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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74099-492-1
Das einzige, was Tate Morris sympathisch machte, war seine Schwester Caroline. Während ihr volles rötliches Haar seidig schimmerte, glich Tate Morris’ kurzgeschorener Haarschopf eher den Stacheln eines Igels, der aus Versehen in ein Mennigefaß gefallen war.
Morris’ rundes Pfannkuchengesicht, das man beim ersten Sehen für gutmütig halten konnte, erhob sich über der Menge wie ein von innen erleuchteter Honigkürbis.
So sah ihn Dan Madun: einen baumlangen, breitschultrigen Mann mit beachtlichem Bauchumfang, der sich seinen Weg durch die Menge bahnte. Daß er es absolut rücksichtslos tat, paßte zu ihm wie der runde Bowler, ohne den man sich dieses Vollmondgesicht nicht vorstellen konnte.
Im nächsten Augenblick sah Madun die beiden anderen Männer, die Morris im Kielwasser folgten. Sie glichen zwei kleinen schmalbrüstigen Hühnern, die Mühe hatten, einem besonders großen, stolzen Hahn zu folgen.
Der Mann zwischen ihnen trug keinen Hut, und der Regen, der jetzt auf Granger in Wyoming und die Bahnstation fiel, rieselte dem kleinen, mickrigen Mann auf die kahle Kopfhaut zwischen dem Kranz schütterer Haare.
Der Mann ging gebeugten Hauptes, eine irgendwie Mitleid erregende Figur, die so leichtgewichtig sein mußte, daß der riesige Tate Morris sie todsicher mühelos mit einer Hand fassen und am ausgestreckten Arm verhungern lassen konnte.
Morris stieß jetzt einem gedrungenen, stämmigen Mann die Rechte in den Rücken. Der Stämmige taumelte zur Seite, fuhr sofort herum, stieß irgendeinen wilden Fluch aus, der im Zischen abblasenden Dampfes der Lok unterging und holte aus.
Dann erst sah er den Deputysheriffstern an der Weste von Morris. Es war bezeichnend, daß sich die Augen des Stämmigen etwa auf der Höhe des Ordens befanden, denn Morris überragte den Mann um volle fünfundzwanzig Zoll.
»Versuche es mal, Mister«, grollte der riesige Morris.
Er fing den herumzuckenden Arm des Stämmigen mit der Rechten ab, schloß seine Finger um dessen Handgelenk und drehte einmal. »Hast du nicht gehört gehabt? Du sollst aus dem Wege gehen, sagte ich. Jetzt gehst du!«
Dan Madun sah freudlos zu, wie Morris dem Mann mit einem blitzschnellen Ruck den Ann umdrehte. Der Stämmige stieß einen heulenden Laut aus, und Madun war bereit zu wetten, daß er den Arm drei Tage nicht bewegen, aber auch kaum sitzen können würde.
In derselben Sekunde, in der sich der Stämmige zusammenkrümmte, schoß Morris’ rechter Stiefel in die Höhe und traf haargenau das Gesäß des immer noch Schreienden. Gleichzeitig ließ Morris den Arm los, und der Mann flog mit der Geschwindigkeit eines losfliegenden Rennpferdes gegen die Waggonwand. Er hatte sechs Schritt in weniger als einer Sekunde zurückgelegt. Wahrscheinlich war er noch nie im Leben schneller gewesen.
»Komm schnell«, sagte Morris danach grimmig. Seine Stimme klang jetzt rauh, wie die Rundseite einer Raspel. Zugleich machte er mit der Linken eine Bewegung, als zöge er ein störrisches Maultier hinter sich her. »Beeilung, Dollyn, der Zug wartet deinetwegen keine Minute. Komm, du quakender Ochsenfrosch.«
Der kleine, mickrige Mann mit der Halbglatze sauste gegen Morris, und die Knebelkette sang zuerst, um danach nur noch zu klirren.
Madun sah jetzt die vorn gefesselten Hände des kleinen Mannes. Morris hatte die Knebelkette durch das Verbindungsglied zwischen den beiden Stellen gezogen und zusammengedreht. Der kleine Mann hatte kaum Bewegungsfreiheit, er verzog das Gesicht vor Schmerz, als sich die Kette spannte, und Madun sah den haßvollen, finsteren Blick, den der Mann Morris zuwarf. Er konnte das riskieren, denn Morris ging unbeirrbar weiter und sah sich nicht nach ihm um. Der Hilfssheriff aus Rawlins, den manche Leute einen Totschläger, andere einen Schlächter und jene, die es mit ihm zu tun gehabt hatten, einen brutalen Hundesohn nannten, hatte nur die Plattform des Waggons im Auge.
Vielleicht war es das Pech von Morris, daß er ausgerechnet den dritten Juli für den Transport seines Gefangenen gewählt hatte. Der Zug nach Cheyenne nahm für die jährliche Unabhängigkeitsfeier mehr Leute auf, als die Waggons Sitzplätze besaßen. Morris wollte noch einen Sitzplatz ergattern, und er bahnte sich seinen Weg wie ein Schneepflug.
Die beiden Deputies aus Granger folgten Morris jetzt im leichten Trab. Wahrscheinlich würden sie drei Kreuze machen, wenn sie das getan hatten, was Vorschrift war: den Gefangenen und damit Morris bis zum Zug begleiten. Saß Morris erst einmal im Waggon, befand er sich außerhalb der Stadtrechte und unterstand den Gesetzen der Bahn.
»Zurück da vorn!« donnerte Morris jetzt barsch. Er schob mit ausgestrecktem rechtem Arm eine rundliche, breithüftige Frau zur Seite und drückte danach einen hageren, klapperdürren Mann im Dreiviertelrock fort. »Macht Platz für einen blutigen Mörder!«
Die dicke Frau stieß einen entsetzten Japser aus, der hagere Mann fuhr herum und wich sofort noch weiter zurück.
»Mein Himmel, es ist Archie Doolyn«, ächzte er mit einer Falsettstimme. »Alle Teufel, soll der Bursche etwa mit uns fahren, Sheriff?«
»Das soll und wird er«, versicherte Morris finster. »Fort mit euch, der Gefangene muß in den Zug, macht Platz, oder ich mache euch Beine, Leute. Hier kommt der schreckliche Archie Doolyn, der kaltblütige Halsabschneider und blutigste Revolvermörder, den euer Town-Jail jemals beherbergt hat. Macht Platz, oder ich gebe Doolyn ein langes Messer und mache ihm die Hände frei.«
Jetzt wichen die Leute tatsächlich zurück, schoben sich hastig an Dan Madun vorbei, und der stand plötzlich frei zwischen den beiden Waggons.
Morris blieb im selben Augenblick, in dem er den Bahnmarshal erblickte, wie vor eine Mauer gelaufen stehen. Sein Gefangener hatte wohl damit gerechnet, daß es in dem Tempo weiter und schnell in den Zug gehen würde. Er lief sozusagen auf Morris auf.
»Du lausige Ratte, tritt mir nicht in die Hacken«, knurrte Morris wütend. »Mach das noch mal, und ich sorge dafür, daß du eine Vollglatze hast, ehe wir in Rawlins sind. Verdammt, verdammt, wen sehe ich denn da?«
Morris starrte Madun an wie eine gereizte Bulldogge.
»Siehst du, er erkennt dich nicht auf den ersten Blick, Dan«, sagte jemand nun hinter der Waggonecke von den Schienen her. »Er hat schon immer geschielt, dieser triefäugige Menschen- und Tierquäler. Man sollte ihm eine Schielbrille verpassen, damit er die Leute gleich erkennt, die keine Angst vor ihm haben. Hallo, Tierschinder.«
Morris sperrte den Mund so weit auf, daß man ihm ein ganzes Blech Pflaumenkuchen auf einmal hätte zwischen die Zähne stopfen können, schloß ihn dann jedoch mit einem deutlich hörbaren Klappen und blickte »Bully« Nat Jackson, den Heizer der Lok, fuchsteufelswild an. Sein nächster Blick schoß zu dem schwarzweißen, spitzähnlichen Mischlingsköter, den Bully Jackson auf dem linken Arm trug, während er in der Rechten eine Brühwurst hielt, deren anderes Ende seine Hündin zwischen den Zähnen hatte.
Kaum sah die Hündin den Deputysheriff, als sie knurrend die Lefzen zurückzog, das Ende der Wurst fallenließ und danach loskläffte, als wollte sie aus Bullys Armen Morris ins Gesicht springen.
»Das Mistvieh auch noch«, stieß Morris voller Wut durch die Zähne. »Hölle und Pest, dieses widerwärtige, giftige Mistvieh mit einer Wurst. Ich werde verrückt, das Vieh bekommt eine ganze Wurst?«
»Ja«, erwiderte Bully Jackson ergrimmt, »und du gleich die nächste Abreibung, Morris, wenn du Miss Rose noch mal ein Mistvieh nennst, du Tiertotschläger.«
»Ich habe sie verdammt nicht totgeschlagen«, fluchte Morris lauthals. »Ich habe ihr nur einen leichten Klopfer mit meinem Hut verpaßt, als sie mich beinahe vom Tender angesprungen hat und mich beißen wollte. Nur einen leichten Klopfer mit dem Hut, Jackson, du Ochse, verstanden?«
»Wenn das ein leichter Klaps gewesen ist, wäre sie nicht vom Tender geflogen«, gab Bully Jackson düster zurück. »Miss Rose ist ein kleines, sanftes Tier, das niemandem etwas tut, das weißt du genau, du Sklaventreiber. Und daß sie jeden, der an meine Lok will, anbellt, Mister, ist überall bekannt. Verdammt keine Art, einen kleinen Hund beinahe totzuschlagen. Außerdem geht es dich einen Dreck an, ob sie eine ganze Wurst bekommt oder nicht. Sie hat sie sich ehrlich verdient und neulich ein paar lausige Tramps verbellt, die unsere Sachen von der Lok stehlen wollten. Komm, Miss Rose, sei ruhig, beiß in die Wurst und lasse sie nicht wieder zwischen die Waggons auf die Gleise fallen. Den brauchst du nicht zu verbellen, der tut dir nichts mehr. Und wenn doch…«
Bully Jackson blickte Morris drohend an.
Dann wandte er sich ab, ging los und sagte im Fortgehen zu Dan Madun: »Mach dem Burschen klar, daß er sich von nun an auf Bahn-Gelände befindet und sich zu benehmen hat. Gibt es seinetwegen Ärger, fliegt er aus dem Zug – und wenn es bei voller Fahrt ist.«
»Verflucht, komm du mir nach Rawlins und falle dort in der Stadt auf«, knurrte Morris. »Ich loche dich ein, bis dein Bart dir auf die Füße wächst, Jackson. Madun, wie weit fährst du mit?«
»Bis Cheyenne«, sagte Dan Madun knapp. »Steig ein, du hältst alles auf, Mann. Das ist wirklich Archie Doolyn?«
»Worauf du wetten kannst, Marshal«, brummte Morris griesgrämig. »Und er ist die lausigste Ratte, die Rawlins seit einem Jahr gesehen hat. Erschießt Adam Kyle und sticht einen der Boys von der Kyle Ranch nieder. Sie haben ihn erwischt, als er in einem Store Stogies kaufen wollte. Das hat ihn verraten. Der Totmacher raucht nur Stogie-Zigarren. Habe doch gleich vermutet, daß er zur Bahn entkam und auf den fahrenden Zug springen konnte. Der Kerl ist mit euch gefahren, und ihr habt ihn wieder mal nicht entdeckt. Wofür werdet ihr eigentlich von der Bahn bezahlt? Doch wohl nicht dafür, daß ihr keine blinden Passagiere entdeckt, oder?«
Madun sah ihn nur kaltäugig an, und Morris preßte die Lippen zusammen. Dann riß er an der Knebelkette und Doolyn hinter sich her. Er war binnen zehn Sekunden im Waggon verschwunden. Die beiden Deputies aus Granger traten nun zur Seite. Die Menge drängte sich in den Waggon.
»Hallo, Madun«, sagte der eine Deputy seufzend. »Ärger mit diesem Burschen gehabt?«
»Nicht viel«, antwortete Madun sparsam. »Er hat mal jemand über das Bahngelände in Rawlins verfolgt und hinter ihm hergeballert, doch nicht den Kerl, sondern die Dampfleitung von Ole Bronsons 4-4-0 durchlöchert. Ihr habt Doolyn erwischt?«
»Ja. Er kam nicht dazu, Widerstand zu leisten, wir packten ihn von zwei Seiten, und er gab sofort auf, als er keine Chance sah.«
»Der Bursche sieht nicht nach einem Mörder aus«, stellte Madun achselzuckend fest. »Ist er wirklich so gefährlich?«
»Sein Aussehen täuscht«, erklärte der andere Deputy. »Er wäre uns beinahe entwischt, als wir einen randalierenden Betrunkenen in die Nachbarzelle einlochten. Die Tür der anderen Zelle, in deren Schloß die Schlüssel steckten, schwang herum. Der Bursche konnte die Schlüssel angeln, langte durch die Gitter und schloß seine Zelle blitzschnell auf. Er kam bis in den Gang, schlug den Sheriff mit einem Schlag an den Hals nieder und hatte nur das eine Pech, daß der Sheriff auf sein Halfter fiel und der Colt eingeklemmt wurde. Ehe er ihn hatte, waren wir da. Es war eine Sache von höchstens einer Sekunde, und er hätte den Colt erwischt. Was dann geworden wäre, weiß der Teufel. Doolyn wirkt so klein und mickrig, aber er hat Muskeln wie Stahl und ist schnell wie der Blitz.«
»Was soll es, wir sind ihn los«, brummte der andere Deputy. »Morris hat ihn – und er hatte eine Knebelkette mitgebracht. Er hat Doolyn gedroht, ihn beim ersten Fluchtversuch über den Haufen zu knallen oder ihm den Schädel herunterzuschlagen. Wer macht nur Leute, wie Morris, zum Deputy?«
»Vielleicht jemand, der ab und zu mit seiner schönen Schwester Caroline einen Spaß hat und gewisse Ämter zu vergeben hat«, sagte Madun gelassen. »Es soll so gewesen sein, habe ich gehört.«
»Soll ein Vollblutweib sein, ist das wahr, Marshal?«
»Das ist wahr«, erwiderte Madun sanft. »He, was ist da vorn am Expreßwaggon los?«
Obgleich es auf dem Schottersteig noch immer von Menschen wimmelte, hatte Madun, der nie unaufmerksam war, den leisen Aufschrei gehört.
Neben dem Transportkarren, mit dem die Expreßgüter zum Waggon gefahren wurden, lag eine junge Frau am Boden. Die beiden Karrenschieber und Verlader beugten sich gerade über sie. Der zweirädige Karren stand schief.
»Ein Ärger vorbei, schon hat man den nächsten«, sagte Madun mürrisch. »Was, zum Teufel, ist passiert?« Und dann lief er los.
*
»Wie ist das passiert?«
Die Frau stöhnte vor Schmerz und lag mit dem Rücken zu Madun auf dem Schotter, von einem der beiden Verlader bereits etwas angehoben. Sie trug ein schwarzes Kleid, hatte den Hut verloren und beim Sturz wohl auch die Hand- oder Reisetasche.
Madun sah von hinten nur ihr kastanienbraunes Haar, das im Laternenlicht einen leicht rötlichen Schimmer zeigte. Das Kleid war bis über ihr linkes Knie hochgerutscht und er blickte einen Moment auf ihren zerrissenen Seidenstrumpf, ihr schlankes Bein und die zierlichen Halbstiefeletten.
»Marshal, sie war plötzlich da«, sagte der eine der beiden Verlader verstört. »Sie lief uns direkt vor den Wagen, den wir gerade schwenken wollten. Es ging alles so schnell, Marshal.«
Die Lady wandte den Kopf, als sie das zweimalige »Marshal« hörte.
»Oh«, flüsterte sie, das Stöhnen unterdrückend. »O Gott, ich dachte – ich wollte – diese Menschenmenge ich war nur ganz kurz…«
Sie stützte sich auf den Arm des Railroaders und erhob sich, augenblicklich einknickend und beinahe wieder stürzend, wenn sie nicht nach dem Schiebegriff der Verladetür des Waggons gegriffen hätte.
Madun blickte in das ebenmäßige, junge Gesicht mit den hochgeschwungenen Brauen, der kleinen, zierlichen Nase und den vollen Lippen, die sich jetzt zusammenpreßten. Die Frau war jung, hübsch und hatte eine hinreißende Figur.
Als sie sich umwandte, leicht hinkend einen Schritt in Richtung Karren machte, flog ihr Blick suchend über den Boden.
»Mein Hut – meine Reisetasche. Oh, mein Hut, dort…«
Der Hut lag unter dem Karren, aber die Reisetasche war nicht zu sehen. Mit wachsender Unruhe und Hilflosigkeit blickte die junge Lady Madun an, um mit zitternden Lippen zu wiederholen: »Meine Reisetasche – um Himmels willen, wenn das Geschenk für meinen kleinen Neffen zerbrochen ist – Himmel, wo ist sie denn – ich hatte sie doch noch…«
Madun sah die Tasche nirgendwo, also konnte sie nur unter den Waggon geflogen sein. Er tat zwei Schritte – die Frau sah ihn groß, beinahe erstaunt an, als er an ihr vorbeiging und sich dann an den Gleisen bückte, um unter den Waggon zu sehen.
»Da liegt sie, beinahe bis zur anderen Seite der Gleise geflogen«, sagte Madun beruhigend. »Moment, Lady, ich hole sie. Warum sind Sie vor den Wagen gelaufen?«
»Oh, ich weiß nicht, ich war ausgestiegen, um mir von dem Jungen die Zeitung zu holen. Diese Menge … plötzlich keilte sie mich ein, der Junge war schon an der Ecke dort. Diese Menge, schrecklich, Marshal. Wollen diese Leute alle in den Waggon? Mein Platz – oh, mein Bein!«
Madun hatte das Geschrei des Zeitungsjungen gehört und den kleinen Burschen auch gesehen, der die Zeitungen bei Ankunft des Zuges bekommen und sie sofort angepriesen hatte, dann aber von der Menge fortgespült worden war.
Die Frau humpelte Madun nach, der buchstäblich unter den Waggon kriechen mußte, um die schwere Tasche heraufzuholen. Die Lady stützte sich an der Schiebetür ab, ihren Hut betrachtend, der beschmutzt war. Sie hatte noch Glück gehabt. Unter dem weit vorspringenden Dach des Verladeschuppens war der Boden trocken, der Regen schlug nicht bis hierher, und er fiel nur prasselnd auf das feine Geröll.
»Hier, Madam«, sagte Madun lächelnd. Er hielt ihr die Tasche hin. Sie griff zu, mußte einen Schritt machen und knickte ein. »Nein, warten Sie, Madam, ich trage sie Ihnen. In welchem Waggon haben Sie gesessen?«
»Im zweiten«, erwiderte die junge Frau mit einem Versuch, zu lächeln, der aber verunglückte. Anscheinend tat ihr Knie so weh, daß sie nach ihm griff und sich bücken mußte. »Mein Gott, der Platz dürfte belegt sein, welche Menschenmasse. Wie soll ich nach meinem Knie sehen können? Der Zug wird abfahren und…«
»Nein, ohne mich fährt er kaum ab«, beruhigte Madun sie mit einem Kopfschütteln. Er dachte an die Männer im Waggon, an die Fülle dort und die Blicke, die sich sofort auf die Lady richten würden, wenn sie auch nur den Saum ihres Kleides anhob. »Moment, Lady, haben Sie noch Gepäck im Waggon?«
»Die Tasche, mehr habe ich nicht. Ethel Cochrane – Miss Ethel Cochrane, Marshal. Ich komme aus Hyrum und will nach Denver. Meine Schwester bekommt ein Baby, das dritte, Marshal, und ich will ihr den Haushalt versorgen, bis sie wieder… O Gott, fährt er ab?«
Die Sirene heulte einmal kurz auf, Dampf schoß aus dem Abblasventil der Lok über die Schwellen des Gleiskörpers.
»Er fährt nicht ab«, murmelte Madun sanft. »Also, Miss Cochrane, stützen Sie sich auf meinen linken Arm. In den Waggon kommen Sie nicht mehr zurück. Ich werde Sie beim Zugbegleiter unterbringen, dort ist auch mein Platz. Gehen wir?«
»Ich soll – aber, ist das erlaubt, Marshal?«
»Erlaubt ist alles, was ich tue«, antwortete Dan Madun zwinkernd. »Nun mal los, Miss Cochrane, es ist kein großes Abteil, aber niemand wird Sie dort stören, wenn Sie nach Ihrem Knie sehen wollen.«
*
Er war schon am Ende des Waggons, spürte sofort, wie unsicher Ethel Cochrane nach dem Griff der Plattform faßte. »Warten Sie, ich hebe Sie hoch. Schmerzt es schlimm, Lady?«
»Es brennt scheußlich und tut weh, wenn ich das Bein durchdrücken will, Marshal.«
»Dan Madun«, sagte er, umfaßte ihre Hüften und hob sie auf die Plattform. »Entschuldigung, so ging es einfacher. Was haben Sie, Miss Ethel?«
»Sie sind Dan Madun, der Bahn-Marshal?« fragte sie beinahe erschrocken.
»Genau der«, nickte er, schwang sich hoch und öffnete die Stirnwandtür. »Weshalb sind Sie erschrocken?«
»Oh, ich – oh, ich habe von Ihnen gehört, Mr. Madun.«
»So – und was, Lady?«
»Sie haben die Staines-Banditen gefangen, ja?«
»Richtig«, gab er zu. »Kannten Sie die Kerle?«
»Nein, um Gottes willen, aber mein Bruder arbeitete einige Zeit mit Henry Staines in irgendeinem Minencamp, ich habe vergessen, in welchem. Er erzählte mir, Staines hätte damals schon nichts getaugt und sei ein übler Bursche gewesen. Es gab einige Tote bei der Sache.«
»Ließ sich nicht ganz vermeiden«, brummte Madun. »So, Miss Ethel, hier herein.«
Sie blickte sich neugierig in dem kleinen Abteil um, das zwei lange Bänke, einen Schrank und einen Tisch enthielt und sogar den Verbandskasten an der Wand besaß. Von hier aus führte eine Tür in den eigentlichen Laderaum des Expreßwaggons, in dem auch die Post sortiert wurde. In der Tür war eine kleine vergitterte Scheibe, die man mit einem Leinwandrollo abdecken konnte.
»Wenn es sehr schlimm sein sollte, in dem Medizinschrank ist alles«, erklärte Dan. »Sie können benutzen, was Sie brauchen. Moment, ich schließe die Tür ab. So, jetzt versorgen Sie Ihr Knie und ich halte vor der Tür auf der Plattform Wache. Sind Sie fertig, sagen Sie Bescheid, ja?«
Madun wandte sich um, und als er die Tür öffnen wollte, sagte sie verlegen: »Danke, Dan Madun! Das ist mehr als freundlich und zuvorkommend. Womit habe ich das verdient?«
»Manchmal hilft ein Marshal auch einem Passagier«, lächelte Madun. »Und wenn er dazu noch so hübsch ist, wie eine gewisse Ethel Cochrane, hat er sogar Spaß daran.«
»Oh, Dan, so hübsch bin ich nun wieder nicht.«
»Nein«, grinste er. »Absolut häßlich, wie? Sehen Sie mal in den Spiegel drüben, Ethel. Ich wette, Ihnen blickt ein mächtig anziehendes Girl entgegen. Hallo, nur nicht rot werden, ich gehe schon.«
Er verließ das Abteil, lehnte sich gegen die Tür und lachte leise über ihre Verwirrung. Hinter ihm blickte Ethel Cochrane auf seinen breiten Rücken, zuerst nachdenklich, aber dann mit einem seltsamen Lächeln.
»Auch wenn er Dan Madun heißt«, flüsterte sie und streifte ihr Kleid hoch. »Alle Teufel, was für ein Mann. Er hat mich, wie eine Puppe, auf die Plattform gehoben. Wenn das stimmt, was man sich über ihn erzählt…«
Ethel Cochrane schwieg und betrachtete ihr aufgeschürftes Knie und den Fleck an ihrem absolut sehenswerten Oberschenkel, über den die schwarzrosa gemusterten Strumpfbänder ihres Hüftgürtels liefen.
Es mußte nicht uninteressant sein, mit Dan Madun eine oder mehrere Nächte zu verbringen. Dieser Mann ging geradewegs auf sein Ziel los, und sie war sicher, daß sie ihn haben konnte, wenn sie nur wollte.
»Mit ihm schlafen?« wisperte sie und spürte, wie ihr Herz heftig schlug und ihr Blut schneller durch die Adern rollte. »Was für ein Gedanke. Ich schlafe mit Dan Madun! Ich glaube, wenn Jay es erführe, brächte er mich glatt um«
Sie kannte Jay, ihren leidenschaftlichen Freund. Er war rasend eifersüchtig, vielleicht sogar so sehr, daß er sie töten würde.
Ethel Cochrane löste die Clips ihrer Strumpfbänder und rollte den rechten zerfetzten Strumpf langsam über Schenkel, Knie und Wade herunter.
Jeder Mann, der ihr dabei zugesehen hätte, wäre todsicher nahe daran gewesen, in diesem Moment alles andere auf der Welt zu vergessen. Und vielleicht würde es auch Dan Madun einmal so ergehen.
Ethel Cochrane lächelte, sie wußte sehr gut, welch aufregende Figur sie besaß. Es war nicht das Lächeln eines Mädchens aus Hyrum, jenem kleinen sittenstrengen Nest nördlich von Ogden, es war das Lächeln einer erfahrenen Frau, die ganz genau wußte, wie sie ihre Reize einzusetzen hatte.
*
Der Zug ratterte über die stählernen Spuren dahin.
Ole Bronson ließ den Putzlappen, mit dem er gerade am unteren Messingkopf des Wasserstandsanzeigers herumgerieben hatte, um einen nur von ihm erkennbaren Fleck fortzupolieren, mit einem unterdrückten Fluch fallen. Dann griff er auch schon zum Dampfregulierhebel, schnappte mit der Linken gleichzeitig zum Radbremsstock und keuchte: »Paß auf, Bully!«
Bully Jackson war in diesem Moment dabei, der hechelnden Miss Rose frisches Wasser in den Napf zu füllen. Die Hündin stand schon abwartend bereit, sie hatte zum drittenmal den Napf leergesoffen, eine Folge der Brühwurst. Sie fraß sie leidenschaftlich gern, bekam aber hinterher einen derartigen Durst, daß sie einen Eimer Wasser aussaufen konnte, wie der riesige Heizer manchmal sagte.
Als der zottelbärtige Old Bronson beide Hebel gleichzeitig bediente, ging ein derartiger Ruck durch die Lok, daß Bully Jackson nach vorn kippte. Das Wasser schoß mit einem Schwall aus der Blechkanne und über Miss Rose. Die Hündin stob entsetzt zur Seite, sauste zwischen Bullys Beinen durch und verschwand irgendwo auf dem Tender, während Bully gegen den Kessel stolperte.
»Höllenfeuer und Katzendreck!« fluchte Bully ergrimmt los. »Ole, was fällt dir ein? Alle Teufel, Miss Rose ist pudelnaß geworden und vor Schreck auf den Tender geflohen. Ich wette, sie verkriecht sich und kommt freiwillig nicht wieder hervor. Bestimmt denkt sie, daß ich sie absichtlich naßgegossen hätte. Da hast du was angerichtet.«
»Halt die Klappe«, knurrte Ole ganz gegen seine sonstige Gewohnheit ziemlich ruppig. »Kümmere dich nicht um deinen Mischlingsköter, sieh lieber mal nach vorn, Mann.«
»Verdammt, was…«
Bully Jackson blieb das Wort im Hals stecken, kaum daß er durch die Scheibe nach vorn blickte. Vor ihnen in der Dämmerung gut zu erkennen, wallte eine riesige Staubfahne hoch. Die Gewitterfront hatte sich hundert Meilen westwärts entladen und Green River noch eine Menge Regen gebracht.
Hier jedoch war kein Tropfen gefallen, das Land war knochentrocken, und die Staubwolke wälzte sich keine siebenhundert Schritt vor ihnen über die Gleise. Eine Rinderherde hatte sie hochgejagt, die sich mitten auf den Gleisen befand und rechts und links des Schienenstranges nach Osten zu wandern schien.
Im Staub verschwammen einige Reiter hinter den hier nahe der Bahnlinie stehenden Büschen.
»Rinder, alle Teufel, Rinder!« schnaufte Bully Jackson. »He, laß mal das Signal losheulen, damit diese Kuhtreiber ihre blöden Viecher von den Schienen bringen. Wo kommen die nur alle her?«
»Frage mich nicht«, grollte Ole Bronson. »Das sind tausend oder mehr, oder ich will meinen Bart abrasieren. Mensch, wollen die nicht von den Gleisen herunter? Jetzt muß ich noch halten. Diese blöden, sturen Viecher samt ihren genauso blöden und sturen Treibern.«
Er ließ die Dampfsirene heulen, doch der Zug hatte zuviel Fahrt, so daß er mit ziemlicher Geschwindigkeit den Rindern nahekam.
Es passierte schon manchmal, daß irgendwelche sturen Cowboys einen Maschinisten ärgern wollten und mit ihren Rindern auf den Gleisen blieben, so daß der Zug dann langsam hinterherrollen mußte, bis es den wilden Kerlen einfiel, sie hätten den Maschinisten nun lange genug genarrt.
»Man sollte mitten durch dieses Hornvieh und über die lausigen Treiber fahren«, fluchte Ole. »Die elenden Kerle spielen taub, was? Nun sieh sich einer das an, die reagieren gar nicht auf die Sirene. Euch werde ich, ihr rennt schon noch.«
Er gab Dauergeheul, irrte sich jedoch. Keiner der sechs hinten im Staub reitenden Burschen hielt es auch nur für nötig, einen Blick nach hinten zu werfen. Die Rinder zockelten im Gegenteil schneller vorwärts. Ein allgemeines Geschiebe und Gedränge setzte ein, das Muhen wurde rasch lauter, und der Zug verlangsamte seine Fahrt, daß man gut und gern aussteigen und Blumen pflücken konnte.
»Die gehen doch einfach nicht…«
Ole kochte vor Grimm, klappte seinen Putzwollkasten auf, an dessen Deckel er eine Halterung für seine »Kanone« angebracht hatte und riß die abgesägte Schrotflinte heraus.
»Denen werde ich Sauposten auf die dicken Hintern blasen«, grimmte er. »Sollst mal sehen, Bully, wie sie gleich rennen werden. Denen werde ich Moses und die Propheten beibringen.«
Jetzt rollte der Zug ganz langsam keine zwanzig Schritt mehr hinter den letzten Rindern und den Cowboys her. Durch das Geheul unruhig geworden, stoben die Rinder nun seitlich davon. Vier der sechs Reiter jagten ihnen nach, aber die störrischen Rindviecher drehten zum Zug hin ab und schienen an ihm vorbei nach Westen rennen zu wollen.
Bully Jackson sah ihnen fluchend nach, zuckte dann zusammen und fuhr herum.
»Ole, noch mehr Reiter, sie kommen aus den Büschen und Teufel, die stoppen den Zug, die meinen uns, Ole! Das ist ein Überfall, Mann!«
Ole Bronson wirbelte herum, wollte aus dem Seitenfenster blicken und dachte nicht an seine abgesägte Schrotflinte. Das schwere Ding knallte bei seiner zu hastigen Bewegung an den nach unten zeigenden Bremshebel. Dadurch fuhr sein Arm in eine andere Richtung, sein Ellbogen stieß gegen den Fensterriegel, und ehe der verstörte Maschinist es begriff, entfiel die abgesägte Schrotflinte seiner Hand. Sie stürzte außerhalb der Seitentür von der Lok, um auf dem Gleiskörper aufzuprallen.
»Mein Musikantenknochen«, ächzte Ole, heftig den Arm schlenkernd. »So geprellt habe ich mir den Arm lange nicht mehr. Verflucht, meine Kanone ist fort. Das wird…«
Und dann schwieg er verstört.
Die beiden angeblichen Kuhtreiber rissen ihre Pferde herum und ihre Revolver heraus.
»Halt an, oder du hast ein halbes Dutzend Kugeln im Führerstand!« brüllte der Mann, der wohl wegen des Staubes sein Halstuch vor dem Mund trug. »Stop den Zug, sonst passiert dir etwas, Mister. Anhalten!«
In diesem Augenblick stieß sich Dan Madun, der kurz nach Aufbrüllen der Sirene aus dem Expreßwaggon auf die Plattform gehastet war, auch schon ab. Madun flog mit einem Riesensatz auf die Holzkloben des Tenders. Er hatte sein Gewehr mitgenommen, sank sofort herunter und kroch durch den Gang zwischen den rechts und links im Tender aufgeschichteten Kloben. Dabei entdeckte er Miss Rose, die zwischen den Kloben unten zitternd und pudelnaß hockte. Sie wedelte pflichtschuldigst mit dem Schwanz und blickte ihn, wie er es empfand, wie eine tödlich beleidigte Jungfrau an.
Schräg zwischen Tender und Führerstand durchlugend, sah Dan Madun an dieser Seite des Zuges ein halbes Dutzend maskierte Reiter aus den Büschen brechen. Sie hatten ihre Revolver gezogen und jagten an den Zug heran.
»Ole!«
Ole Bronson hatte sich bereits hinter dem stabilen Blech der Tür geduckt und den Hebel ganz nach hinten gedrückt, die Maschine wurde immer langsamer, sie mußte gleich zum Stehen kommen.
»Dan, du? Mann, was ist – das ist ein Überfall, oder?«
»Elf Meilen vor Rawlins?« zischte Madun durch das Fauchen des abblasenden Dampfes. »Das sieht mir nicht nach einem Überfall aus, eher nach einem Stop. Und ich will verdammt sein, wenn es nicht Logan Kyles rauhe Viehtreiber sind. Ole, an die Hebel, bleibe unten und lege sie voll auf Rückwärtsfahrt, wenn wir stehen. Zwanzig Schritt zurücksetzen, dann erneut halten, ich brauche zwei Sekunden.«
»Gut«, nickte der alte, schlitzohrige Maschinist grinsend. »Und wenn sie schießen?«
»Die werden den Teufel tun, aber nicht in den Führerstand knallen, verlaß dich darauf, die schießen höchstens gegen das Blechdach. Immer kaltes Blut.«
»Habe ich«, grinste Ole Bronson. »Deshalb friert mich auch manchmal so.«
»Na, endlich steht das Feuerroß«, schrie einer der beiden Kerle vor der Lok. »Fahr ja nicht wieder an, Mister, sonst…«
Im gleichen Augenblick legte Bronson, tiefgeduckt an den Kessel gekrochen, beide Hebel um. Von der Lok schoß ein gewaltiger Dampfstrahl zur Seite, jagte beinahe bis zu dem links haltenden Reiter, dessen Gaul sich aufbäumte, und das Knallen der zusammenschlagenden Kupplungen pflanzte sich wie Gatling-Gun-Feuer fort.
Durch den Zug ging ein Ruck, er rollte, während die Räder der Maschine funkensprühend durchdrehten, immer schneller werdend zurück.
»Du verdammter alter Hundesohn, halt an, halt an!«
Der rechts lauernde Reiter riß die Faust hoch. Aus seinem Revolver fuhren kurz nacheinander zwei Feuerlanzen, und die Kugeln prallten gegen das wild dröhnende Dachblech, von dort mit einem irren Geheul als Querschläger abprallend.
Dan Madun schnellte im selben Moment in die Höhe.
Er flog wie ein Tiger auf das Klobenholz des Tenders, von dort mit einem Satz auf die Rundung des Führerhauses und auf den Kesselmantel.
Ein Blick genügte Madun.
Der Maskierte, der gefeuert hatte, war bereits mehr als zwanzig Schritt entfernt. Sein Pferd bäumte sich auf, weil der gerissene Ole Bronson die Sirene losheulen ließ, und Madun zielte blitzschnell.
Im Brüllen des Gewehres schien der Gaul des Mannes kerzengerade in die Höhe zu fliegen. Das Tier kippte hintenüber, der Mann stieß einen fürchterlichen Angstschrei aus.
Ehe der Bursche aus dem Sattel kommen konnte – jetzt zeigte sich, daß das Ziehen eines Revolvers ihm nur eine freie Hand beließ, die nicht ausreichte, um einen kräftigen Abstoß zu führen – geriet er unter sein nach hinten kippendes Pferd. Er wurde unter dem Gaul begraben, und sein gellender Aufschrei endete schlagartig.
»Streck sie hoch, oder du saust in die Hölle!« brüllte Dan Madun den zweiten Mann an. »Weg mit dem Colt, oder du liegst wie dein Partner am Boden.«
Der Maskierte riß entsetzt die Augen auf und starrte wie gelähmt in die Mündung des Gewehres. Dann öffnete er die Hand, und in dieser Sekunde wußte Madun, daß er es nicht mit Banditen zu tun hatte. Ein Bandit hätte sich vom Pferd fallen lassen und noch im Abkippen geschossen. Der Mann streckte jedoch die Arme empor. Beinahe gleichzeitig fluchte jemand hinten: »Der verdammte Madun, ausgerechnet er muß im Zug sein. Die Hölle, es ist Madun.«
Dan Madun handelte im Bruchteil eines Augenblicks. Sich sofort umwendend, sprang er von der Lok auf den Tender und mit dem nächsten Satz neben den Gleisen zu Boden. Er war so schnell, daß sich die sechs Männer zu Pferd noch nicht von ihrem Schock erholt hatten. Sie hatten gesehen, wie ihr Partner zu Boden gekracht war. Er lag jetzt eingeklemmt und wimmerte lauthals.
»Und wenn das zehnmal Madun ist«, giftete einer der sechs Burschen. »Er wird uns nicht daran hindern, diesen verfluchten Mörder herauszuholen. Heraus mit Archie Doolyn, dem blutigen Mörder. Heraus mit Archie Doolyn. Wir wollen Archie Doolyn haben – wir wollen Archie Doolyn haben! Morris, gib ihn heraus!«
Sein Geschrei wurde von den anderen aufgenommen. Ihr gemeinsames, wildes Gebrüll ballte durch die fallende Dämmerung, es schien ihnen Mut und Zuversicht zu geben, und sie rückten nun in einer breiten Front gegen die Waggons vor. Noch schienen sie nicht zu wissen, in welchem Waggon sich Doolyn befand, aber sie wußten – und das verriet Madun genug – daß Morris ihn geholt hatte.
»Zurück!« donnerte Madun scharf. Er hatte Logan Kyle nur einmal flüchtig gesehen, als er O’Neal, einen Taschendieb, der monatelang die Züge unsicher gemacht und vorwiegend Frauen beraubt hatte, in Rawlins ins Jail gebracht hatte und an jenem Wochenende die Stadt voller Männer gewesen war.
»Kyle, der Trick mit den Rindern und eure Maskierung hilft dir nichts. Zurück vom Zug, ihr verdammten Narren. Ihr befindet euch auf der Bahntrasse, dies ist Gelände der Bahn. Der erste Mann, der den Zug auch nur anfaßt, kippt tot vom Pferd, ich warne euch.«
»Wer ist Kyle?« schrie jemand aus der Rotte höhnisch. »Wir kennen keinen Kyle, wir wollen den blutigen Mörder haben. Heraus mit Doolyn, heraus mit Doolyn!«
In diesem Moment geschah das, was Madun befürchtet hatte. Die Tür des zweiten Waggons flog auf, Männer und Frauen stürzten auf die Plattform heraus und eine der Frauen schrie angstvoll: »Um Gottes willen, Emely, schnell heraus. Sie werden den Waggon stürmen und diesen schrecklichen Mörder mit Gewalt herausholen. Es gibt eine Schießerei, bringt euch in Sicherheit, Emely!«
Die Hölle, dachte Madun erbittert, jetzt wissen die Burschen, wo sie Doolyn finden. Nun wird es hart.
Es war, als hätten die Passagiere des zweiten Waggons voller Grausen entdeckt, daß sich im Waggon ein Pestkranker aufhielt. Ein unglaubliches Gedränge und Geschiebe setzte jetzt nicht nur auf dieser Plattform, sondern auch auf der hinteren ein.
Aus dem Waggon erklang Morris’ wütende, polternde Stimme, während die Leute durcheinanderschrien und in kopfloser Furcht ins Freie stürzten. Sie sprangen von der Plattform, rannten davon oder suchten Deckung am ersten und dritten Waggon, so daß der zweite nun wie ein Pesthaus auf Rädern verlassen und gemieden dastand.
Immerhin hatte die Sache einen Vorteil, das Vordringen der Reiter war aufgehalten worden. Madun hatte etwas Zeit gewonnen, befand sich bereits auf halber Höhe des ersten Waggons und konnte jeden niederschießen, der sich auf die vordere Plattform des zweiten Waggons wagen würde.
Wahrscheinlich war es Zufall, daß die letzte Frau, die mit wehendem Rock von der Plattform geflüchtet war, die Waggontür zugeworfen hatte.
»Holen wir den Schweinehund Doolyn heraus, los, holen wir ihn uns und hängen wir ihn drüben an den Bäumen auf. He, kommt von der anderen Seite näher heran. Vorwärts!«
Es war der dritte Reiter, der es schrie, und Madun zweifelte keine Sekunde daran, daß es Logan Kyle war. Schon rückten die Reiter vor, als etwas geschah, was sie erneut aufhielt.
Hinter Madun hatte der zweite Reiter die Hände heruntergenommen.
Der Bursche trieb sein Pferd an, griff nach dem im Scabbard steckenden Gewehr und zog es heraus. Dann spannte er es, ließ den Gaul langsam an der Maschine vorbeigehen und befand sich jetzt in Maduns Rücken.
Bully Jackson, der riesige Heizer, hatte das verstohlene Anreiten des Mannes beobachtet wie Ole Bronson, der zähneknirschend knurrte: »Wenn ich doch meine Kanone hätte, ich würde dem Hundesohn noch eine Pferdelänge lassen, ehe ich abdrückte. Bully, tu was!«
»Sicher«, erwiderte der Riese grinsend. »Warte nur zwei Sekunden.«
Jackson packte die lange Schürstange, mit der er das Feuer im Kessel schnürte und Holzteerrückstände abstieß. Der Riese zog die schwere, gut vier Schritt lange Stange mit dem Schürschieber zurück, packte sie in der Mitte, indem er auf den Tender zurückwich, und richtete sich dann auf.
Jetzt sah er über Schutzplatten zwischen Tender und Maschine hinweg. Sein gewaltiger Arm hob sich in derselben Sekunde, in der jener Bursche das Gewehr über das Pferd hinweg auf den Rücken von Madun anschlagen wollte.
Und dann feuerte der Riese die schwere Schürstange wie einen Speer durch die Luft.
Es war ein Wurf im letzten Augenblick. Die Stange schwirrte zitternd los. Der Schürschieber krachte dem Halunken mitten ins Kreuz, und die Gewalt des Anpralles schleuderte den Burschen nach links aus dem Sattel.
Sein durchdringender, gellender Aufschrei ließ Madun herumfahren und die Reiter die Köpfe wenden. Sie sahen noch, wie ihr Partner links vor dem Gaul zu Boden fiel, sich mit in den Rücken gepreßten Händen am Boden wälzte und gellend schrie: »Mein Kreuz ist gebrochen! O Gott, mein Kreuz ist mittendurchgebrochen.«
Sein Pferd, durch den plötzlichen Fall des Mannes erschreckt, stob zur Seite.
»Der hat genug«, sagte Bully Jackson zufrieden. »Und jetzt wollen wir mal sehen, ob wir mit der Stange nicht noch mehr anfangen können. Ole, komm!«
»Ich habe was gegen Mörder«, knurrte Ole Bronson mit zuckendem Bart. »Aber ich denke, ich habe verdammt etwas mehr gegen Lyncher.«
»Genug jetzt«, fauchte Madun im selben Augenblick messerscharf. »Kyle, ich schieße dich vom Pferd, das ist kein Bluff!«
»Greift von drüben an!« brüllte der vermeintliche Kyle, sich hastig duckend. »Holt den Hurensohn heraus, das kann Madun nicht verhindern.«
»Aber vielleicht ich!« brüllte jetzt Morris dröhnend zurück. »Der erste von euch Idioten, der auf die Plattform springt, hüpft gleichzeitig in die Hölle. Ich mache ihn zum Sieb. Niemand nimmt Tate Morris einen Gefangenen ab. Versucht es nur, ich habe für jeden einige Unzen Blei bereit! Marshal, kannst du sie mir von der linken Seite halten?«
»Kann und werde ich«, versprach Madun grimmig. »Nur voran, Kyle, du kippst vom Gaul, ich habe es gesagt.«
»Du lausiger Bahnmarshal!« giftete Kyle. »Was ist drüben, habt ihr keinen Mut? Morris, dieses Großmaul, blufft doch nur. Holt mir Doolyn heraus!«
In diesem Augenblick erreichte Bully den sich am Boden windenden Mann, nahm seine Stange auf und stieß das Gewehr des Maskierten Ole Bronson zu.
»Endlich eine halbe Artillerie«, knurrte Ole zufrieden. »Sie richtet zwar nicht soviel aus wie meine Faustkanone, aber immerhin.«
Er ging sofort los, während sich Bully Jackson mehr nach links absetzte. Der Riese schleifte die Stange mit, hielt sie am ovalen Griff, den man mit zwei Händen umfassen konnte, und wußte, was er tun würde, wenn die Burschen es wagen sollten an den Waggon zu reiten.
Die Schürstange konnte zu einer fürchterlichen Waffe werden, wenn Bully sie um den Kopf wirbelte und dann fliegen ließ. Sie würde ein halbes Dutzend Männer zu Boden reißen und konnte jenem, dem sie unglücklich an den Kopf donnerte, sogar den Schädel zertrümmern.
»Ich bin hier, Dan«, meldete sich Ole Bronson so laut und spöttisch, daß es die Kerle alle hören mußten. »Wem soll ich zuerst ein Loch ins Fell blasen?«
»Jesus Maria«, ächzte einer der Männer, einen furchtsamen Blick auf Jacksons Riesengestalt werfend und danach den alten Ole nicht minder angstvoll ansehend. »Bully Jackson und das alte Schlitzohr Bronson, es wird gefährlich.«
Seine Partner und auch der Mann, den Madun für Kyle hielt, blickten sich um.
»Leute, das ist mein Zug, wer herauf will, erlebt etwas«, warnte Ole Bronson. »Wer will der erste Narr sein, der es ganz rauh haben will, nun?«
»Geben wir auf«, stöhnte einer der Reiter links von Kyle. »Der alte Feuerfresser schießt, der blufft nicht.«
»Ich will Adams verfluchten Mörder haben – und wenn ich ihn allein herausholen muß!« schrie Kyle in rasender Wut, als er merkte, daß seine Leute es mit der Angst zu tun bekamen. »Ich hole ihn, ich hänge ihn an den nächsten Baum für die Geier. Ich hole ihn mir.«
Sein Pferd sprang jäh vorwärts. Den Colt in der Faust, jagte Kyle auf die hintere Plattform zu.
»Halt an!« fauchte Madun. »Kyle, zurück, du verdammter Narr!«
Ihm blieb keine Wahl, denn der vor Wut und Rachsucht beinahe irre Kyle nahm schon das linke Bein hoch, um vom Pferd aus auf die Plattform zu springen.
Dan Madun feuerte aus dem Hüftanschlag, und er wußte, daß die Kugel treffen würde.
Im Brüllen des Schusses stieß sich Kyle bereits ab, doch die Kugel war schneller. Das Geschoß traf Kyles rechten Oberschenkel, durchschlug ihn und jagte noch dem Pferd in die Flanke, das sich schmetternd wiehernd aufbäumte.