Schwalbennacht
von Roukeiya Peters
Willkommen in Nylem,
liebe Leser*innen.
Wer werdet ihr sein?
Impressum:
2. Auflage, 2021
© Roukeiya Peters
c/o autorenglück.de
Franz-Mehring-Str.15
01237 Dresden
ISBN: 978-3-96966-966-2
Coverdesign: Nina Hirschlehner, NH Buchdesign, www.nh-buchdesign.com
Lektorat: Julia Weimer, Federstaub Lektorat, federstaub.lektorat@gmail.com
Korrektorat & Buchsatz: Marie Döling, www.writeinpieces.jimdofree.com
Illustration: Aisleen C. Beynon-Thomas, www.aisleen.de
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig.
Kapitelübersicht
Impressum
Prolog
Weltkarte
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Danksagung
Bonuskapitel
Triggerwarnung
Über die Autorin
Liebe Leser*innen,
um euch das bestmögliche Leseerlebnis zu ermöglichen, findet ihr hier eine ausführliche Triggerwarnung. Bitte seid euch eurer eigenen Verantwortung bewusst und genießt euren Aufenthalt in Nylem.
Für meinen Vater und meinen Stiefvater
Euch war nicht bestimmt, lange zu strahlen,
doch euer Licht wird mich ein Leben lang begleiten.
Es vergeht kein Tag, an dem nicht mindestens
ein Herzschlag euch gewidmet ist.
PROLOG
Er stützte seinen Kopf in die Hände. Die Leere seiner Gedanken plagte ihn, gleichzeitig prasselte eine Reihe von Gefühlen auf ihn ein. Ein Wirbelsturm, der drohte, ihn auseinanderzureißen.
»Kommst du, Schatz?«, fragte seine Mutter. Sie strahlte eine Ruhe aus, die er sich wünschte.
»Wohin?« Alles fühlte sich fremd an. Nicht richtig. Sie gehörten nicht hierher.
Doch … da war etwas. Eine Kraft, die ihn anzog, ihn dazu motivierte, sich zu erheben.
»Wir wollen die Gegend erkunden.« Die braunen Rehaugen betrachteten ihn besorgt. Ihre Gedanken waren laut.
Vielleicht ist seine Seele doch nicht vollständig?
Nein, das war es nicht. Dafür kämpfte er zu sehr mit der Vergangenheit. Für einen Seelenlosen schmerzte es zu massiv.
Würde er sich je verzeihen?
Was war nach seinem Verschwinden passiert?
Doch die Frage, die in seinen eigenen Gedanken am lautesten nach einer Antwort schrie, war: Wer – in Gottes Namen – hatte sie erweckt?
Seite um Seite
und jeder Buchstabe atmet die Welt.
Willst du sie mit uns fühlen?
Dann kämpfe.
Bis die Schwalbe zum Traum wird
und wir zu ihr.
M a r i e D ö l i n g
KAPITEL 1
Runa blinzelte überrascht in die Sonne, die durch das Fenster schien. Die Nacht war ungewöhnlich schnell vorbeigezogen und dieser Umstand vermittelte ihr sofort das Gefühl, dass etwas nicht stimmte.
Sie setzte sich auf und hielt inne, als sie ihre Umgebung wahrnahm.
Was zum ..., dachte sie und blickte sich in dem Zimmer um, das ihr gänzlich unbekannt war. Das musste ein Traum sein. Runa zwickte sich in den Arm.
Ein kurzer Schmerz, keine Veränderung.
Sie zog ihre Beine an, um sich so klein wie möglich zu machen. Ihr Herz raste und ihre Hände schwitzten. Runa versuchte, sich zu beruhigen, indem sie leise von fünfzig runter zählte. Wenn das wirklich ein Traum war, wieso erwachte sie dann nicht?
Lange saß sie stumm da und betete die Zahlen hinunter. Es kam ihr wie eine halbe Ewigkeit vor, bis es plötzlich an der Tür klopfte.
Ruckartig drehte sie sich zu dem Geräusch.
»Miss Edwards«, sagte eine kratzige Frauenstimme. »Lassen Sie mich hinein?«
»Nein!«, antwortete sie und erkannte ihre eigene Stimme nicht wieder; sie erschien ihr fremd. »Was wollen Sie von mir? Warum bin ich hier?«
Wirklich kein Traum, verdammt! Sie hörte ein gedämpftes Kichern und das Mädchen packte die Wut. Sie verstand dieses Theater nicht. Wenn sie hier festgehalten wurde, wieso benötigte diese Frau ihr Einverständnis, um einzutreten? Fand sie das etwa witzig?
Den Zorn ausnutzend, der in ihr brodelte, sprang sie aus dem Bett und riss die Tür auf. Runa war bereit für die bevorstehende Konfrontation, bis sie ihr Gegenüber erblickte.
Vor ihr stand eine kleine Dame mit einer krummen Nase und zerlumpter Kleidung. Ihre Haare waren mit einem verdreckten, einst weißen Tuch bedeckt, ihre Haut faltig und verschrumpelt. Aus großen, grauen Augen sah sie Runa an. »Magst du einen Apfel, mein Kind?«
Sofort wandelte sich die Wut in Irritation.
Das Mädchen schüttelte ihren Kopf. Scheinbar war diese Frau dermaßen gestört, dass sie ein Märchen nachstellte.
»Nimm ihn, Liebes«, wiederholte sie nun nachdrücklicher und hielt ihr das Obst entgegen.
Okay, dachte sich Runa und atmete tief durch. Ich bin nicht so gutgläubig wie Schneewittchen.
»Nein, besten Dank«, lehnte sie ab, doch als sie beabsichtigte, die Tür zu schließen, um die verwirrte Frau hinter sich zu lassen, fiel ihr etwas ein, das sie sich nicht verkneifen konnte.
Sie zog die Tür wieder auf und sah der Dame ins Gesicht. »Übrigens, Chemie ist nicht gut für den Körper. Schauen Sie mal«, Runa zeigte auf die glänzend makellosen roten Äpfel, die im Korb der Frau lagen. »Die sind garantiert gespritzt. Da hat der Obsthändler Ihres Vertrauens Sie sicherlich über den Tisch gezogen. Schönen Tag!«
Sie schloss die Tür und ließ die ratlose Dame – wie es schon Schneewittchen mit der bösen Königin hätte machen sollen – davor stehen. Dann lehnte sie sich gegen das warme Holz des Rahmens, atmete tief durch und starrte ins Leere.
Als ihr bewusst wurde, dass sich die Hexe von einer zugezogenen Tür aufhalten ließ, schmunzelte sie trotz der abstrusen Situation. Vermutlich feilte die Frau bereits an neuen Ideen, wie es auch im Märchen war. Sicherlich würde sie bald mit einem vergifteten Kamm zurückkehren oder ihr einen Schnürriemen andrehen.
Ihr Auflachen klang verzweifelt, denn es machte ihr bewusst, dass sie an einem Ort war, den sie weder kannte noch einschätzen konnte. Sie versuchte, sich zu erinnern, wie sie hierhergekommen war, und rätselte, wo sie sich aufhalten könnte. In ihrer Nähe entdeckte sie einen Spiegel und bemerkte erst jetzt, dass sie ihren Pyjama trug.
Wie war sie hierhergekommen? Hatte diese verrückte Alte sie im Schlaf entführt? Aber was wollte sie von ihr? Und wie kam sie wieder zurück? War ihre Familie unversehrt?
Runa rieb ihre verschwitzten Hände an ihrer Hose ab und lief unruhig im Zimmer umher. Sie beäugte das Fenster, rüttelte daran, doch es bewegte sich keinen Zentimeter. Anscheinend gab es nur einen Ausgang – die Zimmertür.
Sie hatte einen langen Korridor mit zahlreichen Türen hinter der Hexe entdecken können. Es wirkte zu einfach, um durch ihn hindurch geradewegs zum Ausgang laufen zu können. Unentschlossen setzte sie sich auf das Bett und ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Viel zu entdecken gab es hier nicht. Der Raum war dürftig eingerichtet, alles bestand aus Holz. Möbel, Fußboden und Wände.
Im nächsten Moment wurde die Tür einen Spalt geöffnet und eine junge Frau steckte ihren Kopf in das Zimmer. »Störe ich?« Ihre Stimme klang freundlich, dennoch versteifte sich Runa und starrte sie an. Diese Situation war dermaßen grotesk, dass sie nur den Kopf schütteln konnte.
Als die junge Frau den Raum betrat, verschlug es ihr den Atem. Vor ihr stand ein bildschönes Mädchen von zierlicher Statur. Ihre ebenholzschwarzen Haare hoben sich von der blassen Haut ab und ihre Lippen leuchteten in einem strahlenden Rotton.
War das möglich? Nein, das kann nicht wahr sein!
Elegant durchschritt die Schwarzhaarige den Raum und setzte sich neben sie. »Du siehst durcheinander aus«, stellte sie fest, rümpfte ihre Nase und musterte Runa eingehend. »Was hast du da an?«
Im Gegensatz zu Schneewittchen, die in eine weiße Robe gekleidet war, fühlte sie sich mit ihrem grauen Schlafanzug fehl am Platz.
»Ähm ... Tut mir leid, ich bin verwirrt. Spielst du dieses Spiel mit? Du wirkst so …«, Runa suchte nach dem richtigen Wort, »freundlich.«
Warum machte sie bei so einem Blödsinn mit?
»Welches Spiel meinst du?«, fragte sie sichtlich verwundert. »Was ist passiert? War meine Stiefmutter hier? Hast du etwas von ihr angenommen?« Ihre einnehmende Stimme klang aufgeregt. »Sag doch etwas, sieh mich nicht nur so an!«
Runa öffnete ihren Mund, um ihr zu antworten, doch kein Wort kam über ihre Lippen. Vor ihren Augen wurde alles schwarz und sie spürte eine Anziehungskraft, die sie fortriss.
Plötzlich vernahm sie eine verärgerte, ihr jedoch sehr vertraute Stimme: »Runa Edwards! Wieso lese ich, verdammt noch mal, deinen Namen in einem Märchenbuch?«
Ein grelles Licht blendete sie und Runa kniff die Augen zusammen. Sie spürte etwas Flauschiges, Weiches.
Als sie die Augen öffnete, verschwammen die Umrisse um sie herum. Und je weiter das grelle Weiß zurückwich, desto mehr konnte sie erkennen. Sie öffnete ihre Augen vollständig und erblickte im nächsten Augenblick ihr Zimmer.
Vor Freude begann es in ihrem Bauch, zu kribbeln, und ein Glücksgefühl breitete sich in ihrem Inneren aus.
»Wieso lächelst du?«, schnaubte ihre Schwester. Penelope, von ihr liebevoll Pen oder Penny genannt, saß auf der Bettkante und hatte ein Buch auf ihrem Schoß liegen. Ihr Blick war wütend auf Runa gerichtet. »Ich hätte es zuklappen und verbrennen können. Ist dir das klar?«, sagte sie vorwurfsvoll.
Runa setzte sich schweigend auf und vergrub ihre Hände im Schoß. Sie zupfte nervös an der Bettdecke herum. »Penny, es tut mir leid.«
»Ach komm. Es ist nicht das erste Mal, dass ich dich beim Immagieren erwische. Spar dir das. Glaub mir, ich würde mir gerne einreden, dass du es ernst meinst. Wenigstens dieses eine Mal.« Mit einer Handbewegung warf die ältere Edwards-Schwester ihr rotes, schulterlanges Haar zurück.
Sie seufzte traurig. »Stell dir mal vor, Mom wäre reingekommen. Sie hätte dich definitiv irgendwo eingesperrt. Du kannst nicht einfach in Bücher tauchen. Denkst du nicht über die Konsequenzen nach? Was ist, wenn die Hüter plötzlich vor der Tür stehen?« Penelope schüttelte ihren Kopf und blickte auf das Märchenbuch.
Runa presste die Lippen aufeinander. Das war die immerwährende Sorge der Familie. Dass die Fähigkeit, in Bücher zu reisen – das Immagieren – dazu führte, dass sie festgenommen wurden.
»Es tut mir wirklich leid«, murmelte sie und meinte es auch so. Ihre Schwester hatte natürlich recht. Trotzdem hielten das Verbot und die Überwachung der Hüter sie nicht davon ab, ihre Gabe auszuüben, denn Runa war eine geborene Scu. Zu den Scudari, wie sie eigentlich hießen, gehörten jene, die die Gabe des magischen Lesens innehatten. Gemeinhin wurde die Fähigkeit als Lesergabe bezeichnet.
Wütend stand Penny auf und schmiss das Buch in den Papiereimer. »Hör endlich auf damit!«, sagte sie mit fester Stimme, bevor sie sich umdrehte und die Tür hinter sich zuknallte.
Gedankenverloren starrte Runa aus dem Fenster. Es war bereits dunkel und der Himmel tiefschwarz gefärbt. Einige Sterne funkelten, doch die Lichter der Stadt machten es schwer, sie zu erkennen. Seufzend erhob sich die Scu und fischte ihr Buch aus dem Papierkorb, öffnete ihre Schranktür und kniete sich hin.
Vor fünf Jahren hatte sich Runa neue Möbel aussuchen dürfen. Dabei hatte sie sich für einen hässlichen braunen Schrank entschieden, dessen einzige Zierde zwei Spiegeltüren waren. Doch was sie an ihm schätzte, war der grauenvoll dicke Boden, der optisch rein gar nichts für das Möbelstück tat. Auf ebendiesen hatte sie es abgesehen. Eines Tages, als außer ihr niemand im Haus war, hatte sie eine Säge zur Hand genommen und ein Quadrat hineingesägt. Ihre Eltern hatten sich gewundert, warum Runa im Laden auf den Schrankboden klopfte, aber für sie war der Hohlraum ausschlaggebend, denn genau darunter lagerte sie ihre Bücher. Damit das ausgeschnittene Holzstück ihre Bücher gut verdeckte und nicht durch das Loch fiel, baute sie mithilfe ihrer Romane jedes Mal eine Art Turm.
Früher war sie dazu gezwungen gewesen, ihre Bücher in einer Kiste unter ihrem Bett zu verstauen. Das war allerdings riskant gewesen und es kam öfters vor, dass das Versteck fast entdeckt worden war. Zweimal musste Penelope ihre Mutter ablenken, als sie merkte, dass ihre Schwester etwas zu verheimlichen hatte. Natürlich wollte Penny wissen, was sie mit ihren Ablenkungsmanövern unterstützte, und sobald sie die Romane sah, war sie außer sich vor Wut gewesen. Das Mädchen hatte ihr versprechen müssen, sie zu entsorgen. Bis heute hatte sie es jedoch nicht übers Herz gebracht.
Bücher waren ihr Heiligtum, auch wenn es ihr verboten war, welche im Zimmer aufzubewahren.
Nachdem Runa das Märchenbuch versteckt hatte, entschied sie, ihren besten Freund anzurufen. Nach wenigen Freizeichen hob er ab.
»Runa, hey.«
»Hey, wie geht’s dir?«
»Ich bin etwas müde. Wollte mich gerade hinlegen und war dabei, mir den Wecker zu stellen«, antwortete Clay gähnend. »Ist was passiert?«
Runa spielte mit ihrem Stift, als sie antwortete: »Penny hat mich erwischt und war ziemlich wütend.«
»Also wieder eine Buchreise, hm? So schlimm wird es nicht gewesen sein. Sie hat dir bestimmt nur das Übliche erzählt – die Hüter und so weiter und so fort.«
»Das Übliche?«, fragte sie und starrte ihre blau-weißen Wände an. »Das klingt so, als würde es jeden zweiten Tag passieren, Clay!«
»Früher war es so«, antwortete er und Runa hörte, dass er wieder gähnte.
»Früher war ich dreizehn Jahre alt«, verteidigte sie sich. »Hatte jede Menge Pickel und trug eine Zahnspange. Außerdem – so häufig war es nun auch nicht, das hätte man sonst bemerkt.«
Clay lachte. »Also, was ist wirklich los, Runa? Deshalb rufst du sicher nicht an.«
»Okay. Du hast recht.« Sie zögerte und lief umher.
»Als ich in der Geschichte war, wusste ich plötzlich nicht mehr, dass ich eine Scu bin. Erneut. Einen Moment lang ging ich tatsächlich davon aus, dass mich eine Frau entführt hatte. Was ist, wenn ... es mit der Zeit schlimmer wird? Wenn ich in einem Buch lande und niemals hinausfinde?« Der Gedanke jagte ihr einen Schauer über den Rücken.
Einen Moment sagte keiner von ihnen etwas, bis er die Stille durchbrach. »Abgesehen von der Tatsache, dass dich die Entführerin spätestens am nächsten Tag dankend wieder zurückgeben würde, habe ich eine Idee. Was hältst du davon, wenn wir morgen Nachmittag nach Tellsai fahren? Ich habe von einem geheimen Laden gehört, der verbotene Bücher besitzt. Vielleicht findest du dort Antworten.«
»Mann, der muss ja ganz schön geheim sein, dass selbst du Bescheid weißt, Clay«, antwortete das Mädchen ironisch.
»Komm schon, Runa. Das ist die beste und einzige Möglichkeit, die dir bleibt, oder? Lass es uns zumindest versuchen.«
Sie überlegte und legte sich dabei wieder ins Bett. Blöderweise hatte er recht. »Na gut. Was soll’s. Wir können es probieren.«
»So kenne ich dich«, lachte Clay leise. »Also, bis morgen. Gute Nacht, schlaf gut und lies nicht.«
»Keine Sorge, Blödmann. Gute Nacht.«
KAPITEL 2
Der nächste Tag war ein sehr stürmischer. Runa saß neben Clay im Auto und starrte die Windschutzscheibe an. Es herrschte eine drückende Stille zwischen ihnen, die sie nicht lange aushielt.
»Ein Smart besitzt keine Knautschzone«, sagte sie schließlich.
Clay zog seine Augenbrauen hoch, doch sein Blick blieb strikt auf der Straße, während er ihr antwortete. »Ja, aber ich bin ein meisterhafter Fahrer. Du brauchst dir keinerlei Sorgen zu machen.«
Der Regen klatschte gegen die Scheibe, sodass eine klare Sicht auf die Fahrbahn zur Rarität wurde.
»Möglicherweise war es doch keine so gute Idee, zu fahren«, flüsterte sie und zwirbelte die Spitzen ihrer braunen Haare.
»Warum?« Er runzelte die Stirn.
»Vielleicht will uns das Wetter etwas sagen?«
»Ach was. In Nylem ist ja einiges möglich, aber wenn das Klima beginnt, Botschaften zu vermitteln, wird es wirklich verrückt.«
Natürlich war der Gedanke irrsinnig – in Wahrheit hatte sie einfach nur Angst. Es wäre ein Albtraum, wenn sie herausfände, dass ihre Vergesslichkeit ein Anzeichen für eine schwindende Gabe war. Bisher hatte sie stets unbedacht immagiert, bereiste viele Geschichten vom Schlafzimmer aus. Glücklicherweise hatten die Hüter das Portal, durch das die Romane der Erde zu ihnen gebracht wurden, nicht geschlossen. So war es ihr möglich, auch Orte des anderen Planeten anzusehen, wenn diese in der Geschichte eine Rolle spielten.
Runa hatte sich nie großartig Gedanken darum gemacht, welche Auswirkungen ihr Handeln für ihre Freunde und Verwandte hatte. Gefährlich gestalteten es momentan nur die Hüter der Harmonie.
Einige Male hatte Runa versucht, ihre Tante Daisy auf die Gabe anzusprechen. Daisy hatte jedoch jedes Mal Angst, zu viel preiszugeben, weshalb sie das Thema abwiegelte. Das meiste Wissen hatte sie aus Gesprächen zwischen ihrem Vater und ihr aufgeschnappt. Oft hatten beide miteinander gesprochen, wenn sie dachten, dass alle schliefen. Aber sobald das Mädchen das Tuscheln aus dem Büro gehört hatte, war sie in den Flur geschlichen, um ihr Ohr an die Bürotür zu drücken.
Ihr Vater, das wusste sie, würde nie mehr preisgeben als nötig. Und ihre Mutter hatte das Thema zu einem Tabu erklärt, weil es zu gefährlich war. Für Runa allerdings bedeutete nur die Unwissenheit Gefahr, denn nun war sie gezwungen, sich auf anderem Wege Informationen zu beschaffen.
Mit einem flauen Gefühl drückte sie sich weiter in den Sitz; haderte mit sich. Das Risiko, erwischt zu werden, war groß – und es war das erste Mal, dass sie Clay aktiv in die Sache hineinzog. Andererseits waren sie bereits auf dem Weg nach Tellsai. Umzukehren, wäre eine Verschwendung von Zeit, Energie und Ressourcen. Dennoch hatten die beiden die Möglichkeit, nur in ein nettes Café zu gehen und durch ein Einkaufszentrum zu bummeln.
»Soll ich zurückfahren?«, fragte Clay, der scheinbar fühlte, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Etwas, das nicht nur mit der fehlenden Knautschzone zusammenhing.
»Fahr ruhig weiter. Sehen wir mal, was dabei herumkommt«, murmelte sie. »Wenn uns etwas komisch vorkommt, unternehmen wir einfach etwas anderes.«
Clay nickte zustimmend.
In Tellsai angekommen, steuerten sie zu Fuß auf eine kleine Gasse zu, während die Scu noch einmal einen Blick zurückwarf. Alles war grau. Die Straßen, die Gebäude und der Himmel. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie ein paar Gestalten in orangenen Jacken zwischen dem Grau entdeckte. Hüter.
Mit klopfendem Herzen blickte Runa wieder nach vorne und sah, dass ihr bester Freund schon ein Stück weitergelaufen war. Sie beschleunigte, um aufzuholen. »Meinst du, die Leute sind glücklich hier?«
Er lachte. »Wir sind nicht gerade in einer rosigen Ecke der Stadt. Aber warte. Bleib kurz stehen.«
Verwirrt sah sie ihn an. Als sie nach dem Grund fragen wollte, legte Clay seinen Zeigefinger auf den Mund. Und dann hörte sie, was er meinte: ein leises Meeresrauschen. Es klang beruhigend, obwohl es sich wild anhörte. Die Wellen schlugen in ihrem eigenen Rhythmus gegen Gestein.
»Das ist schön«, sagte sie und lauschte dem Wasser.
»Ja … Komm, gehen wir weiter«, antwortete Clay mit einem Lächeln auf den Lippen. »Rungholt trennt Quentince vom Meer. Deshalb können wir das Rauschen leider nicht mehr bei uns hören«, erklärte er.
»Stattdessen hört man den Verkehr«, schmunzelte Runa.
Die Gasse wurde allmählich breiter. Die alten Häuser, die hier standen, wurden von Blumenranken geschmückt, die sich nun, im kalten Winter, in einem trostlosen Braun zeigten. Die eisige Kälte ließ die Einwohner von Tellsai den Tag lieber im Warmen verbringen, die Straßen waren leergefegt.
»So«, meinte Clay und blieb abrupt stehen. Er blickte auf ein grauweißes Haus, das sich nicht von den anderen unterschied. »Hier sollte der Laden sein.«
»Hier?« Runa konnte beim besten Willen kein Anzeichen eines Geschäfts finden. »Vielleicht wurde er entdeckt und geschlossen?«
»Nein. Das kann nicht sein. Meister Helvans Buchladen führt normale Bücher. Man muss ihn fragen, um in die andere Abteilung zu gelangen.« Clay zögerte, bevor er weitersprach. »Und es kommt darauf an, wer fragt.«
Entsetzen stand in ihrem Blick. »Es kommt darauf an, wer fragt? Was willst du damit sagen? Falls wir Glück haben, kommen wir an die Bücher, und wenn nicht, haben wir uns unnötig verdächtig verhalten? Mal überlegt, dass es ein Hinterhalt der Hüter ist?«
»Ich weiß aus sicherer Quelle, dass du die Texte zu sehen bekommst«, sagte er nachdrücklich.
Runa stöhnte. Ihr Verstand sagte ihr deutlich, dass sie umkehren sollten. Doch dann blieb die Ungewissheit. »Nun gut. Aber wo ist dieser Laden? Das hier ist ein normales Wohnhaus.«
Ihre Stimme hatte einen zickigen Ton angenommen. Sie glaubte nicht daran, dass sie an die Bücher kamen, und konnte nicht fassen, dass er ihr so eine wichtige Information verheimlicht hatte. Das schürte ihre Angst umso mehr. Das Wort Risiko schlich sich in roter Warnfarbe in ihren Schädel und das Blut schoss in ihre Wangen und bildete ein zartes Rosa.
»Schau mal«, sagte Clay plötzlich, der ein Stück zurückgegangen war, um sich umzusehen. »Hier ist eine winzige Seitenstraße.«
Die Scu ging zu ihm, noch immer sichtlich beleidigt, und folgte seinem Blick. Die Dichte der Gebäude ließ kaum Licht hinein.
»Du möchtest ernsthaft hier langgehen?«, sprach sie leise.
»Er könnte sich hier gut verstecken«, flüsterte Clay.
In stiller Übereinkunft schritten sie in die dunkle Gasse. Menschen mit Platzangst wären hier nicht gut bedient. Umgeben von meterhohen Hausfassaden, durchschritt Runa mit einem nervösen Kribbeln im Bauch die schmale Straße. Immer wieder sah sie nach hinten, um sicherzugehen, dass ihnen kein Hüter folgte. Es wäre hier ein Leichtes, die beiden zu umzingeln. Sie hätten keine Möglichkeit, auszuweichen, was sie veranlasste, noch schneller zu gehen.
Nach ein paar Metern sah sie Licht. »Clay, da ist ein helles Schaufenster!«
Bei genauerer Betrachtung handelte es sich um das grauweiße Wohnhaus, allerdings war dies die Rückseite. Beide verharrten zunächst und standen mit zusammengekniffenen Augen davor; überlegten, ob sie es wirklich wagen sollten. Das Geschäft war klein und seine Mauern sahen genauso unscheinbar aus wie die Vorderseite des Hauses. Über dem Shop war ein Schild, auf dem Meister Helvans Bücherkiste stand.
Runa zog die Augenbrauen hoch. »Meister Helvan. Ernsthaft?«
Clay zuckte mit den Schultern. »Habe ich doch gesagt. Komm, lass uns reingehen. Wir sind total durchgefroren.« Zwei Schritte später drückte er gegen die Tür und warme Luft strömte ihnen entgegen.
»Ich habe mich schon gefragt, wann ihr reinkommt. Hab in der Zwischenzeit gedacht, ihr stellt irgendwas an«, sagte eine tiefe Stimme.
Der alte Mann saß in einem Schaukelstuhl und strickte ein weißes Ding. Runa erkannte nicht, was es war. Der Herr selbst hatte kurze graue Haare und war faltig, seine Nase groß und hakenförmig. Neben seinem Stuhl lehnte ein Gehstock an der Wand.
»Äh … Hallo! Sie sind Meister Helvan?«, fragte Clay vorsichtig.
Runa schaffte es, den Blick von ihrem Gegenüber zu lösen, und musterte den Laden. Er war großflächiger als zunächst angenommen. Eine metallische Wendeltreppe führte zum zweiten Stock. Die Räumlichkeiten waren recht modern ausgestattet. Die Wände waren beige und hatten mittig eine dicke horizontale orangene Linie. Die Schränke waren aus hellem Holz und sahen aus, als wären sie neu. Es gab jede Menge Bücher, darunter sogar aktuelle Bestseller, DVDs, Schmuck und Besteck.
»Eigentlich Meister Helvan Junior, aber man nennt mich Meister Helvan, ja«, antwortete der Alte und sah die beiden mit seinen grauen Augen an. Noch immer standen sie gedrängt an der Eingangstür.
»Kommt doch rein. Ich beiße nicht.«
Nachdem Clay sich einen Ruck gab, trat auch Runa in den Raum und wagte es, andächtig durch das Geschäft zu laufen. Immer auf der Suche nach einer weiteren Tür, die vielleicht zu den spezielleren Büchern führte.
»Sie haben einen sehr schönen Laden«, sagte sie und ließ ihren Blick nochmals über die Wände gleiten. Die Atmosphäre war gemütlich und sie fühlte sich – nun, wo der erste Schreck vorüber war – tatsächlich willkommen.
»Danke«, antwortete Meister Helvan, der sie genau beobachtete. »Mira hält ihn in Schuss.«
»Das habe ich gehört. Sie haben es endlich zugegeben!«, erklang eine Frauenstimme, dessen Gestalt sich oben über das Geländer beugte und nach unten blickte. Die Brille, die sie trug, verrutschte dabei. Schnell richtete sie sich wieder auf, um sie nicht zu verlieren.
»Nicht vor unseren Kunden, Mira«, protestierte Helvan, doch sie zuckte nur mit den Schultern.
Runa senkte den Blick und bemerkte, dass sie vor einem Schmuckregal stand, und betrachtete die Ketten. Sie griff nach einer, die ganz hinten hing und wegen der anderen fast verborgen blieb. Sie war aus Silber und sehr leicht. Sie fühlte sich stabil an. Es war ein schlichtes Schmuckstück. Der ovale, smaragdfarbene Anhänger verlieh ihm das gewisse Etwas. Runa sah einen weißen Schimmer, der den Stein umrahmte.
»Kann ich euch helfen?«, fragte der Ladenbesitzer.
Sie blinzelte, um ihren Blick von der Kette abzuwenden. Es fühlte sich ähnlich an, wie die Anziehungskraft, die sie beim Lesen ereilte.
Clay stand immer noch wie angewurzelt im Raum und war mit der Situation sichtlich überfordert. Vermutlich war ihm der alte Mann nicht geheuer.
»Ja«, antwortete Runa und legte die Kette zurück. Dann ging sie auf die Theke zu, hinter der Meister Helvan saß. Clay fasste Mut und stellte sich neben sie, als wollte er ihr beistehen. Der faltige Mann blickte das Mädchen aufmerksam an.
»Ich suche Bücher, in denen etwas …« Sie schluckte, überwand ihre Furcht. »In denen etwas über Vergesslichkeit von Scudari in Geschichten steht.« Letzteres sagte sie in einem Flüsterton.
Meister Helvan zog seine Augenbrauen hoch. »Ihr seid wirklich mutig«, meinte er und lehnte sich vor. »Aber was soll man heutzutage machen, wenn man sich dafür interessiert. Stimmt’s? Ihr seid bestimmt nicht zufällig hergekommen. Das tut kaum jemand. Tatsächlich habe ich Scubücher in meinem Besitz. Ich verkaufe und verleihe sie nicht. Die Zeiten sind vorbei. Jedoch würde ich dir, Miss Edwards, einen Blick in diese Bücher gewähren.«
Clay runzelte die Stirn. »Woher ... Wir haben nie unsere Namen erwähnt.«
Meister Helvan lächelte. »Nein, habt ihr nicht.« Er stand langsam auf und schnappte sich seinen Gehstock.
Während die beiden dem Mann folgten, tauschten sie kurze Blicke aus. Der Besitzer öffnete eine Tür, die zu einer Treppe führte. Ihnen stieg ein moderiger Geruch in die Nase. Sie liefen die Stufen hinunter, drangen tiefer in das Erdreich ein. Runa fragte sich, ob ihr Freund irgendwem erzählt hatte, was sie vorhatten. Vielleicht war ihre Tante Daisy von ihm eingeweiht worden, denn nur sie konnte ihm den Tipp gegeben haben, dass es hier Scubücher gab. Sie war die Schwiegermutter von Clays Bruder und ebenso Großmutter von Annie, Clays Nichte. Wenn etwas passieren würde, wüsste die Familie zumindest, wo sie suchen müssten. Vorausgesetzt, er hatte es ihr wirklich mitgeteilt.
Runa beobachtete, wie er sich besorgt umsah. Er machte sich vermutlich ähnliche Gedanken.
»Da wären wir«, sagte Helvan, knipste erst jetzt das Licht an und zeigte dann auf eine Tür. Die drei standen in einem Keller, der komplett leergeräumt war. Schimmel bildete sich zunehmend auf dem Gemäuer. Der Alte öffnete eine weitere Tür und die beiden sahen einen winzigen, kahlen Raum, dessen Wände nicht tapeziert waren. Der blanke Beton war wenig einladend. Eine einzelne Glühbirne, die an dünnen Kabeln von der Decke hing, beleuchtete das Zimmer.
Helvan räusperte sich. »Ich weiß. Es ist nicht die schönste Umgebung, aber es ist zweckmäßig.«
Ein einsamer Schreibtisch mit einem aufgeschlagenen Buch zierten den schäbigen Raum.
»Willst du nun lesen? Oder stehen wir hier länger blöd herum?«, fragte der Mann, nachdem sich keiner der beiden vom Türrahmen wegbewegte.
»Okay, okay. Aber es ist nur eins? Finde ich alles da drinnen?«, fragte Runa unsicher.
Helvan nickte. »Es ist unproblematischer, eine Vielzahl von verbotenen Büchern, zu einem einzigen zu binden, um sie zu verstauen. Nicht, dass es etwas an der Strafe ändern würde, aber es gibt einem trotzdem ein sichereres Gefühl, alles an einem Platz zu haben.«
Clay nickte verständnisvoll. Runa trat in den Raum, hing ihre Jacke über die Lehne des Stuhls und machte es sich so bequem wie möglich. Als Clay im Begriff war, ihr zu folgen, hielt der Ladenbesitzer ihn mit einem Arm an der Schulter auf.
»Nein«, sagte er. »Das ist nur für Scudari bestimmt.«
»Ich lese doch nicht darin. Ich würde einfach nur warten.«
»Woher soll ich wissen, dass sie dich nicht mitnimmt? Nicht nur, dass es nicht für dich gedacht ist, es gäbe außerdem einen immensen Ausstoß an Energiewellen!«
»Das würden wir nicht tun. Sie können gerne warten«, entgegnete ihr bester Freund.
»Ich habe Besseres zu tun, Junge. Darüber hinaus solltest du wieder zurück nach oben. Es wird ‘ne Weile dauern, glaub mir.«
Runa sah Clay entschuldigend an.
Er ließ die Schultern hängen. »Bis gleich.«
Helvan schloss die Tür und das Mädchen hörte, wie die beiden die Stufen hinaufgingen. Vor ihr das riesige, dicke Buch. Es sah abgenutzt aus, hatte jedoch den verführerischen Holzgeruch, den sie so liebte.
Ein, zwei, drei, mehr Worte. Sie begann, zu lesen, und schon befand sie sich in einem wirren Strudel.
KAPITEL 3
Runa landete in einem großen Gebäude. Nur vereinzelt liefen Menschen durch den Flur, die sich nicht sonderlich über das urplötzlich auftauchende Mädchen wunderten. Sie stand auf und klopfte ihre dunkelblaue Jeans ab. In ihrem Pullover war ihr viel zu heiß.
Das Gebäude bestand ausnahmslos aus Glas. Draußen befand sich ein großer Park, der bunt blühte. Es war Sommer und die Hitze kroch Runa unter ihren dicken Wollpulli. Sie erinnerte sich erleichtert daran, dass sie ein Top unter ihm trug, daher zog sie sich diesen prompt über den Kopf und band ihn um den Bauch. Erst dann nahm sie sich die Zeit, ihre Umgebung zu mustern, und erkannte, wo genau sie sich befand. Es war der Regierungssitz Katevas. Die Metropole lag inmitten der Ebene und war besonders weitläufig. Früher wurde sie die Stadt der Scudari genannt.
Damals, als sie noch nicht gejagt wurden.
»Runa«, sagte eine angenehme, männliche Stimme.
Das Mädchen drehte sich um und erblickte einen sympathisch aussehenden Mann Mitte vierzig.
»Du bist sicher wegen der Sitzung heute da, oder?«
Runa kannte dieses Prozedere. Sie wurde nun in die Geschichte integriert.
»So ist es. Ich bin nur etwas durcheinander. Können Sie mir sagen, wo die Konferenz stattfindet?«
»Natürlich, lass uns zusammen gehen. Sie beginnt bereits in zehn Minuten.«
»Das ist sehr freundlich, danke schön.«
Als sie den Mann beim Gehen genauer ansah, presste sie die Lippen aufeinander und blickte beschämend zu Boden. Während er einen Anzug trug, war sie mal wieder nicht entsprechend gekleidet. Dass Runa am liebsten vor Scham im Boden versunken wäre, änderte nichts daran. Also raffte die Scu ihre Schultern und folgte dem Herren mit erhobenem Kopf und verwaschener Jeans.
Während der Fahrstuhl, den sie nur Momente danach betraten, durch die Stockwerke fuhr, musterte sie der Fremde. Sie lächelte unbeholfen und er grinste zurück, schnippte mit den Fingern. Das Mädchen fühlte, wie warme Luft um ihren Körper wirbelte und sich Stoff an ihren Körper heftete. Ihre lockigen Haare flogen nach hinten und ziepten, während sie sich formten. Als sie ihr Spiegelbild im Fenster sah, stockte ihr der Atem. Ein schwarzer Hosenanzug umschmeichelte ihren Körper und ihre braune Mähne war in einem Dutt gebändigt. Wenige Strähnen fielen ihr ins Gesicht.
»Gern geschehen«, sagte ihr Begleiter und schmunzelte.
»Oh … Danke.« Scheinbar war Runa auf einen waschechten As getroffen. Ein As, eigentlich Asoma genannt, war jemand, der über freie Magie herrschte. Zumindest zum Teil. Auch Asoma hatten gewissen Gaben, wodurch die Energie kanalisiert wurde, doch eine gewisse Menge konnten sie frei einsetzen. Zum Beispiel, um einer Scu aus ihrer Kleidungspanne herauszuhelfen.
Scudari verfügten über gebundene Magie, da sie sich ausschließlich auf das geschriebene Wort fokussierten. Asoma konnten ihre Energie nicht auf Buchstaben anwenden. Bücher und Texte waren eigenwillig, so wie die Seelen, die sie niedergeschrieben hatten. Es benötigte behutsame und einzigartige Magie.
»Du hast dich eingelesen«, flüsterte er verschwörerisch. Seine grünen Augen funkelten.
Runa lächelte unbeholfen. »Hätte ich gewusst, wie die Geschichte abläuft, wäre ich vorbereiteter gewesen.« Oder auch nicht. Wie immer.
Ihr Gegenüber presste die Lippen aufeinander, als würde er ein Lächeln unterdrücken. »Mein Name ist Mica. Du kannst mich gerne duzen«, stellte sich der Asoma vor, bevor er weitersprach. »Da wir uns in einer Scudaribiografie befinden, hättest du dich nur vorbereiten können, indem dir ein anderer Scu erzählt hätte, wie du dich kleiden musst. Jedes Scu-Buch reißt einen Scudari sofort mit. Ich kenne nur eine Person, die so eine Selbstbeherrschung hat, dass er auch diesen Büchern widersteht. Aber das ist äußerst schwer und er sagte mir, dass es eine gewisse Qual mit sich bringt.«
Der Mann beobachtete die Anzeige der Etagen und fuhr nach kurzem Zögern fort. »Eine Biografie ist etwas ganz Besonderes. Sie funktioniert anders als andere Bücher, in denen du nahezu vergessen wirst. Der As oder Scu, dem sie gehört, wird sich immer vollständig an dich erinnern können. Die Einzigartigkeit der Biografie ist nicht zu vergessen. Sie existiert nur einmal und in der Regel werden sie so verzaubert, dass es sich wie eine Zeitreise verhält.«
Runa, die sich auf der langen Fahrt nach oben angelehnt hatte, löste sich von der Wand und blickte ihren Gegenüber verdattert an. »Heißt das, dass ich hier etwas nachhaltig verändern könnte?«
Er nickte ernst.
Die Scu atmete tief ein und musterte den engen Fahrstuhl. Wenn das der Wahrheit entsprach, musste sie sehr vorsichtig sein. Die Scudari hatten früher Gesetze für solche Fälle. Gesetze, die schon lange nicht mehr existierten, da man keine brauchte, wenn es offiziell verboten war, zu immagieren. Runa hatte sich daher nie groß damit befasst. Sie kannte nur einzelne Sätze, die ihr Vater ihr mit auf den Weg gegeben hatte.
»Weißt du, in welche Biografie ich mich eingelesen habe?« Ihre blauen Augen musterten den Mann.
Mica zuckte mit den Schultern, ehe sich die Aufzugtüren öffneten und sie in einen langen Korridor traten. Runa folgte ihm und musterte ihn zum wiederholten Male. Sie wusste, dass es neben den Scudari auch Asoma gab, die gejagt wurden. Allerdings hatte sie bislang keinen As, der praktizierte, persönlich kennengelernt. Ihres Wissens nutzten sie ihre Gabe kaum, da die Messinstrumente bei Zauber schneller ausschlugen.
Der Asoma führte sie auf die zweiundzwanzigste Etage, auf der sie schweigend den großen Konferenzsaal betraten.
»Weißt du, was jetzt passiert?«, flüsterte Runa ihm zu.
»Nein«, antwortete er. »Aber ich kann mir vorstellen, um welches Thema es geht.«
Der Saal war rund und vollständig aus Glas – ein gläsernes Auditorium. Eine junge Frau eilte hastig auf die beiden zu.
»Runa«, rief sie. »Ich habe dich schon überall gesucht.«
Gehörte ihr diese Biografie? Runa wurde nicht schlau aus der Situation.
Die Frau blieb vor ihr stehen und sah den Asoma an. »Mica. Alles in Ordnung bei dir?« Ihre braunen Augen musterten sein Gesicht.
»Sollte etwas nicht stimmen, Naomi?« Er betonte ihren Namen deutlich und zwinkerte Runa zu. Die Scu lächelte dankbar.
»Ich habe gehört, dass dein Sohn recht aktiv ist. Bei den Gerüchten ist das wohl kein guter Zeitpunkt.« Sie presste ihre schmalen Lippen zusammen. Eine Furche bildete sich zwischen ihren Augenbrauen.
»Er ist erwachsen. Ich kann ihn leider nicht aufhalten, nicht mal mit Engelszungen«, meinte der As, während sie sich zusammen in eine Reihe setzten und Runa dem Gespräch lauschte.
»Mit deiner Position bist du dafür wohl auch kein Vorbild«, sagte Naomi lächelnd.
»Authentisch wäre das nicht.«
»Ich bin gespannt, ob sie heute etwas zu den Gerüchten sagen.«
Mica nickte, sein Blick glitt durch den Raum. »Ich habe das Gefühl, dass uns nicht gefallen wird, was wir hören werden.«
Der Saal war bereits gut besetzt und in der letzten Minute, so schien es der Scu, strömten die meisten hinein. Sie spürte die wachsende Anspannung.
»Die lassen sich heute aber Zeit«, wisperte Naomi, sodass es nur Runa hörte.
Augenblicke später betraten ein kleiner, bärtiger Mann und eine brünette Frau den Raum. Der Mann war ohne Zweifel einer der Zwerge aus Viame und die Frau eine Elfe aus dem Quinntal. Sie war so blass, dass man jede Ader sah. Ihre Finger waren lang und fast unsichtbar. Der Zwerg hingegen war robust, stämmig und braun gebrannt. Runa hatte bisher noch nie Zwerge oder Elfen gesehen und musterte sie ganz genau. Prägte sich alles ein.
»Liebe Gemeinde«, begann der Mann, »vielen Dank, dass ihr so zahlreich erschienen seid. Wir haben uns heute hier versammelt, um euch zu warnen.«
»Mein Name ist Ermi. Ich bin Bergbauarbeiter in Viame und ein As.«
»Und mein Name ist Victoria. Ich komme aus dem Quinntal. Ich bin Heilerin und eine Scu«, sagte die Brünette. Ihre Stimme war auffällig melodisch.
»Wir vertreten die Gemeinschaft der Scudari und Asoma«, erklärte der Zwerg. »Und leider haben wir erschreckende Nachrichten von Brüdern und Schwestern erhalten, die dringende Aufklärung benötigen.«
Victoria nickte eifrig. Ihre goldene Robe hob sie deutlich hervor. »Mir wurde von zahlreichen Vorfällen berichtet: Bücher, in die sich Scudari eingelesen hatten, wurden gestohlen. Ein paar Familien bekamen Romane zurückgeschickt, in denen sämtliche Seiten angesengt waren, teilweise gänzlich verbrannt.« Victorias Stimme brach am Ende, sie atmete noch mal tief durch.
Der Zwerg tätschelte ihre Wade, um sie zu trösten.
»In den zurückgesandten Büchern stand immer ein Satz auf der Innenseite des Einbandes: Hüter der Harmonie, für die Justiz.«
Entsetzen breitete sich in der Menge aus.
»Wie viele Scudari betrifft es?«, fragte eine zierliche Frau.
»Ungefähr sechzig bekannte Fälle«, antwortete die Heilerin mit Bedauern. Das Nuscheln wurde lauter.
»Das kann doch nicht sein!«, beschwerte sich ein älterer Mann. »Vor sechzig Jahren wurden wir von der Weltkugel verbannt, unsere Familien auf diese Ebene gebracht und jetzt geht das schon wieder los? Das glaube ich nicht!« Seine Faust brauste auf den Tisch und donnerte auf die Platte, sodass die Tischbeine erzitterten. Traurig schüttelte er den Kopf.
»Wer sind diese Hüter der Harmonie überhaupt? In den letzten Tagen waren sie ziemlich präsent auf den Straßen. Haben sogar Leute verhaftet«, warf eine jüngere Dame ein.
»Sie sind eine neue Organisation. Eine Bewegung, die immer schneller wächst und fordert, dass die Gaben nicht mehr genutzt werden«, antwortete Victoria verschüchtert, als stünde sie am Pranger. »Es sieht tatsächlich danach aus, dass diese Hüter sich verbreiten. Einige Menschen haben bereits kundgetan, dass mit den Regeln teilweise zu lasch umgegangen wird, bisher wurde aber noch keine Klärung anberaumt. Wir kommen nicht an sie heran und scheinbar besteht auch keinerlei Absicht, die Sache ohne Gewalt zu lösen. Es bricht eine Zeit an, in der wir aufpassen müssen.«
»Was soll das bedeuten? Sollen wir ohne weiteres zulassen, dass diese selbsternannten Götter wahllos Menschen verhaften und töten?«, rief ein Mann aus der letzten Reihe empört.
»Was ist mit den Asoma?«, fragte eine Frau. Sie wirkte relativ gefasst im Gegensatz zu den anderen. »Wir könnten die Scudari unterstützen. Zusammenhalt ist in diesen Tagen besonders wichtig. Wir sollten so früh wie möglich gegen diese Organisation vorgehen.«
Es folgte ein zustimmendes Raunen in der Menge.
»Die Asoma«, begann der Zwerg andächtig, »haben ebenso deutliche Warnungen erhalten. In letzter Zeit wurden zunehmend Asomakinder entführt, ihre Familien bedroht und erpresst.«
Der Saal verstummte.
Runa schluckte. Sie konnte nicht glauben, wie abscheulich die Hüter vorgingen. Das im Namen der Harmonie durchzuführen, war boshaft und verabscheuungswürdig.
»Was sollen wir tun? Wieder eine neue Ebene erschaffen und dann beginnt alles von vorne?«, fragte eine alte Frau mit zittriger Stimme.
»Momentan sind wir im Gespräch mit den Obersten. Allerdings gestalten sich die Verhandlungen mehr als schwierig«, gab die Heilerin zu. »Uns war es vor allem wichtig, euch erst mal in Kenntnis zu setzen. Ihr solltet Vorsicht walten lassen, bis wir einen Weg gefunden haben, diese Vorgehensweise zu stoppen. Und das sollte bald sein.«
»Mehr können wir momentan nicht tun«, pflichtete Ermi ihr bei.
»Das bedeutet, ihr fordert uns auf, uns zu verstecken?«, fragte Mica neben Runa.
»Wir sind leider dazu gezwungen. Wir wissen nicht, wie kooperativ sich die Organisation zeigen wird. Doch eins ist sicher: Wir können nicht länger warten. Die Zustände auf den Straßen sind in den letzten Tagen immer schlimmer geworden. Ohne Frage, es ist eine unglaubliche Einschränkung, um die wir euch bitten, aber es geht um unser Leben, das Leben unserer Kinder. Warnt eure Angehörigen. Die Gerüchte, die kursieren, sind wahr«, sagte Ermi. »Bis wir die nächste Sitzung einberufen, wird es nicht lange dauern. Diese ist fürs Erste beendet.«
Sofort wurde es im Raum unruhig. Die Leute sprachen aufgebracht miteinander. Eine jüngere Frau ging auf die Vorsitzenden zu und klärte einige Fragen, die ihr auf der Zunge brannten. Andere gesellten sich dazu, um die Antworten mitzuhören.
»Das ist doch nicht wahr!«, keuchte Naomi mit aufgerissenen Augen. Mica saß regungslos da und starrte nach vorne.
»Mica«, flüsterte die Scudari und zupfte an der Schulter vom Asoma. Sie warf Naomi einen hilflosen Blick zu.
»Wir sind alle verschreckt, Runa. Es ist kein Wunder, dass er geschockt ist. Unser ganzes Leben wird sich verändern. Wenn wir Pech haben, steht wieder ein Umzug an. Die älteren Generationen haben das alles schon mitgemacht, das können sie nicht noch mal!« Naomi stand auf und fuhr sich durch ihre hellbraunen Haare.
Runa musterte sie, fragte sich, warum selbst Scudari ihresgleichen in den Scu-Biografien nicht erkannten.
»Weil sie geblendet sind«, flüsterte Mica nun und blickte Runa von der Seite an.
»Wie bitte?«
»Die Antwort auf deine Frage. Du denkst ziemlich laut.«
»Oh, entschuldige. Du kannst Gedanken lesen? Wahnsinn …«, sagte Runa. Wie unangenehm. Wahrscheinlich hat er alles mitbekommen. Sie hatte bereits gehört, dass es Asoma gab, die dieses Talent besaßen. »Was meinst du mit geblendet?«, hakte sie nach und verdrängte den Gedanken, dass er vermutlich schon viel zu viel aus der Zukunft erfahren hatte, wenn sie laut dachte.
»Sie sind zu nah am Geschehen, verbunden mit der erzählten Geschichte. Würdest du wollen, dass deine beste Freundin dich eigentlich nur seit zwei Minuten kennt, obwohl du drei Jahre und zahlreiche Erinnerungen im Kopf hast? Es ist eine Lüge, die in dem Moment gebraucht wird. Sonst würde das Immagieren nicht funktionieren. Sobald du ein Buch wieder verlässt, bleibst du als flüchtige Bekannte im Gedächtnis, mit der man wenige Augenblicke im Leben verbracht hat. Die einzige Ausnahme bildet die Biografie.«
»Dann wirst du dich an mich erinnern?«
Mica lächelte das erste Mal seit der Besprechung. »Ja, das werde ich.«
Wollte er ihr damit sagen, dass ihm diese Biografie gehörte?
Das Mädchen zwirbelte an ihrer braunen Strähne, die ihr im Gesicht hing, und öffnete ihren Mund, um Mica direkt darauf anzusprechen, doch der Asoma wurde in diesem Moment von der Seite angesprochen.
Runa lehnte sich zurück und beobachtete das nervöse Treiben um sie herum. Während die Sonne hämisch durch das Glas schien und den Eindruck erweckte, als sei alles in Ordnung, hatte die Scu das Gefühl, als sähe sie gerade den Beginn der Übernahme. Runa war sich fast sicher, dass dem so war. Diese Leute hatten noch alles vor sich und wer weiß, wie viele von ihnen ihr Leben lassen würden.
Sie wischte ihre verschwitzten Hände an dem samtweichen Stoff des Hosenanzugs ab, der sich fremd auf ihrer Haut anfühlte, und huschte von Gesicht zu Gesicht. Trotz der bitteren Situation interessierte sie sich dafür, von welchen Fähigkeiten sie umgeben war. Allerdings schob sie diesen Gedankengang beiseite. Es war nicht wichtig und ihr brannte eine Frage auf der Seele, auf die Mica sicherlich eine Antwort hatte. Der Asoma löste sich aus seinem Gespräch und drehte sich zu ihr.
»Du weißt nicht viel über die Talente der Scudari. Haben dir deine Eltern denn nichts darüber erzählt?« Er beäugte die junge Scu nochmals. Er hatte ihre Gedanken belauscht.
»Das Wichtigste schon. Aber ich habe das Gefühl, dass so manches ausgelassen wurde«, antwortete Runa ausweichend und verschränkte ihre Arme.
Mica runzelte die Stirn. »Das bedeutet nichts Gutes.«
Traurig schüttelte sie den Kopf. Naomi unterhielt sich inzwischen angeregt mit einer Gruppe.
»Wieso weißt du so viel über Scudari, wo du doch ein Asoma bist?«, fragte Runa.
»Mein Vater und mein Bruder sind Scudari. Ich selbst bin mit einer Scu verheiratet und mein Sohn ist beides, also ein Ascu. Ich habe schon die wildesten Geschichten gelesen!« Am Ende lachte Mica.
Runa lächelte. Als Ascu in ein Buch zu tauchen, stellte sie sich abenteuerlich vor. »Kannst du mir dann vielleicht beantworten, warum ich meine Gabe in Geschichten manchmal vergesse? Ich stehe plötzlich völlig ahnungslos in der Buchwelt.«
»Das hat einen schlichten Hintergrund«, antwortete der As wie aus der Pistole geschossen und lehnte sich zurück. »Es kommt davon, dass du gedankenlos in das Buch immagiert bist. Als du angefangen hast, dieses Buch hier zu lesen, wusstest du, dass du eintauchen würdest. Die Reise in diesen anderen Text war scheinbar nicht geplant. Damit wurdest du ein Teil des Romans, hast einen Part in der Geschichte übernommen. Das bedeutet im Klartext, dass du zu etwas wirst, das dem Buch bekannt ist; zu einer der Rollen darin. Du wirst eine Prinzessin oder Hexe, wenn es in dem Buch Scudari gibt, kannst du auch das werden, oder auch nur ein einfacher Bürger. Du wirst integriert, weißt aber im Grunde nicht mehr, wer du wirklich bist. Allerdings passiert das in der Regel nur jüngeren Scu. Wenn du die Gabe fest in dir verankert hast, es eine Charaktereigenschaft von dir wird, geschieht das nicht mehr.«
Mica lächelte sie an. »Ich weiß, der Anziehungskraft zu widerstehen ist nicht angenehm.«
Das stimmte. Aus diesem Grund verzichteten die meisten Scudari in Runas Welt gänzlich auf das Lesen.
»Danke für deine Erklärung, das klingt einleuchtend und beruhigt mich.« Die Antwort war so schlicht und einfach. Runa war erleichtert, dass es kein Anzeichen für eine schwindende Kraft war.
»Jetzt, wo ich dir deine Fragen beantwortet habe, würdest du mir auch eine beantworten?« Micas grüne Augen betrachteten sie eingehend.
»Ja, natürlich.« Im Grunde hatte sie sowieso keine Wahl, sobald er die Frage stellte, würde sie an das denken, was er wissen wollte. Doch es war eine nette Geste.
»Wie geht das hier aus? Diese Organisation hat sich durchgesetzt, oder? Du wüsstest mehr über deine Fähigkeiten, wenn es nicht so wäre. Deine Eltern möchten nicht, dass du es kannst«, stellte er fest und gab sich seine Antwort selbst.
Mica hatte sie von ihrer größten Sorge befreit, nun hatte sie das Gefühl, ihm diese Auskunft schuldig zu sein. Eigentlich war es Runa nach den alten Scudarigesetzen nicht erlaubt, etwas über die Zukunft preiszugeben. Doch diese Reglungen waren außer Kraft gesetzt worden, als die Hüter der Harmonie alles an sich gerissen hatten.
»Ich weiß nicht, wie es bei euch weitergeht. Aktuell sind die Hüter ständig dabei, Messungen durchzuführen. Wenn die Energie ungewöhnlich hoch ist, wird eine Suche aufgenommen. Der Scudari oder der Asoma wird in Gewahrsam genommen oder getötet, keiner weiß es so genau«, flüsterte Runa.
Mica erblasste. Er strich sich seine Anzughose mit zittrigen Fingern glatt. »Also werden wir uns wirklich wieder verstecken? Sie werden regieren?«
Runa nickte niedergeschlagen.
»Ich hatte demnach recht. Deine Eltern wollen nicht, dass dir etwas passiert«, registrierte der Asoma.
»Ja, aber ich kann nicht widerstehen. Ich passe auf, so ist es nicht ... Aber ich liebe die Gabe. Sie gehört zu mir.«
»Das kann ich verstehen, dennoch … Ist es dein Leben wert? Du solltest abstinent lesen. Das ist sicherer.« Er grübelte. »Ich habe schon mal von solchen Messungen gehört, aber sie waren bislang nicht von Bedeutung. Du hast Glück, Scu-Bücher geben keinen besonderen Wert ab.«
»Tatsächlich? Nur leider gibt so gut wie keine mehr. Eigentlich sollten alle verbrannt sein. Nur wenige wurden versteckt.«
»Das kann ich mir vorstellen«, antwortete er tonlos und starrte geradeaus.