon die Abgrenzung von den an Universitäten angesiedelten Naturwissenschaften mit. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass Technik- und Naturwissenschaften oft nicht scharf voneinander abgrenzbar sind. Es gibt Technikwissenschaften mit einer starken mathematischen und physikalischen Komponente wie die Aerodynamik und ausgesprochen technikförmige Naturwissenschaften wie die Chemie. Überdies haben sich heute auch im universitären Kontext anwendungsorientierte und industrie- oder militärfinanzierte Forschungspraxen etabliert, die man zuweilen mit dem Kunstwort „Technowissenschaft“ (technoscience) belegt. Überschneidungen zwischen Naturund Technikwissen gab es jedoch schon erheblich früher.
Die Besonderheiten des preußischen Wegs der Industrialisierung sind von Historikern zwar wiederholt thematisiert worden, aber der soziokulturellen Konstellation, die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts herausbildete und den Weg für die technischen Veränderungen während der Industrialisierung ebnete, ist bisher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden.1 Mindestens ebenso wenig sind die Leistungen von Naturforschern wie Alexander von Humboldt, Klaproth und Achard und der vielen, weniger bekannten Techniker gewürdigt worden, die sich auf den langen Weg technischer und wissenschaftlicher Verbesserungen machten. Weder der Blick auf große Einzelerfindungen noch eine reine Institutionengeschichte sind in der Lage, die Kontinuität des historischen Prozesses freizulegen, in dem sich kleine praktisch-technische Veränderungen – untermauert durch wissenschaftlich-technisches Sachwissen, aber auch durch neue Werte und Einstellungen – allmählich zu den sichtbaren technischen Umstrukturierungen akkumulierten, die wir als Industrialisierung bezeichnen.
Die Veränderungen der Technik, Staatsbürokratie, des Bildungssystems und der Wissenschaftslandschaft, die der junge Alexander von Humboldt und seine Bündnispartner durchsetzten, waren Initialzündung für weitere schrittweise Reformen in Preußen, die schließlich auf dem Höhepunkt der ersten Industrialisierungswelle in einen irreversiblen Wissens- und Innovationsstrom einmündeten. Die Männer, die diese Veränderungen in Gang setzten, waren Idealisten, für die Wissenschaft und Technik auch gesellschaftlichen Fortschritt verhießen. Ihr Traum von nützlichen Wissenschaften, die fern von engstirnigem Profitdenken zu einem besseren Leben beitragen sollten, war in der politischen Landschaft des absolutistischen Preußen jedoch nur begrenzt verwirklichbar. Wie haben diese Männer gelebt, gearbeitet und geforscht? Was trieb sie an und was erreichten sie? Dieses Buch geht vor allem der Praxis dieser Reformer nach. Es beschreibt die faustischen Ambitionen und Aktivitäten des jungen Alexander von Humboldt und anderer preußischer Staatsbeamter, Naturforscher und Techniker in der Nutzpflanzenzucht und Botanik, dem Bergbau, der Metallverhüttung und den „Bergwerkswissenschaften“, der Porzellanherstellung und Chemie und vielen anderen Überschneidungsbereichen von Gewerbe, Technik und Wissenschaften. Auf der Grundlage einer Fülle neuer Archivmaterialien, Briefe, wissenschaftlicher Veröffentlichungen und anderer Zeitzeugnisse bringt es die historischen Akteure selbst zum Sprechen.
Ich danke meinen Kolleginnen und Kollegen am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte – insbesondere Jürgen Renn, Dagmar Schäfer, Matteo Valleriani, Christoph Lehner und Helge Wendt – für wissenschaftlichte Anregungen. Jürgen Renn und Hans-Jörg Rheinberger danke ich für ihre großzügige Unterstützung meiner Forschung. Urte Brauckmann, Ellen Garske, Urs Schöpflin und allen anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unserer Bibliothek danke ich für ihre freundliche Hilfe bei der Literatur- und Bildbeschaffung. Zu großem Dank bin ich meinem studentischen Assistenten Johannes Lotze verpflichtet, der einen Teil meiner Archivarbeit übernahm und hunderte Manuskriptseiten für mich transkribierte. Mein ganz besonderer Dank gilt – wie immer – Wolfgang Lefèvre für seine kritische Lektüre des Buchmanuskripts und unverdrossene Rückenstärkung.
Der Berliner Tiergarten war ehemals ein königlicher Jagdgrund gewesen, den Friedrich II. in einen Barockpark umgestalten ließ. Im Februar 1789 schlenderte der junge Alexander von Humboldt (Sept. 1769 – Mai 1859) durch den unweit der elterlichen Stadtwohnung gelegen winterlichen Park. Die ersten Moose, Flechten und Schwämme zeigten sich. Der 19-Jährige verstaute die schönsten Exemplare in seinem Beutel. Botanik war jetzt sein neues Steckenpferd.
Im vorangegangenen Herbst hatte Humboldt den Berliner Botaniker Carl Ludwig Willdenow kennengelernt und sich von dessen Begeisterung für Kryptogamen, einem blinden Fleck im Linnéschen System, anstecken lassen. Der „sanfte und milde Charakter“ des nur unwesentlich älteren Willdenow, erzählte er später, half ihm über die ersten Hürden im Studium der Botanik hinweg.2 Er begann, für den neuen Freund Pflanzen zu sammeln, und dieser weihte ihn dann in die Kunst des exakten botanischen Pflanzenbestimmens ein. In der Studierstube konnte die Botanik zwar ein „hyperlangweiliges Studium“ sein, fand Humboldt, doch draußen, in der freien Natur bot sie unendliche Überraschungen.
Der von Knobelsdorff gestaltete Tiergarten war mit seinen Kunstteichen, Springbrunnen, Labyrinthen und Skulpturen zwar längst keine unberührte Natur mehr, doch im Winter konnte man dort ungestört nach Wildpflanzen Ausschau halten. Der Park schien sich dann in einen „großen Tempel der Natur“ zu verwandeln, der zum „Genuß der reinsten, unschuldigsten Freude“ einlud. Humboldt war überwältigt von der Einsamkeit und stillen Schönheit, die ihn umgab. Eine „süße Schwermuth“ überkommt mich, schrieb er dem Universitätsfreund Wilhelm Gabriel Wegener, wenn ich mich „von tausenden Geschöpfen umringt“ in der freien Natur aufhalte.3
Doch Humboldt gab sich nicht allzu lange der Melancholie hin. Ganz andere Gedanken drängten sich auf. Botanisches Wissen war auch von praktischem Nutzen für die Gesellschaft. Die Botanik, so Humboldt, ermögliche es, „neue Nahrungsquellen gegen den von allen Seiten einreißenden Mangel“ zu erschließen. Doch habe man dies in Preußen noch nicht wirklich erkannt. Vielmehr sei man immer noch in dem „schiefen Urteil“ befangen, die Botanik diene hauptsächlich „zum Vergnügen“ oder bestenfalls zur „subjektiven Bildung des Verstandes“. Dagegen sei sie „eins von den Studien, von denen sich die menschliche Gesellschaft am meisten zu versprechen hat“.4
Die letzte große Hungerkrise von 1770/71 hatte zwar vor allem Böhmen, Sachsen und die Pfalz betroffen, aber auch Preußen war gegen Hungersnöte nicht gefeit. Ein Bevölkerungswachstum von 2.785.000 auf 5.629.000 Einwohner während der rund 40-jährigen Regierungszeit Friedrichs II. stellte eine Herausforderung dar – selbst wenn die preußischen Getreidemagazine relativ gut gefüllt waren.5 Die Hungerrevolte von 1800 würde dies bald belegen. Überdies musste Preußen zahlreiche Lebensmittel, darunter Zucker, Gewürze, Früchte, Tabak, Wein, Kaffee und Tee importierten. Auch wenn es sich hierbei um reine Luxusgüter handelte, beeinträchtigten diese die Handelsbilanz. Sie konterkarierten die merkantilistische Wirtschaftspolitik Preußens, die das Ziel verfolgte, den Export zu steigern und teure Importe zu vermeiden.6
Abb. 1 Geometrischer Plan des Königlichen Tiergartens vor Berlin. Kupferstich von J. D. Schleuen nach der Kartierung von J. C. Rhode, Berlin 1765. Aus Buddensieg, Düwell und Sembach (1987a), 246
Für Humboldt, der mit diesem ökonomischen Problem durch sein Studium an der Universität Frankfurt/Oder vertraut war, wies botanisches Wissen auch hier einen Ausweg. „Viele Produkte, die wir von fernen Welttheilen haben, treten wir in unserem Land mit Füßen – bis nach vielen Jahrzehnten ein Zufall sie entdekt“, empörte er sich. Die Botanik lege das Fundament für systematische Entdeckungen und Erfindungen. Sie lehre die Kräfte kennen, die die „gütige Natur zur Befriedigung unserer Bedürfnisse in das Pflanzenreich legte“. Daher trage er sich selbst mit dem Gedanken, demnächst ein Werk „über die gesamten Kräfte der Pflanzen“ zu verfassen.7
Der junge Humboldt zeichnete sich nicht durch allzu große Bescheidenheit aus, auch wenn sein Interesse an so ausgesprochen schlichten Gewächsen wie Moosen, Flechten und anderen Kryptogamen dies nahelegen sollte. Wir kennen Humboldt heute vor allem als unermüdlichen Sammler exotischer Pflanzen und kühnen Forschungsreisenden, der die Erde bis in ihre letzten Winkel vermaß. Doch die Anfänge seines wissenschaftlichen Lebens spielten sich auf einer ganz anderen Bühne ab. Eine Reise nach „Westindien“ war dem 19-Jährigen noch nicht in den Sinn gekommen. Daher zog es ihn eher in den Tiergarten als in den Königlichen Botanischen Garten, in dessen Gewächshäusern auch Palmen, Drachenbäume und Kakteen zu bewundern gewesen wären.
Im „Jahrhundert der Entdeckungen“, darin stimmte Humboldt mit seinem Freund Willdenow überein, konnte man der Natur ihre Geheimnisse auch zu Hause ablauschen.8 Nur wenige Jahre später würde er seine Entdeckungsreise in den Tiefen sächsischer und preußischer Bergwerke fortsetzen. Wie wir noch sehen werden, erschloss ihm das Studium an der Freiberger Bergakademie und die nachfolgende Arbeit als preußischer Bergbeamter ein völlig neues Terrain, auf dem er sein mineralogisches, geologisches und chemisches Wissen ausbauen und Methodenkenntnisse für systematisches Beobachten, Messen und Experimentieren erwerben würde.
Der junge Humboldt hatte aber noch andere große Ziele. Er wollte die neusten technischen Errungenschaften kennenlernen, und hier stand der Bergbau an erster Stelle. Dabei schloss sich Humboldt einer Reformbewegung an, die im technischen Fortschritt einen wirkmächtigen Hebel für Wohlstand und die Bekämpfung von Unwissenheit sah. Erst am Ende der folgenden zwei Jahre würde ihm dieses zweite Ziel klar und deutlich vor Augen stehen. Ein weiteres, völlig unbefriedigendes Studium an der Göttinger Universität, das er nach wenigen Monaten abbrechen würde, eigene mineralogische Studien und eine Reise mit Georg Forster, dem späteren Vertreter der Mainzer jakobinischen Republik, halfen ihm dabei.
Abb. 2 Darstellung unterirdischer Kryptogamen. Aus Humboldt (1793)
Was für uns heute wie ein unmöglicher Spagat aussieht, war in den Jahrzehnten um 1800 das Ideal vieler gebildeter junger Männer. Sie wollten Hervorragendes in der Naturforschung leisten, aber auch praktisch tätig sein und zwar an den Schaltstellen der Macht, als leitende preußische Staatsbeamte. Wie wir im Folgenden sehen werden, boten Botanik, Chemie, Mineralogie und Geologie zahlreiche praktische Anknüpfungspunkte zur Nutzpflanzenzüchtung und Forstwirtschaft, zu Bergbau und Metallgewinnung und zum Apothekergewerbe. Mathematik, Statik, Hydraulik und theoretische Mechanik lieferten wiederum Wissenselemente für die Maschinentechnik, Ballistik und das Bau- und Vermessungswesen. Wenn Humboldt in seinem Brief an Wegener mehr Engagement für die Botanik und ihre nützlichen Bereiche einforderte, so stand er keineswegs alleine da, wie er als 19-Jähriger vielleicht noch glaubte. Schon bald würde er zahlreiche Weggefährten treffen, darunter auch Minister und einflussreiche Staatsbeamte, die seine Ziele teilten. Der Samen des kameralistischen Diskurses und des Utilitarismus der Aufklärung war längst aufgegangen.
Kameralisten und Aufklärer engagierten sich schon seit Jahrzehnten für die staatliche Förderung von Sachwissen und der praktisch nützlichen Teile der Naturwissenschaften und Mathematik als Voraussetzungen für technische Verbesserungen und die Hebung des allgemeinen Wohlstands. Seit dem frühen 18. Jahrhundert hatten sie versucht, die Universitäten in diesem Sinn zu reformieren und leitende Staatsbeamte nicht nur juristisch, sondern auch kameralwissenschaftlich ausbilden zu lassen. Die Kameralwissenschaft umfasste ein breites Wissensfeld, das von der Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftstheorie über die Mathematik, Naturwissenschaften und Technologie bis hin zur Verwaltungslehre reichte.9 Sie vereinigte in sich alle Wissensbereiche, die der moderne, Wirtschaft und Gewerbe fördernde Staatsbeamte nach kameralistischer Auffassung besitzen musste.
Alexander von Humboldt hatte vom Oktober 1787 bis März 1788 gemeinsam mit seinem Bruder Wilhelm an der Universität Frankfurt/Oder Kameralwissenschaften studiert. Es war fest geplant, dieses Studium im Sommer 1789 an der Reformuniversität Göttingen fortzusetzen. Dort lehrte unter anderen der berühmte Johann Beckmann, Autor der Anleitung zur Technologie (1777), der die Linnésche Konzeption nützlichen botanischen Wissens in Deutschland verbreitete und ein Technologiekonzept vertrat, das auch die Landwirtschaft einbezog. Im Februar 1789, kurz nach seinem Tiergartenspaziergang, schrieb Humboldt an Alexander Burggraf zu Dohna-Schlobitten, der ebenfalls beabsichtigte, in Göttingen zu studieren:10
▷ Da können wir ja im Sommer Botanik und im Winter Technologie zusammen studieren, wobei wir von beiden Seiten gleichviel Freude und Nutzen haben werden. Schade, daß ich weder mein Herbarium noch meinen Vorrat von technologischen Materialien als Zeugproben, Wollarten, Baumwollarten, andere Pflanzenwolle, Farbmaterialien u.s.w. mitschleppen kann. Dagegen bringe ich in einigen Fächern wenigstens mühsam ausgearbeitete Aufsätze über Technologie mit, die ein genaues Detail der Berlinischen Manufakturen enthalten. Ich habe soviel zusammengeschleppt, als mir meine Zeit erlaubte. ◁
In Vorbereitung seines Göttinger Studiums stellte Humboldt somit Berichte über Berliner Textilmanufakturen zusammen und sammelte Farbmaterialien und Stoffproben. Berlin war damals das Zentrum der preußischen Textilindustrie. Seine Baumwollmanufakturen und -druckereien gehörten zum technologisch avancierten Gewerbe Deutschlands.
Nach seiner Rückkehr aus Frankfurt/Oder trat Humboldt wieder in Kontakt mit seinem ehemaligen Lehrer Johann Friedrich Zöllner, der nun Pastor an der Berliner Nicolai- und Marienkirche war und als Mitglied der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften auch Privatvorlesungen anbot. Humboldt nahm bis zum Frühjahr 1789 an seinem technologischen Kollegium teil, das sich auch mit Botanik befasste. Im Sommer 1788 unternahm Humboldt mit Zöllner eine Exkursion ins Brandenburgische Umland, um metallurgische Unternehmen zu besichtigen.11
Die Eisenhütten in Zehdenick und Neustadt an der Dosse, der Kupferhammer und das Messingwerk in Neustadt-Eberswalde, die Eisenspalterei in Eberswalde und das Messingwerk in Hegermühle konnten sich zwar nicht mit den staatlichen Eisenhüttenwerken in Schlesien messen, in denen man hochwertigen Stahl aus einheimischem Eisen produzierte und wo gerade Vorbereitungen für den Bau des ersten kontinentaleuropäischen Kokshochofens getroffen wurden.12 Unter der Ägide des Ministers Friedrich Anton von Heinitz, der das Bergwerks- und Hüttendepartment im Berliner „Generaldirektorium“ leitete, waren jedoch auch für die märkischen Hüttenwerke technische Fortschritte zu erwarten.13 Nachdem sie jahrzehntelang von den Privatunternehmern Splitgerber & Daum gepachtet worden waren, befanden sie sich seit 1786 in staatlicher Hand. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts würde der preußische Bergbau weitgehend ein Staatsunternehmen bleiben. Die Kameralisten sahen im staatlich organisierten Bergbau und Hüttenwesen die Verwirklichung ihres Traums einer modernen, auf Wissenschaften, technischem Sachverstand und einer vernünftigen Planung beruhenden Wirtschaftsweise.
Abb. 3 Entwurf zum Eisenhüttenwerk Königshütte, Federzeichnung vom Friedrich Gilly (1797). Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin PK
In den Jahrzehnten um 1800 beteiligte sich die große Mehrheit der deutschen Naturforscher am kameralistischen Diskurs über nützliches Wissen, an dem auch Staatsbeamte, Techniker und andere Praktiker partizipierten. Die analysierenden und exakten Naturwissenschaften entwickelten sich im Kontext dieses Diskurses und im Wechselspiel mit den Bemühungen um die Institutionalisierung und Konkretisierung nützlicher Wissensinhalte und Methoden. Die romantische Naturlehre, die die Natur als einheitliches Ganzes und losgelöst von Gesellschaft und Technik betrachtete, war im Vergleich dazu das Projekt einer kleinen Minderheit. Den meisten preußischen Naturforschern war ohnehin jede Art übergreifender, große Systeme entwerfender Naturphilosophie fremd. Zu ihren Vorbildern gehörten weder die Philosophen Christian Wolff und Immanuel Kant noch die romantischen Naturforscher und Schellinganhänger Johann Wilhelm Ritter und Henrik Steffens, sondern analytisch verfahrende, messende Naturforscher und Mathematiker wie Martin Heinrich Klaproth, Leonhard Euler und Johann Heinrich Lambert, deren Forschung anschlussfähig an technische Verbesserungsprojekte war. Wer sich in Deutschland als „Naturforscher“ bezeichnete, grenzte sich mit dieser Bezeichnung nicht zuletzt von den „Naturphilosophen“ ab.14
In der kulturellen Elite der Residenzstadt Berlin herrschte im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine genuine Faszination für Naturwissenschaften und Technik. Bei spektakuläreren Ereignissen wie der Ballonfahrt des Franzosen Jean Pierre Blanchard im September 1788 war „ganz Berlin auf den Beinen“ und so auch Humboldt.15 Berlin besaß damals noch keine Universität, doch die Mathematiker und Naturforscher der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften organisierten öffentliche Vorlesungen über Chemie, Experimentalphysik, Astronomie, Botanik, Forstwissenschaft und Mineralogie.16 Die Stadtvorlesungen des Berliner Chemikers Martin Heinrich Klaproth lösten in den 1780er-Jahren einen wahren Chemiekult aus. So wusste ein Leser der Chemischen Annalen im Jahr 1784 zu berichten, an Klaproths Vorlesungen nähmen jetzt auch „distinguirte Personen vom schönen Geschlecht“ teil. Sie seien bereit, „Kälte und Hitze, Dünste und Kohlenstaub, und alle sonstigen Unbequemlichkeiten einer chemischen Werkstätte standhaft zu ertragen.“17 Der 19-jährige Humboldt, der sich intellektuell noch nicht festgelegt hatte, sog derartige Anregungen auf wie ein Schwamm. Niemand konnte übersehen, dass die in der Chemie akkumulierten Stoffkenntnisse und die chemisch-analytischen Methoden bereits sichtbare praktische Konsequenzen für das Gewerbe hatten. Klaproths Chemie und die preußische Naturforschung insgesamt waren meilenweit von der Romantik entfernt. Man musste kein Kameralist und Student der Kameralwissenschaften sein, um das zu begreifen. Die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften förderte nützliches Wissen, ebenso wie das alteingesessene Collegium medico-chirugicum und die neuere Königliche Tierarzneischule. Und auch die 1773 gegründete Gesellschaft Naturforschender Freunde zu Berlin war alles andere als ein Aushängeschild romantischer Naturforschung. Diese private Vereinigung von Naturforschern, die wie die Freimaurerlogen strenge Aufnahmeregeln befolgte sowie Freundschaft und Geselligkeit pflegte, widmete sich dem Studium der Naturgeschichte und der Sammlung von Naturobjekten. Mit ihren Preisfragen und Vorträgen wandte sie sich auch an die Berliner Öffentlichkeit. Der Schwerpunkt der Preisfragen lag auf praktisch nützlichem Wissen, ungeachtet der Tatsache, dass im Statut der Gesellschaft der praktische Nutzen der Botanik nur eine marginale Rolle spielte.18
Im April 1789 machte sich Humboldt in Begleitung seines ehemaligen Erziehers Gottlob Johann Christian Kunth auf den Weg nach Göttingen. Die 1737 gegründete Göttinger Universität galt in Aufklärerkreisen als beste deutsche Universität, und den Preußen war es nun endlich erlaubt, auch außerhalb des Landes zu studieren. Humboldt hatte vor allem vor, Beckmanns Vorlesungen über ökonomische Botanik und Technologie zu hören. Nur ein einziges Semester lang hatte er an der Frankfurter Universität Kameralwissenschaften studiert. Im Frühjahr 1789 ahnte er noch nicht, wie schnell ihn auch die Göttinger Universität enttäuschen und dass er ihr bereits im März 1790 wieder den Rücken kehren würde.
Der Göttinger Professor Johann Beckmann (1739–1811) hatte 1765 bei dem schwedischen Botaniker Carl von Linné in Uppsala studiert. Auf seiner Göttinger Professur für Ökonomie, die er seit 1766 innehatte, baute er den Ansatz Linnés mit seiner charakteristischen Verquickung von systematischer Botanik und Ökonomie weiter aus.19 Um seine Vorlesungen mit praktischen Übungen verbinden zu können, ließ er einen „ökonomischen Garten“ anlegen. 1777 veröffentlichte er eine Schrift mit dem Titel Anleitung zur Technologie, die den Terminus „Technologie“ im deutschsprachigen Raum fast schlagartig bekanntmachte.20
Unter „Technologie“ verstand Beckmann systematisch zusammengestelltes, beschreibendes Wissen über das zeitgenössische Gewerbe, einschließlich der Landwirtschaft. Vermittelt über letztere, integrierte die „Technologie“ auch nützliches Wissen der Botanik. Als Bindeglied zwischen Handwerk und Landwirtschaft fungierten dabei die „Materialien“, denen Beckmann eine wirtschaftliche Schlüsselfunktion einräumte. Die Technologie hatte es demnach vorwiegend mit Materialen zu tun – sowohl mit unverarbeiteten Rohmaterialien wie im Bergbau oder der Landwirtschaft als auch mit gewerblich weiterverarbeiteten Stoffen.21
Beckmanns Technologieverständnis war durch die baconische Tradition der Experimentalgeschichte (experimental history) geprägt, die auch in Frankreich mit zwei umfassenden, der Beschreibung der handwerklichen Künste gewidmeten akademischen Projekten fortgesetzt worden war.22 Der Sammlung handwerklichen Wissens und Beschreibung aller Gewerbe stellte Beckmann aber auch eine erklärende Funktion der Technologie zur Seite. Diese sollte nicht nur „die Kentniß der Handwerke “ lehren, sondern auch „die bey der Verarbeitung vorkommenden Erscheinungen erklären“.23 Auch die Betonung eines Einheit stiftenden Bindeglieds aller handwerklichen und landwirtschaftlichen Gewerbe – der Materialien – kann als vorsichtiger Versuch einer Theoretisierung der Technologie gewertet werden. Wie die sich gleichzeitig herausbildenden Bergwerkswissenschaft, Forstwissenschaft und andere „nützliche Wissenschaften“ brachte auch der Terminus Technologie eine Tendenz zur Ausdifferenzierung der Kameralwissenschaften und Bildung neuer Disziplinen zum Ausdruck, die sich mit speziellen technischen Objektbereichen befassten.
In der technikbegeisterten Generation Humboldts galten Beckmanns Vorlesungen als unbedingtes Muss. Friedrich Karl von Fulda (1774–1847), der spätere Autor einflussreicher landwirtschaftlicher Schriften und Professor der Kameralwissenschaften an der Universität Tübingen, studierte bei Beckmann in den 1790er-Jahren ebenso wie Friedrich Casimir Medicus (1736–1808), der Gründer der Kameralhohen-Schule in Kaiserslautern und Direktor der Kurpfälzischen Ökonomischen Gesellschaft. Humboldt selbst scheint jedoch von Beckmanns Vorlesungen eher enttäuscht gewesen zu sein. Entgegen seiner sonstigen Mitteilsamkeit, hinterließ seine Begegnung mit ihm kaum Spuren, abgesehen von einer Rezension, die er für dessen Physikalisch-ökonomische Bibliothek schrieb.24
Wenn Humboldt ein Lob für die Göttinger Professoren übrig hatte, so galt dies jemand anderem, dem klassischen Philologen und Archäologen Christian Gottlob Heyne (1729–1812). Dieser sei „ohnstreitig der hellste Kopf“ der Universität, schrieb er an Wegener. Sein Vortrag sei zwar „holprig und stottrig“, aber „äußerst philosophisch“.25 Humboldt besuchte selbstverständlich auch die Vorlesungen Georg Christoph Lichtenbergs, Johann Friedrich Gmelins, Abraham Gotthelf Kästners und Johann Friedrich Blumenbachs. Mit Blumenbach würde er noch viele Jahre korrespondieren. Aber auch die Vorlesungen dieser berühmten Göttinger Professoren waren ihm kaum eine Erwähnung wert.
Das Universitätsleben in Hörsälen, Bibliotheken und der Studierstube war nicht Humboldts Sache. Alles habe hier „einen affektirten Fleiß“ klagte er dem Freund Wegener. Dem Helmstedter Mathematikprofessor Johann Friedrich Pfaff schrieb er, es sei ein „niederschlagender Anblick“, so viele Gelehrte zu sehen, die „keine andere Mittheilung als durch die Feder oder vom Katheder“ kennen. Auch die „Bekanntschaft so vieler gelehrter Männer“ mache dies nicht wett.26
Im 18. Jahrhundert spielte sich der universitäre Lehrbetrieb noch weitgehend im traditionellen Rahmen der Vorlesung ab. Die Professoren verlasen am Katheder stehend einen Text und die Studenten schrieben eifrig mit. Diskussionen außerhalb der nach rigiden Regeln ablaufenden Disputationen waren ungewöhnlich und bestenfalls bei geselligen Zusammenkünften in der Professorenwohnung erlaubt. Praktische naturwissenschaftliche Übungen, wie sie sich Humboldt erhofft hatte, waren auch an einer Reformuniversität wie Göttingen selten. Und anders als an der modernen Universität war auch das Alltagsleben der Studenten durch universitäre Sitten und Rituale geprägt.
Humboldt versuchte, der sterilen Atmosphäre des Universitätslebens durch eigene Lektüre und Selbststudien zu entfliehen. In den Berliner Textilmanufakturen hatte er unlängst die neuen, aus England importierten Spinnmaschinen kennengelernt, die ihn ebenso faszinierten wie die englischen Dampfmaschinen. Im Habsburg-ungarischen Bergrevier von Schemnitz hatte man schon in den 1730er-Jahren die ersten Dampfmaschinen eingeführt. Der preußische Minister v. Heinitz hatte 1785 den Bau einer Dampfmaschine für den Kupferschieferbergbau im mansfeldischen Hettstedt organisiert, dann bei der Firma Boulton und Watt eine Dampfmaschine für den Bleibergbau im schlesischen Tarnowitz in Auftrag gegeben, und nun verhandelte er erneut mit Boulton und Watt, um Dampfmaschinen für die Saline Schönebeck und die Kohlenwerke in Wettin und Rothenburg zu erwerben.27 Im Mai 1789 schrieb Humboldt an einen Freund: „Wer mit dem Maschinenwesen in den Manufakturen und beim Bergbau nur ein wenig bekannt ist, wird bald aus deren Anwendung, bald aus dem Mangel gewisser Einrichtungen die Vortheile der höheren Mechanik, den Schaden, den Unkunde darin bringt, einsehen lernen.“28 Also setzte er die theoretische Mechanik und Mathematik auf seinen Arbeitsplan. Um sich in die mathematische Analysis einzuarbeiten, studierte er die Anfangsgründe der Analysis des Unendlichen (Berlin und Stralsund 1770) des Berliner Artillerieoffiziers, Mathematikers und Newtonanhängers Georg Friedrich L. von Tempelhoff (1737–1807).
Wenn Humboldt durch solche Studien immer noch an die Studierstube gefesselt war, so boten ihm botanische und mineralogische Exkursionen eine höchst willkommene Abwechslung. Die Mineralogie und Geologie rückten nun näher ins Zentrum seiner Interessen, was nicht zuletzt eine Folge seiner Bekanntschaft mit Georg Forster (1754–1794) war. Der berühmte Naturforscher, Weltumsegler und Schwiegersohn Heynes machte ihn mit dem brandneuen mineralogischen Thema des Ursprungs der Basalte vertraut. Nachdem Humboldt die erste Basalthöhle am Rhein besichtigt hatte, zögerte er nicht lange und verfasste im Winter 1789/90 eine wissenschaftliche Publikation, Mineralogische Beobachtungen über einige Basalte am Rhein, die Forster gewidmet war.
Nachdem Humboldt sein Studium an den Nagel gehängt hatte, brach er Ende März 1790 mit Forster zu einer mehrmonatigen Studienreise auf. Über Belgien und die Niederlande ging es nach England, wo es auch Bergwerke zu besichtigten galt. Im Juni 1790 schrieb Humboldt aus Derbyshire, er habe „den größten Theil des Tages unter der Erde“ in Bergwerken verbracht.29 Durch Forster lernte er weitere namhafte Naturforscher kennen. In London begegnete er dem Botaniker und Gründer der Linnean Society James Edward Smith, dem Weltumsegler Joseph Banks und dem deutschen Naturforscher Christoph Girtanner, der ihm erste Einblicke in die neue Lehre des französischen Chemikers Antoine-Laurent Lavoisier vermittelte. So knüpfte sich langsam ein Netz von Forschungskontakten, das Humboldt half, sich über die Grenzen Preußens hinweg als Naturforscher bekannt zu machen.
Auf der Rückreise über Frankreich hielten sich Humboldt und Forster mehrere Tage im revolutionären Paris auf. Wenig später bekannte Humboldt, dies seien „die frohsten und lehrreichsten Stunden“ seines Lebens gewesen. Die Vorbereitungen für die Feierlichkeiten am ersten Jahrestag der Revolution (14. Juli 1790) waren gerade in Gang, und der 20-Jährige ließ sich schnell von der Umbruchsstimmung mitreißen. „Der Anblik der Pariser, ihrer Nationalversammlung, ihres noch unvollendeten Freiheitstempels (zu dem ich selbst Sand gekarrt habe) schwebt mir wie ein Traumgesicht vor der Seele“, schrieb er an Friedrich Heinrich Jacobi.30 Nur vier Jahre später würde Forster, der Mitbegründer der jakobinischen Mainzer Republik, in Paris sterben.
Nach Deutschland zurückgekehrt und noch während eines kurzen Zwischenaufenthalts in Mainz im Hause Forsters schrieb Humboldt im Juli 1790 einen Brief an den renommierten Mineralogen und Professor der Freiberger Bergakademie Abraham Gottlob Werner, in dem er seinen baldigen Besuch in Freiberg ankündigte: „Widrige Verhältnisse haben mich bis jezt noch abgehalten, das vortrefliche Institut zu Freiberg zu besuchen“, schrieb er ihm, aber „vielleicht glükt es mir noch künftig, mich zu Ihren Schülern zu gesellen“. 31 Dem Brief war auch ein Exemplar seiner Mineralogischen Beobachtungen über einige Basalte am Rhein beigefügt.
Basalte waren damals besonders interessante mineralogisch-geologische Objekte, weil sie eine ausschlaggebende Rolle in der Kontroverse zwischen „Plutonisten“ und „Neptunisten“ spielten. Neptunisten wie Werner argumentierten, die Basalte seien durch Sedimentationsprozesse im Meerwasser entstanden, während Plutonisten wie der Engländer James Hutton behaupteten, sie seien vulkanischen Ursprungs. In Deutschland hatte sich die Kontroverse gegen Ende des Jahres 1788 zugespitzt, nachdem sich ein ehemaliger Schüler Werners, Johann Carl Wilhelm Voigt, öffentlich zur vulkanistischen Erklärung der Basalte bekannt hatte. Humboldt schlug sich in dieser Kontroverse auf die Seite der Neptunisten und damit auf diejenige des einflussreicheren Werner. Wie er den Freiberger Professor in seinem Brief wissen ließ, fand er auf seinen Exkursionen „nichts, was die Voraussetzung ehemaliger Vulkane notwendig machte, hingegen überall Gründe für den neptunistischen Ursprung der Basalte“.32 Basalte und die Kontroverse über deren Entstehung würden noch lange ein hochaktuelles Thema bleiben, und Humboldt ließ auch später keine Gelegenheit aus, Basaltfelsen zu besichtigen.
Im August 1790 fuhr Humboldt nach Hamburg, um noch einige Monate an der Handelsakademie Johann Georg Büschs zu studieren. Von Hamburg aus verschickte er einen zweiten Brief an Werner, in dem er seinen Besuch der Freiberger Bergakademie definitiv ankündigte. „Es sind nun fast 2 Jahre, seitdem ich mich mit der Mineralogie beschäftige“, schrieb er, und er verspüre eine „heiße Begierde, nach Freiberg zu gehen.“ 33 Die Mineralogie hatte ihn nun endgültig in ihren Bann gezogen, der Plan, Bergbeamter zu werden, war ausgereift. Ende April 1791 kehrte er nach Berlin zurück und traf sofort die notwendigen Vorbereitungen.
Humboldts Studium der Kameralwissenschaft, sein Besuch der Freiberger Bergakademie und die daran anschließende fünfjährige Bergbeamtentätigkeit sind in der Literatur fast durchweg auf die Initiative seiner Mutter zurückgeführt worden, die für ihren Sohn, angeblich gegen dessen Willen, eine Beamtenkarriere vorgesehen hatte.34 Was auch immer der Wunsch der Mutter gewesen sein mag, es gibt keinerlei Indizien dafür, dass sie ihn ausgerechnet dazu animierte, Bergbeamter zu werden. Man kann Humboldts halbamtliche Briefe an Werner und seinen späteren Vorgesetzten Minister von Heinitz, in denen er sein Interesse an Bergbau und Mineralogie herausstreicht, als Rhetorik abtun. Dieses Argument greift jedoch nicht für seine privaten und oft sehr intimen Briefe, in denen ein genuines bergbauliches Interesse ganz unverkennbar ist. Der junge Humboldt sehnte sich danach, praktisch und technisch tätig zu werden, seinem „Vaterland“ und dem „Gemeinwohl“ zu dienen und gleichzeitig an der vordersten Front naturwissenschaftlicher und technologischer Forschung zu stehen. Dazu boten Bergbau und Hüttenwesen mit ihrer avancierten Technologie, den mineralogischen, chemischen und geologischen Anschauungsobjekten und zahllosen Gelegenheiten für Experimente und Messungen ein hervorragendes Terrain.
Als die jungen Berliner Humboldt und Willdenow im Frühjahr 1789 gemeinsame botanische Studien betrieben, stand ihnen ein klares Vorbild vor Augen. Willdenows Onkel Johann Gottlieb Gleditsch (1714–1786) vereinte in sich alles, was ein guter Botaniker wissen, können und anstreben musste. Gleditsch gehörte auch zu den Pionieren der Forstwissenschaft. Schon als Kind hatte Willdenow den Onkel auf Exkursionen in die Wälder Berlins begleitet, wovon er später zu berichten wusste, dieser habe seine Schüler „immer auf den Nutzen der Gewächse und ihre rechten Unterscheidungskennzeichen aufmerksam“ gemacht.35 Von Gleditsch übernahmen Willdenow und Humboldt nicht nur abstrakte Ideen über die gesellschaftliche Nützlichkeit der Botanik, er verkörperte auch persönlich den praktisch engagierten Botaniker.
Gleditsch hatte in Leipzig Philosophie, Mathematik und Medizin studiert und sein Studium mit einer medizinischen Promotion abgeschlossen. Bereits 1744, zwei Jahre nach seiner Promotion, wurde er als Botaniker in die Preußische Akademie der Wissenschaften aufgenommen. Nach weiteren zwei Jahren stellte ihn seine Ernennung zum Direktor des Königlichen Botanischen Gartens vor die erste große Bewährungsprobe. Noch im selben Jahr wurde er Professor für Botanik am Berliner Collegium medico-chirurgicum, der im Dezember 1723 gegründeten Ausbildungsstätte für preußische Chirurgen und Militärchirurgen.
1768 wandte sich Gleditsch der Forstwirtschaft und dem brandneuen Gebiet der Forstwissenschaften zu. Hauptaufgabe der staatlich geregelten, in Preußen seit 1770 durch ein eigenständiges Forstdepartment gelenkten Forstwirtschaft war die langfristige Sicherung der Forstnutzung und Verhinderung von Raubbau. Holz war im 18. Jahrhundert der wichtigste Baustoff und Energielieferant. Der Hausbau und die Konstruktion von Wagen, Schiffen, Brücken, Maschinen und Möbeln verschlangen Millionen an Festmetern von Holz. Hinzu kam der Holzverbrauch für private und gewerbliche Heiz- und Produktionszwecke, der in Hüttenwerken, Glashütten sowie Keramik- und Porzellanmanufakturen besonders hoch war.
Zur nachhaltigen Sicherung dieser wichtigen natürlichen Ressource stellten die verbeamteten preußischen Förster systematisch alle Befunde über Waldschäden und ihre Ursachen zusammen. Ihre Versuche der Ökonomisierung der Natur schlossen auch den Anbau neuer, schnell wachsender und anspruchsloser Bäume wie der aus Nordamerika eingeführten Robinie ein. Das systematische Sammeln forstwirtschaftlich relevanten Wissens erfolgte zuerst im Rahmen der allgemeinen Kameralwissenschaften und von Mitte des 18. Jahrhunderts an durch die „Forstwissenschaft“. Auch der Begriff der „nachhaltigen Nutzung“ des Waldes kam damals in Umlauf. Bereits 1713 hatte der kursächsische Oberberghauptmann Hannß Carl von Carlowitz gefordert, dass man „eine continuirliche beständige und nachhaltende Nutzung“ des Holzvorrats der Wälder anstreben müsse.36 Für die ökonomischen Gesellschaften der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gehörte diese Forderung bereits zum programmatischen Kernbestand.
Im Oktober 1770 begann Gleditsch, im Auftrag des Bergwerks- und Hüttendepartments Vorlesungen für angehende Bergbeamte über Forstwissenschaft und Botanik zu halten. Anstatt sich wie seine Kollegen an den Universitäten auf Vorlesungen zu beschränken, organisierte er Exkursionen in die Berliner Forste und machte seine Schüler auf aktuelle forstwirtschaftliche Sachverhalte aufmerksam. Zu diesem Zweck besorgte er sich amtliche Unterlagen, die Aufschluss über Feuer- und Sturmschäden, Dürreperioden und Schädlingsbefall gaben. So erging im Juni 1771 an den Registrator Schultz im Bergwerks- und Hüttendepartment der Auftrag, Gleditsch behilflich zu sein. Dieser habe „angezeigt, daß er bey seinen Vorlesungen über die Forst-Wirthschaft Gebrauch von gewißen Vorfällen machen wolle, wie nemlich Forsten durch Feuer, Wasserschaden, Sturm, Dürre, Ungeziefer verwüstet, und welche Anstalten dagegen gemacht worden“ seien. Er habe insbesondere um Zugang „der von dergleichen Fällen handelnden Acten wie um Mitheilung solcher Nachrichten gebethen (hat), welche über die heimliche Zerstöhrung der Bäume durch Fäulniß, Brand, Krebs, Wurmstich und dergleichen gesamelt worden“ sind. Schultz sollte diese forstwirtschaftlichen Akten für Gleditsch besorgen, „damit er solche inspiciren und den nöthigen Gebrauch davon machen könne.“ 37
Abb. 4 Porträt Johann Gottlieb Gleditsch. Staatsbibliothek zu Berlin PK
Bereits 1774 veröffentlichte Gleditsch den ersten Band eines zweibändigen Werks über die Forstwissenschaft. Zehn Jahre später würde der Berliner Verleger Friedrich Nicolai in seiner Berliner Chronik berichten, Gleditsch lehre „alle zum Forstwesen nöthige Kenntniß der Bäume, ihrer Pflanzung, Besämung und Kultur“. Er führe seine Zuhörer „in die benachbarten Wälder, um ihnen alles in der Natur zu zeigen.“ 38
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