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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74099-500-3
Dalton hebt langsam die Hand und starrt auf den Streifen, den der Draht an seinem Handgelenk hinterlassen hat.
»Blut!« sagt er dann. Und noch einmal: »Blut!«
So bleibt er stehen, er saugt an der Wunde. Süßlicher Geschmack an seinem Mund.
Und der Blick geht weit über das Tal hinweg. Drüben die Berge, blauschimmernde Felsen, tiefgrüne Baumstreifen – Nadelwald.
»Morgen!« sagt Dalton leise.
Danach saugt er wieder. Er schmeckt sein eigenes Blut und weiß etwas, was außer ihm noch drei Männer wissen. Es hat auch mit Blut zu tun – nur nicht mit Daltons.
»Morgen wird er sterben, der arme Narr!«
Das sagt er und denkt an den Mann, der morgen oder übermorgen sterben wird. Es wird kein Zufall sein, sondern Absicht wie all das, was Dalton hier seit einer halben Stunde macht. Jesse Dalton überläßt dem Schicksal nie etwas – er spielt Schicksal.
Die Stimme verliert sich, der Wind singt am Hügel zwischen Fettholz, Blaugras und einigen kleinen Tannen, die einmal groß werden wollen – groß, wie es der Mann geworden ist, der morgen Dalton und einige Dinge mehr sehen wird. Um danach zu sterben…, ein armer Narr, der ein Spiel nicht kennt, das der Tod selber mit ihm macht.
Der Tod heißt Jesse Dalton, ist groß, hager, sehnig, wendig, schnell – eine furchtbare Kampfmaschine mit einem Revolver.
Dalton schweigt, er blickt nach rechts auf den Pfosten und das Ende Draht. Alles, was Dalton macht, ist wohlüberlegt und paßt immer so genau wie ein Steinchen zum anderen in einem Mosaikspiel.
Mosaikspiel des Todes…
Zwei Stücke Leder – hartes Leder, ein Draht, um den man die Lederstreifen legt. Und dann biegt man, bis der Draht bricht. Dann nimmt man einen Stein, legt den Draht auf den Stein, ein Ende Leder darunter, eins darüber. Und dann macht man ihn gerade und träufelt etwas Schwefelsäure auf die Enden. Danach sieht der Draht wie durchgerostet aus. Der Geruch verliert sich schnell. Keiner wird auf den Gedanken kommen, ein Ende des Drahtes etwa in den Mund zu stecken.
Dalton lächelt nicht. Er lächelt nie, sein Gesicht ist wie eine Maske. Darum nennen ihn einige Leute auch Stoneface-Dalton – Steingesicht.
Unten an der Senke stehen vielleicht sechzig Rinder, als Dalton zu seinem Pferd geht und aufsitzt. Er nimmt das Lasso.
Dann reitet er herunter, kommt über den kargen Boden und hat dicke Lederschuhe unter die Hufe seines Pferdes gebunden. Es sind Stulpschuhe, auf denen ein Pferd vielleicht zehn Meilen laufen kann. Die Eindrücke sind nicht zu sehen.
Dalton blickt sich noch einmal um.
Er ist allein.
Denkt er.
Er ist es nicht – drei Männer liegen auf dem Hügel, sechshundert Schritt zurück. Der in der Mitte ist alt, hat einen graubraunen Bart und hält das Glas vor die Augen. Der Mann ist groß, sicher noch einige Zentimeter größer als Dalton. Und zweimal so breit wie dieser. Dazu auch zweimal so kräftig.
Links neben ihm der zweite, der eine verjüngte Ausgabe des Alten sein könnte.
Und rechts der dritte – schlank, zäh, kleiner, viel kleiner und schwarzhaarig.
»Was macht er jetzt, Dad?«
Der Alte antwortet nicht – genießt das Schauspiel, einen Mann vorsichtig reiten zu sehen. Er starrt durch das Glas und erkennt immer mehr, daß Dalton ein Halunke ist.
»Dad, he, was macht er?«
»Matt, mein Sohn«, sagt der Alte. »wenn du deinen Vater noch mal wie einen Landtramp oder Hund mit ›he‹ anrufst, dann schlage ich dir die Ohren ab, verstanden?«
»Ja, Dad«, sagt Matt gehorsam und wirft dem Alten, der jemand mit der bloßen Faust totschlagen könnte, einen furchtsamen Blick zu.
»Ihr wollt wissen, was er macht? Er hat den Draht so gerichtet, daß es aussehen wird, als sei er durch Zufall zersprungen – oder durchgerostet. Jetzt reitet er hinunter und treibt die Rinder hoch. Teufel, er fängt sie ein, ist das ein Satan, ein ausgekochter!«
Von der Seite her blickt Matt auf den Alten, auf dessen Bart, in den der Wind gefahren ist. Hinter ihm steht Sidney und starrt zu Dalton hin.
Immer ich, denkt Matt, immer wieder ich. Er sagt, ich sei der frechste von allen. Dabei ist Joel zehnmal schlimmer als ich.
Der schreit sogar den Alten an, der wagt es. Das sollte ich mal probieren, totschlagen würde er mich. Er ist grausam, er ist zu hart zu uns allen. Nur zu Benjamin…, weiß der Teufel, warum er den Kleinen Benjamin nannte.
Der Alte sieht zu, wie Dalton zwei Rinder aussondert und beide geschickt einfängt, um sie auf den einen Zaunpfosten zuzujagen. Dalton geht so methodisch vor wie jemand, der bis auf jede Einzelheit einen Plan in seinem Gehirn ausgebrütet hat. Die beiden Stiere rasen in diesem Moment genau auf den Pfosten zu, sehen ihn, wollen nach links schwenken und…
In diesem Augenblick ist Dalton mit unheimlicher Geschicklichkeit an ihrer linken Flanke. Ein scharfer, sausender Hieb mit dem Lasso – genau neben dem Pfosten springt einer der Stiere nach der Seite herum – an den Pfosten!
»Verdammte Klapperschlange! Schlangenbrut!«
»Ich – ich habe nichts getan!« sagt Matt erschrocken.
»Du doch nicht – Dalton meine ich!« knurrt der Alte heiser. »Mein Gott – genau gegen den Pfosten… Der Stier ist gestürzt, steht aber wieder auf. Und der Pfosten liegt umgebrochen am Boden. Dieser Kerl ist nicht zu fassen. Macht erst den Draht entzwei, geht ganz auf sicher – er hat den Pfosten tatsächlich umbrechen lassen und keine Lassospur an ihm gemacht! Und…, ah, jetzt treibt er im Schritt drei, vier Rinder nach links – der läßt sie wandern. Ist das gerissen!«
»Dann hat Joel damals nicht gelogen, der Kerl ist wirklich unheimlich, was, Dad?«
Einen Moment ist der Alte still. Er beobachtet nur Dalton, der mit teuflischer Geschicklichkeit die ersten Rinder am Zaun entlang und dann durch ihn wandern läßt. Es geschieht langsam und muß später aussehen, als wären die Rinder wirklich nur gewandert.
»Hat Joel denn schon mal gelogen, he, Sidney?«
»Er – er ist nicht hier, er kann sich nicht verteidigen, er…«
»Und wenn er noch zehn Jahre im Jail sitzen sollte – ich frage dich, Sidney: Hat dein ältester Bruder gelogen?«
»Ich… ich will nichts Schlechtes über ihn sagen, aber – er lügt immer, er lügt doch immer!«
»Er lügt immer – er lügt immer!« sagt der Alte tonlos. »Und was gefällt dir daran nicht, Sidney?«
»Daß er sich so verstellen kann, Dad. Er würde uns alle verkaufen, er ist schlecht, er ist so schlecht, daß er nicht ehrlich kämpfen kann. Wenn mir einer was macht, dann schlage ich ihm die Zähne gleich ein, aber Joel – Joel würde grinsen und sagen: Vergessen wir den kleinen Streit, wir sind doch Freunde, was? Und wenn der andere sich umdreht, dann schießt er ihn von hinten nieder. Er würde es wie mit Ellison machen, Vater, laß uns diese Sache…«
»Was?« fragt der Alte, und seine Stimme faucht jäh los. »Also – was soll ich in dieser Sache tun? Was willst du – Sidney, ich kenne dich, du kannst keinen angreifen, er hätte dir denn was getan – das ist dein Fehler, Junge, das ist er! Du würdest hingehen, dem Lumpen das Haus anstecken und ihm eine Kugel geben, wenn er nicht innerhalb einer Woche freiwillig verschwunden wäre – ist es so?«
»Ja!« murmelt der Große. »Ich bin dein Sohn, ich werde tun, was du willst, aber es ist nicht ehrlich. Wir holen uns einen Mann, der jemanden anschießen soll…«
Anschießen, denkt der Alte gallebitter, anschießen? Erschießen, Junge! Ein Glück, daß ich es dir nicht gesagt habe. Der Junge ist, wie ich einmal war. Himmel Donnerwetter – Joel lügt, Joel ist eine Natter. Der hat zuviel von seiner Großmutter, einer Yaqui-Indianerin aus Mexiko, im Blut – Joel ist verschlagen, wie ich es sein muß. Das ist es, das einzige, was mich tröstet.
»Ist gut, sei ruhig, Sidney! Und jetzt du, Matt – deine Meinung, Matt?«
Er fragt uns um unsere Meinung, denkt Matt verstört, das macht er sonst niemals, für ihn gibt es keine andere Meinung als seine. Und jetzt will er meine hören? Nachher sage ich was falsch, und er schlägt mich wieder.
»Alles was du machst, ist richtig, Dad!«
Der Alte steht jäh auf und kommt auf ihn zu.
»Was ich tue, das ist immer richtig?« fragt der Alte grollend. »Immer richtig? Es gefällt dir nicht, he, es macht dir keinen Spaß, wie? Du würdest es lieber sehen, wenn wir alle auf diese Burschen in den Tälern losgehen würden – du denkst wie Sidney, aber das sollte ich nicht hören, stimmt es? Du bist feige, du hast nicht ein Viertel von Sidneys Mut.«
»Ohne Joel kann es allein nicht glücken!« sagt Matt furchtsam. »Wir können die Verlierer sein, wir könnten…«
»Verdammter Kerl, drückt sich um eine ehrliche Antwort, er drückt sich einfach.«
Er zieht ihn jäh hoch, reißt ihn mit einer Leichtigkeit auf die Beine und gibt ihm einen so wilden Stoß, daß Matt sieben, acht Schritt rücklings den Hang hinabstolpert, um sich dann liegend wiederzufinden.
»Du bist feige, Matt!« sagt er gallebitter. »Feige, etwas deinem Vater zu sagen, aber nicht feige genug, um einen Krieg anzufangen, wenn du nur Aussicht auf Erfolg hättest. Ohne Joel, meinst du, geht es nicht? Auch mit Joel würden wir verlieren müssen. Neun Small-Rancher, Junge, neun! Und dreizehn, wenn sie ihre Leute mitbringen. Wir sind ganze drei Mann – mit Joel wären wir vier, aber das würden nicht genug sein, niemals. Wir könnten zwei der Burschen erwischen, vielleicht auch drei, dann aber hätten wir zehn gegen uns, zehn mindestens. Jemand hat diese Sache angefangen – jetzt geht sie weiter, wie ich es will. In einem Monat brennt dieses Land. Und bis dahin ist Joel wieder zu Hause!«
»Sie werden Joel niemals vorher entlassen!« sagt Matt würgend und schielt ängstlich zu seinem großen Vater hoch, vor dem sich selbst Sidney duckt, wenn der Alte wütend wird. »Er hat Ellison erschossen, einen Mord konnten sie ihm nicht beweisen, sonst würde er nicht mehr leben, aber die zwei Jahre sitzt er voll ab, täusche dich nicht, Vater, die sitzt er!«
»Du kannst noch weniger denken, als es Sidney jemals konnte. Sidney, kommt Joel heraus – ja oder nein?«
»Ja, der blufft ein ganzes Jail, er lügt so gut wie kein anderer Mensch und kann sich so verstellen, daß man ihn sogar für fromm halten würde. Er kommt heraus!«
»Siehst du!« sagt der Alte grimmig. »So kommt es, Matt, dein Bruder Sidney behält recht. Und nun los – reiten wir nach Hause, der Kerl da unten macht seine Arbeit so gut, daß wir sie niemals besser tun könnten. Laßt Dalton nur machen – kein Mensch wird etwas ahnen!«
»Kein Mensch?«
Der Alte, der schon losgeht, bleibt stehen und dreht sich um. Er sieht Sidney starr an.
»Was wolltest du sagen, Sidney?«
»Vergißt du Dan Kimber absichtlich, Dad?« fragt Sidney gepreßt. »Kimber könnte…«
»Daniel Kimber«, macht der Alte und blickt auf die Berge im Norden. »Daniel Kimber, den sollte ich vergessen? Sidney, es gibt keine Freundschaft mehr zwischen Kimber und…«
»Ich weiß«, murmelt Sidney Dovan. Er wagt es, seinen Vater zu unterbrechen. »Warum ist er damals weggegangen? Und warum hat er sich vor zwei Wochen nicht eingemischt? Vater, ich möchte wissen, ob Daniel Kimber mich schlagen kann!«
Der alte Yank Dovan blickt seinen zweitältesten Sohn durchbohrend an. Dann schüttelt er den Kopf, als wolle er etwas abschütteln.
»Glaubst du, daß du Dan Kimber schlagen könntest, Sidney?«
»Ja, ich würde ihn in den Boden stampfen!«
»Dann glaube es nur weiter, aber fang nie an, wenn du nicht notwendig mußt, Daniel auf die Füße zu treten, mein Sohn!«
»Ich kann ihn mit meinen Fäusten in Stücke schlagen, ich kann jeden Mann auf den Boden bringen, Dad!« erwidert Sidney wild.
»Du bist ein armer Narr!« sagt der alte Dovan, und plötzlich ist offener Spott in seiner Stimme. »Du armer Narr…«
*
»Mein Gott!«
Das ist alles, was Talbot im ersten Moment sagt. Er zieht jäh an den Zügeln. Das Pferd steht – hundert Schritt noch bis zum Zaun, in dem kein Rind mehr ist. Im ersten Augenblick glaubt Talbot, daß Viehdiebe ihm einen Besuch gemacht haben.
Und dann treibt er sein Pferd scharf an.
Talbot hat an diesem Morgen wie jeden vierten Tag seine Runde auf seiner Weide gemacht. Die regelmäßige Kontrolle der Weiden erspart ihm immer eine Menge Ärger, jetzt aber hat er ihn – er kann ihn riechen.
Als er am Zaun ist und den umgebrochenen Pfosten sieht, sucht sein erster Blick nach Lassospuren am Holz. Er sieht vom Sattel aus nichts, steigt ab. Und dann begutachtet er den Pfosten genauer. Sein Blick fällt auf den Draht, das durchbrochene, verrostete Ende, der zweite Blick sucht den Stamm ab, aber er findet nur einige wenige Haare.
Dann erst sucht Talbot nach Pferdespuren. Und findet nicht eine.
»Was, zum Teufel«, sagt er endlich heiser, »sie sind durchgebrochen und auf den Hügel gerannt. Ich will verdammt sein – dahin sind sie, ausgerechnet auf das Land von O’Keefe!«
Einen Moment blickt sich Talbot um. Er kann weit hinten, mehr als siebenhundert Schritt entfernt, die Kuppe des sogenannten Zedernhügels sehen. Und auf dem Hügel drei, vier seiner Rinder, die dort friedlich grasen. Der Hügel gehört, genau wie der Streifen jenseits des Zaunes, zu O’Keefes Hammer-Ranch. Seine Rinder sind sämtlich durch den Zaun und dann auf das Land des alten O’Keefe gekommen.
»Niemand zu sehen!« sagt Talbot heiser und sucht mit seinen Blicken die Wacholderbäume auf dem Hang ab. »Niemand da, vielleicht stecken sie doch… Sie würden mir mein Gesicht demolieren, wie Gamblers demoliert worden ist. Drehe ich um und hole Bill?«
Er erinnert sich jäh und bedrückt an Gambler, einen der Small-Rancher aus dem Nordbecken, dessen Weide an die von O’Keefe grenzt. Vor knapp vierzehn Tagen sind Gambler einige seiner Rinder auf das Land O’Keefes gekommen. Und als Gambler sie holen wollte…
»Arfons, O’Keefes Vormann«, sagt Talbot stockend, »hat ihm mit drei Reitern aufgelauert. Sie haben ihn erst mit einem Lasso wie einen Bullen eingefangen, dann sechs Meilen am Lasso rennen und schließlich ihre Fäuste spüren lassen. Gambler kann heute auf dem einen Auge immer noch nicht sehen. Du großer Gott, das sieht hier so ähnlich aus, was? Hole ich erst Bill?«
Talbot denkt an seinen Bruder Bill, mit dem er zusammen die kleine Ranch betreibt. Hinreiten, das würde anderthalb Stunden dauern, ehe sie beide hier wären. Und der Teufel weiß, wie weit seine Rinder dann getrottet sein könnten. Jenseits der Hügel, mehr im Westen, ist ein kleiner Bach mit einer Wasserstelle. Vielleicht haben Talbots Rinder das Wasser gewittert – vielleicht hat irgend etwas ein paar der Rinder oder einen der Bullen verrückt gemacht, so daß er gegen den Zaunpfosten gerannt ist. Und dann nach drüben. Die anderen wie immer hinterher.
»Niemand zu sehen!« sagt Talbot heiser und sieht sich forschend um. »Na gut – zu weit nach Hause, sehen wir uns es an, aber vorsichtig, was? Wenn sie mir etwa eine Falle stellen wollen…«
Er lächelt einen Moment grimmig. Talbot ist ein guter Schütze und kaltblütig genug, sich den besten Weg auf das Land seines Nachbarn auszusuchen. Er nimmt hastig sein Pferd herum, dann treibt er es am Zaun entlang nach Westen. Talbot ist kein Narr, der geradewegs auf einen Hügel zureitet, hinter dem sonst etwas stecken kann.
Im kurzen Bogen vom Zaun weg lenkend, reißt Talbot am Ende der eingezäunten Weide sein Pferd herum. Und dann fegt er haargenau auf den Zaun zu. Ein Ruck, ein Prusten, das Pferd springt über den Draht hinweg.
John Talbot ist drüben und jagt auf die Westseite des Hügels zu.
»Irrt euch nur nicht!« sagt er, als er über den Ausläufer des Hügels kommt. »Nicht mit mir – ich heiße nicht Gambler, was? Sieh mal einer an…«
Er hält, er kann das andere Tal einblicken. Weit hinten, mehr denn achthundert Schritt entfernt, ist die Wasserstelle. Sie liegt mitten im Tal, ein Loch, das seine Rinder angezogen hat wie ein Magnet. Von der Wasserstelle bis zum nächsten Hügel sind es vierhundert Schritte – zu weit für einen sicheren Gewehrschuß. Obwohl Talbot jetzt das Gefühl der Sicherheit haben müßte – er bleibt vorsichtig wie ein einsamer Wolf.
Talbot hat zwölf Jahre lang jeden Cent gespart – wie sein Bruder – bis er den Grundstock zu einer kleinen Herde legen konnte. Sie haben jetzt etwa dreihundertsechzig Rinder beisammen. Und da sie beide bescheiden sind, sich zwei Schweine halten, dazu Hühner, und auch ein kleines Stück Land mit Getreide bestellen, so kommen sie mit wenig Geld aus.
John Talbot jagt im weiten Bogen nach links. Dabei achtet er auf alles, er sieht nach dem Boden, forscht nach Hufspuren, hält aber gleichzeitig sein Augenmerk auf den Hügel gerichtet. Um ihn schlägt Talbot einen Kreis.
Und er findet nicht eine Spur.
Als er auf seine Rinder zureitet, weiß er eins sicher: Hier ist keiner geritten. Und es kann kein Mensch hier sein!
»Ihr verdammten Biester, wenn O’Keefe das Loch im Zaun und zufällig die Spuren sieht, dann wird er ohnehin wild«, stellt Talbot fest und treibt die Rinder mit schrillen Rufen von der Wasserstelle weg und durch das Tal. Noch sechshundert Schritt, dann wird Talbot die Rinder wieder durch den Zaun gejagt haben. Sechshundert Schritt – niemand zu sehen – und der Zaun vor Talbot.
In dem Moment, in dem sich Talbot nach Westen umsieht, taucht der Mann etwa tausend Schritt entfernt am Hügelrand der Westseite von O’Keefes Weide auf.
Der Mann reitet nicht schnell, er kommt gerade über die Kuppe und pariert sein Pferd. Dann legt er die Hand über die Augen, bleibt einen Augenblick auf dem Hügel und treibt dann sein Pferd wieder an. Er kommt jetzt rasch näher.
»Verdammte Sache, der reitet die Weidegrenze ab!« sagt Talbot bissig. »Muß der mich entdecken? Teufel, er wird schneller, der treibt das Pferd hart am Zaun entlang und will mir den Weg abschneiden. Wer ist das? Sieht aus wie Arfons, das könnte Arfons sein! Los, lauft, lauft!«
Er schwingt hastig sein Lasso, schreit schrill, jagt die Rinder jetzt wild brüllend an und weiß doch, daß er nicht schnell genug sein kann, um mit ihnen durch den Zaun zu kommen, ehe ihn der Reiter erreicht haben wird.
Der Mann, der wie Art Arfons, O’Keefes eisenharter Vormann, im Sattel sitzt, reißt die Waffe hoch.
Noch gut sechshundert Schritte entfernt brüllt sein Gewehr.
Die Kugel surrt hoch und etwas links hinter Talbot durch die Luft. »Mann!« flucht Talbot.
»Verdammt, was fängst du an zu schießen? Dir werde ich…«
Das Gewehr, das Talbot an den Sattel gesteckt hat, rutscht aus dem Scabbard. In der nächsten Sekunde dreht sich Talbot im Sattel, die Waffe fliegt hoch.
Und dann zielt er kurz.
Der Mann reißt sein Pferd im Aufblitzen der Waffe scharf nach rechts.
Und genau daran erkennt Talbot, daß dieser Mann niemals Arfons sein kann. Arfons würde stur auf ihn zuhalten – der Mann aber jagt sein Pferd zwei, drei Schritt zur Seite. Es geschieht blitzschnell und gekonnt.
»Lauft doch, lauft!« brüllt Talbot heiser. »Der Bursche, der verfluchte Kerl, kann der reiten! Da – er schießt!«
Talbot duckt sich instinktiv – und das ist sein Glück. Haarscharf über ihn hinweg faucht die Kugel. Wäre er im Sattel geblieben – die Kugel würde ihn erwischt haben.
»Das kann doch… Das ist Zufall!« sagt Talbot verstört. »So genau kann niemand…«
Er hat den Satz noch nicht vollendet, als der nächste Schuß kommt. Sie trifft das Pferd und läßt es schrill wiehernd steigen. Jedoch kann die Kugel nur gestreift haben. Bockend, wie irr springend, bricht der Gaul Talbots nach der Seite aus.
Verzweifelt bemüht sich Talbot, das Pferd unter Kontrolle zu bekommen, um die Hände für das Gewehr frei zu haben. Da kracht der nächste Schuß.
Und dann kommt der Anprall der Kugel!
Talbots rechte Seite wird jäh von einem Schlag getroffen. Eine Sekunde schwankt Talbot im Sattel, dann verliert Talbot den Halt und fällt vom Pferd.
Im Fallen erkennt er voller Furcht, daß der Mann, der auf ihn zurast, ein eiskalter Bursche sein muß.
»Mein Gott, mein Gott«, sagt Talbot tonlos, als er sich hochstemmt, »den kenne ich nicht, der gehört zu O’Keefes Leuten, aber er muß erst kürzlich…«
Mit einem verzweifelten Ruck, am Boden kniend, nimmt Talbot das Gewehr hoch.
»Der Mann – das ist ein Revolvermann!« sagt Talbot stammelnd.
»O’Keefe hat sich einen Schießer geholt!«
Er schießt jetzt, aber vorbei.
Von wilder Panik erfaßt, kommt Talbot hoch. Während er stolpernd auf sein jetzt ruhiger hinter den Rindern laufendes Pferd zuzurennen versucht, knallt wieder ein Schuß.
John Talbot knickt plötzlich ein, seine Beine geben nach.
Talbot liegt ganz still. Er spürt die Sonne warm auf seiner Haut, er hört das Muhen der Rinder, den Hufschlag des Pferdes.
Hufschlag direkt neben ihm. Er hat das Gras vor seinem Gesicht, das Gras wie ein Sieb aus tausend kleinen, verschwommen wirkenden Schleiern, das sich im Morgenwind bewegt.
Und durch den Schleier sieht er den Mann, der dicht neben ihm hält. Talbot blickt mit flatternden Lidern auf das Gewehr, das genau auf ihn deutet, auf die Hand, die es hält.
Und dann in das steinerne Gesicht eines Mannes, den er nie vorher in seinem Leben gesehen hat.
Er sieht einen dünnen, zusammengekniffenen Mund – Augen von graublauer Farbe.
Das Gesicht ist knochig, die Haut sieht wie gegerbt aus. Die Augen scheinen nicht zu leben.
Tote Augen in einem Gesicht aus Stein.
Jesse Dalton, das Steingesicht, blickt auf John Talbot hinab.
Und dann sagt er:
»Du armer Narr!«
Dies ist das letzte, das Talbot noch hört.
Danach verschwimmt alles vor seinen Augen.
Jesse Dalton, der Mann, der aus Stein zu sein scheint, nimmt die Hand langsam hoch und greift in die Brusttasche. Einen Moment wiegt er den kleinen Lederbeutel in seiner Hand. Dann steigt er ab. Er nähert sich Talbot jetzt von links, läßt sein Pferd aber erst los, als er genau neben dem Busch ist, dessen Zweige Talbot noch berühren. Dann beugt er sich vor, blickt auf den Beutel, den er aufzieht.
Vierzig Dollar in Scheinen und einige in Hartgeld in diesem Beutel. Zwei Knöpfe, in billiger Nagelreiniger mit Schere und eine Rechnung – zusammengeknüllt wie das andere Stück Papier, auf dem ein paar Zeilen stehen, sinnlos hingekritzelt irgendwelche verrückten Zahlen und… die Adresse eines Mannes auf dem Umschlag eines Briefes, von dem nur noch ein Teil vorhanden ist.
Es sieht aus, als habe dieser Umschlag jemandem, der etwas ausrechnen wollte, gehört. Es ist auch nur die eine Hälfte da – ohne Stempel – nur mit der Adresse. Schräg durchgerissenes Papier! Man kann noch »Mister« lesen – und die Adresse auch nicht ganz.
»O’Keefe« jedoch – das steht dort. Und jeder wird es lesen können.
In den Fischaugen rührt sich nichts, obwohl die Gedanken Jesse Daltons arbeiten.
Noch niemals hat Jesse Dalton achtlos auch nur einen Cent vergeudet oder gar weggeworfen. Jetzt wird er dreiundvierzig Dollar und einundsiebzig Cent fallen lassen.
Er sieht auf seine Hand – der Beutel fällt zwischen die Zweige des Busches.
Dann macht Jesse Dalton einen Schritt. Äste knacken, brechen entzwei.
Es sieht aus, als habe jemand, der sich Talbot näherte, einen hastigen Schritt gemacht und sei in den Busch getreten, um dann sein Pferd weiterzuziehen und sich zu entfernen.
Stiefelabdrücke im Boden zwischen dem Gras – die Spur, die jemand beim Aufsitzen hinterläßt.
Dann geht das Pferd an – genau auf den Weg viereinhalb Meilen weiter im Süden zu.
Der Weg läuft von Süd nach West und führt zu zwei Ranches. Auf dem Weg gibt es hundert Fährten – alte und neue.
»Du armer Narr«, sagt er, als er fort ist und sein Schatten nicht mehr über das Land fällt, auf dem Talbot gestorben ist. »Du armer Narr.«
*
Die Augen, denkt Arfons, als er Baldwin anstößt und Talbot in den Saloon kommt – der sieht aus, als wolle er mich umbringen!
Baldwin, der neben Art Arfons am Tresen steht, wendet sich langsam um.
In der Tür steht Talbot, den massigen Kopf vorgestreckt, die dunklen Augen halb von den Lidern verdeckt.
Talbot sagt kein Wort. Er starrt Art Arfons, der jetzt zweiundvierzig Jahre alt und immer noch so zäh wie ein Zwanzigjähriger ist, nur einmal an. Dann wandert sein Blick durch den Saloon und bleibt auf Balmont, dem Saloonbesitzer, liegen.
Er hat immer noch den gleichen Ausdruck im Gesicht, als er sich mit eckigen, seltsam steifen Bewegungen dem Tresen nähert.
»Hallo«, sagt Bill Talbot, als er einen Schritt von Baldwin entfernt am Tresen stehenbleibt. »Hallo, Balmont, hast du den Sheriff gesehen?«
»Der Sheriff, suchst du ihn?« fragt er und blickt von seiner Liste hoch, in die er seinen Whiskybedarf eintragen will, um am Nachmittag die Bestellung zu machen. »Clay ist heute früh weggeritten, er sagte, wann er wiederkäme, wüßte er nicht genau, es könnte aber Abend werden.«
»So?« fragt Talbot langsam. »Dann kommt er nicht vor dem Abend? Muß auf ihn warten und…«
Und dann passiert es auch schon.
Es kommt ohne jede Warnung und Vorankündigung auf Baldwin herabgeschossen.
Talbot redet noch, als er langsam die rechte Hand zur Faust ballt.
In der nächsten Sekunde sieht er, daß Baldwin nach seinem Glas greift und es anhebt.
Und da dreht sich der schwere Talbot jäh herum und fegt die rechte Faust heraus.
Talbots schwielige, große Faust fegt von unten herauf auf Baldwin zu. Der Schlag sitzt so hart, daß Baldwin einen Moment nichts als Feuer vor den Augen sieht. Das Glas, das Baldwin erhoben hat, fliegt wieder auf die Platte zurück.
Und dann kommt auch schon der zweite Hieb.
Der Hieb ist so hart, daß Baldwin nach dem Feuerwerk nichts als einen dunklen Krater sieht. Und dann stürzt er in die bodenlose Tiefe weg.
Talbot aber holt schon wieder aus. Und sagt in das lähmende Schweigen im Saloon hinein keuchend:
»Ihr verdammten Mörder, ich schlage euch tot! Arfons, jetzt lernst du die Hölle kennen!«
Bei seinen Worten prallt Baldwin auf Arfons und bringt den Vormann der O’Keefes, der sich erschrocken drehen will, rücklings zum Torkeln. Einen Moment nur ist Art Arfons wie vom Donner gerührt über den jähen Angriff, der ohne jede Vorbereitung kommt. Er hat Talbot, einem der besonnensten, ruhigsten Small-Rancher und ihrem Sprecher, niemals zugetraut, aus heiterem Himmel etwas anzufangen.
Art kann noch den linken Arm herumnehmen, Baldwin wegstoßen, aber dann sieht er Talbot auch schon springen. Talbots massige Gestalt fliegt auf ihn zu. Bill Talbots Faust ist wie ein Rammbock, der Arfons’ rechte Schulter erwischt und Arfons zu einer Pirouette bringt.
»Du Mörder, ich schlage dich tot!«
Hinter dem Tresen duckt sich Balmont vor Schreck. Aus aufgerissenen Augen sieht er, wie Baldwin am Tresen herabrutscht, und hört ihn schwer zu Boden krachen.
»Nein!« keucht Balmont schrill. »Nein, nicht hier, nicht in meinem Saloon! Talbot!«
Es ist umsonst, und es ist sinnlos für die anderen beiden Männer der
O’Keefe-Ranch, die hinten in der Ecke gehockt haben, jetzt einzugreifen.
Talbot ist bereits an seinem Mann und knallt ihm seine große, schwielige Faust auf das linke Ohr. Einen Augenblick hört Arfons in seinem Kopf ein ganzes Posaunenorchester. Er prallt gegen die Wand und läßt sich einknickend rutschen, aber da streift ihn Talbots Linke noch am Brustbein, rutscht ab und steckt einen Moment unter seinem Hals.
»Du verdammter Mörder!« keucht Talbot und schlägt mit der Rechten nach. »Du verfluchter, schmutziger Halunke, du Gehilfe eines Mörders – ich bringe dich um!«
Dann prallt seine rechte Faust auf Arfons’ Kopf.
Arfons stürzt auf Hände und Knie. Wie durch dicke Vorhänge hört er undeutlich jemanden schreien und versteht nicht mehr als:
»Jeff, schnell!«
Jeff Dillon, der dritte Mann der O’Keefe-Ranch, springt jetzt los. Vor seinen entsetzten Augen sinkt Baldwin zusammen, gleich darauf fällt auch der Vormann auf Hände und Knie, und Talbot, der Art Arfons einen Mörder nennt, greift mit beiden Händen zu.
Neben Dillon kommt der vierte Mann der O’Keefes – Glempy – mit zwei, drei Sätzen durch den Raum geflogen. Sie stürzen beide auf Talbot zu. Balmonts heiseres Schreien dringt hinter dem Tresen hervor und versucht Frieden zu machen.
»Hört auf, hört auf, macht es draußen, aber nicht hier drin! Ihr zerschlagt mir alles!«
Er schreit ganz umsonst.
In dieser Sekunde haben Talbots große Hände Arfons’ Weste und dessen Hosenriemen erwischt. Talbot dreht sich mit ungeheurer Schnelligkeit einmal um sich selbst. Dabei reißt er Arfons vom Boden hoch.
Talbot sieht genau, daß Jeff Dillon und Glempy dicht nebeneinander auf ihn zurennen.
Und dann schleudert er Arfons weg, der zu benommen ist, um auch nur eine Hand zu rühren.
Glempy, etwas schneller als Dillon, springt noch hoch. Dillon aber wird von seinem Vormann umgerissen und fliegt im nächsten Moment auf den Boden.
»Ihr schmutzigen Banditen!«
Das ist alles, was Talbot sagt. Dann weicht er mit einem Schritt zur Seite aus. Und dann fegt seine Hand flach herum – Glempy entgegen. Die Hand erwischt Glempy und krallt sich in sein Hemd.
»Ich bringe euch alle um, ihr Mörder!«
Mein Gott, denkt Glempy, als der Stoff des Hemdes unter dem wilden Ruck, mit dem ihn Talbot herumzerrt, reißt. Mein Gott, ich bin doch kein Mörder, ich habe doch niemand…
Und dann sieht er Talbots linke Faust angeschossen kommen. Sie knallt ihm an den Kopf.
Und während er wie ein hilfloser Spielball auf den Tresen zufliegt, setzt ihm Talbot bereits nach.
Die Tür des Saloons aber fliegt auf. Mit einem Riesensatz sprengt Taylor, der Nachbar der Talbots, auf Dillon zu.
Dillon will gerade hoch, als Taylor hereinkommt. Der Small-Rancher zieht nur die Beine an. Er führt einen regelrechten Sprung aus, seine Beine sind vorgestreckt und stoßen Dillon in die Seite. Nach diesem Stoß liegt Dilion bereits wieder am Boden. Als er sich herumdreht, sieht er noch, wie durch die Tür zwei, drei andere Small-Rancher hereinstürmen. Dann erwischt ihn Taylor am linken Bein. Ein Ruck, Dillon fliegt herum, er schießt auf die anderen Klein-Rancher zu, die sich wie Riesenvögel auf ihn stürzen. Drei, vier schwere Körper liegen jäh auf ihm. Und dann prügeln sie brüllend auf ihn ein.
Jeff Dillon geht unter.
Am Tresen aber will Glempy wegtauchen und wird von Talbots rechter Faust wieder hochgeschleudert.
»Dillon – Jeff, hilf mir, hilf…«
Glempy wiegt keine hundertzwanzig Pfund. Und ist er auch schnell, für Talbot reicht diese Schnelligkeit nicht aus. Er nimmt die Rechte, dann die Linke, wird hart getroffen und schwankt torkelnd, als Talbot ihn noch einmal erwischt.
Irgendwo am Boden stößt Dillon ein schreckliches, schrilles Geheul aus. Glempy hört nichts als diese heiseren, überkippenden Schreie und sieht dann noch einmal Talbots Faust. Danach sieht er gar nichts mehr.
Talbot aber wirbelt schon wieder herum. Er hat sich immer zurückgehalten und niemals etwas Unrechtes getan, um ja seine Ruhe zu haben.
Jetzt sieht er, wie sich Arfons benommen unter einen Tisch zu schieben versucht. Mit drei, vier langen Sätzen ist Talbot quer durch den Raum. Dann packt er Arfons erneut, reißt ihn unter dem Tisch hervor und stellt ihn auf die Beine. Art Arfons, sonst jedem harten Kampf gewachsen, kann kaum stehen. Er hängt an Talbots Armen, wird gegen den Tresen geschoben.
Und dann sagt Talbot in das Keuchen der Männer hinein, die Dillon vom Boden hochreißen:
»Du hast meinen Bruder genauso auf dem Gewissen wie dein schurkischer Boß, du Lump. Und jetzt wirst du für seinen Tod bezahlen!«
Hinter dem Tresen erstarrt Balmont. Er hat jetzt seinen Revolver gefunden, bleibt aber kauernd vor der herausgerissenen Schublade sitzen.
Was – was, denkt Balmont entsetzt, John Talbot ist tot? John Talbot sollte… Allmächtiger, wenn das wahr ist, dann… Es ist wahr, er weiß es, es gibt keinen Zweifel. Der sonst so ruhige Billy Talbot würde nie explodiert sein – nicht auf diese wilde, rauhe Art.
»Ihr habt ihn umgebracht!« sagt Talbot, gurgelnd vor Zorn, und schüttelt Arfons hin und her. »Erschossen habt ihr ihn – und du bezahlst es, du wirst bezahlen wie alle anderen. Jetzt habt ihr euren Krieg!«
In der nächsten Sekunde schmettert ihm Talbot die Faust an das Kinn. Arfons wird hochgeschleudert, er rutscht halb auf die Tresenplatte. Und als er jetzt endgültig nicht mehr weiß, was eigentlich vorgeht, dreht sich Talbot und läßt ihn auf die anderen Klein-Rancher zufliegen.
»Raus – bringt die Halunken auf die Straße, oder ich bringe sie alle um!« sagt Talbot – mitten in Balmonts erstarrtes bleiches Gesicht blickend. »Diese Teufel, sie haben meinen einzigen Bruder erschossen. Hörst du, Balmont, sie haben John erschossen. Am frühen Morgen haben sie ihn… Und ich bin draußen, ich miste den Stall aus, ich höre Schüsse. Unsere Weide, denke ich noch, da muß doch John jetzt sein, da muß er doch…«
Er starrt Balmont mit einem fast irren Ausdruck seiner Augen an und schüttelt immer wieder den Kopf.
»Deinen Bruder… Billy, wo?«
»Auf seinem Land, auf O’Keefes Land!« stammelt Talbot verzweifelt und würgt schwer. »Ich höre die Schüsse, verstehst du, Balmont, da denke ich an John und nehme mein Pferd. Bin so unruhig, will nachsehen. Und finde den Zaun entzwei. Unsere Rinder stehen auf O’Keefes Streifen – nicht weit von der Wasserstelle, verstehst du, Balmont? Da liegt er, und… das finde ich! Das hier…«
Seine Hand fährt in die Tasche, er hebt etwas hoch, einen gebrauchten Lederbeutel.
»Muß einer der Halunken verloren haben!« sagt er tonlos. »Er lag genau neben John in einem Busch. Hat einer verloren und es noch nicht bemerkt, ich bin wohl zu schnell dort gewesen. Da ist ein Stück von einem Umschlag – da ist auch Geld drin, über vierzig Dollar… Siehst du das…, kannst du das lesen, Balmont?«
Und hält ihm den Rest des Umschlages unter die Nase.
»Nein!« sagt Balmont keuchend, als er den Namen gelesen hat. »Billy, Mann – das ist doch… Der alte Rod… Das Stück Papier, der Umschlag…«
»Was ist mit dem Umschlag, Balmont, was ist mit ihm?« fragt Talbot stockheiser.
»Der – der Fremde, der Mann, der vor drei Tagen hier war…, als er aß – da hatte er den Umschlag hier. Neben ihm lag der Umschlag auf dem Tisch – es ist derselbe Umschlag. Der Mann fragte nach dem Weg zur O’Keefe-Ranch.«
»Der Bursche, der wie ein Revolvermann aussah?« keucht Talbot.
»Ja – ja, ich bin ganz sicher, ich kann es schwören. Er hat nach dem Weg gefragt. Und der Umschlag lag neben ihm auf dem Tisch. Mein Gott, der Geldbeutel, er bezahlte aus diesem… Das ist ja auch der Geldbeutel. Ist da eine Nagelschere…«
»Die hier?«
»Ja, so sah die auch aus. Er suchte nach Kleingeld, da sah ich die Schere… Old Rod hat ihn geholt, Old Rod…«
»Was ist?« fragt Talbot, und die Wut kommt wieder. »Gefällt es dir nicht, daß O’Keefe der Lump gewesen ist? Hast du Angst vor ihm, denkst du an sein Geld, daran, daß er eine große Mannschaft hat und dich fertigmachen kann, wenn du das sagst, was du gerade erzählt hast? Balmont, hier sind Zeugen – ihr habt es alle gehört. Balmont, willst du jetzt kneifen?«
»Kneifen – ich? Billy, ich kann doch nicht mehr als die Wahrheit sagen. Und das ist sie – ich habe den Mann gesehen. Nur…, daß Rodney O’Keefe es nötig haben sollte… Er hat doch seine harte Mannschaft!«
»Hart?« knurrt Talbot bissig. »Wo ist sie hart? Sieh dich nur um – wo ist sie denn hart? Ich werde ihn besuchen, ich werde ihm die Pest an den Hals schicken. Ich sage, er hat den Zaun zerstören lassen, um die Rinder auf sein Gebiet zu locken und einen von uns Brüdern auf seinem Land zu sehen! Was hat er mit Gambler gemacht, hat er ihn nicht völlig zerschlagen lassen? Und hat er nicht gedroht, in Zukunft jeden Small-Rancher zu erschießen, der sich auf sein Land trauen würde? Hat er das nicht gesagt?«
»Mein Gott, er redet doch immer so wild.«
»Balmont«, erwidert Talbot fauchend.
»Er war früher ein Raubrancher. Dieser Schurke ändert sich niemals. Er hat meinen Bruder erschießen lassen!«
»Spuren – wer war es, weißt du es?«
»Ich weiß nicht, ich habe nicht nach Spuren gesehen, ich habe nur John sehen können und keinen anderen Gedanken gehabt, als ihn zur Stadt zum Sheriff zu bringen. Balmont, ich werde diesen alten, hinterlistigen Schuft besuchen, ich werde ihm zeigen, wohin er gehört… Taylor, was ist?«
Auf der Straße haben sich Leute zusammengerottet. Das Geschrei hat die Nachmittagsruhe jäh zerrissen und überall die Leute vor die Häuser treten lassen. Niemand rührt sich, als der erste Mann der O’Keefe-Ranch im Bogen aus der Tür fliegt. Schweigend bildet die Menge einen Halbkreis und sieht zu, wie Proctin, ein Small-Rancher und der Schwager jenes Gamblers, den vor vierzehn Tagen O’Keefes Reiter zusammenschlugen, Jeff Dillon den Revolver abnimmt. Danach saust der zweite Mann heraus, er überschlägt sich, landet im Staub. Es ist Glempy, der Spaßmacher der O’Keefe-Ranch. Jetzt macht er keinen Spaß mehr.
Als Taylor, Talbots Nachbar, den Vormann O’Keefes aus dem Saloon schleift, wird die Stille vollkommen. Jeder weiß, wie groß und mächtig Art Arfons sonst im Sattel sitzt. Er, die rechte Hand Rodney O’Keefes, landet genau wie die anderen auf der Straße und bleibt liegen.
Irgendwo in der Menge drängt sich jemand durch. Der Mann ist klein, hat ein faltiges, listiges Gesicht und arbeitet die meiste Zeit nicht. Was Danny, so heißt der kleine, verschlagene Bursche, eigentlich macht und wovon er lebt, weiß keiner so recht.
Danny schiebt sich auf den Vorbau. Und sagt zischend:
»Taylor, ihr habt euch die falschen Burschen ausgesucht. Der Boß sitzt in der Bank.«
»Was, O’Keefe ist… Mann, Danny, bist du sicher?«
»Würd’ ich sonst was sagen?« nuschelt Danny. »Is’ wahr, ha’m se Johnny Taylor ’ne Kugel verpaßt, die widerlichen Halunken, die?«
»Ja, sie haben ihn einfach erschossen«, antwortet Taylor leise.
»Der hat ’ne weiße Weste«, nuschelt Danny, als Taylor die Tür aufstößt. »Is’ kein Fleck an ihr zu finden, sag ich dir. Beweisen konnt’ noch nie einer dem O’Keefe was. Dabei is’ er ’a gemeiner Wolf, is’ er!«
Taylor stürmt in den Saloon, sieht Talbot scharf an und sagt im nächsten Moment:
»Billy, Rodney O’Keefe, der alte Halunke, soll in der Bank stecken!«
»Waas?«
Talbot wirbelt herum. Im nächsten Augenblick steckt er Zettel und Geldbeutel ein. In seinen Augen lodert wilder Haß auf den Mann, der seinen Bruder erschießen ließ.
»In der Bank!« sagt Talbot keuchend. »Er ist in der Bank? Dann soll ihn der Teufel holen, ich schieße ihn über den Haufen!«
Und dann stampft der schwere, massige Mann aus der Tür.
Bei seinem Anblick verstummen die leisen Reden, die draußen nach Taylors Verschwinden aufgekommen sind. Jeder Mann, der in Talbots Gesicht sieht, erkennt den zornigen Willen, bis ganz zuletzt auf dem Weg weiterzugehen, den Talbot einmal eingeschlagen hat.
Es riecht für jeden nach einer Schießerei.
»Proctin!« sagt Talbot fauchend. »Proctin, nimm dein Gewehr und achte auf diese Halunken. Und will einer etwas versuchen, dann gib ihm eine Kugel. Ich werde jetzt zur Bank gehen und diesen Mörder O’Keefe herausrufen. Und dann werde ich ihn genauso über den Haufen schießen, wie er meinen Bruder John erschießen ließ!«
Danach tritt er vom Gehsteig.
Talbot geht mitten auf der Straße. Hinter ihm fünf, sechs der anderen Small-Rancher.
Achtzig Schritt bis zum Hof des Sheriffsoffice, in dem die Pferde der kleinen Rancher stehen – und ein Pferd, auf dem John Talbot unter einer Decke liegt.
Billy Talbot geht auf den Hof zu. Dann holt er ein Pferd und nimmt es am Zügel.
Ist Talbot vorhin durch die Nebenstraße zum Office geritten – jetzt führt er das Pferd, auf dem sein Bruder liegt, mitten auf der Mainstreet zur Bank.
Er wird O’Keefe erschießen, Rodney Horace O’Keefe, einen rothaarigen Irensohn – den großen alten Mann dieses Landes, der immer noch die größte Macht hier verkörpert.
Rodney Horace O’Keefe war einer der ersten Männer hier. Ohne ihn würde es diese Stadt wahrscheinlich nicht geben. Soviel weiß jeder, O’Keefe ist ein großer Mann, auch wenn er hart und rauh gewesen sein mag, um seine Ziele durchzusetzen. Bis heute hat kein Mensch geglaubt, daß es jemals einer der Small-Rancher wagen würde, gegen eine fünfzehn Mann starke Mannschaft aus rauhbeinigen Reitern mit einem noch wilderen Boß an der Spitze vorzugehen.
Von dieser Mannschaft liegen der Vormann und drei Reiter, in weniger als einer Minute ausgetrickst, mitten auf der Straße.
Rodney Horace O’Keefe, der alte König dieses Landes, ist in der Bank.
Dorthin geht ein Mann und führt das Pferd hinter sich, auf dem sein erschossener Bruder liegt.
Der Mann heißt William Talbot.
*
»Mister O’Keefe – Mister O’Keefe!«
Der Mann, der die Tür zum Zimmer des Bankdirektors aufgerissen hat, ist kreidebleich.
Hinter seinem Tisch hebt Wilson, Direktor der Midland-Bank, hastig den Kopf.
»Butch, wer, zum Teufel, hat dir erlaubt…«