Gregor Taxacher
Apokalyptische Vernunft
Das biblische Geschichtsdenken und seine Konsequenzen
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ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-534-23547-6
© 2010 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
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Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart
Einbandabbildung: Ausbruch des Vesuv, Gemälde von Michael Wutky (1739-1822), um 1800, ©
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akg-images/Erich Lessing
eBook ISBN 978-3-534-70940-3 (epub)
Als epub veröffentlicht 2010.
www.wbg-wissenverbindet.de
KAPITEL1 OFFENBARUNG UND ENDE Heute die biblische Geschichte deuten
Religiöse und säkulare Apokalyptik
Apokalyptisch: Offenbarung und Geschichte
Apokalyptische Vernunft denkt Gott eschatologisch
Biblische Vernunft
Die Bibel analysieren
Welche Bibel analysieren?
KAPITEL2 GEGENWARTSDEUTUNG IN ISRAEL Prophetie und prophetische Theologie
Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft im Erzählen
Prophetie: Theologische Qualifikation der Gegenwart
Prophetische Theologie als geschichtstheologische Reflexion
Schriften am Ursprung apokalyptischer Vernunft
KAPITEL3 GESCHICHTSSCHREIBUNG GEGEN SICH SELBST Die Erinnerung der Deuteronomisten
Die deuteronomistische Bibel-Redaktion
Kritische Erinnerung
Geschichtstheologie durch Spurensuche
Universale Aussicht
KAPITEL4 GOTTES GESCHICHTE UNIVERSAL Die Apokalyptik
Das Unheil der Welt und Gottes Heil
Zarathustra und die Apokalyptiker
Die Geschichte und ihr Ende
Gegenprobe: Die Weisheit
Jüdische und christliche Lesart des ersten Testaments
KAPITEL5 ZWEI PROPHETEN – ZWEI END-ZEITEN Johannes der Täufer und Jesus
Zwei Wege trennen sich
Eschatologische Erfahrung in der Gegenwart
Ungeliebte Apokalyptik in der Jesus-Forschung
Eine Offenbarung an den Täufer-Schüler
Jesus als Zeuge letzter Dinge
KAPITEL6 EINE GESCHICHTE FÜR ALLE GESCHICHTE Das Pascha Jesu
Auf Jesus zurückkommen
Paradoxe Verifikation
Eine Geschichte als großes Welttheater
Gottes Verheißung in Jesus
Jesu Geschichte für uns
KAPITEL7 ENDZEITLICHE EXEGESE Apokalyptische Vernunft im Urchristentum
Folien-Hermeneutik
Neutestamentliche Deuteronomistik
Neutestamentliche Apokalyptik
Neutestamentliche Weisheit
KAPITEL8 VERDRÄNGTE APOKALYPTIK Geschichte und Endzeit im Christentum
Verewigtes Ende
Hoffnung nur für Tote
Wiederentdeckung materieller Hoffnung
Geschichtstheologie der Macht
Heilsgeschichte und Ungenügen
KAPITEL9 GLOBALISIERTE APOKALYPTIK Christentum und Neuzeit
Kreuzzüge
Columbus
Pietisten und Puritaner
Die Löwith-Blumenberg-Kontroverse
KAPITEL 10 APOKALYPTISCHE VERNUNFT Theologie und Geschichte heute
Keine anachronistische Theologie
Apokalyptische Vernunft als Unterscheidung apokalyptischer Geister
Wiederentdeckung des Gerichts
Theologie deuteronomistisch, apokalyptisch, weisheitlich
Literatur
Fußnoten
Zwei Erfahrungen haben das Bild der Geschichte in der Moderne geprägt. Zunächst: Wir können Geschichte machen! Dann: Wir können unserer Geschichte selbst ein Ende machen! Die erste Erfahrung prägte das 19. Jahrhundert. Die zweite wurde zur Entdeckung des 20. Jahrhunderts. Beide zusammen sind unser Erbe im 21. Jahrhundert. Durch beide stehen wir in einem eigenartig dialektischen Verhältnis zum Geschichtsbild des biblischen Glaubens. Wir haben dessen apokalyptische „Neigung“ unfreiwillig wiederentdeckt. Aber wir blicken einer säkularen Apokalypse ins Auge, im Vergleich zu der die überlieferte Apokalyptik mythologisch wirken muss.
Das lässt sich im Rückblick auf die Vor-Moderne verdeutlichen: Als das Christentum seine erste Jahrtausendwende erlebte, machten sich in Europa von Weltuntergangsstimmung und apokalyptischer Frömmigkeit geprägte religiöse Bewegungen breit, über deren Ausmaß und Resonanz die Historiker heute streiten. Für die einen ist der „religiöse Vorstellungskomplex, der sich um die Schrecken und Hoffnungen des Jahres eintausend scharte“, ein Auftakt der Krisen und apokalyptischen Wellen, welche „die folgenden fünf Jahrhunderte charakterisierten“ – das europäische Mittelalter also. Für andere spielte dieses Datum bei weitem nicht die herausgehobene Rolle im Haushalt mittelalterlicher Weltuntergangssorgen, die ihr erst im Nachhinein zugeschrieben wurde. „Viele andere nach ihm prophezeiten mit den Weherufen über die Plagen ihrer Zeit das nahe Weltende. Chiliasten und Endzeitpropheten gab es … zu allen Zeiten!“1
Wie auch immer die Bedeutung der christlichen Millenniums-Apokalyptik einzuschätzen ist, wie sehr sie durch politische und soziale Verhältnisse mitbedingt war, es handelte sich jedenfalls um ein religiöses Phänomen. Aus heutiger Sicht war diese Religiosität irrational, vergleichbar mit den Endzeitansagen moderner Sekten, für und gegen die sich schlecht argumentieren lässt, die aber regelmäßig dadurch widerlegt werden, dass das gesetzte Datum verstreicht und die Menschheitsgeschichte weiter geht.
Nun hat das Christentum seit einigen Jahren seine zweite Jahrtausendwende überstanden. Auch diesmal machte ihr Näherrücken das Thema Apokalypse kurzzeitig interessant, aber endzeitliche Ängste wurden mehr in den Feuilletons besprochen, als dass sie die Menschen über einige esoterische oder sektiererische Gruppen hinaus wirklich in ihren Bann gezogen hätten. Die Sorge um das Weiterfunktionieren der Computerprogramme war weit realer und massiver verbreitet als die Erwartung eines Endes der Geschichte. Am allerwenigsten war die Apokalyptik, so scheint es im Rückblick, noch ein Thema unter den Christen (jedenfalls denen der „Großkirchen“).
Schon einige Jahre vor dem zweiten Millennium führten der italienische Semiologe und Schriftsteller Umberto Eco und der Mailänder Kardinal Carlo Maria Martini einen öffentlichen Briefwechsel, in dem sie sich einig waren in der „Behauptung, dass der Gedanke an das Ende der Zeiten heute typischer für die laizistische Welt als für die christliche ist.“2 Der Kardinal erklärt sich mit dieser Beobachtung durchaus auch innerlich einverstanden, spräche doch die Angstresistenz der Christen für ihr Wissen darum, dass „keine menschliche oder satanische Macht ... sich der gläubigen Hoffnung wird entgegenstellen können.“3 Umberto Eco dagegen sieht den Grund für die Verlagerung der Apokalyptik ins Säkulare eher darin, dass uns heute Ängste bedrängen, die nicht mehr religiösen Themen entspringen. „Thema der modernen Apokalypse sind die Zunahme der unkontrollierbaren Atomlager, der saure Regen, das Verschwinden des tropischen Regenwalds, das Ozonloch, die Migration entrechteter Horden, die sich erheben, um an den Pforten des Wohlstands anzuklopfen. Thema sind der Hunger ganzer Kontinente, neue unheilbare Seuchen, die gewinnsüchtige Zerstörung des Bodens, das sich verändernde Klima, das schmelzende Polareis, die Gentechnologie – und am Ende gehört auch jener Ökologismus hierher, der den unaufhaltsamen Selbstmord der Menschheit vorsieht, die untergehen müsse, auf dass all die fast schon vernichteten Arten sowie die entstellte Mutter Erde gerettet werden können. Wir durchleben unsere Ängste vor dem Ende.“4
Zu Beginn des dritten „christlichen Jahrtausends“ ist die Unheilsprophetie also längst in nicht-religiöse Hände übergegangen. Forscher prognostizieren unsere möglichen Zukünfte, warnen vor den politischen, ökologischen, sozialen Brüchen; die Angstszenarien sind von Statistiken genährt, von den Kurven exponentiellen Bevölkerungswachstums, von den Berechnungen chemischer Einflüsse auf das Weltklima, von den Nachrichten aus den Waffenarsenalen der Staaten. Die erschütterndsten Predigten halten Wissenschaftler, die sich oft – auch unter ihresgleichen – wie Rufer in der Wüste empfinden und uns zu einer rationalen Umkehr aufrufen, bevor die Katastrophen unausweichlich geworden sind. Die Bilder solcher Katastrophen malen uns Literaten und Künstler aus. Einige politische Gruppierungen ziehen radikale Konsequenzen.
Die christlichen Kirchen jedoch halten sich, wenn es um diese moderne Apokalyptik geht, auffallend zurück. Zwar finden sich unter den Warnern manche überzeugte Christen, doch äußern sie sich selten explizit als Kirchenvertreter. Die greifen ihre Kritik mitunter gerne auf, beklagen den Werteverfall, die Gewalt, das Elend in der Dritten Welt, mitunter auch die Umweltzerstörung – aber nur, um auf einen Weg zurückzurufen, dessen Tauglichkeit sie schon kennen und der uns das Schlimmste ersparen soll. Und auch die Theologen, so sehr sie mitunter die Zukunft der Menschheit zu ihrem Thema machen, fallen – von einigen Außenseitern abgesehen – im gesellschaftlichen Konzert kaum durch schrille Töne auf. Sache der Christen scheint eher die Besonnenheit zu sein, ein temperierter Realismus, politisch ausgedrückt: die Haltung der Mitte. Die Sache der Christen ist die Zuversicht, die gute Praxis und die Hoffnung. Die vielfältigen Bewegungen zu „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ sind wohl von brennender Sorge geprägt, stellen jedoch ihre Diagnosen niemals so, dass nicht deren Zweck deutlich würde, „Wege aus der Gefahr“ zu bahnen. Ein Unheilsszenario wird hier, wenn überhaupt, dann dazu entworfen, uns aufzurütteln, uns zum verändernden Handeln zu bewegen, nicht aber, uns zu entmutigen und zu ängstigen.
Woraus entspringt diese auffällig unauffällige Ruhe der meisten Christen? Ist sie einer Gabe der Unterscheidung der Geister zuzuschreiben, welche übrigens auch schon um das Jahr tausend die offizielle Kirche und orthodoxe Theologie weitgehend davon abhielt, christliche Eschatologie mit aufgeregter Apokalyptik zu verwechseln? Ist die Theologie also durch kritischen Geist vor dem Kurzschluss von biblischen Weissagungen auf unmittelbare Zukunftsprognosen gefeit? Oder kommt heute noch die Erfahrung hinzu, allzu lange der Weltflucht, der Unfähigkeit zu diesseitiger Verantwortung und tätigem Optimismus geziehen worden zu sein, eine Erfahrung, welche gelehrt hat, dass es für den Glauben auf Dauer nicht gut ist, aus den Ängsten der Menschen spirituelles Kapital zu schlagen?
Beides mag zutreffen. Sehe ich aber recht, so steckt in der unapokalyptischen Haltung der Großkirchen und der Theologie noch etwas anderes: eine andere Verwechslung nämlich, ein Kurz-Schluss von christlicher auf weltliche Hoffnung, von geistlicher auf „profane“ Zuversicht, von christlicher Besonnenheit auf gesellschaftliche „Gemäßigtheit“, von christlicher Verantwortung auf bürgerlichen Optimismus. Demnach darf ein Gläubiger eigentlich kein Pessimist sein. Dieser Kurzschluss dürfte sogar von der genannten Erfahrung mit hervorgebracht worden sein: Die Abgrenzung von sektiererischem Prophetismus und die Hinkehr zum modernen, nach-aufgeklärten Begriff der Diesseits-Verantwortung scheinen es geradezu zu verbieten, denen das Wort zu reden, die notorisch schwarz sehen.
Die Kirchen begegnen damit der eingangs angesprochenen Geschichtserfahrung des 20. Jahrhunderts – „wir können ihr ein Ende machen“ – auf dem Boden des 19. Jahrhunderts: „Wir haben es in der Hand.“ Diese klassische moderne Haltung wird dann in die biblisch-christliche Rede von der Hoffnung eingetragen. Es ist so, als würde der Regenbogen, mit dem Gott dem Noah die Zusage gab, keine zweite Sintflut zu schicken (Gen 9), nun über das moderne, unsere Welt gestaltende Geschichtshandeln gespannt. Inzwischen aber wirkt dies, als sei Hoffnung (in diesem neuen Sinn) ebenso Christenpflicht wie Ruhe bekanntlich erste Bürgerpflicht. Eine Hoffnung aber, welche sich als Pflicht auferlegt, kann nur schal und unglaubwürdig wirken. Man kann niemand einfach „hoffen heißen“. Vor allem durch diese Verquickung biblischen und modernen Geschichtsdenkens ist das Objekt dieser Hoffnung nicht mehr klar: Ist es Gottes Erhalten oder ist es die menschliche Zukunftsfähigkeit? Deshalb erscheint die „Mäßigkeit“ der christlichen Zukunftseinstellung doch wieder als eine gewisse Weltferne, entspringend dem Abstand zu den Weltproblemen, der Temperiertheit unmittelbarer, vom „Hoffnungsgebot“ ungefilterter Wahrnehmung. Zukunftseinschätzungen von Christen, die bevorzugt das Etikett „realistisch“ als wertenden Begriff für sich in Anspruch nehmen, verdecken oft eine nicht mehr rationale Tabuisierung des „Pessimismus“, die theologisch aufzuklären dringlich ist.
Denn die unausgesprochene Gleichsetzung von „Pessimismus“ mit Unglauben übersieht einen entscheidenden Unterschied zur Situation vor tausend Jahren: Damals ließ sich der Zusammenhang zwischen Gegenwartsverhältnissen und apokalyptischen Katastrophenerwartungen nur über religiöse Vorstellungen herstellen. Diese wiederum waren schon damals – und sind erst recht heute – exegetisch-theologisch widerlegbar, indem man zeigt, dass sich aus biblischen Texten keine Datierung des Weltuntergangs ausrechnen lässt. Heute jedoch sind die Katastrophen „berechenbar“, sie sind am Ende von Kurven angesetzt, welche in Extrapolation gegenwärtiger Entwicklungen gezeichnet werden, mit der einzigen Hypothese, dass sich an ihnen nichts ändert. Es ist gerade unser „Geschichte machen“ mit seinem unbestreitbaren „Fortschritt“, das uns nun gleichzeitig verhängnisvoll erscheint: „Das Wesen der neuen Apokalyptik … ist die scheinbare Überwindung des Todes, eine Überwindung, die ihrerseits zum tödlichen Sieg wird, zum möglicherweise letzten und endgültigen Sieg über eine von uns bewohnbare Zukunft.“5 D. h. aber doch: Zumindest die Möglichkeit einer katastrophalen Entwicklung im Sinne des „Unterganges“ wenn nicht der Menschheit insgesamt, so doch unserer Zivilisation und der von uns als menschenwürdig erachteten Rahmenbedingungen, muss gerade von Realisten ins Auge gefasst werden. Solche ausrechenbaren Möglichkeiten sind zwar nicht den kosmischen Visionen von Apokalypsen gleichsetzbar, werden aber doch nicht zufällig als deren neuzeitliches Pendant wahrgenommen. Sie bedeuten nämlich für die Zeitgenossen genau jene Vernagelung der Zukunft, jene Ab-Gründe von Zukunftsangst, welche antike und mittelalterliche Menschen angesichts der religiösen Apokalypsen empfanden.
Auch die psychischen Folgen der uns abverlangten Reaktionen sind – immer den Paradigmenwechsel vom religiösen zum (natur)wissenschaftlichen Kontext der Wirklichkeitsauffassung mitgesehen – durchaus vergleichbar: Es geht auch heute um abwendende Handlungsstrategien, um Hoffnung oder Verzweiflung, Untergangskult oder Verdrängung, Aggression oder Resignation samt diverser Mittellösungen. Weil aber die säkulare Apokalyptik keiner religiösen Mythologie entspringt, kann sie auch nicht inner-theologisch abgewehrt werden. Gegen die futurologisch beweisbare Möglichkeit der Katastrophe hilft keine theologische Abwehr von Angstkult, Unheilsprophetie und „Pessimismus“. Die „Zeugen Jehovas“ sind grundsätzlich exegetisch widerlegbar wie ihre mittelalterlichen „Vorgänger“ auch, – die Fortschreibungen von „Global 2000“6 und die Schlüsse, die etwa H. v. Ditfurth oder G. Fuller populärwissenschaftlich aus ihnen zogen7, sind es nicht. Die säkulare Apokalyptik der Gegenwart ist gerade deshalb ein Faktor, ein „Zeichen der Zeit“, an dem die Theologie nicht vorbeigehen darf, weil sie kein religiöses Phänomen mehr ist (so viel religiöse Phänomene sie auch wiederum bewirken mag)! Die Aufgabe hieße, Theologie bewusst im Angesicht der realistischen Möglichkeit (was nicht heißt: als unabwendbarer Tatsache) einer Menschheitskatastrophe als Ende der bisherigen Geschichte zu treiben, – einer Katastrophe also, die auch dann „Untergang“ genannt werden müsste, wenn sie nicht die gesamte Menschheit restlos beträfe, auch dann, wenn dieser Untergang nicht der letzte (der „jüngste Tag“) wäre, wenn es also noch irgendein innerweltliches Danach gäbe. Denn auch dann bedeutet eine solche Katastrophe doch für uns das Ende der Geschichte, den Zusammenbruch nämlich eines geschichtlichen „Projekts“, das wir zumindest mit der Epoche der Neuzeit, mit dem „Abendland“, wahrscheinlich aber mit den Menschen seit den ersten neolithischen Stadtkulturen teilen. Dieses Projekt wäre, was immer noch käme, gescheitert, sollten die rechnenden Unheilspropheten unserer Zeit Recht behalten, – und diese Möglichkeit besteht.
Hinzu kommt: Sollte dieses Projekt der Zivilisation in den berechenbaren möglichen Katastrophen scheitern, dann hauptsächlich an den Folgen seiner selbst. Dies ist genau die Herausforderung säkularer Apokalyptik, welche zu begreifen sich die Theologie des Christentums (das wiederum selbst ein bedeutender Faktor dieses Projekts ist!) noch kaum, jedenfalls noch nicht mit der ihr entsprechenden Grundsätzlichkeit, d. h. Radikalität (im Wortsinn) und Ausdauer gestellt hat. Hier möchte dieses Buch einsetzen.
Seine Leitfrage lautet: Wie verhält sich das biblische Geschichtsdenken zum modernen, sowohl dem vom Geschichte-Machen als auch dem vom Geschichte-Beenden durch den Menschen? Seine Zielfrage heißt: Lässt sich aus dem biblischen Geschichtsdenken für heute eine Geschichtstheologie ableiten, die weder vormodern-mythologisch oder fundamentalistisch ist noch den jüdisch-christlichen und den modernen Geschichtsbegriff oberflächlich miteinander harmonisiert? Die Folge einer solche Harmonisierung ist nämlich stets der Verlust der Geschichte für die Theologie: Die Geschichte „außerhalb“ der Heilsgeschichte, die profane Menschheitsgeschichte wird dann gleich-gültig, eine Nacht, in der alle Katzen grau sind. Sie wird zum Feld ethischer Appelle, aber nicht theologischer Erkenntnis.
Meine Analyse anhand der Leitfrage wird ergeben, dass ein solches Sich-Selbst-Überlassen der Geschichte dem biblischen Glauben nicht entspricht. Eine moderne Geschichtstheologie ist also die Ziel-Forderung dieses Buches, ohne dass sie hier schon ausgeführt werden könnte. Das Buch versteht sich als ihre Exposition, als Prolegomena.
Warum wählt dieses Buch den Begriff des Apokalyptischen zum Leitwort? Ist das nicht eine vorschnelle Identifikation des biblischen Geschichtsdenkens mit der Apokalyptik, die man durchaus auch als ein Randphänomen der biblischen Schriften verstehen könnte?
Die Bezeichnung „apokalyptisch“ im Titel meint jedoch nicht dieses vermeintliche Randphänomen. Ich verwende den Begriff weiter und wörtlicher als die Religionsgeschichte, die mit Apokalyptik eine ganz bestimmte Literatur meint. Ich möchte damit bewusst den schillernden Doppelsinn des Wortes einfangen, weil er auf die richtige Spur der Analyse führt, weit über die apokalyptische Literatur im engen Sinn hinaus.
Zunächst heißt das griechische Verb „apokalypsein“ einfach „offenbaren“. Die entsprechende Literatur („Apokalypsen“) wurde ursprünglich so bezeichnet, weil sie Berichte von Offenbarungen an ihre Autoren oder Protagonisten enthält. So wird etwa die neutestamentliche Apokalypse als „Geheime Offenbarung“ eingedeutscht. Diesen breiten Wortsinn muss man beim Titel meines Unternehmens mithören und nicht ausschließlich die zweite, gleich zu „unterstellende“, mitschwingende Wortbedeutung. „Apokalyptische Vernunft“ ist vom Wortsinn zunächst einmal eine von Offenbarung Gottes sich herleitende Vernunft.8
Nun hört man beim Begriff „Apokalyptik“ jedoch nicht diese Allgemeinheit des Wortsinns, sondern den bestimmten Charakter einer mit Weltuntergang und Endzeitgeschehen befassten Offenbarung mit. So, mit den heute bei diesem Wort anklingenden Assoziationen, habe ich den Begriff hier eingeführt. Sie sollen mit „unterstellt“ sein. Sie wurden dies schon lange, weil die als Apokalyptik bezeichnete Literaturgattung sich ja meist mit universal-eschatologischen Szenarien des Untergangs, der Rettung und der Neuschöpfung von Welt und Menschheit und in dieser steilen Perspektive auch mit der Weltgeschichte ihrer Zeit befasste. Nun befasst sich dieses Buch jedoch nicht speziell mit den Offenbarungen dieser Literatur, der „Apokalyptik“ im Sinn der Philologen, sondern mit dem biblischen Geschichtsdenken insgesamt.9 Die „Unterstellung“ des Titels bedeutet also eine Charakterisierung dieser Offenbarungsbotschaft insgesamt, welche schon ein Ergebnis ihrer zu leistenden Analyse vorwegnimmt: Dass es sich bei ihr nämlich um eine Offenbarung handelt, die es – auch wo sie nicht im engen historischen Sinn schon „Apokalyptik“ bietet – mit Geschichte, und zwar in der Perspektive ihres Endes und Ziels, zu tun hat. Deren Offenbarungs-Anspruch besteht also darin, von Gott her um Ursprung und Ziel und dem Gefälle der Geschichte dazwischen zu wissen.
Man kann es mit Blick auf die „Vernünftigkeit“, den Wahrheitsanspruch dieses Denkens, auch so formulieren: Das biblische Zeugnis ist keines, dass sich in sich selbst verifizieren lässt. Es verweist für seine Verifikation einerseits stets „zurück“, nämlich auf die göttliche Offenbarung, der es sich verdankt. Es verweist andererseits stets auf eine noch ausstehende Verifikation vor, auf eine Zukunft, eine Erfüllung, eine Ankunft, in der Gott seine Offenbarung erneut oder schließlich endgültig verifizieren wird. Das biblische Denken und Sprechen geschieht „dazwischen“. Und dieses Dazwischen ist die Geschichte bzw. logisch umgekehrt: Weil der biblische Zeuge sich stets nur „dazwischen“ findet, fasst all sein Denken, Reden und Glauben Wahrheit geschichtlich – und nicht magisch oder mystisch oder philosophisch, wie vielleicht in anderen religiösen Denkformen.
Der Titel dieses Unternehmens greift das Schillern des Begriffs „apokalyptisch“ zwischen einfachem Wortsinn und assoziierten Inhalten also bewusst auf, um darin den Formal- und den Materialaspekt des biblischen Glaubens gleichzeitig zu fassen: den Formalaspekt, der im Denken und Sprechen von einer Kundgebung Gottes her besteht, den Materialaspekt, der diese Kundgebung als eine göttliche Offenbarung in Geschichte hinein und auf Geschichte bezogen und ihr Ganzes, nämlich ihr Ende, „vorwegnehmend“ versteht. Dass das Besondere biblischen Glaubens in dieser aus Gottes Selbstmitteilung abgeleiteten theo-eschatologischen Belichtung menschlicher Weltgeschichte besteht, wird die Analyse zu zeigen haben. Aber deren Ergebnis gehört schon in den Titel, weil das Unternehmen nur einen Sinn hat, wenn diese These mitvollzogen wird: Es ist dieser „apokalyptische“ Charakter biblischer Offenbarung, der ihr geschichtliches Schicksal und damit ihre Bedeutung für eine Theologie der Geschichte begründet, die in einer Zeit entworfen wird, in der sich die Menschheit dem möglichen Ende ihrer Geschichte, der säkularen Apokalyptik, zu stellen hat.
Eine sehr grundsätzliche, geradezu apriorische Bemerkung zu diesem Begriff apokalyptischer Vernunft scheint mir an dieser Stelle vorweg notwendig. Denn es muss zu Beginn meines Analyse-Weges an Texten der Bibel der Eindruck vermieden werden, als sei apokalyptische Vernunft sozusagen ein Text-Phänomen, als sei anhand von Texten erschöpfend zu begreifen, was diese Vernunft ausmacht. Das ist nicht so. Deshalb stelle ich hier vor den hermeneutischen Hinweisen zu meiner biblischen Analytik eine sozusagen vor-hermeneutische Warntafel auf.
Gott als Offenbarer denken heißt schon, ihn voraus-setzen und jede zu bedenkende Wirklichkeit im Licht der Offenbarung Gottes als eine Ganze „zu Ende zu denken“. Gottes Offenbarung „anzunehmen“ schließt schon ein, dass die „Letzten Dinge“, um die es uns in dieser Annahme geht, nicht prinzipiell offen bleiben können, weil sonst Gott nicht Gott wäre oder seine Offenbarung nicht wirklich seine. Sicher gibt es andere Weisen, Gott oder das Göttliche zu denken oder zu glauben, außerhalb apokalyptischer Vernunft. Aber dann offenbart sich Gott nicht in der Welt, wie Ludwig Wittgenstein sagt.10 Er wird nicht in seinem Handeln in der Geschichte erkannt. Deshalb wird sich ein anderes Denken, das nicht selbst aus apokalyptischer Vernunft heraus denkt, deren „Wissens“-Anspruch gegenüber stets vorkommen wie der Hase gegenüber dem Igel in deren berühmtem Wettlauf: Während es menschlichem Denken „natürlich“ zu sein scheint, von sicheren Grundlagen, Erfahrungen oder Axiomen ausgehend den offenen Weg einer Annäherung an das mögliche ganze Er-Gebnis seiner Wahrheit zurückzulegen, ist ein Denken apokalyptischer Vernunft gleichzeitig mit seinem Anheben in der Offenbarung auch schon am Ziel, mit seinen ersten schon bei seinen letzten Worten, wie viel dazwischen auch noch ungedacht und ungesagt sein mag.11 Wo Gott gedacht wird als Ausgangspunkt des Denkens, scheint immer schon irgendwie „klar“, worauf das Denken insgesamt hinaus läuft. Es ist in seiner „Welt-Anschauung“ nicht mehr prinzipiell ergebnisoffen. Man kann logisch nicht Gott in seiner Offenbarung bekennen, denkerisch aber prinzipieller Skepsis verfallen.
Das gilt insbesondere für den Bereich, den zu klären sich diese Analyse apokalyptischer Vernunft vorgenommen hat: für das Verhältnis von Offenbarungsglauben und Geschichte. Man kann offensichtlich nicht Gott am Anfang oder inmitten der Geschichte wirkend vernehmen, sein zukünftiges Wirken jedoch offen lassen. In diesem logischen Sinn denkt apokalyptische Vernunft von der Geschichte eschatologisch: Indem sie Gott denkt, denkt sie Geschichte nicht ziellos. Dabei bleibt noch offen, wie ausdrücklich sie überhaupt Geschichte denkt, und damit auch, in welchem reflektierten Grad sie Eschatologie, Lehre von der Zukunft und den „Letzten Dingen“ entwickelt. Sie wird aber in dem Maße eschatologisch denken, in dem sie geschichtlich zu denken beginnt. Sie scheint sogar durch ihren gleichzeitigen Zugriff auf die Gegenstände von ihrem Anfang und ihrem Ende her, also dadurch, dass sie alle Dinge „zwischen Gott“ stellt, zur Herausbildung des Totalbegriffs von „der“ Geschichte entscheidend beizutragen: Ist doch eine solche Totale letztlich nur denkbar, indem man Geschichte endlich, ihr Ende antizipierend denkt. Geschichte erscheint dann als „teleologischer Gesamt-Zusammenhang aller Ereignisse, der erst von seinem nahe bevorstehenden Ende her als ganzer verstehbar und erzählbar wird.“12
Auch wo Offenbarungsdenken seine Reflexion noch nicht so weit vortreibt, ist ihm die Tendenz zu dieser Totalperspektive durch die Art, wie ihr Gott Anstifter des Denkens geworden ist, schon mitgegeben. Gottes Konkretion im menschlichen Vernehmen die eigene Vernunft fundieren zu lassen, bedeutet schon, „apokalyptisch“ zu denken im Doppelsinn: Im Denken Gott zum Anfang zu haben, bedeutet, ihn für das Bedachte – Dinge, Welt, Mensch, Geschichte – als Ende zu haben. Mit dem Bekenntnis, Gott habe sich geoffenbart, wird mitten in der Gegenwart ein „Letztes“ behauptet, denn Gegenwart Gottes kann qualitativ nichts Vorläufiges sein. Es „eignet dem ‚Kommen‘ Gottes dort, wo es erfahren wird, stets der Charakter des Eschatologischen“13, der Unterbrechung der Zeit durch etwas Letzt-Gültiges, durch eine „Vorwegnahme und Vorankündigung des Zukünftigen, des Ultimum.“14 Der Offenbarungsvernunft wird Gott zur „Apokalypse der Welt“.
Andererseits gilt aber auch die Umkehrung dieses logischen Zusammenhangs: Man kann den Gott der Offenbarung nur eschatologisch denken, heißt auch, dass streng genommen erst eschatologisch Gott wirklich denkbar wird! So gesehen ist das „natürlicher Denkweise“ so steil anmutende, das Letzte, das Ende schon vorwegnehmende Gott-„Wissen“ apokalyptischer Vernunft gar kein „Wissen“ im üblichen Sinn: Denn gerade, indem es eschato-logisch denkt, kann es sich gegenwärtig nicht verifizieren. Seine scheinbare Igel-Überlegenheit der Hasen-Bewegung sonstigen Denkens gegenüber erweist sich doch als eine recht missliche Situation: Sein Ausgangspunkt in der Offenbarung liegt in seiner Erinnerung und Überlieferung, deren Verifikation liegt in der Zukunft der Verheißung. Auch in diesem Sinn ist Offenbarungsdenken allerdings Denken „zwischen Gott“: zwischen seiner Offenbarung und deren Erfüllung. Über beides verfügt dieses Denken so wenig wie über Gott, – strukturell: so wenig wie die Peripherie über die Mitte, das Haus über das Fundament.
Karl Barth, stets bemüht, das Denken von Offenbarung her so rein wie möglich von anderen Weisen des Denkens zu unterscheiden, hat diese „unmögliche Situation“ festgehalten, in der Offenbarung streng genommen nur erinnert und erwartet werden kann, gegenwärtig aber wie eine Leerstelle, eine leere Mitte des Denkens wirkt, die nicht wir, sondern nur die Offenbarung selbst füllen kann.15 Dies gilt in der Zeitstruktur dieses Denkens, weil es Gottes Handeln nicht erzwingen, nicht „auf den Plan führen“, nicht herbei demonstrieren, sondern nur auf es verweisen kann. Gottes bezeugtes Kommen bedeutet nicht, „dass Gott schon ‚gekommen‘, ‚angekommen‘ sei“16; aus dem Ereignis Offenbarung in seiner ganzen letzt-gültigen Qualität „von innen“ wird keine äußerlich manifeste Vergangenheit: Eschatologische Offenbarung wird nicht historisch, – nur ihr Zeugnis, ihr Niederschlag. Selbst aktuelle Offenbarung ist als solche nicht „fest-stellbar“. „Auch die biblischen ‚Tatsachen‘“ haben „den Charakter der Verheißung“, und die auf ihnen beruhende apokalyptische Vernunft ist ja selbst keine Apokalypse, sondern eben schon ihr Vernommen-Sein, schon Rezeption, Interpretation. Diese Vernunft vollzieht allerdings die sie bewegende Offenbarung nach, indem sie von ihr erzählt, ihre Wirklichkeit und Evidenz aufzeigt, indem sie denkend „von ihr ausgeht“. Aber letztlich kann sie Offenbarung nicht selbst verifizieren. Offenbarung heißt ja, dass Gott Gott ist und doch nicht einfach bleibt, sondern „zur Welt kommt“. Daher rührt der Wille apokalyptischer Vernunft, höchste Abstraktion und Konkretion miteinander zu verbinden: Er beruht letztlich auf dem Verlangen, von Gott und Welt gleichzeitig reden zu können. Das gelänge aber erst wirklich, wenn Offenbarung sich erfüllen würde, wenn sie in den Modus der Offenbarkeit, der Transparenz („Aufgeklärtheit“) der Dinge, der Welt für Gott, der Sichtbarkeit der Mitte in der Peripherie überginge. Solange dies nicht vor unseren Augen geschieht, ist apokalyptisches Denken Denken im Modus des Glaubens und der Hoffnung: Denken von Gott als dem, der dieses Denken von ihm bewahrheiten wird.
Glaube und Hoffnung sind hier ganz eng zusammen gebunden, denn Offenbarungsglaube besteht nicht primär in einer logischen Differenz des nur unsicher Gemeinten zum sicher Beweisbaren, sondern in einer Zeitdifferenz zwischen der durch Offenbarung verheißenen, aber doch gegenwärtig ausstehenden Wirklichkeit.17 „Letztbegründungen sind, folgt man dem Geist der biblischen Traditionen, immer Zuletztbegründungen.“18 Und dabei sucht Eschatologie nicht einfach qualitätslos „ein letztmögliches Denken des Letzten“, sondern das „des letzten Guten“19, so wie der sich offenbarende Gott nicht das namenlos Absolute ist, sondern der, dessen Namenseröffnung (etwa in Exodus 3, vor Mose im brennenden Dornbusch) eine Zusage von Zukunft bedeutet: „Ich werde sein, der ich sein werde“, d. h. doch: Gott, der sich in Offenbarung zu erkennen gibt, gibt sich in seiner Zuwendung zu erkennen, mit der er denen, denen die Offenbarung gilt, in eine eröffnete Zukunft hin voraus ist.20 Offenbarung stiftet also gleichzeitig Glaube als Hoffnung, sagen wir es ruhig so banal: auf ein „Happy End“ mit ihm! Gerade angesichts dessen, was die Hoffnung auf Gottes Bewahrheitung in der Welt von ihm erwartet, erfährt sie den gegenwärtigen Zustand der Welt als gegensätzlich zu dem, was sein sollte, – viel schärfer, als wenn sie diesen Zustand nur aus sich selbst erklären müsste.
Aus diesem Gegensatz von Verifikationserwartung und gegenwärtiger Wahrnehmung bricht der ursprüngliche Doppelsinn des „Apokalyptischen“ auf: Wo ein Offenbarungsdenken sich der Geschichte zuwendet, wird es „angesichts der abgründigen Leidens-Geschichte das apokalyptische Erbe“21 einklagen: Müsste angesichts des Anfangs in Gott diese Geschichte nicht anders verlaufen, als sie es tut? Wo das Glaubensdenken diesen Zwiespalt extrem erfährt, wo es verheißene und erlebte Wirklichkeit absolut nicht mehr überein bekommt, erhält das Denken Gottes zwischen Zweifel und Hoffen einen insgesamt geradezu eschatologisch-konjunktivischen Charakter: „Es wird sich zeigen, ob Gott will und er lebt“, es wird das „Hoffen auf Gott ... zu einem Hoffen auch für ihn.“22 Der Offenbarungsvernunft wird Gott erst wirklich wahr in der Apokalypse der Welt.
Meine These lautet also zusammen genommen: In der apokalyptischen Vernunft gibt es Theo-logie eigentlich nur als Eschato-logie. Mag es auch sonst metaphysische, mystische oder andere Theologien, Reden von Gott geben: Diese von einem sich kundgebenden, von einem in Denken und Erfahrung von sich aus konkret werdenden Gott erfüllte Vernunft ist erst „in der Eschatologie ‚bei sich selbst‘“, weil „hier überhaupt alles, was sie als wirklich ausgeben kann, begründet ist.“23 Diese Vernunft ist von Offenbarung als ihrem Anfang und ihrer Unterbrechung abhängig; anders als jede sonstige Vernünftigkeit „bildet sie die Maßstäbe dessen, was sie als ‚wirklich‘ erkennen kann, dort, wo Gott und alle seine Werke evident wirklich werden, wo sie nicht mehr bloß dialektisch mit der üblicherweise so genannten ‚Wirklichkeit‘ vermittelt, sondern unvermittelt in sich selbst und aus sich heraus wirklich sind.“24 Das aber sind sie erst, wenn Wirklichkeit – die übliche, die uns wahrnehmbare – und die Verheißungen Gottes zusammen fallen. Apokalyptische Vernunft denkt eschatologisch, weil sie gerade nicht fundamentalistisch oder ideologisch den Augenschein überdeckt durch den Schein ihres Glaubens. Sie mag deshalb Gott erst wirklich denken, wenn er wirklich geworden ist, und deshalb setzt sie darauf, dass umgekehrt die Evidenz des Gedankens Gott als dem ersten und letzten Denkbaren stärker ist als die scheinbare Statik der Wirklichkeit. Apokalyptische Vernunft kann – jedenfalls in ihrer ihr inhärenten Tendenz, dort, wo sie reflektiert zu sich selbst kommt – „von einer Wirklichkeit Gottes überhaupt nur unter den Bedingungen eines neuen Seins im ganzen sprechen – selbst auf die Gefahr hin, dadurch als reine Utopie ... abgeschrieben zu werden“25.
Wenn der Titel dieses Buches nicht einfach von Apokalyptik, sondern von „apokalyptischer Vernunft“ spricht, dann spricht er von etwas Denkbarem, dass sich herleitet und bezieht auf „etwas“, das mehr und anders ist als Denken. Das Denken aus dieser Herkunft – so ist die These des Buches schon in der Zusammenstellung von Titel und Untertitel gemeint – macht das biblische Geschichtsdenken aus. Damit ist eine doppelte Präzisierung dessen gegeben, was meine Analyse erfassen kann und will:
1. Das biblische Geschichtsdenken beruft sich auf göttliche Offenbarung. Aber diese Offenbarung als solche können wir niemals erfassen, nur ihren Niederschlag, ihr Zeugnis. Apokalyptische Vernunft ist eben das, was wir analytisch erfassen können: nicht der biblische Glaube als solcher, sondern stets schon dessen Abschattung in Glaubens-, Denk- und Handlungsweisen, die geschichtsmächtig werden und ihr geschichtliches Schicksal haben. Streng genommen ist ja auch der biblische Glaube nicht selbst Offenbarung in ihrer theo-logischen Aktualität, sondern deren Bezeugung im Niederschlag des Denkens aus diesem geschichtlich gelebten Glauben heraus. Von diesem Zeugnis nimmt die Analyse ihren Ausgang, befasst sich dann aber mit dem hier auffindbaren „Begriff“ von Offenbarung, der eine eigene Weise menschlicher Vernunft hervortreibt, auch eine spezifische Weise, mit Geschichtlichkeit und Geschichte umzugehen. Diese hermeneutische Zurückhaltung, die beim geschichtlich-strukturell Erfassbaren bleibt, erlaubt es gerade, hinter den biblischen Offenbarungsglauben zurückzufragen nach der Vernunft, die ihn schon fundiert und umgibt bzw. umgekehrt: die er aufnimmt und erfüllt.
So konzentriert sich die Analyse zunächst auf jene Vernunft, die apokalyptisch denkt, deren Rationalität also stets auf das Ganze und das Ende von Geschichte bezogen ist, auf eine Vernunft, die bestimmte Kategorien des Geschichtsdenkens aus sich heraus setzt, eine Vernunft, die sich von anderen, unapokalyptischen, vielleicht gänzlich ungeschichtlichen, wird unterscheiden lassen. Die apokalyptische Vernunft ist zugleich die Vernunft, die „Denkform“, welche die biblische Offenbarung in die Welt gebracht hat. Sie ist – schon, weil Offenbarung selbst ja keine Denkform, kein Einheitsband für Begriffe und Kategorien ist – eine wirkungsgeschichtliche Größe. Apokalyptische Vernunft ist also auf der Ebene angesiedelt, auf der biblische Offenbarung Gegenstand einer geschichtsbezogenen Analyse werden kann: auf der Ebene einer „Idee“ von Geschichte, die selbst sofort Geschichte wird, ja vom ersten Moment an ist. Das macht die heutige Relevanz dieses Rückgangs zur apokalyptischen Vernunft der Bibel aus: Noch wir Heutigen stehen in der Wirkungsgeschichte dieser Vernunft. Unsere Geschichte, die bis in die Möglichkeit der modernen, säkularen Apokalyptik geführt hat, ist von dieser biblischen Herkunft mitgeprägt.
2. Inhaltlich wird diese Darstellung deshalb nicht – wie etwa eine Theologie des Alten und des Neuen Testaments – alle biblischen Aussagen zur Geschichte sammeln und systematisieren. Dies ist auch nicht das Buch eines Fachmanns biblischer Exegese. Ich will nicht alles erfassen und interpretieren, was die Bibel zur Geschichte sagt, sondern wie sie von Geschichte denkt. In und hinter ihren Einzelaussagen suche ich nach der darin sich ausdrückenden Vernunft, der Denkform, hegelianisch ausgedrückt: dem Begriff von Geschichte in der Bibel.
Mit einer solchen Analyse ist eine bestimmte hermeneutische Haltung verbunden, die ich, wenn auch nicht ausführlich begründen, so doch deutlich offen legen möchte. Die Auslegung biblischen Geschichtsdenkens muss eine Strukturanalyse sein: Sie versucht an die intensivste Mitte dieses Denkens heranzukommen – nicht, indem sie es auf abstrakte Prinzipien reduziert, sondern indem sie das Denken bei seinen stärksten Seiten fasst, die immer nur konkret, in bestimmten Äußerungen angetroffen werden, in denen dieses Denken sich verwirklicht. Die intensivste Mitte ist meist nicht dort gegeben, wo ein Denken seine eigene Erkenntnislehre darzubieten versucht, wo es über sich selbst spricht, sondern wo es seinen „status confessionis“ auslegt: das, worum es ihm unbedingt geht. Nicht allgemeine, formale Prinzipien kommen dem Eschaton, den „Letzten Dingen“ eines Denkens, am nächsten, sondern gestalthafte, entscheidende Knotenpunkte symbolisieren es. Der „intensivste Punkt“ ist genauso wenig mit den Axiomen wie einfach mit den Ergebnissen eines Denkens gleichzusetzen. Wenn Schelling in seiner „Einleitung in die Philosophie der Offenbarung“ rät, man müsse einen Philosophen „in seinem Grundgedanken“ und nicht in späteren Folgerungen zu verstehen suchen – denn: „Der wahre Gedanke eines Philosophen ist eben sein Grundgedanke, der, von dem er ausgeht“26 –, dann darf dieser Grundgedanke m. E. nicht mit den Grund-Sätzen, den Präambel-Thesen eines Werkes einfach gleichgesetzt werden. Eher geht es um die Gedanken „am Grund“ der Gedanken. Die müssen weder am Anfang noch am Ende stehen, noch die auffällig „tiefsinnigsten“ sein. Das, was ein Denken bewegt, spiegelt sich vor allem in komplexen, manchmal zunächst peripher wirkenden Stellungnahmen, Wendungen, Unverwechselbarkeiten. Darin kann aufgehen, woran es eigentlich hängt, was es wirklich wissen, sehen, erkennen will.
„Ich bin auf dem Boden meiner Überzeugungen angelangt“, heißt es in einer späten Notiz Ludwig Wittgensteins: „Und von dieser Grundmauer könnte man beinahe sagen, sie werde vom ganzen Haus getragen.“27 Wittgenstein macht hier eine sprach-logische, erkenntnistheoretische Aussage, keine über ein (etwa sein) individuelles Denken. Der Witz dieses Satzes, der das übliche Verhältnis von Grundmauer und Gebäude umkehrt, kehrt auch die gewohnte Abstraktions- und Deduktionslogik um, nach der die jeweils allgemeinsten Grundsätze alle weiteren Folgerungen tragen und so ein System (Haus) ermöglichen. Die Umkehrung ist aber auch keine rein symmetrische: Wittgensteins Satz deckt sich nicht mit einer empiristischen Induktionslogik, nach der die Grundsätze sich einfach aus der Addition von Einzelerkenntnissen ergeben. Solche Summen-Sätze ergeben aus sich niemals einen „Boden meiner Überzeugungen“. Ich möchte die in Wittgensteins Satz ausgedrückte Theorie versuchsweise eine „strukturale Intensitätslogik“ nennen: In dieser stützen sich eigentlich alle Einzelsätze gegenseitig, durch das logische Verhältnis, in dem sie zueinander stehen. Das Ganze ist eher ein Geflecht oder – in Wittgensteins Bild bleibend – ein architektonisches Gefüge, in dem die Elemente miteinander statische Sicherheit erzeugen. Allerdings sind in einem solchen Gefüge nicht alle Elemente gleichgeordnet, denn sie sind für das Ganze von unterschiedlicher Bedeutung, sie sitzen an mehr oder weniger entscheidenden Stellen, sie erzeugen unterschiedliche Gerade von Festigkeit und Form des Ganzen. Sie haben unterschiedliche „Intensität“. Die „Punkte“ höchster Intensität sind jene, in denen sich – obwohl es sich auch hier um einzelne Elemente handelt – der Zusammenhang des Ganzen nochmals konkret abbildet, verfestigt, „symbolisiert“: Diese Elemente sind deshalb wie Grundsteine, sie bilden ein Fundament, einen Boden des Ganzen. Weil man jedoch, um dies in ihnen zu erkennen, das Ganze in seinen Elementen kennen, durchschreiten muss – weil ihre Intensität wiederum in ihrer Korrespondenz zum Ganzen besteht – deshalb werden sie gewissermaßen vom Ganzen getragen und nicht umgekehrt.
Ich meine, dass diese strukturale Auffassung von Denken und Erkenntnis besonders geeignet ist, geschichtlich gewachsene, über-individuelle Denkformen – Ausformungen menschlicher Vernunft – zu erkunden. Denn wirkungsgeschichtliche, kommunikative und traditionale Prozesse im Denken einer Kultur oder Religion – eingeschlossen die kultur- und religionsgeschichtlichen Brüche, Veränderungen und gegenseitigen Beeinflussungen über „Gebäudegrenzen“ hinweg – folgen weder einer Logik deduktiven Folgerns noch der eines induktiven Zusammenrechnens. Erkenntnis-„Fortschritte“ in solchen Zusammenhängen geschehen nicht linear, und dass wir überhaupt einen Zusammenhang erkennen, liegt nicht an Schlussfolgerungsketten, sondern an Strukturanalogien; also daran, dass wir nicht nur einzelne Elemente wiedererkennen, sondern auch deren Zueinander und ihre Funktion für das Ganze (den Grad ihrer Intensität!) in geschichtlichen Momentaufnahmen und dadurch in ihrer Entwicklung verfolgen können.
Schließlich liegt für die Analyse einer geschichtlichen Vernunft ein entscheidender Vorteil dieses strukturalen Bildes von Vernunftzusammenhängen darin, dass es erlaubt, Vernunftphänomene (Erscheinungen des Denkens) nicht von „außervernünftigen“ Faktoren ihrer Geschichte zu isolieren. Wenn ich geschichtliche Vernunftzusammenhänge nicht nach einer linearen Logik von Abstraktion und Konkretion auffasse (egal, welcher von beiden Seiten ich den Primat einräume), sondern nach einer strukturalen Logik von Intensitätsgraden im Verhältnis der Peripherie zur Mitte, dann muss ich „Sein“ und „Bewusstsein“ in der Geschichte einer Vernunft nicht gegeneinander ausspielen. In einer Logik der Abstraktion erreiche ich das „Eigentliche“ einer Vernunft erst, wo ökonomische, politische, soziale oder gar natürliche Faktoren, die auf sie einwirken oder auf die sie einwirkt, herausgefiltert sind. In dem dieser Logik bleibend verbundenen Gegenpart einer Konkretionslehre gelten dagegen diese „reinen Vernunftzusammenhänge“ als schlechte Abstraktionen, als Destillat, dem nicht mehr anzumerken ist, worum es in dieser Vernunftgeschichte „wirklich“ geht: nämlich um die politische, soziale, ökonomische Wirklichkeit, in der sie wirkt.
In einer strukturalen Beschreibung von Vernunftphänomenen ist nicht vorausentschieden, ob die höhere Intensität auf Seiten der „Eigentlichkeit“ oder der „Wirklichkeit“ der Vernunft liegt. Strukturale Zusammenhänge gehorchen nicht der Hierarchisierung von Basis und Überbau (auch das steckt indirekt im Bild Wittgensteins!). Das, worum es einer Vernunft „eigentlich“ geht, kann sehr wohl in politischen und ökonomischen Vorgängen stecken, so dass gerade in ihnen die Intensität dieser Vernunft zu sich selbst kommt. Zugleich kann der „wirkliche“ Zusammenhang einer Weise des Denkens und Glaubens zu „seinen“ politischen und ökonomischen Verhältnissen gerade in Elementen des Nicht-Zusammenhängens bestehen, darin, wie sie „trotz“ ihrer oder „quer zu ihnen“ sich so gebärdet und entwickelt, wie sie es tut.
Erst in der Anwendung, in der Analyse der geschichtlich gewachsenen apokalyptischen Vernunft, wird sich bewähren lassen, wovon ich hier vorab einen formalen Begriff zu geben versuche. Dieser Bewährung vorgreifend möchte ich hier aber schon die These wagen, dass die strukturale Sicht von Vernunft-Verhältnissen gerade der Geschichte apokalyptischer Vernunft entspricht, ihr gerecht wird: Zeichnet sich doch die apokalyptische Wirklichkeitsauffassung dadurch aus, dass sie höchste, geradezu materialistische Konkretion ihrer Prinzipien mit entschiedener Überbietung jeder möglichen Konkretion verbindet. In der Apokalyptik als „Offenbarungsvernunft“ wird Gott in die Konkretion bestimmter Worte, Handlungen und Inkarnationen gezwungen und zugleich wird durch die Suche nach Offenbarung als „Boden meiner Überzeugungen“ allen anderen, „bodenständigeren“ Erkenntnisweisen der Boden entzogen. Dies gilt auch für Apokalyptik als der Geschichte von ihrem Ende her auffassenden Vernunft: Hier werden alle übernatürlichen, religiösen Glaubensinhalte radikal konkretisiert auf ihre Verwirklichung in politischer Geschichte hin, und doch wird das „Eigentliche“ dieser Geschichte erst in deren Katastrophe, Abbruch und ihrer Überwindung offenbar. Die intensivste Mitte apokalyptischer Vernunft und damit ihre geschichtlichen Bewegungsgesetze wird also nur eine Analyse aufdecken, die nicht schon durch ihren methodischen Ansatz diese „spannende“ Struktur auf eine ihrer Seiten hin auflöst.