Alexander von Humboldt

DARMSTÄDTER AUSGABE

Sieben Bände

Herausgegeben von
Hanno Beck

BAND VII/1

Alexander
von Humboldt

KOSMOS

Entwurf einer physischen Weltbeschreibung

Teilband 1

Herausgegeben und
kommentiert von Hanno Beck

in Verbindung mit Wolf-Dieter Grün, Sabine Melzer-Grün,
Detlef Haberland, Paulgünther Kautenburger †, Eva Michels-Schwarz,
Uwe Schwarz und Fabienne Orazie Vallino

 

 

 

 

 

Impressum

Forschungsunternehmen der Humboldt-Gesellschaft, Nr. 40
Mit Förderung der Academia Cosmologica Nova

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ISBN 978-3-534-19691-3

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-534-73939-4
eBook (epub): 978-3-534-73940-0

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Inhalt

A. Textteil

Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung

[Widmung an den preußischen König]

Vorrede

Erster Band

Einleitende Betrachtungen über die Verschiedenartigkeit des Naturgenusses und eine wissenschaftliche Ergründung der Weltgesetze

Begrenzung und wissenschaftliche Behandlung einer physischen Weltbeschreibung

Naturgemälde

Allgemeine Übersicht der Erscheinungen

[I. Uranologischer Teil]

[II. Tellurischer Teil]

A
Textteil

Kosmos
Entwurf einer physischen
Weltbeschreibung

Kosmos.

Entwurf

einer physischen Weltbeschreibung

von

Alexander von Humboldt.

Erster Band.

Naturae vero rerum vis atque majestas in
omnibus momentis fide caret, si quis modo
partes ejus ac non totam complectatur
animo.          Plin. H. N. lib. 7 c. 1.

[Das Wesen und die Hoheit der Natur offenbaren
sich, wenn alle ihre Teile auch als
Ganzes begriffen werden.

Plinius der Ältere: Historia naturalis,

Buch 7, Kapitel 1]

Stuttgart und Augsburg.

J. G. Cotta’scher Verlag.

1845.

 

 

 

Seiner Majestät

dem König

Friedrich Wilhelm IV.

widmet

in tiefer Ehrfurcht und mit herzlichem Dankgefühl

diesen

Entwurf einer physischen Weltbeschreibung

Alexander v. Humboldt.

Vorrede

Ich übergebe am späten Abend eines vielbewegten Lebens dem deutschen Publikum ein Werk, dessen Bild in unbestimmten Umrissen mir fast ein halbes Jahrhundert lang vor der Seele schwebte.1 In manchen Stimmungen habe ich dieses Werk für unausführbar gehalten und bin, wenn ich es aufgegeben, wieder, vielleicht unvorsichtig, zu demselben zurückgekehrt. Ich widme es meinen Zeitgenossen mit der Schüchternheit, die ein gerechtes Mißtrauen in das Maß meiner Kräfte mir einflößen muß. Ich suche zu vergessen, daß lange erwartete Schriften gewöhnlich sich minderer Nachsicht zu erfreuen haben.

Wenn durch äußere Lebensverhältnisse und durch einen unwiderstehlichen Drang nach verschiedenartigem Wissen ich veranlaßt worden bin, mich mehrere Jahre und scheinbar ausschließlich mit einzelnen Disziplinen: mit beschreibender Botanik, mit Geognosie, Chemie, astronomischen Ortsbestimmungen und Erdmagnetismus als Vorbereitung zu einer großen Reiseexpedition zu beschäftigen, so war doch immer der eigentliche Zweck des Erlernens ein höherer. Was mir den Hauptantrieb gewährte, war das Bestreben, die Erscheinungen der körperlichen Dinge in ihrem allgemeinen Zusammenhang, die Natur als ein durch innere Kräfte bewegtes und belebtes Ganzes aufzufassen. Ich war durch den Umgang mit hochbegabten Männern früh zu der Einsicht gelangt, daß ohne den ernsten Hang nach der Kenntnis des einzelnen alle große und allgemeine Weltanschauung nur ein Luftgebilde sein könne. Es sind aber die Einzelheiten im Naturwissen ihrem inneren Wesen nach fähig, wie durch eine aneignende Kraft sich gegenseitig zu befruchten. Die beschreibende Botanik, nicht mehr in den engen Kreis der Bestimmung von Geschlechtern und Arten festgebannt, führt den Beobachter, welcher ferne Länder und hohe Gebirge durchwandert, zu der Lehre von der geographischen Verteilung der Pflanzen über den Erdboden nach Maßgabe der Entfernung vom Äquator und der senkrechten Erhöhung des Standortes. Um nun wiederum die verwickelten Ursachen dieser Verteilung aufzuklären, müssen die Gesetze der Temperaturverschiedenheit der Klimate wie der meteorologischen Prozesse im Luftkreis [= Atmosphäre] erspäht werden. So führt den wißbegierigen Beobachter jede Klasse von Erscheinungen zu einer anderen, durch welche sie begründet wird oder die von ihr abhängt.

Es ist mir ein Glück geworden, das wenige wissenschaftliche Reisende in gleichem Maß mit mir geteilt haben: das Glück, nicht bloß Küstenländer, wie auf den Erdumseglungen, sondern das Innere zweier Kontinente in weiten Räumen, und zwar da zu sehen, wo diese Räume die auffallendsten Kontraste der alpinen Tropenlandschaft von Südamerika mit der öden Steppennatur des nördlichen Asien darbieten. Solche Unternehmungen mußten bei der eben geschilderten Richtung meiner Bestrebungen zu allgemeinen Ansichten aufmuntern, sie mußten den Mut beleben, unsere dermalige Kenntnis der siderischen [astronomischen] und tellurischen [irdischen] Erscheinungen des Kosmos in ihrem empirischen Zusammenhang in einem einzigen Werk abzuhandeln. Der bisher unbestimmt aufgefaßte Begriff einer physischen Erdbesehreibung ging so durch erweiterte Betrachtung, ja nach einem vielleicht allzu kühnen Plan, durch das Umfassen alles Geschaffenen im Erd- und Himmelsraum in den Begriff einer physischen Weltbeschreibung über.

Bei der reichen Fülle des Materials, welches der ordnende Geist beherrschen soll, ist die Form eines solchen Werkes, wenn es sich irgendeines literarischen Vorzugs erfreuen soll, von großer Schwierigkeit. Den Naturschilderungen darf nicht der Hauch des Lebens entzogen werden, und doch erzeugt das Aneinanderreihen bloß allgemeiner Resultate einen ebenso ermüdenden Eindruck wie die Anhäufung zu vieler Einzelheiten der Beobachtung. Ich darf mir nicht schmeicheln, so verschiedenartigen Bedürfnissen der Komposition genügt, Klippen vermieden zu haben, die ich nur zu bezeichnen verstehe. Eine schwache Hoffnung gründet sich auf die besondere Nachsicht, welche das deutsche Publikum einer kleinen Schrift, die ich unter dem Titel ›Ansichten der Natur‹ gleich nach meiner Rückkunft aus Mexico veröffentlicht habe, lange Zeit geschenkt hat. Diese Schrift behandelte einzelne Teile des Erdlebens (Pflanzengestaltung, Grasfluren und Wüsten) unter generellen Beziehungen. Sie hat mehr durch das gewirkt, was sie in empfänglichen, mit Phantasie begabten jungen Gemütern erweckt hat, als durch das, was sie geben konnte. In dem ›Kosmos‹, an welchem ich jetzt arbeite, wie in den ›Ansichten der Natur‹ habe ich zu zeigen gesucht, daß eine gewisse Gründlichkeit in der Behandlung der einzelnen Tatsachen nicht unbedingt Farblosigkeit in der Darstellung erheischt.

Da öffentliche Vorträge ein leichtes und entscheidendes Mittel darbieten, um die gute oder schlechte Verkettung einzelner Teile einer Lehre zu prüfen, so habe ich viele Monate lang erst zu Paris in französischer2 und später zu Berlin in unserer vaterländischen Sprache fast gleichzeitig in der großen Halle der Singakademie und in einem der Hörsäle der Universität3 Vorlesungen über die physische Weltbeschreibung, wie ich die Wissenschaft aufgefaßt habe, gehalten. Bei freier Rede habe ich in Frankreich und Deutschland nichts über meine Vorträge schriftlich aufgezeichnet. Auch die Hefte, welche durch den Fleiß aufmerksamer Zuhörer entstanden sind,4 blieben mir unbekannt und wurden daher bei dem jetzt erscheinenden Buch auf keine Weise genutzt. Die ersten vierzig Seiten des ersten Bandes abgerechnet, ist alles von mir in den Jahren 1843 und 1844 zum ersten Mal niedergeschrieben. Wo der jetzige Zustand des Beobachteten und der Meinungen (die zunehmende Fülle des ersteren ruft unwiederbringlich Veränderungen in den letzteren hervor) geschildert werden soll, gewinnt, glaube ich, diese Schilderung an Einheit, an Frische und innerem Leben, wenn sie an eine bestimmte Epoche geknüpft ist. Die Vorlesungen und der ›Kosmos‹ haben also nichts miteinander gemein als etwa die Reihenfolge der Gegenstände, die sie behandeln. Nur den „einleitenden Betrachtungen“ habe ich die Form einer Rede gelassen, in die sie teilweise eingeflochten waren.

Den zahlreichen Zuhörern, welche mit so viel Wohlwollen meinen Vorträgen im Universitäts-Gebäude gefolgt sind, ist es vielleicht angenehm, wenn ich als eine Erinnerung an jene längst verfloßne Zeit, zugleich aber auch als ein schwaches Denkmal meiner Dankgefühle hier die Verteilung der einzeln abgehandelten Materien unter die Gesamtzahl der Vorlesungen (vom 3. November 1827 bis 26. April 1828, in 61 Vorträgen) einschalte: Wesen und Begrenzung der physischen Weltbeschreibung, allgemeines Naturgemälde 5 Vorträge; Geschichte der Weltanschauung 3, Anregungen zum Naturstudium 2, Himmelsräume 16; Gestalt, Dichte, innere Wärme, Magnetismus der Erde und Polarlicht 5; Natur der starren Erdrinde, heiße Quellen, Erdbeben, Vulkanismus 4; Gebirgsarten, Typen der Formationen 2; Gestalt der Erdoberfläche, Gliederung der Kontinente, Hebung auf Spalten 2; tropfbar-flüssige Umhüllung: Meer 3, elastisch-flüssige Umhüllung, Atmosphäre, Wärmeverteilung 10; geographische Verteilung der Organismen im allgemeinen 1; Geographie der Pflanzen 3, Geographie der Tiere 3, Menschenrassen 2.

Der erste Band meines Werks enthält: Einleitende Betrachtungen über die Verschiedenartigkeit des Naturgenusses und die Ergründung der Weltgesetze, Begrenzung und wissenschaftliche Behandlung der physischen Weltbeschreibung; ein allgemeines Naturgemälde als Übersicht der Erscheinungen im Kosmos. Indem das allgemeine Naturgemälde von den fernsten Nebelflecken und kreisenden Doppelsternen des Weltraums zu den tellurischen Erscheinungen der Geographie der Organismen (Pflanzen, Tiere und Menschenrassen) herabsteigt, enthält es schon das, was ich als das Wichtigste und Wesentlichste meines ganzen Unternehmens betrachte: die innere Verkettung des Allgemeinen mit dem Besonderen; den Geist der Behandlung in Auswahl der Erfahrungssätze, in Form und Stil der Komposition. Die beiden nachfolgenden Bände5 sollen die Anregungsmittel zum Naturstudium (durch Belebung von Naturschilderungen, durch Landschaftsmalerei und durch Gruppierung exotischer Pflanzengestalten in Treibhäusern), die Geschichte der Weltanschauung, d.h. der allmählichen Auffassung des Begriffs vom Zusammenwirken der Kräfte in einem Naturganzen und das Spezielle der einzelnen Disziplinen enthalten, deren gegenseitige Verbindung im Naturgemälde des ersten Bandes angedeutet worden ist. Überall sind die bibliographischen Quellen, gleichsam die Zeugnisse von der Wirklichkeit und dem Wert der Beobachtungen, da, wo es mir nötig schien, sie in Erinnerung zu bringen, vom Text getrennt und mit Angabe der Seitenzahl in Anmerkungen an das Ende eines jeden Abschnittes verwiesen. Von meinen eigenen Schriften, in denen ihrer Natur nach die Tatsachen mannigfaltig zerstreut sind, habe ich immer vorzugsweise nur die Originalausgaben angeführt, da es hier auf große Genauigkeit numerischer Verhältnisse ankam und ich in Beziehung auf die Sorgfalt der Übersetzer von großem Mißtrauen erfüllt bin. Wo ich in seltenen Fällen kurze Sätze aus den Schriften meiner Freunde entlehnt habe, ist die Entlehnung durch den Druck selbst zu erkennen. Ich ziehe nach der Art der Alten die Wiederholung derselben Worte jeder willkürlichen Substituierung uneigentlicher oder umschreibender Ausdrücke vor. Von der in einem friedlichen Werk so gefahrvoll zu behandelnden Geschichte der ersten Entdeckungen wie von vielbestrittenen Prioritätsrechten ist in den Anmerkungen selten die Rede. Wenn ich bisweilen des klassischen Altertums und der glücklichen Übergangsperiode des durch große geographische Entdeckungen wichtig gewordenen 15. und 16. Jahrhunderts erwähnt habe, so ist es nur geschehen, weil in dem Bereich allgemeiner Ansichten der Natur es dem Menschen ein Bedürfnis ist, sich von Zeit zu Zeit dem Kreis streng dogmatisierender moderner Meinungen zu entziehen und sich in das freie, phantasiereiche Gebiet älterer Ahnungen zu versenken.

Man hat es oft eine nicht erfreuliche Betrachtung genannt, daß, indem rein literarische Geistesprodukte gewurzelt sind in den Tiefen der Gefühle und der schöpferischen Einbildungskraft, alles, was mit der Empirie, mit Ergründung von Naturerscheinungen und physischen Gesetzen zusammenhängt, in wenigen Jahrzehnten, bei zunehmender Schärfe der Instrumente und allmählicher Erweiterung des Horizonts der Beobachtung eine andere Gestaltung annimmt; ja daß, wie man sich auszudrücken pflegt, veraltete naturwissenschaftliche Schriften als unlesbar der Vergessenheit übergeben sind. Wer von einer echten Liebe zum Naturstudium und von der erhabenen Würde desselben beseelt ist, kann durch nichts entmutigt werden, was an eine künftige Vervollkommnung des menschlichen Wissens erinnert. Viele und wichtige Teile dieses Wissens, in den Erscheinungen der Himmelsräume wie in den tellurischen Verhältnissen, haben bereits eine feste, schwer zu erschütternde Grundlage erlangt. In anderen Teilen werden allgemeine Gesetze an die Stelle der partikularen treten, neue Kräfte ergründet, für einfach gehaltene Stoffe vermehrt oder zergliedert werden. Ein Versuch, die Natur lebendig und in ihrer erhabenen Größe zu schildern, in dem wellenartig wiederkehrenden Wechsel physischer Veränderlichkeit das Beharrliche aufzuspüren, wird daher auch in späteren Zeiten nicht ganz unbeachtet bleiben.

 

Potsdam, im November 1844

 

 

 

    1 Zum Charakter dieser ältesten Rückschreibung des Kosmos-Planes S. im Kommentar ›Kosmos‹, Teilband 2, S. 348.

    2 Humboldt hielt von Ende 1825 bis Anfang 1827 14 Monate hindurch Vorlesungen über Physikalische Geographie bei der Marquise de Montauban.

    3 Die Reihenfolge der Vorträge war umgekehrt: Vom 3.11.1827 bis zum 26.4.1828 las er 61mal in der Universität, vom 6.12.1827 bis zum 27.4.1828 16mal in der Singakademie, und zwar in beiden Fällen eindeutig über Physikalische Geographie.

    4 Mehrere Kollegnachschriften haben sich erhalten, nur eine wurde publiziert; darüber S. den Kommentar, Teilband 2, S. 364, Anm. 33.

    5 Der Kosmos sollte damit ursprünglich nur in drei Bänden erscheinen.

Erster Band

Einleitende Betrachtungen
über die Verschiedenartigkeit des Naturgenusses
und eine wissenschaftliche Ergründung der Weltgesetze

(Vorgetragen am Tage der Eröffnung der Vorlesungen in der großen Halle der Singakademie zu Berlin [6. Dezember 1827] – Mehrere Einschaltungen gehören einer späteren Zeit an)

Wenn ich es unternehme, nach langer Abwesenheit aus dem deutschen Vaterland, in freien Unterhaltungen über die Natur die allgemeinen physischen Erscheinungen auf unserem Erdkörper und das Zusammenwirken der Kräfte im Weltall zu entwickeln, so finde ich mich mit einer zweifachen Besorgnis erfüllt. Einesteils ist der Gegenstand, den ich zu behandeln habe, so unermeßlich und die mir vorgeschriebene Zeit so beschränkt, daß ich fürchten muß, in eine enzyklopädische Oberflächlichkeit zu verfallen oder, nach Allgemeinheit strebend, durch aphoristische Kürze zu ermüden. Anderenteils hat eine vielbewegte Lebensweise mich wenig an öffentliche Vorträge gewöhnt, und in der Befangenheit meines Gemüts wird es mir nicht immer gelingen, mich mit der Bestimmtheit und Klarheit auszudrücken, welche die Größe und die Mannigfaltigkeit des Gegenstandes erheischen. Die Natur aber ist das Reich der Freiheit, und um lebendig die Anschauungen und Gefühle zu schildern, welche ein reiner Natursinn gewährt, sollte auch die Rede stets sich mit der Würde und Freiheit bewegen, welche nur hohe Meisterschaft ihr zu geben vermag.

Wer die Resultate der Naturforschung nicht in ihrem Verhältnis zu einzelnen Stufen der Bildung oder zu den individuellen Bedürfnissen des geselligen Lebens, sondern in ihrer großen Beziehung auf die gesamte MenschheitA betrachtet, dem bietet sich als die erfreulichste Frucht dieser Forschung der Gewinn dar, durch Einsicht in den Zusammenhang der Erscheinungen den Genuß der Natur vermehrt und veredelt zu sehen. Eine solche Veredlung ist aber das Werk der Beobachtung, der Intelligenz und der Zeit, in welcher alle Richtungen der Geisteskräfte sich reflektieren. Wie seit Jahrtausenden das Menschengeschlecht dahin gearbeitet hat, im ewig wiederkehrenden Wechsel der Weltgestaltungen das Beharrliche des Gesetzes aufzufinden und so allmählich durch die Macht der Intelligenz den weiten Erdkreis zu erobern, lehrt die Geschichte den, welcher den uralten Stamm unseres Wissens durch die tiefen Schichten der Vorzeit bis zu seinen Wurzeln zu verfolgen weiß. Diese Vorzeit befragen, heißt dem geheimnisvollen Gang der Ideen nachspüren, auf welchem dasselbe Bild, das früh dem inneren Sinn als ein harmonisch geordnetes Ganzes, Kosmos, vorschwebte, sich zuletzt wie das Ergebnis langer, mühevoll gesammelter Erfahrungen darstellt.

In diesen beiden Epochen der Weltansicht, dem ersten Erwachen des Bewußtseins der Völker und dem endlichen, gleichzeitigen Anbau aller Zweige der Kultur, spiegeln sich zwei Arten des Genusses ab. Den einen erregt, in dem offenen kindlichen Sinne des Menschen, der Eintritt in die freie Natur und das dunkle Gefühl des Einklangs, welcher im ewigen Wechsel ihres stillen Treibens herrscht. Der andere Genuß gehört der vollendeteren Bildung des Geschlechts und dem Reflex dieser Bildung auf das Individuum an: Er entspringt aus der Einsicht in die Ordnung des Weltalls und in das Zusammenwirken der physischen Kräfte. So wie der Mensch sich nun Organe schafft, um die Natur zu befragen und den engen Raum seines flüchtigen Daseins zu überschreiten, wie er nicht mehr bloß beobachtet, sondern Erscheinungen unter bestimmten Bedingungen hervorzurufen weiß, wie endlich die Philosophie der Natur, ihrem alten dichterischen Gewand entzogen, den ernsten Charakter einer denkenden Betrachtung des Beobachteten annimmt, treten klare Erkenntnis und Begrenzung an die Stelle dumpfer Ahnungen und unvollständiger Induktionen. Die dogmatischen Ansichten der vorigen Jahrhunderte leben dann nur fort in den Vorurteilen des Volks und in gewissen Disziplinen, die, in dem Bewußtsein ihrer Schwäche, sich gern in Dunkelheit hüllen. Sie erhalten sich auch als ein lästiges Erbteil in den Sprachen, die sich durch symbolisierende Kunstwörter und geistlose Formen verunstalten. Nur eine kleine Zahl sinniger Bilder der Phantasie, welche, wie vom Duft der Urzeit umflossen, auf uns gekommen sind, gewinnen bestimmtere Umrisse und eine erneuerte Gestalt.

Die Natur ist für die denkende Betrachtung Einheit in der Vielheit, Verbindung des Mannigfaltigen in Form und Mischung, Inbegriff der Naturdinge und Naturkräfte, als ein lebendiges Ganzes. Das wichtigste Resultat des sinnigen physischen Forschens ist daher dieses: in der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen, von dem Individuellen alles zu umfassen, was die Entdeckungen der letzteren Zeitalter uns darbieten, die Einzelheiten prüfend zu sondern und doch nicht ihrer Masse zu unterliegen: der erhabenen Bestimmung des Menschen eingedenk, den Geist der Natur zu ergreifen, welcher unter der Decke der Erscheinungen verhüllt liegt. Auf diesem Wege reicht unser Bestreben über die enge Grenze der Sinnenwelt hinaus; und es kann uns gelingen, die Natur begreifend, den rohen Stoff empirischer Anschauung gleichsam durch Ideen zu beherrschen.

Wenn wir zuvörderst über die verschiedenen Stufen des Genusses nachdenken, welchen der Anblick der Natur gewährt, so finden wir, daß die erste unabhängig von der Einsicht in das Wirken der Kräfte, ja fast unabhängig vom eigentümlichen Charakter der Gegend ist, die uns umgibt. Wo in der Ebene, einförmig, gesellige Pflanzen den Boden bedecken und auf grenzenloser Ferne das Auge ruht, wo des Meeres Wellen das Ufer sanft bespülen und durch Ulven [Meersalat] und grünenden Seetang ihren Weg bezeichnen: Überall durchdringt uns das Gefühl der freien Natur, ein dumpfes Ahnen ihres „Bestehens nach inneren ewigen Gesetzen“. In solchen Anregungen ruht eine geheimnisvolle Kraft; sie sind erheiternd und lindernd, stärken und erfrischen den ermüdeten Geist, besänftigen oft das Gemüt, wenn es schmerzlich in seinen Tiefen erschüttert oder vom wilden Drang der Leidenschaften bewegt ist. Was ihnen Ernstes und Feierliches beiwohnt, entspringt aus dem fast bewußtlosen Gefühl höherer Ordnung und innerer Gesetzmäßigkeit der Natur, aus dem Eindruck ewig wiederkehrender Gebilde, wo in dem Besondersten des Organismus das Allgemeine sich spiegelt; aus dem Kontrast zwischen dem sittlich Unendlichen und der eigenen Beschränktheit, der wir zu entfliehen streben. In jedem Erdstrich, überall wo die wechselnden Gestalten des Tier- und Pflanzenlebens sich darbieten, auf jeder Stufe intellektueller Bildung sind dem Menschen diese Wohltaten gewährt.

Ein anderer Naturgenuß, ebenfalls nur das Gefühl ansprechend, ist der, welchen wir nicht dem bloßen Eintritt in das Freie (wie wir tief bedeutsam in unserer Sprache sagen), sondern dem individuellen Charakter einer Gegend, gleichsam der physiognomischen Gestaltung der Oberfläche unseres Planeten verdanken. Eindrücke solcher Art sind lebendiger, bestimmter und deshalb für besondere Gemütszustände geeignet. Bald ergreift uns die Größe der Naturmassen im wilden Kampf der entzweiten Elemente oder, ein Bild des Unbeweglich-Starren, die Öde der unermeßlichen Grasfluren und Steppen, wie im gestaltlosen Flachland der Neuen Welt und des nördlichen Asiens; bald fesselt uns, freundlicheren Bildern hingegeben, der Anblick der bebauten Flur, die erste Ansiedlung des Menschen, von schroffen Felsschichten umringt, am Rande des schäumenden Gießbachs. Denn es ist nicht sowohl die Stärke der Anregung, welche die Stufen des individuellen Naturgenusses bezeichnet, wie der bestimmte Kreis von Ideen und Gefühlen, die sie erzeugen und welchen sie Dauer verleihen.

Darf ich mich hier der eigenen Erinnerung großer Naturszenen überlassen, so gedenke ich des Ozeans, wenn in der Milde tropischer Nächte das Himmelsgewölbe sein planetarisches, nicht funkelndes Sternenlicht über die sanftwogende Wellenfläche ergießt, oder der Waldtäler der Cordilleren, wo mit kräftigem Trieb hohe Palmenstämme das düstere Laubdach durchbrechen und als Säulengänge hervorragen, „ein Wald über dem Wald“1, oder des Pics von Teneriffa, wenn horizontale Wolkenschichten den Aschenkegel von der unteren Erdfläche trennen und plötzlich durch eine Öffnung, die der aufsteigende Luftstrom bildet, der Blick vom Rand des Kraters sich auf die weinbekränzten Hügel von Orotava und die Hesperidengärten der Küste hinabsenkt. In diesen Szenen ist es nicht mehr das stille, schaffende Leben der Natur, ihr ruhiges Treiben und Wirken, die uns ansprechen, es ist der individuelle Charakter der Landschaft, ein Zusammenfließen der Umrisse von Wolken, Meer und Küsten im Morgenduft der Inseln; es ist die Schönheit der Pflanzenformen und ihrer Gruppierung. Denn das Ungemessene, ja selbst das Schreckliche in der Natur, alles was unsere Fassungskraft übersteigt, wird in einer romantischen Gegend zur Quelle des Genusses. Die Phantasie übt dann das freie Spiel ihrer Schöpfungen an dem, was von den Sinnen nicht vollständig erreicht werden kann; ihr Wirken nimmt eine andere Richtung bei jedem Wechsel in der Gemütsstimmung des Beobachters. Getäuscht, glauben wir von der Außenwelt zu empfangen, was wir selbst in diese gelegt haben.

Wenn nach langer Seefahrt, fern von der Heimat, wir zum ersten Mal ein Tropenland betreten, erfreut uns an schroffen Felswänden der Anblick derselben Gebirgsarten (des Tonschiefers oder des basaltartigen Mandelsteins), die wir auf europäischem Boden verließen und deren Allverbreitung zu beweisen scheint, es habe die alte Erdrinde sich unabhängig vom äußeren Einfluß der jetzigen KlimateB gebildet; aber diese wohlbekannte Erdrinde ist mit den Gestalten einer fremdartigen Flora geschmückt. Da offenbart sich uns, den Bewohnern der nordischen Zone, von ungewohnten Pflanzenformen, von der überwältigenden Größe des tropischen Organismus und einer exotischen Natur umgeben, die wunderbar aneignende Kraft des menschlichen Gemütes. Wir fühlen uns so mit allem Organischen verwandt, daß, wenn es anfangs auch scheint, als müsse die heimische Landschaft wie ein heimischer Volksdialekt uns zutraulicher und durch den Reiz einer eigentümlichen Natürlichkeit uns inniger anregen als jene fremde üppige Pflanzenfülle, wir uns doch bald im Palmenklima der heißen Zone eingebürgert glauben. Durch den geheimnisvollen Zusammenhang aller organischen Gestaltung (und unbewußt liegt in uns das Gefühl der Notwendigkeit dieses Zusammenhangs) erscheinen unserer Phantasie jene exotischen Formen wie erhöht und veredelt aus denen, die unsere Kindheit umgaben. So leiten dunkle Gefühle und die Verkettung sinnlicher Anschauungen wie später die Tätigkeit der kombinierenden Vernunft zu der Erkenntnis, welche alle Bildungsstufen der Menschheit durchdringt, daß ein gemeinsames, gesetzliches und darum ewiges Band die ganze lebendige Natur umschlinge.

Es ist ein gewagtes Unternehmen, den Zauber der Sinnenwelt einer Zergliederung seiner Elemente zu unterwerfen. Denn der großartige Charakter einer Gegend ist vorzüglich dadurch bestimmt, daß die eindruckreichsten Naturerscheinungen gleichzeitig vor die Seele treten, daß eine Fülle von Ideen und Gefühlen gleichzeitig erregt werde. Die Kraft einer solchen über das Gemüt errungenen Herrschaft ist recht eigentlich an die Einheit des Empfundenen, des Nicht-Entfalteten geknüpft. Will man aber aus der objektiven Verschiedenheit der Erscheinungen die Stärke des Totalgefühls erklären, so muß man sondernd in das Reich bestimmter Naturgestalten und wirkender Kräfte hinabsteigen. Den mannigfaltigsten und reichsten Stoff für diese Art der Betrachtungen gewährt die landschaftliche Natur im südlichen Asien oder im Neuen Kontinent: da, wo hohe Gebirgsmassen den Boden des Luftmeers bilden und wo dieselben vulkanischen Mächte, welche einst die lange Anden-Mauer aus tiefen Erdspalten emporgehoben haben, jetzt noch ihr Werk zum Schrecken der Anwohner oft erschüttern.

Naturgemälde, nach leitenden Ideen aneinandergereiht, sind nicht allein dazu bestimmt, unseren Geist angenehm zu beschäftigen; ihre Reihenfolge kann auch die Graduation der Natureindrücke bezeichnen, deren allmählich gesteigerten Intensität wir aus der einförmigen Leere pflanzenloser Ebenen bis zu der üppigen Blütenfülle der heißen Zone gefolgt sind. Wenn man als ein Spiel der Phantasie den Pilatus auf das Schreckhorn2, oder unsere Sudetische Schneekoppe auf dem Montblanc auftürmt, so hat man noch nicht eine der größten Höhen der Andenkette, den Chimborazo, die doppelte Höhe des Ätna erreicht; wenn man auf den Chimborazo den Rigi oder den Athos türmt, so schaffen wir uns ein Bild von dem höchsten Gipfel des Himalaja-Gebirges, dem Dhaulagiri.C Obgleich das indische Gebirge in der Größe seiner kolossalen, jetzt durch wiederholte Messung wohlbestimmten Massen die Andenkette weit übertrifft, so gewährt ihr Anblick doch nicht die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, welche die Cordilleren von Südamerika charakterisieren. Höhe allein bestimmt nicht den Eindruck der Natur. Die Himalaja-Kette liegt schon weit außerhalb der Grenze tropischer Klimate. Kaum verirrt sich eine Palme3 bis in die schönen Täler der Vorgebirge von Nepal und Kumaon. Unter dem 28. und 34. Grad der Breite, am Abhang des alten Paropamisus [= Hindukusch], entfaltet die vegetabilische Natur nicht mehr die Fülle baumartiger Farnkräuter und Gräser, großblütiger Orchideen und Bananengewächse, welche unter den Wendekreisen bis zu den Hochebenen hinaufsteigen. Unter dem Schatten der zederartigen Deodwara-Fichte und großblättriger Eichen bedecken das granitartige Gestein europäische und nordasiatisehe Pflanzenformen. Es sind nicht dieselben Arten, aber ähnliche Gebilde: Wacholder, Alpenbirken, Gentianen, Parnassien und stachlige Ribesarten.4 Dem Himalaja fehlen die wechselnden Erscheinungen tätiger Vulkane, welche in der indischen Inselwelt drohend an das innere Leben der Erde mahnen. Auch fängt, wenigstens an seinem südlichen Abhang, wo die feuchtere Luft Hindustans ihren Wassergehalt absetzt, der ewige Schnee meist schon in der Höhe von 11.000 bis 12.000 Fuß an und setzt so der Entwicklung des organischen Lebens eine frühere Grenze als in den Äquinoktialgegenden von Südamerika, wo der Organismus fast 2600 Fuß höher verbreitet ist.5

Die dem Äquator nahe Gebirgsgegend hat einen anderen, nicht genugsam beachteten Vorzug: Es ist der Teil der Oberfläche unseres Planeten, wo im engsten Raum die Mannigfaltigkeit der Natureindrücke ihr Maximum erreicht. In der tiefgefurchten Andenkette von Neu-Granada [Kolumbien] und Quito ist es dem Menschen gegeben, alle Gestalten der Pflanzen und alle Gestirne des Himmels gleichzeitig zu schauen. Ein Blick umfaßt Helikonien, hochgefiederte Palmen, Bambusen, und über diesen Formen der Tropenwelt: Eichenwälder, Mespilusarten und Doldengewächse wie in unserer deutschen Heimat; ein Blick umfaßt das südliche Kreuz, die Magellanischen Wolken und die leitenden Sterne des Bären, die um den Nordpol kreisen. Dort öffnen der Erde Schoß und beide Hemisphären des Himmels den ganzen Reichtum ihrer Erscheinungen und verschiedenartigen Gebilde; dort sind die Klimate wie die durch sie bestimmten Pflanzenzonen schichtenweise übereinander gelagert, dort die Gesetze abnehmender Wärme, dem aufmerksamen Beobachter verständlich, mit ewigen Zügen in die Felsenwände der Andenkette, am Abhang des Gebirges, eingegraben. Um diese Versammlung nicht mit Ideen zu ermüden, die ich versucht habe 6 in einem eigenen Werk über die Geographie der Pflanzen bildlich darzustellen, hebe ich hier nur einige wenige Erinnerungen aus dem ›Naturgemälde der Tropenländer‹ hervor. Was im Gefühl umrißlos und duftig, wie Bergluft, verschmilzt, kann von der nach dem Kausalzusammenhang der Erscheinungen grübelnden Vernunft nur in einzelne Elemente zerlegt, als Ausdruck eines individuellen Naturcharakters begriffen werden. Aber im wissenschaftlichen Kreis wie in den heiteren Kreisen der Landschaftsdichtung und Landschaftsmalerei gewinnt die Darstellung um so mehr an Klarheit und objektiver Lebendigkeit, wie das einzelne bestimmt aufgefaßt und begrenzt ist.

Sind die tropischen Länder eindrucksreicher für das Gemüt durch Fülle und Üppigkeit der Natur, so sind sie zugleich auch (und dieser Gesichtspunkt ist der wichtigste in dem Ideengang, den ich hier verfolge) vorzugsweise dazu geeignet, durch einförmige Regelmäßigkeit in den meteorologischen Prozessen des Luftkreises und in der periodischen Entwicklung des Organismus, durch scharfe Scheidung der Gestalten bei senkrechter Erhebung des Bodens, dem Geist die gesetzmäßige Ordnung der Himmelsräume, wie abgespiegelt im Erdenleben, zu zeigen. Mögen wir einige Augenblicke bei diesem Bild der Regelmäßigkeit, die selbst an Zahlenverhältnisse geknüpft ist, verweilen!

In den heißen Ebenen, die sich wenig über die Meeresfläche der Südsee erheben, herrscht die Fülle der Pisanggewächse, der Cycadeen und Palmen; ihr folgen, von hohen Talwänden beschattet, baumartige Farnkräuter und, in üppiger Naturkraft, von kühlem Wolkennebel unaufhörlich getränkt und erfrischt, die Cinchoneen, welche die lange verkannte, wohltätige Fieberrinde geben. Wo der hohe Baumwuchs aufhört, blühen, gesellig aneinandergedrängt, Aralien, Thibaudien und myrtenblättrige Andromeden. Einen purpurroten Gürtel bildet die Alpenrose der Cordilleren, die harzreiche Befaria. Dann verschwinden allmählich, in der stürmischen Region der Páramos, die höheren Gesträuche und die großblütigen Kräuter. Rispentragende Monokotyledonen bedecken einförmig den Boden: eine unabsehbare Grasflur, gelb leuchtend in der Ferne; hier weiden einsam das Kamel-Schaf [Lama] und die von den Europäern eingeführten Rinder. Wo die nackten Felsklippen trachytartigen Gesteins sich aus der Rasendecke emporheben, da entwickeln sich bei mangelnder Dammerde nur noch Pflanzen niederer Organisation: die Schar der Flechten, welche der dünne, kohlenstoffarme Luftkreis dürftig ernährt; Parmelien, Lexideen und der vielfarbige Keimstaub der Leprarien. Inseln frisch gefallenen Schnees verhüllen hier die letzten Regungen des Pflanzenlebens, bis scharf begrenzt die Zone des ewigen Eises beginnt. Durch die weißen, wahrscheinlich hohlen, glockenförmigen Gipfel streben, doch meist vergebens, die unterirdischen Mächte auszubrechen. Wo es ihnen gelungen ist, durch runde, kesseiförmige Feuerschlünde oder langgedehnte Spalten mit dem Luftkreis in bleibenden Verkehr zu treten, da stoßen sie fast nie Laven, aber Kohlensäure, Schwefelhydrate und heiße Wasserdämpfe aus.

Ein so erhabenes Schauspiel konnte bei den Bewohnern der Tropenwelt im ersten Andrang roher Naturgefühle nur Bewunderung und dumpfes Erstaunen erregen. Der innere Zusammenhang großer, periodisch wiederkehrender Erscheinungen, die einfachen Gesetze, nach denen diese Erscheinungen sich zonenweise gruppieren, bieten sich dort allerdings dem Menschen in größerer Klarheit dar; aber bei den Ursachen, welche in vielen Teilen dieses glücklichen Erdstrichs dem lokalen Entstehen hoher Gesittung entgegentreten, sind die Vorteile eines leichteren Erkennens jener Gesetze (so weit geschichtliche Kunde reicht) unbenutzt geblieben. Gründliche Untersuchungen der neuesten Zeit haben es mehr als zweifelhaft gemacht, daß der eigentliche Ursitz indischer Kultur, einer der herrlichsten Blüten des Menschengeschlechts, deren südöstliche Verbreitung Wilhelm von Humboldt in seinem großen Werk7 ›Über die Kawi-Sprache‹ entwickelt hat, innerhalb der Wendekreise gewesen sei. Airyana Vaedjô, das alte Zendland, lag im Nordwesten des oberen Indus, und nach dem religiösen Zwiespalt, dem Abfall der Iraner vom brahmanischen Institut und ihrer Trennung von den Indern hat bei diesen die ursprünglich gemeinschaftliche Sprache ihre eigentümliche Gestaltung, wie das bürgerliche Wesen seine Ausbildung im Magadha8 oder Madhya Desa, zwischen der kleinen Vindhya-Kette und dem Himalaja erlangt.

Tiefere Einsicht in das Wirken der physischen Kräfte hat sich (trotz der Hindernisse, welche unter höheren Breiten verwickelte örtliche Störungen in den Naturprozessen des Dunstkreises oder in der klimatischen Verbreitung organischer Gebilde dem Auffinden allgemeiner Gesetze entgegenstellen) doch nur, wenngleich spät, bei den Volksstämmen gefunden, welche die gemäßigte Zone unserer Hemisphäre bewohnen. Von daher ist diese Einsicht in die Tropenregion und in die ihr nahen Länder durch Völkerzüge und fremde Ansiedler gebracht worden: eine Verpflanzung wissenschaftlicher Kultur, die auf das intellektuelle Leben und den industriellen Wohlstand der Kolonien wie der Mutterstaaten gleich wohltätig eingewirkt hat. Wir berühren hier den Punkt, wo im Kontakt mit der Sinnenwelt zu den Anregungen des Gemütes sich noch ein anderer Genuß gesellt, ein Naturgenuß, der aus Ideen entspringt: da, wo im Kampf der streitenden Elemente das Ordnungsmäßige, Gesetzliche nicht bloß geahnt, sondern vernunftmäßig erkannt wird, wo der Mensch, wie der unsterbliche Dichter9 sagt:

sucht den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht.

Um diesen Naturgenuß, der aus Ideen entspringt, bis zu seinem ersten Keim zu verfolgen, bedarf es nur eines flüchtigen Blicks auf die Entwicklungsgeschichte der Philosophie der Natur oder der alten Lehre vom Kosmos.

Ein dumpfes, schauervolles Gefühl von der Einheit der Naturgewalten, von dem geheimnisvollen Band, welches das Sinnliche und Übersinnliche verknüpft, ist allerdings (und meine eigenen Reisen haben es bestätigt) selbst wilden Völkern eigen. Die Welt, die sich dem Menschen durch die Sinne offenbart, schmilzt, ihm selbst fast unbewußt, zusammen mit der Welt, welche er, inneren Anklängen folgend, als ein großes Wunderland in seiner Brust aufbaut. Diese aber ist nicht der reine Abglanz von jener; denn so wenig auch noch das Äußere vom Inneren sich loszureißen vermag, so wirkt doch schon unaufhaltsam bei den rohesten Völkern die schaffende Phantasie und die symbolisierende Ahnung des Bedeutsamen in den Erscheinungen. Was bei einzelnen mehr begabten Individuen sich als Rudiment einer Naturphilosophie, gleichsam als eine Vernunftanschauung darstellt, ist bei ganzen Stämmen das Produkt instinktiver Empfänglichkeit. Auf diesem Weg, in der Tiefe und Lebendigkeit dumpfer Gefühle, liegt zugleich der erste Antrieb zum Kultus, die Heiligung der erhaltenden wie der zerstörenden Naturkräfte. Wenn nun der Mensch, indem er die verschiedenen Entwicklungsstufen seiner Bildung durchläuft, minder an den Boden gefesselt, sich allmählich zu geistiger Freiheit erhebt, genügt ihm nicht mehr ein dunkles Gefühl, die stille Ahnung von der Einheit aller Naturgewalten. Das zergliedernde und ordnende Denkvermögen tritt in seine Rechte ein; und wie die Bildung des Menschengeschlechts, so wächst gleichmäßig mit ihr beim Anblick der Lebensfülle, welche durch die ganze Schöpfung fließt, der unaufhaltsame Trieb, tiefer in den ursächlichen Zusammenhang der Erscheinungen einzudringen.

Schwer ist es, einem solchen Trieb schnelle und doch sichere Befriedigung zu gewähren. Aus unvollständigen Beobachtungen und noch unvollständigeren Induktionen entstehen irrige Ansichten vom Wesen der Naturkräfte: Ansichten, die, durch bedeutsame Sprachformen gleichsam verkörpert und erstarrt, sich wie ein Gemeingut der Phantasie durch alle Klassen einer Nation verbreiten. Neben der wissenschaftlichen Physik bildet sich dann eine andere, ein System ungeprüfter, zum Teil gänzlich mißverstandener Erfahrungskenntnisse. Wenige Einzelheiten umfassend, ist diese Art der Empirik um so anmaßender, als sie keine der Tatsachen kennt, von denen sie erschüttert wird. Sie ist in sich abgeschlossen, unveränderlich in ihren Axiomen, anmaßend wie alles Beschränkte: während die wissenschaftliche Naturkunde, untersuchend und darum zweifelnd, das fest Ergründete vom bloß Wahrscheinlichen trennt und sich täglich durch Erweiterung und Berichtigung ihrer Ansichten vervollkommnet.

Eine solche rohe Anhäufung physischer Dogmen, welche ein Jahrhundert dem andern überliefert und aufdrängt, wird aber nicht bloß schädlich, weil sie einzelne Irrtümer nährt, weil sie hartnäckig wie das Zeugnis schlecht beobachteter Tatsachen ist, nein, sie hindert auch jede großartige Betrachtung des Weltbaus. Statt den mittleren Zustand zu erforschen, um welchen bei der scheinbaren Ungebundenheit der Natur alle Phänomene innerhalb enger Grenzen oszillieren, erkennt sie nur die Ausnahmen von den Gesetzen; sie sucht andere Wunder in den Erscheinungen und Formen als die der geregelten und fortschreitenden Entwicklung. Immer ist sie geneigt, die Kette der Naturbegebenheiten zerrissen zu wähnen, in der Gegenwart die Analogie mit der Vergangenheit zu verkennen, und spielend, bald in den fernen Himmelsräumen, bald im Innern des Erdkörpers, die Ursache jener erdichteten Störungen der Weltordnung aufzufinden. Sie führt ab von den Ansichten der vergleichenden Erdkunde, die, wie Carl Ritters großes und geistreiches Werk bewiesen hat,D nur dann Gründlichkeit erlangt, wenn die ganze Masse von Tatsachen, die unter verschiedenen Himmelsstrichen gesammelt worden sind, mit einem Blicke umfaßt, dem kombinierenden Verstand zu Gebote steht.

Es ist ein besonderer Zweck dieser Unterhaltungen über die Natur, einen Teil der Irrtümer, die aus roher und unvollständiger Empirie entsprungen sind und vorzugsweise in den höheren Volksklassen (oft neben einer ausgezeichneten literarischen Bildung) fortleben, zu berichtigen und so den Genuß der Natur durch tiefere Einsicht in ihr inneres Wesen zu vermehren. Das Bedürfnis eines solchen veredelten Genusses wird allgemein gefühlt; denn ein eigener Charakter unseres Zeitalters spricht sich im Bestreben aller gebildeten Stände aus, das Leben durch einen größeren Reichtum von Ideen zu verschönern. Der ehrenvolle Anteil, welcher meinen Vorträgen in zwei Hörsälen dieser Hauptstadt geschenkt wird, zeugt für die Lebendigkeit eines solchen Bestrebens.

Ich kann daher der Besorgnis nicht Raum geben, zu welcher Beschränkung oder eine gewisse sentimentale Trübheit des Gemüts zu leiten scheinen: der Besorgnis, daß bei jedem Forschen in das innere Wesen der Kräfte die Natur von ihrem Zauber, vom Reiz des Geheimnisvollen und Erhabenen verliere. Allerdings wirken Kräfte im eigentlichen Sinne des Wortes nur dann magisch, wie im Dunkel einer geheimnisvollen Macht, wenn ihr Wirken außerhalb des Gebiets allgemein erkannter Naturbedingungen liegt. Der Beobachter, der durch ein Heliometer oder einen prismatischen Doppelspat10 den Durchmesser der Planeten bestimmt, jahrelang die Meridianhöhe desselben Sternes mißt, zwischen dichtgedrängten Nebelflecken teleskopische Kometen erkennt, fühlt (und es ist ein Glück für den sicheren Erfolg dieser Arbeit) seine Phantasie nicht mehr angeregt als der beschreibende Botaniker, solange er die Kelcheinschnitte und die Staubfäden einer Blume zählt und in der Struktur eines Laubmooses die einfachen oder doppelten, die freien oder ringförmig verwachsenen Zähne der Samenkapsel untersucht, aber das Messen und Auffinden numerischer Verhältnisse, die sorgfältigste Beobachtung des einzelnen bereitet zu der höheren Kenntnis des Naturganzen und der Weltgesetze vor. Dem Physiker [Naturforscher], welcher (wie Thomas Young, Arago und Fresnel) die ungleich langen Ströme der durch Interferenz sich vernichtenden oder verstärkenden Lichtwellen mißt, dem Astronomen, der mittels der raumdurchdringenden Kraft der Fernrohre nach den Monden des Uranus am äußersten Rand unseres Sonnensystems forscht oder (wie Herschel, South und Struve) aufglimmende Lichtpunkte in farbige Doppelsterne zerlegt, dem eingeweihten Blick des Botanikers, welcher die algenartig kreisende Bewegung der Saftkügelchen in fast allen vegetabilischen Zellen, die Einheit der Gestaltung, d.i. die Verkettung der Formen in Geschlechtern und natürlichen Familien, erkennt, gewähren die Himmelsräume wie die blütenreiche Pflanzendecke der Erde gewiß einen großartigeren Anblick als dem Beobachter, dessen Natursinn noch nicht durch die Einsicht in den Zusammenhang der Erscheinungen geschärft ist. Wir können daher dem geistreichen Burke nicht beipflichten, wenn er behauptet, daß „aus der Unwissenheit von den Dingen der Natur allein die Bewunderung und das Gefühl des Erhabenen entstehe“.

Während die gemeine Sinnlichkeit die leuchtenden Gestirne an ein kristallenes Himmelsgewölbe heftet, erweitert der Astronom die räumliche Ferne; er begrenzt unsere Weltengruppe, nur um jenseits andere und andere ungezählte Gruppen (eine aufglimmende Inselflur) zu zeigen. Das Gefühl des Erhabenen, insofern es aus der einfachen Naturanschauung der Ausdehnung zu entspringen scheint, ist der feierlichen Stimmung des Gemüts verwandt, welche dem Ausdruck des Unendlichen und Freien in den Sphären ideeller Subjektivität, im Bereich des Geistigen angehört. Auf dieser Verwandtschaft, dieser Bezüglichkeit der sinnlichen Eindrücke beruht der Zauber des Unbegrenzten: sei es auf dem Ozean und im Luftmeer, wo dieses eine isolierte Bergspitze umgibt, sei es im Weltraum, in den die nebelauflösende Kraft großer Fernrohre unsere Einbildungskraft tief und ahnungsvoll versenkt.

Einseitige Behandlung der physikalischen [Natur-]Wissenschaften, endloses Anhäufen roher Materialien konnten freilich zu dem nun fast verjährten Vorurteil beitragen, als müßte notwendig wissenschaftliche Erkenntnis das Gefühl erkalten, die schaffende Bildkraft der Phantasie ertöten und so den Naturgenuß stören. Wer in der bewegten Zeit, in der wir leben, noch dieses Vorurteil nährt, der verkennt bei dem allgemeinen Fortschreiten menschlicher Bildung die Freuden einer höheren Intelligenz: einer Geistesrichtung, welche Mannigfaltigkeit in Einheit auflöst und vorzugsweise beim Allgemeinen und Höheren verweilt. Um dies Höhere zu genießen, müssen in dem mühsam durchforschten Feld spezieller Naturformen und Naturerscheinungen die Einzelheiten zurückgedrängt und von dem selbst, der ihre Wichtigkeit erkannt hat und den sie zu größeren Ansichten geleitet, sorgfältig verhüllt werden.

Zu den Besorgnissen über den Verlust eines freien Naturgenusses unter dem Einfluß denkender Betrachtung oder wissenschaftlicher Erkenntnis gesellen sich auch die, welche aus dem nicht allen erreichbaren Maß dieser Erkenntnis oder dem Umfang derselben geschöpft werden. Im wundervollen Gewebe des Organismus, im ewigen Treiben und Wirken der lebendigen Kräfte führt allerdings jedes tiefere Forschen an den Eingang neuer Labyrinthe.E Aber gerade diese Mannigfaltigkeit unbetretener, vielverschlungener Wege erregt auf allen Stufen des Wissens freudiges Erstaunen. Jedes Naturgesetz, das sich dem Beobachter offenbart, läßt auf ein höheres, noch unerkanntes schließen; denn die Natur ist, wie Carus11 trefflich sagt, und wie das Wort selbst dem Römer und dem Griechen andeutet, „das ewig Wachsende, ewig im Bilden und Entfalten Begriffene“F. Der Kreis der organischen Typen erweitert sich, je mehr die Erdräume auf Land- und Seereisen durchsucht, die lebendigen Organismen mit den abgestorbenen verglichen, die Mikroskope vervollkommnet und verbreitet werden. In der Mannigfaltigkeit und im periodischen Wechsel der Lebensgebilde erneuert sich unablässig das Urgeheimnis aller Gestaltung, ich sollte sagen: das von Goethe so glücklich behandelte Problem der Metamorphose; eine Lösung, die dem Bedürfnis nach einem idealen Zurückführen der Formen auf gewisse Grundtypen entspricht. Mit wachsender Einsicht vermehrt sich das Gefühl von der Unermeßlichkeit des Naturlebens; man erkennt, daß auf der Feste, in der Lufthülle, welche die Feste umgibt, in den Tiefen des Ozeans wie in den Tiefen des Himmels dem kühnen wissenschaftlichen Eroberer12 auch nach Jahrtausenden nicht „der Weltraum fehlen wird“.

Allgemeine Ansichten des Geschaffenen (sei es der Materie, zu fernen Himmelskörpern geballt, sei es der uns nahen tellurischen [irdischen] Erscheinungen) sind nicht allein anziehender und erhebender als die speziellen Studien, welche abgesonderte Teile des Naturwissens umfassen; sie empfehlen sich auch vorzugsweise denen, die wenig Muße auf Beschäftigungen dieser Art verwenden können. Die naturbeschreibenden Disziplinen sind meist nur für gewisse Lagen geeignet; sie gewähren nicht dieselbe Freude zu jeder Jahreszeit, in jedem Land, das wir bewohnen. Die unmittelbare Anschauung der Naturkörper, die sie erheischen, müssen wir in unserer nördlichen Zone oft lange entbehren, und ist unser Interesse auf eine bestimmte Klasse von Gegenständen beschränkt, so gewähren uns selbst die trefflichsten Berichte reisender Naturforscher keinen Genuß, wenn darin gerade solche Gegenstände unberührt bleiben, auf welche unsere Studien gerichtet sind.

Wie die Weltgeschichte, wo es ihr gelingt, den wahren ursächlichen Zusammenhang der Begebenheiten darzustellen, viele Rätsel in den