Heller als tausend Sonnen

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Inhaltsübersicht

Fußnoten

  1. Pohl hat später seine abwartende Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus aufgegeben und war bei seinen Kollegen als Gegner des Regimes bekannt. Als Born, Franck und Courant nach dem Zweiten Weltkrieg zu Ehrenbürgern Göttingens ernannt wurden, begrüßte sie Pohl vor einem großen Auditorium, und man beschloß, das Vergangene zu vergessen.

  2. Ein winziges Elementarteilchen, das in den durch elektromagnetische Wälle von Millionen Volt geschützten Atomkern eindringen kann, weil es elektrisch neutral ist und darum nicht zurückgestoßen wird.

  3. Die sogenannten «Gamma-Strahlen».

  4. Auch Otto Hahn, dem später der wohl entscheidendste Durchbruch auf dem Gebiete der Kernforschung gelang, war von 1905 bis 1906, damals noch in Montreal, einer der «boys» von Rutherford gewesen und hat später über diese Zeit berichtet: «Die Begeisterung und die überschäumende Arbeitskraft Rutherfords übertrugen sich auf uns alle, und das Weiterarbeiten nach dem Abendbrot war eher die Regel als eine Ausnahme …»

  5. Besser noch wäre es allerdings, die Neutronen mit «Saboteuren» zu vergleichen, die statt mit Gewalt unter einer Art von Tarnkappe ins Innere des Atoms schlüpfen können.

  6. Lise Meitner ist sich selbst der hier geschilderten (und dem Autor von zwei kaum anzuzweifelnden Quellen bestätigten) persönlichen Rivalität nicht bewußt. Sie hat nach dem Tode von Irène Joliot-Curie der Forscherin einen schönen und würdigen Nachruf gewidmet. Die Zeit heilt viele Wunden und läßt manchen Gegensatz vergessen.

  7. Hahn selbst bemerkt dazu in einem Brief an den Verfasser: «Die Pariser haben niemals von Barium gesprochen, sondern von Lanthan. Sie fanden, daß ihre strittige Substanz, der sie früher andere Eigenschaften zugeschrieben hatten, dem Lanthan sehr ähnlich war, und zwar so ähnlich, daß sie es nur durch fraktionierte Kristallisation von dem Lanthan trennen konnten. Und dies letztere war der ausschlaggebende Irrtum, der verhinderte, daß Joliot und Savitch die Uranspaltung aufgefunden haben.»

  8. Es war der damals ebenfalls bei Bohr in Kopenhagen arbeitende amerikanische Biologe James Arnold, der Frisch auf dessen Beschreibungen hin den aus seiner Wissenschaft stammenden Fachausdruck vorschlug.

  9. Dr. Szilard hat dieses entscheidende Experiment vom 3. März 1939 in folgenden Worten geschildert: «Alles war nun soweit, wir mußten nur noch auf den Knopf drücken und die Bildfläche des Fernsehschirmes beobachten. Wenn dort Lichtzeichen auftauchten, dann bedeutete es, daß bei der Spaltung des Urans Neutronen ausgestoßen würden. Das aber würde anzeigen, daß die Befreiung der Atomenergie noch zu unseren Lebzeiten möglich wäre. Wir drückten auf den Knopf. Wir sahen Lichtzeichen. Wir beobachteten sie gebannt etwa zehn Minuten lang. Und dann drehten wir ab. In dieser Nacht war es mir klar, daß die Welt einen Weg voller Sorgen angetreten hatte …»

  10. Dazu schreibt Heisenberg dem Verfasser: «Die Möglichkeit, daß Atombomben schon im kommenden Krieg verwendet werden könnten, habe ich damals sicher nicht ernstlich ins Auge gefaßt; vielleicht aus Angst innerlich verdrängt. Jedenfalls kann ich mich, wie gesagt, an die Erwähnung des Uranproblems nicht mehr erinnern, und vielleicht ist auch dieser Mangel an Erinnerung ein Zeichen der damaligen Verdrängung.»

  11. Dazu bemerkt von Weizsäcker: «Nachdem Debye gegangen war, wurden wir vom Heereswaffenamt beherrscht und nach und nach mit sehr unangenehmen Leuten durchsetzt … Wir brachten Heisenberg allwöchentlich als Berater ins Institut und nach einem Jahr trat das ein, was wir vorausgesehen hatten, daß er faktisch Leiter aller Arbeiten im Institut war. Dann gelang es, den Präsidenten und den Senat der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, die genau wußten, was wir politisch dachten, dazu zu bewegen, daß sie Heisenberg zum Direktor machten, womit der Spuk jener anderen Leute ein Ende hatte. Um Debyes Recht nicht zu schmälern, erhielt Heisenberg den Titel ‹Direktor am Institut›, weil wir weiterhin Debye als Direktor des Instituts betrachteten …»

  12. Heisenberg selbst verteidigt seine damalige Haltung dem Verfasser gegenüber folgendermaßen:

    «In einer Diktatur kann aktiver Widerstand nur von Leuten ausgeübt werden, die scheinbar beim System mitmachen. Wenn jemand öffentlich sich gegen das System ausspricht, so beraubt er sich damit ganz sicher jeder Möglichkeit eines aktiven Widerstandes. Denn entweder äußert er diese Kritik am System nur gelegentlich in politisch harmloser Form, dann kann sein politischer Einfluß leicht abgeriegelt werden … Oder aber der Betreffende versucht wirklich, etwa die Studenten, politisch in Bewegung zu setzen, dann würde er natürlich nach wenigen Tagen im Konzentrationslager enden und selbst sein Opfertod würde praktisch unbekannt bleiben, weil nicht von ihm geredet werden darf … Ich habe mich … immer sehr geschämt vor den Leuten des zwanzigsten Juli (mit einigen von ihnen war ich befreundet), die damals unter Aufopferung ihres Lebens wirklich ernsthaften Widerstand geleistet haben. Aber auch ihr Beispiel zeigt, daß wirklicher Widerstand nur von Leuten kommen kann, die scheinbar mitspielen.»

  13. Siehe Anmerkung Seite 396.

  14. Das amerikanische Eichamt.

  15. Im Jahre 1954 hat Oppenheimer in einem offiziellen Verhör zugegeben, daß seine Erzählungen über den geheimnisvollen Zwischenträger, den er Groves gegenüber dann als Chevalier identifiziert hatte, «idiotic» («idiotisch») und «a tissue of lies» («ein Lügengewebe») gewesen seien.

  16. Professor Pauli selbst bestreitet übrigens die Exaktheit dieser von Goudsmit über ihn verbreiteten Anekdote. Das Exklusionsprinzip sei ihm bei einem Spaziergang eingefallen.

  17. Alice Kimball Smith, langjährige Mitherausgeberin des «Bulletin of the Atomic Scientists» und Frau von Professor Cyril Smith, einem der Abteilungsleiter in Los Alamos während des Krieges, hat im «Bulletin» (Oktober 1958) unter dem Titel «Behind the Decision to Use the Atomic Bomb: Chicago 1944–45» den bisher bestdokumentierten und ausführlichsten Bericht über diese ersten Bemühungen der Wissenschaftler, das von ihnen geschaffene Monstrum in Schach zu halten, veröffentlicht.

  18. Text siehe Seite 377.

  19. Im Frühling 1945 gab es in Los Alamos folgende «divisions»: Abteilung für theoretische Physik (Leitung: H. Bethe), Abteilung für experimentelle Physik (Leitung: J.W. Kennedy und C.S. Smith), Abteilung für Armeematerial (Leitung: Hauptmann W.S. Parsons), Abteilung für Sprengstoffe (Leitung: G.B. Kistiakowsky), Abteilung für Physik der Bombe (R.F. Bacher), Abteilung für fortgeschrittene Entwicklungsarbeit (Leitung: Enrico Fermi). Jede der «divisions» war in «groups» eingeteilt, die eigenen Leitern unterstanden.

  20. Die Kommission bestand aus drei Physikern (J. Franck, D. Hughes, L. Szilard), drei Chemikern (T. Hogness, E. Rabinowitch, G. Seaborg) und einem Biologen (C.J. Nickson).

  1. Vollständiger Text siehe Seite 381.

  2. Der stärkste Widerstand gegen den Abwurf der Bombe kam von E.O. Lawrence. Nach Ansicht Comptons, weil er unter seinen Schülern Japaner gehabt hatte.

  3. Robert I.C. Butow: Japans Decision to Surrender (Hoover Library Publication No. 24, Stanford University Press 1954, S. 133–135). Der englische Nobelpreisträger P.M.S. Blackett hat 1948 in seinem Buch «Military and Political Consequences of Atomic Energy» nachzuweisen versucht, daß Truman den Abwurf der Bomben anordnete, um dem Kriegseintritt der Russen gegen Japan zuvorzukommen. Da Blackett als «fellow traveller» gilt, wurde dieser Ansicht kein großer Kredit eingeräumt. Sie ist von Norman Cousins, dem als Gegner des Kommunismus bekannten Herausgeber der amerikanischen «Saturday Review of Literature» am 6. August 1955 (S. 32) auf Grund seiner Gespräche mit japanischen Freunden wiederholt worden: «Wenn man es so hinstellt, heißt das, daß der ‹kalte Krieg› begonnen hatte, bevor der ‹heiße Krieg› endete. Und die Menschen von Hiroshima waren daher nicht die letzten Opfer des Zweiten Weltkriegs, sondern die ersten Opfer des Machtkampfes zwischen den USA und der UdSSR

  4. Bevor die deutschen Atomforscher auf «Farm Hall» interniert wurden, waren dort englische, holländische, belgische und französische Geheimagenten für ihre Landung und Geheim-Missionen auf dem von der deutschen Wehrmacht besetzten Kontinent vorbereitet worden.

  5. Das Argument, es seien durch die Atombombardements von Hiroshima und Nagasaki die Leben zahlreicher Amerikaner, Australier, Engländer und sogar Japaner gerettet worden, die sonst bei einer Landungsoperation vernichtet worden wären, hat später den bekannten amerikanischen Priester Monsignore Sheen zu der Gegenbemerkung veranlaßt: «Mit genau den gleichen Argumenten hat Hitler das Bombardement von Holland zu rechtfertigen versucht.»

  6. 1962 wurden endlich die äußeren Ausmaße der beiden bei Hiroshima und Nagasaki eingesetzten Bomben veröffentlicht: «Thin Man» (oder auch «Little Boy» genannt): 28 Zoll Durchmesser, 120 Zoll Länge, 9000 Pfund schwer. «Fat Man»: 60 Zoll Durchmesser, 128 Zoll Länge, 10000 Pfund schwer.

  7. Genau 8 Monate nach diesem ersten Unfall ereignete sich der weiter oben (im zwölften Kapitel) geschilderte Unfall von Louis Slotin. Da diese Angelegenheit unbedingt vertuscht werden sollte, wurde den Bewohnern von Los Alamos verboten, einen bereits angesetzten Empfang für die auf den «Hügel» geladenen Honoratioren aus Santa Fé abzusagen. Sogar einige der engsten Freunde von Slotin mußten, da ihr Fernbleiben aufgefallen wäre, zwischen Besuchen an seinem Sterbelager, auf der «Cocktail Party» erscheinen und versuchen, sich recht sorglos und unbekümmert zu geben.

  8. Obwohl die ersten 6000 Dollar, die für die Atomforschung in den USA aus staatlichen Mitteln ausgegeben worden waren, von der Flotte stammten, gestattete General Groves ihr nicht einmal, Uran für ihre eigenen Experimente zu beziehen. George Gamow, der für die «Navy» eine frühe Lösung des Atombombenproblems ausgearbeitet hatte, konnte diese Arbeiten nicht fortsetzen, weil er sich den falschen Waffenzweig als Protektor ausgesucht hatte.

  9. Eine nicht zur Veröffentlichung bestimmte Umfrage der «Federation of American Scientists», die in der vordersten Reihe im Kampf gegen die Verwendung der Atomenergie zu Kriegszwecken gestanden hatte, brachte im Frühjahr 1947 auf die Frage: «Denken Sie, daß die Vereinigten Staaten die Herstellung von Atombomben einstellen sollten?» unter der Rubrik «Sollten nicht» 243 Stimmen, und unter «Sollen» nur 174 Stimmen. In Los Alamos waren sogar 137 Stimmen gegen Unterbrechung der Bomben-Produktion und nur 31 dafür.

  10. Um dieser Entwicklung vorzubeugen, hatten die Wissenschaftler die Gründung einer vom Staat finanzierten «National Science Foundation» angeregt, die den Universitäten Mittel für zivile Grundlagenforschung geben sollte. Aber diese Stiftung kam – nicht zuletzt durch die Uneinigkeit der Wissenschaftler – erst einige Jahre später zustande, und ihr jährliches Budget erreichte nur einen ganz kleinen Prozentsatz der militärischen Forschungsausgaben.

  11. Die Uranspaltung interessierte von Anfang an nicht nur die russischen Forscher, sondern auch die Regierungsstellen. Als der sowjetische Minister für Erziehung, Kaftanow, 1939 nach Berlin kam, legte er besonderen Wert darauf, das Laboratorium Hahns zu sehen und über seine Versuche persönlich informiert zu werden. Dieser Wunsch wurde ihm gewährt.

  12. James B. Conant, Rektor der Universität Harvard, Lee DuBridge, Rektor des California Institute of Technology, Enrico Fermi (Universität von Chicago), I.I. Rabi (Columbia-Universität), Hartley Rowe (Präsident der United Fruit Company), Oliver Buckley (Präsident der Bell Telephone Co.), Cyril S. Smith (Universität von Chicago).

  13. Diese Hypothese erfährt eine Stärkung durch die Tatsache, daß die Russen den jahrelang verheimlichten Moskauer Aufenthalt des in Italien geborenen, später in England beschäftigten Kernphysikers Bruno Pontecorvo gerade in dem Augenblick bekanntwerden ließen, als wieder einmal eine englische Delegation über die Lockerung amerikanischer Atomgeheimnisse in Washington verhandeln wollte.

  14. S.K. Allison, K.T. Bainbridge, H.S. Bethe, R.B. Brode, C.C. Lauritsen, F.W. Loomis, G.B. Pegram, B. Rossi, F. Seitz, M.A. Tuve, V.F. Weißkopf, M.G. White.

  15. Dr. Josef Spier, Afula (Israel), der Sohn einer Großkusine Albert Einsteins, führte in einer Tonbandaufnahme, die er einem befreundeten Kreise in Ravensburg (Württ.) gab und deren Inhalt mit seinem Wissen dem Südwestfunk weitergegeben wurde, aus: «Dieser große Albert Einstein, zum Schluß seines Lebens war er der unglücklichste Mensch. Und ich verrate Ihnen jetzt ein Geheimnis, das er mir damals, 1951, offenbarte. Er verpflichtete mich damals, es nie zu sagen, bevor er das Zeitliche gesegnet habe, und ich habe dieses Versprechen gehalten. Nun darf ich es Ihnen sagen. An diesem Tage, an dem ich ihn zum letztenmal lebend sah, an diesem Tage sagte er zu mir: ‹Weißt du, mein Sohn, ich habe noch etwas erfunden, auf dem Grenzgebiet der Mathematik und der Astronomie. Das habe ich jüngstens kaputtgemacht. Einmal ein Mitmörder an der Menschheit zu sein, genügt mir.›»

  16. So hat von Neumann unter anderem auch ein Wesen erdacht, das sich, solange man ihm genügend Rohmaterial zur Verfügung stellt, selbst immer wieder erzeugen kann. Es besteht aus einer «box» («Kasten») und einem «genetic tail» («genetischen Anhängsel»), das den Bauplan für die Nachkommen enthält. «Man kann es auch so arrangieren», erklärt von Neumanns Schüler Kemeny, «daß man den Nachschub an Rohmaterial abschneidet, so daß die Maschinen um ‹Lebensraum› kämpfen müssen und sich vielleicht gegenseitig töten.»

  17. Dem Test ging in Washington ein Versuch von Vannevar Bush, dem Leiter der amerikanischen Forschung während des Zweiten Weltkriegs, voraus, der sich bemühte, seine Regierung zur Einleitung von Verhandlungen mit den Russen zu überreden, ehe man diesen neuen Schritt in eine «scheußliche Art von Welt» tun würde. Sein Ratschlag wurde nicht befolgt.

  18. Eine solche Bombe hatte der bekannte österreichische Physiker Hans Thirring bereits in seinem 1946 in Wien erschienenen Buch «Die Geschichte der Atombombe» vorhergesehen, als er schrieb: «Dabei ist nun Lithium ein gar nicht so seltenes Element, so daß man in einer Superatombombe ungefähr ebensoviel Tonnen Lithiumhydrid verwenden könnte, als man jetzt Kilogramm Plutonium verwendet, derart, daß sich eine Wirkung ergäbe, die wiederum einige tausendmal gegenüber der bisher bekannten gesteigert werden könnte. Gott gnade jenem Lande, über dem eine Sechstonnenbombe von Lithiumhydrid zur Explosion gebracht wird.»

  19. Vom Autor kursiv.

  20. Der amerikanische Psychiater Lawrence S. Kubie fragt in der Zeitschrift «The American Scientist» nach den tieferen Beweggründen der am Rüstungswettrennen teilnehmenden Forscher, indem er ausführt: «Erleben wir die Entwicklung einer Generation von hartgesottenen, zynischen, erbitterten, illusionslosen Wissenschaftlern? Wenn das so ist, dann bietet zur Zeit der Bau von Zerstörungsinstrumenten ein passendes Ventil für ihre destruktiven Gefühle. Aber wenn diese Tendenz während der kommenden Jahre noch deutlicher werden und noch zerstörerischere Ausdrucksmöglichkeiten finden sollte, so wird der Fehler bei uns liegen, nicht bei ihnen.»

  1. Als Condon selbst einige Jahre zuvor das Objekt ungerechtfertigter Angriffe in bezug auf seine Loyalität gewesen war, hatten die Wissenschaftler demonstrativ ein Ehrendiner für ihn veranstaltet. Oppenheimer war damals der einzige prominente Forscher gewesen, der aus «taktischen Gründen» gezögert hatte, sich dieser Protestaktion anzuschließen.

  2. Der Personalausschuß erkannte Oppenheimer zwar zu, er sei seinem Lande loyal geblieben, äußerte aber «Unruhe» über sein Verhalten in der Frage der Wasserstoffbombe und Kritik an seinem Umgang mit politisch Verdächtigen.

  3. Richard P. Feynman: The Relation of Science and Religion in Engineering and Science, Juni 1956.

  4. Siehe Seite 195.

  5. Siehe Seite 206.

Für Ruth

Bruch der Gutgläubigkeit Von Robert Habeck

Einige Bücher kennt man, obwohl man sie nicht gelesen hat. Ihre Titel oder Textabschnitte haben die Gesellschaft geprägt. Mindestens zwei von Robert Jungks Büchern gehören dazu. «Die Zukunft hat schon begonnen» ist fast zu einem Sprichwort geworden, «Heller als tausend Sonnen» zu einer Mahnung. Dieses Buch steht am Anfang der Friedensbewegung. Und es ist eine Entdeckung für unsere Zeit, das Jahr 2020, das vielleicht wieder eine Friedensbewegung braucht. Nach drei Jahrzehnten der Begrenzung von atomaren Arsenalen stehen die Welt und Europa heute vor einem neuen nuklearen Wettrüsten, nachdem der amerikanische Präsident, Donald Trump, den INF-Vertrag über die Vernichtung aller nuklearer Waffensysteme zwischen 500 und 5500 km Reichweite aufgekündigt hat. Als Grund geben die USA an, dass sich Russland nicht an den Vertrag halte, wofür mit Blick auf die in Kaliningrad stationierten Iskander-Raketen viel spricht. Russland behauptet zwar, es halte sich daran, hat aber selbst das strategische Interesse, dass dieser Vertrag aufgelöst wird. So funktioniert Politik, wenn sie nur noch das eigene Machtinteresse im Blick hat …

Solche Mechanismen einer auf reine Macht reduzierten, zum Zynismus bereiten Politik kann man in dem Buch von Jungk studieren. So zeichnet er nach, wie es zum ersten und bislang letzten Einsatz von atomaren Waffen – dem Atombombenabwurf über Hiroshima und Nagasaki – kam. Die USA hatten demnach schon lange die japanischen Codes entschlüsselt und konnten im Grunde die gesamte japanische Kommunikation mitlesen. Sie wussten, dass Japan wusste, dass es den Krieg verloren hatte und zur Kapitulation bereit war. Aber die USA, so recherchierte Jungk, hatten kein Interesse daran, denn das Programm zur Entwicklung der Atombombe der USA, das «Manhattan Project», war teuer, und die Militärs und Politiker hatten Angst, die Milliarden Dollar umsonst ausgegeben zu haben, wenn der Krieg ohne Einsatz der Bombe enden würde. Die Bombe wurde also, so Jungks Recherche, abgeworfen, aus Angst, sich lächerlich zu machen.

Robert Jungks auf intensivem Quellenstudium beruhendes Buch ist reich an solchen Erkenntnissen, an Entdeckungen und Aufdeckungen, die einem den Atem stocken lassen. Es zeichnet den Weg von der Entdeckung der Atomspaltung über die Forschung im Zweiten Weltkrieg bis zum Einsatz der Atombombe und schließlich den Einstieg in die nukleare Aufrüstung nach. Aber das Erstaunliche ist, dass ein Buch, das im Jahr 1956 geschrieben wurde und von der Zeit zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs bis etwas nach dem Ende des Zweiten reicht, sich spannend liest wie ein Roman. Den, so schrieb der Autor damals im Vorwort, hatte er auch zuerst im Sinn. Aber als er sich mit der Materie zu beschäftigen begann, merkte er, dass die Wirklichkeit jede Fiktion in den Schatten stellt. Und so ist es.

Die Riege der Atomforscher ist wie ein Stammbaum oder wie eine «Familie», wie Carl Friedrich Freiherr von Weizsäcker, der neben Werner Heisenberg, dem Entdecker der Unschärfenrelation, eine der zentralen Figuren des Buches ist, schrieb. Alle kannten sich, schrieben sich Briefe, auch während der Kriegszeit, teilten sich ihre Ergebnisse mit, waren Kommilitonen oder Studenten voneinander. J. Robert Oppenheimer, der Leiter des Manhattan Project, hatte in Göttingen bei Max Born studiert. Das vollständige Zitat von Weizsäcker lautet: «Es genügt eben nicht, dass wir eine Familie waren, vielleicht hätten wir ein internationaler Orden sein müssen mit disziplinarischer Gewalt über seine Mitglieder. Aber ist so etwas bei der Natur der modernen Wissenschaft überhaupt durchführbar?»

Das ist eine Frage, die mit großer Dringlichkeit in unsere heutige Zeit reicht, eine Zeit, in der mit den technischen Möglichkeiten nicht nur vollautomatische Waffensysteme gebaut werden können, sondern Lebewesen geklont und die Grenze zwischen Mensch und Maschine aufgehoben werden kann. Wo verläuft die ethische Grenze? Was dürfen wir nicht tun, obwohl wir es tun können? Wie verhindern wir, dass wissenschaftliche Ergebnisse zum Schaden der Menschheit eingesetzt werden? Was bedeutet die potenzielle Überwindbarkeit des Menschen und des Menschlichen für die Freiheit der Forschung? Diese Fragen machen «Heller als tausend Sonnen» zu einem zeitgenössischen Buch, einem Spiegel unserer Zeit.

In Jungks Buch werden die Fragen konkret und zu menschlichen Schicksalen. Denn die Forscher und wenigen Forscherinnen stellten sich diese Fragen permanent. Sie wussten, dass sie «des Teufels Werk» verrichteten, wie Oppenheimer formulierte, und sie litten darunter, waren zerrissen. Eindringlich ist die Schilderung der Zeitgenossen, wie Otto Hahn, der Entdecker der Uranspaltung, auf den Atombombenabwurf reagierte. «Seine Bewegung war so groß, daß seine Kollegen zeitweise befürchteten, er könne sich aus Verzweiflung das Leben nehmen. ‹Auf Hahn aufpassen!› flüsterte einer dem anderen zu. Unter dem Datum vom 7. August 1945 notierte Dr. Bagge in seinem Tagebuch: ‹Der beklagenswerte Professor Hahn! Er erzählte uns, dass er schon damals, als er zum erstenmal erkannte, welche furchtbaren Wirkungen die Uranspaltung haben könne, mehrere Nächte lang nicht geschlafen und erwogen habe, sich das Leben zu nehmen. Eine Zeitlang sei sogar der Plan aufgetaucht, ob man zur Verhütung dieser Katastrophe nicht alles Uran im Meer versenken solle …›» Nach seiner Entdeckung soll Otto Hahn gesagt haben: «Das kann doch Gott nicht wollen.» Kaum ein Wissenschaftler, der diese Skrupel nicht irgendwann hatte. Selbst Oppenheimer warnte am Ende vor der Wasserstoffbombe und blockierte und verschleppte die Forschungsarbeiten, wofür er entlassen und vor den Ausschuss für unamerikanische Umtriebe gestellt wurde.

Es sind ja immer Wissenschaftler, die die Grundlage für neue Rüstungs- und Vernichtungswaffen schaffen. Und in diesem Fall – dem Fall der Atombombe – war ihnen das von Anfang an bewusst. Aus diesem Bewusstsein und dem Zusammenprall von Forscherethos mit Politik bezieht das Buch seine Wucht. Der Ungar Leo Szilard drängte die wissenschaftliche Familie beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zu einer Selbstzensur. Kein Forscher und kein Professor sollte mehr etwas veröffentlichen, was das Wissen über die Uranspaltung vermehrte, um Hitler oder Stalin nicht Wissen über eine Atombombe an die Hand zu geben. Aber die Idee hielt nicht. Zu groß waren der nationale Druck und Stolz. So überlegten die Forscher, die um die fürchterliche potenzielle Macht der Atomspaltung wussten, das europäische Wissen den Amerikanern mitzuteilen. Mittelsmann war Albert Einstein, der Zugang zum Weißen Haus und Präsident Roosevelt hatte. Er überbrachte ihm einen Brief mit den Forschungsergebnissen. Diese waren noch weit von einer Bombe entfernt. Sie lösten aber das Gegenteil aus: Panik und den Einstieg in das eigene forcierte Atomwaffenprogramm. Und Einstein, der von sich selbst sagte, dass er nur als Briefkasten fungierte, wurde so zu seinem Entsetzen zum Auslöser des atomaren Aufrüstens.

Während also die Amerikaner alles daransetzten, die Bombe zu bauen, versuchten die deutschen Atomwissenschaftler das Gegenteil. Heisenberg und von Weizsäcker teilten den Nazis mit, dass es mit dem Atombombenbau wohl nichts werden würde. Jungk schreibt: «Es erscheint paradox, daß die in einer säbelrasselnden Diktatur lebenden deutschen Kernphysiker, der Stimme ihres Gewissens folgend, den Bau von Atomwaffen verhindern wollten, während ihre Berufskollegen in den Demokratien, die keinen Zwang zu befürchten hatten, mit ganz wenigen Ausnahmen sich mit aller Kraft und Energie für die neue Waffe einsetzen. Die Erklärung dafür versuchte fünfzehn Jahre später ein deutscher Wissenschaftler zu geben: ‹Wir waren wahrhaftig nicht bessere Menschen oder klüger als unsere ausländischen Kollegen, aber wir hatten bei Kriegsbeginn bereits aus der bitteren Erfahrung von fast sieben Jahren unter Hitler gelernt, daß man sich dem Staat und seinen ausführenden Organen gegenüber mißtrauisch und zurückhaltend verhalten muß. Angehörige von totalitär regierten Ländern sind selten gute Patrioten. Die anderen aber besaßen damals noch volles Vertrauen in die Anständigkeit und Gerechtigkeit ihrer Regierungen … Ich bezweifle übrigens, daß es dort heute noch ganz so ist.›»

Robert Jungk zeichnet das wissenschaftlich-politische Porträt einer Forschergeneration, die die Zeit nicht ohne moralische Schuld hat leben lassen, von der Weigerung, bei der Forschung mitzumachen, um die Kettenreaktion der Uranspaltung nicht militärisch zu nutzen, bis zum bewussten Forschen für den Kriegseinsatz der Technik, um den Zweiten Weltkrieg zu beenden. Unschuldig ist man aus der Sache nicht rausgekommen. Man musste sich entscheiden, welche Verantwortung man übernahm. Unpolitisch sein, das konnte man nicht. Die Wissenschaft hat damals die Politik doppelt unterschätzt. Zum einen, dass sie begierig darauf aus war und sicher heute noch ist, die wissenschaftlichen Ergebnisse zu nutzen und ihren Zwecken unterzuordnen. Zum anderen, dass Politik gestaltet werden kann, dass sie sich selbst zu leicht aus der Affäre ziehen, wenn sie sagen, wir sind nur neutrale Forscher. Beides waren Fehleinschätzungen, und im Laufe des Buches erkennen das zumindest Einzelne. An diesen Erkenntnissen, an dem Bruch der Gutgläubigkeit, lässt uns Robert Jungk teilhaben. Er rekonstruiert ihn. Und wir Heutigen, wir sollten uns an sie erinnern und aus ihnen lernen. Um eine ethische Verantwortung in der Wissenschaft und der Politik zu tragen.

Wie das vorliegende Buch entstand Ein kurzer Werkstattbericht des Autors

«Weshalb denken wir eigentlich immer nur darüber nach, was der Wissenschaftler tut, und niemals darüber, was er ist?» Diese Frage, die ich in einem Aufsatz des amerikanischen Erziehers George N. Shuster fand, hat mich nicht losgelassen. Sie führte mich auf die lange Reise von Erdteil zu Erdteil, von Land zu Land, von Atomforscher zu Atomforscher, deren Resultat die vorliegende Arbeit ist.

Allerdings fiel der Samen dieses Ausspruches bereits auf vorbereiteten Boden. Am Ende meines ersten Besuches in der amerikanischen Atomstadt Los Alamos im August 1949 hatte mir ein seit Jahren dort lebender Forscher mitteleuropäischen Ursprungs, ein paar Minuten nur, bevor der Bus abfuhr, plötzlich ein erschütterndes persönliches Geständnis gemacht: «Es ist doch seltsam, und ich kann es nicht begreifen», sagte er, «meine Jugend stand ganz unter dem Zeichen der Sehnsucht nach Wahrheit, Freiheit und Frieden. Und nun hat mich das Schicksal gerade hierher verschlagen, wo meine Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist, die Wahrheit, die ich zu entdecken versuche, hinter Safetüren versperrt bleibt und meine Arbeit letzten Endes dem Bau der furchtbarsten Kriegswaffen gewidmet sein muß. Welch widerspruchsvolles Schicksal!»

Seither hatte ich oft über den Lebensweg der Atomforscher nachgedacht und auch versucht, die Tragödie eines solchen Menschen in Romanform zu erzählen. Um diesen Roman lebensecht zu gestalten, mußte ich beginnen, die wirklichen Hintergründe dieser Karriere zu studieren. Der erste bedeutende Kernphysiker, den ich nun traf, war der an der Universität Bern lehrende Professor Fritz Houtermans. Das war ein Glücksfall. Denn im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen, die mehr in der Welt der Formeln als der Anekdoten leben, mehr in der Zukunft als in der Vergangenheit, wußte Houtermans auf lebendige und spannende Weise aus den schönen alten Göttinger Tagen, aus den düsteren Zeiten seiner Gefangenschaft in Sowjetkerkern oder aus jenen Jahren zu erzählen, in denen er und andere seiner Kollegen im Dritten Reich darüber debattiert hatten, wie man den Mißbrauch der großen Atomentdeckung verhindern könnte.

Nie werde ich diese nächtliche Unterhaltung in einem Laboratorium der Berner Universität vergessen. Immer wieder unterbrach der Gelehrte das Gespräch, denn er mußte ein im Nebenraum tickendes Meßgerät (mit dessen Hilfe er den Urangehalt des Alpengranits untersuchte) in regelmäßigen Abständen kontrollieren. Wir tranken in Laborflaschen gebrauten Kaffee, und je weiter die Nacht fortschritt, desto klarer wurde es mir: kein Roman konnte die tatsächliche, durch Aussagen und Dokumente belegbare Tragödie der Atomforscher an Bedeutsamkeit, Eindringlichkeit und Spannung übertreffen. Als ich Houtermans verließ, wußte ich, daß ich die Elemente meines Buches nicht in meiner Phantasie finden würde, sondern nur durch genaueste Befragung aller noch erreichbaren Menschen, die jenes für unsere Zeit so kennzeichnende Drama gelebt hatten.

Allerdings war es leichter, diesen Entschluß zu fassen, als ihn zu verwirklichen. Es gab zwar viele, beinahe zu viele Berichte über die wissenschaftliche und technische Geschichte der Atomentwicklung, aber kaum etwas Gedrucktes über die menschlichen und moralischen Probleme dieses Vorganges. So mußte ich noch viel stärker als geplant auf mündliche Aussagen gründen. Manche der Atomforscher, die ich um eine Unterredung bat, stimmten sofort zu, andere machten Schwierigkeiten. Nun habe ich eine für einen Reporter hinderliche Eigenschaft: es fällt mir schwer, mich aufzudrängen, denn ich hasse es, wichtigen Leuten auch nur einen Teil ihrer kostbaren Zeit zu rauben. Dennoch – hier mußten diese Hemmungen vergessen werden. Die Aufgabe war es wert.

So bin ich einem meiner «Helden» buchstäblich durch ein halbes Dutzend Länder Europas nachgereist, und jedesmal wies er mich ab. Schließlich habe ich ihn dann doch während einer Physikerkonferenz in Amerika ausführlich sprechen können. Mein Glück war, daß gerade ein besonders langweiliges Referat gehalten wurde. Da wählte der große Mann das kleinere Übel: er zog es vor, mit mir spazierenzugehen, und zeigte sich dann so aufgeschlossen, wie ich es nie zuvor erhofft hätte.

Drei Widerstände waren es, die ich in fast allen diesen Unterhaltungen zu überwinden hatte. Erstens die Befürchtung des Befragten, durch seine Äußerungen einen oder mehrere seiner noch lebenden Kollegen zu verletzen. Joliot-Curies enger Mitarbeiter Kowarski brachte diese Befürchtung in besonders zugespitzter Form vor. Er meinte lachend: «Wenn ich Ihnen erzählen sollte, was wirklich geschah, müßten Sie mir erst eine Million Dollar auf einer Bank hinterlegen. Denn dann wäre ich gezwungen, mich nach Erscheinen Ihres Buches für den Rest meines Lebens aus meinem Berufskreis zurückzuziehen und zu privatisieren.» Da erwies es sich nun als Vorteil, daß ich nicht Physiker, sondern nur Chronist war, der ohne Rücksicht auf Berufskollegen oder Behörden alles aufschreiben durfte, was er in Erfahrung gebracht hatte.

Auch konnte ich den Zögernden zusichern, daß ich, wenn sie es wünschten, die Quelle meiner Informationen nicht preisgeben würde.

Ein zweiter Einwand, den ich hörte, war der, daß ich als jemand, der selbst der «Familie der Atomphysiker» nicht angehörte, unmöglich ihre wahre Geschichte erfassen könnte. Das mochte am Anfang meiner Recherchen wirklich so sein. Je weiter ich aber in die Materie eindrang, desto klarer wurden mir die persönlichen und historischen Bezogenheiten dieser Menschen, ja, es stellte sich heraus, daß ich schließlich mehr Übersicht über den Gesamtablauf dieses Schicksals einer besonders wichtigen und einflußreichen Gruppe besaß als die meisten einzelnen, die mir ihre Erlebnisse und Ansichten anvertrauten. Denn sie hatten ja – abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen – nur den eigenen Abschnitt des Geschehens sehen können, während der Chronist aus seiner Kenntnis zahlloser Einzelheiten die Verknüpfung der Ergebnisse und ihre, den Handelnden selbst meist unbekannte, wechselseitige Einwirkung aufeinander übersah. Oft blieb es daher nicht nur bei der einen Unterhaltung mit den Befragten. Ich mußte, geleitet durch die Angaben eines Zweiten und Dritten, wieder zu meinem ersten Unterredner zurück, um Klarheit über gewisse Punkte zu erhalten, die er selbst aus seiner mangelnden Kenntnis des Gesamtbildes für unwichtig gehalten und daher gar nicht erwähnt hatte.

Eine dritte Schwierigkeit, der ich begegnete, war die bei zahlreichen Wissenschaftlern vorherrschende Einstellung, die private, die menschliche Geschichte der Wissenschaftler sei doch eigentlich unwichtig. Was zähle, sei nur ihre objektive Leistung. Hier zeigte sich eine Haltung, die recht eigentlich viele der in diesem Buche beschriebenen Gewissensqualen und Tragödien heraufbeschworen hat. Der Wissenschaftler, der meint, daß er – oder seine Kollegen – nichts anderes sei als ein «Werkzeug der Erkenntnis», dessen persönlicher Charakter, dessen Ambitionen, Hoffnungen und Zweifel «nichts bedeuteten», denkt in Wahrheit unwissenschaftlich. Denn er ignoriert einen wichtigen, vielleicht den ausschlaggebenden Teil des wissenschaftlichen Experimentes, nämlich sich selbst, oder glaubt, ihn willkürlich ausschalten zu können.

Nur durch diese künstliche, erzwungene und unnatürliche Loslösung der wissenschaftlichen Forschungsarbeit von der Wirklichkeit des einzelnen Menschen konnten ja überhaupt Monstren wie die Atom- und Wasserstoffbomben entstehen. Für immer wird meinem Gedächtnis das Bild jenes genialen Mathematikers eingebrannt bleiben, den ich bei meinem letzten Besuch in Los Alamos im Jahre 1956 auf der Straße spazierengehen sah. Auf seinem Gesicht stand ein Lächeln von beinahe engelhafter Schönheit. Man konnte denken, er habe den inneren Blick auf eine Welt der Harmonien gerichtet. In Wahrheit aber hatte er, wie ich später von ihm hörte, über ein mathematisches Problem nachgedacht, dessen Lösung für die Herstellung eines neuen Typs der «Höllenbombe» unerläßlich war.

Es stellte sich dann bei unserer Unterhaltung heraus, daß der Forscher selbst noch nie einer Versuchsexplosion der von ihm mit ausgeheckten Bomben beigewohnt hatte. Niemals hatte er Hiroshima oder Nagasaki besucht, obwohl man ihn dazu eingeladen hatte. Ja, sogar die Bilder der dort angerichteten Zerstörungen wollte er nicht sehen. Für ihn war Kernwaffenforschung nur höhere Mathematik geblieben, unbefleckt von Blut, Vergiftung und Verwesung. Denn «all das» – so meinte er – ginge ihn doch eigentlich nichts an.

Viele Forscher denken heute nicht mehr so. Sie wissen, daß sie nicht nur «Gehirne», sondern ganze Menschen mit ihren Schwächen, ihrer Größe und ihrer Verantwortung sind. Dieser großen Gewissenskrise in ihrer Entstehung, im Versuch ihrer Meisterung nachzuforschen und sie dann trotz vieler einander widersprechender Aussagen so wahrheitsgetreu wie möglich aufzuschreiben, das war mein Bemühen. Das weite Echo, das mein Buch in den vielen Ländern, wo es erschien, auslöste, scheint anzuzeigen, daß die menschlichen Schicksale der Forscher, als der großen Umgestalter unserer Zeit, nicht weniger interessieren als die Beschreibung ihrer Leistungen. «Denn die Wissenschaftler sind die von Tragik umwitterten Könige unserer Zeit», schrieb mir ein Leser. «Hätte Shakespeare den ‹Hamlet› in unserem Jahrzehnt geschrieben, er würde ihn nicht als Prinzen, sondern als Atomforscher auf die Bühne gebracht haben.»

Die Zeit der Wandlungen

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Im letzten Jahr des Ersten Weltkriegs, so erzählt man, erschien Ernest Rutherford, der damals bereits berühmte Atomforscher, ausnahmsweise einmal nicht zu einer Sitzung der britischen Sachverständigenkommission, die über neue Methoden zur Abwehr feindlicher U-Boote zu beraten hatte. Als er später wegen seines Ausbleibens getadelt wurde, brach der robuste Neuseeländer in seiner ungenierten Art aus:

«Talk softly, please, sachte bitte! Ich war gerade an Experimenten, die vermuten lassen, daß das Atom durch menschlichen Eingriff zertrümmert werden kann. Sollte sich das als richtig herausstellen, dann ist diese Entdeckung viel wichtiger als euer ganzer Krieg.»

Im Juni 1919, dem gleichen Monat, als man versuchte, in Versailles (und anderen Pariser Vororten) durch Friedensverträge einen Schlußstrich unter die vier blutigen Kriegsjahre zu ziehen, veröffentlichte Rutherford im «Philosophical Magazine» Arbeiten über seine Versuche und zeigte überzeugend, daß ihm die Verwirklichung eines alten Menschheitstraumes gelungen war. Durch Bombardierung mit Alphapartikelchen hatte er ein Element in ein anderes verwandelt.

Die «transmutatio materiae», nach der die Alchimisten so lange gesucht hatten, war nun Tatsache. Diese Vorläufer der modernen Naturwissenschaft dachten aber aus ihrer das Ganze umfassenden Weltsicht nicht nur an die materiellen, sondern auch an die sittlichen Folgen eines solchen Unternehmens. «Verweigert den Mächtigen und ihren Kriegsleuten den Zutritt zu euren Arbeitsstätten», warnten sie kommende Forschergenerationen, «denn sie mißbrauchen das heilige Geheimnis im Dienste der Macht.»

In Rutherfords berühmten Mitteilungen über die Verwandlung des Stickstoffatoms findet sich keine ähnliche Bemerkung. Das hätte im zwanzigsten Jahrhundert auch gegen jede geltende Regel verstoßen. Der Naturwissenschaftler unserer Tage soll nicht über die «Nebenwirkungen» seiner Entdeckungen philosophieren – auch wenn seine Arbeiten im «Philosophical Magazine» erscheinen. So wird es gehalten, seit die wissenschaftlichen Akademien im siebzehnten Jahrhundert festlegten, daß in ihren Sitzungen keine Debatten über politische, moralische oder theologische Probleme stattfinden dürften.

Tatsächlich aber war die Isolation der Naturforschung schon 1919 nur noch eine «Arbeitshypothese». Gerade dieser eben zu Ende gegangene Krieg hatte mit seiner durch die Anwendung naturwissenschaftlicher Entdeckungen möglich gewordenen Waffentechnik die schicksalhaften Zusammenhänge zwischen den «weltfernen» Laboratorien und der blutigen Wirklichkeit des Schlachtfeldes nur allzu deutlich aufgezeigt.

Auch in Rutherfords Werkstatt hatte der Krieg rauh hineingegriffen. Seine «boys», wie er die ihm wie einem Vater zugetanen Assistenten und Studenten nannte, waren fast alle zum Kriegsdienst eingezogen worden, und Moseley, der begabteste seiner Mitarbeiter, war schon 1915 bei den Dardanellen gefallen. Sogar seine Radiumquelle, mit der er alle seine Atomversuche machte, sollte ihm beschlagnahmt werden, denn sie war – Ironie des Schicksals – «enemy alien property» («Feindgut»). Vor Kriegsbeginn hatte nämlich das Radium-Institut in Wien dem Kollegen Rutherford 250 Milligramm der kostbaren Substanz geliehen, eine Geste, die den Österreichern vor 1914 leichtfiel, denn die einzigen ergiebigen Uranerzlager Europas im böhmischen Joachimsthal gehörten damals noch zur k.u.k. Doppelmonarchie. Rutherford erkannte die Konfiskation dieses Radiums durch seine Regierung niemals an. Es genügte ihm auch keineswegs, daß ihm die englischen Verwalter das wertvolle Metall weiter zur vorübergehenden Verwendung überließen. Der für seine Unbeugsamkeit und Prinzipienstärke bekannte Gelehrte bestand darauf, diese persönliche Leihgabe seiner wissenschaftlichen Freunde an der Donau nach Ende der Feindseligkeiten selbst zurückzugeben oder aber käuflich von ihnen erwerben zu dürfen. Und Rutherfords Festigkeit gegenüber den Behörden drang durch. Am 14. April 1921 konnte er endlich an seinen langjährigen Kollegen Stefan Meyer im inflationsgeplagten Wien schreiben:

«Ich war sehr beunruhigt über Ihre Mitteilung, die Finanzen des Radium-Instituts in Wien betreffend, und habe mich eifrig darum bemüht, Gelder zu beschaffen, mit denen ich um jeden Preis die kleine Radiummenge kaufen könnte, die mir von der Wiener Akademie so großzügig geliehen wurde. Sie ist mir bei meinen Forschungen von großer Hilfe gewesen.»

Meyer teilte mit, der Weltmarktpreis für Radium sei im Augenblick «monströs hoch», aber das schreckte Rutherford nicht ab. Er trieb viele hundert Pfund auf, mit deren Hilfe das Wiener Radium-Institut über die schlimmsten Jahre der Geldentwertung hinwegkam.

2

Selbst während des Krieges war Rutherford über neutrale Länder mit seinen Schülern und Freunden in Deutschland und Österreich-Ungarn wenigstens brieflich in Verbindung geblieben. Besonders zwischen ihm und seinem alten und treuen Assistenten Hans Geiger, dem Erfinder des später unentbehrlich werdenden «Geiger-Zählers» zur Messung der unsichtbaren Radioaktivität, wurden über die Fronten hinweg mehrfach Lebenszeichen ausgetauscht. Die internationale «Familie der Physiker» hatte, so gut es nur ging, zusammengehalten, besser jedenfalls als die Literaten und Geisteswissenschaftler, die einander mit gehässigen Manifesten bombardierten. Menschen, die vor dem Kriege oft jahrelang brieflich oder Seite an Seite im Laboratorium zusammengearbeitet hatten, konnten niemals auf einen Befehl von oben «Feinde» werden. Wo immer es ging, halfen sie einander. So machten es seine deutschen Lehrer Nernst und Rubens dem bei Kriegsbeginn im Lager Ruhleben bei Berlin internierten James Chadwick – einem engen Mitarbeiter Rutherfords und späteren Nobelpreisträger – möglich, sich dort ein kleines Laboratorium einzurichten, wo er, zusammen mit anderen Gefangenen, viele interessante Experimente unternahm. Im Mai 1918, als die furchtbaren Offensiven in Nordfrankreich täglich zahlreiche englische und deutsche Menschenleben forderten, schrieb Chadwick an seinen Meister Rutherford:

«Wir arbeiten jetzt … über die Bildung von Kohlenstoffen durch Lichtbestrahlung … Während der letzten Monate habe ich Rubens, Nernst und Warburg besucht. Sie waren außerordentlich entgegenkommend und boten an, uns zu leihen, was sie nur könnten. Tatsächlich haben uns alle möglichen Leute Instrumente geliehen.»

Kaum waren die Grenzen nicht mehr so dicht geschlossen, da nahmen die Physiker der ganzen Welt sofort wieder Kontakt miteinander auf, um sich gegenseitig mitzuteilen, welche Fortschritte ihre Arbeiten während der Kriegsjahre gemacht hatten. Nicht nur die gewöhnliche Post, auch der Telegrammdienst mußte bei der schnellstmöglichen Wiederaufnahme des Erfahrungsaustausches mithelfen. Die Kopenhagener Telegrafistinnen hatten es oft schwer, die ihnen völlig unverständlichen Botschaften voller mathematischer Formeln aus dem Institut von Professor Niels Bohr nach England, Frankreich, Holland, Deutschland, den USA und Japan korrekt durchzugeben.

 

Drei Hauptanziehungspunkte gab es damals auf der Landkarte der Atomforschung: Cambridge, von wo aus Rutherford wie ein bärbeißiger, leicht erzürnbarer König über das von ihm zuerst erschlossene Land der kleinsten Dimensionen regierte, Kopenhagen, das durch den Mund des weisen Niels Bohr Gesetze für dieses bestürzend neue und rätselhafte Territorium des Mikrokosmos erließ, und Göttingen, dessen Triumvirat Max Born, James Franck und David Hilbert sofort alles in Frage stellte, was man gerade in England neu entdeckt und in Dänemark richtig erklärt zu haben glaubte.

Bald schon genügte der schriftliche Verkehr nicht mehr, um Klärung über die vielen faszinierenden Probleme der atomaren Welt zu erlangen. So begann nun die Epoche der Kongresse und Konferenzen. Bohr brauchte nur wissen zu lassen, er werde in Göttingen eine Woche lang über seine Arbeiten während der Kriegsjahre sprechen, und schon reiste jeder Physiker, der es nur irgend ermöglichen konnte, zu diesen «Bohr-Festspielen». Sogar aus Ländern, wo man vor dem Weltkrieg entweder keine oder nur unbedeutende physikalische Forschungsarbeit geleistet hatte, kamen jetzt Nachrichten von interessanten Versuchen und Resultaten: Indien und Japan, die Vereinigten Staaten und das revolutionäre Rußland strebten nach wissenschaftlichem Erfahrungsaustausch. Am eifrigsten fast bemühte sich damals die Sowjetunion um Kontakte mit Naturforschern des Westens. Der bolschewistische Staat wollte nicht nur, daß seine Wissenschaftler von «draußen» lernten, sondern sorgte dafür, daß ihre eigenen Veröffentlichungen ins Englische, Französische und Deutsche übersetzt wurden. Auf dem Gebiet der Forschung gab es selbst für diesen Diktaturstaat zu jener Zeit noch keine Geheimhaltung oder Zensur.

Ein berühmter Physiker meinte in jenen Tagen, es gehe in seiner Berufswelt zu wie in einem Ameisenhaufen. Ein jeder laufe mit seinem gerade gefundenen Stückchen Erkenntnis aufgeregt zu einer schadhaften Stelle, kaum aber habe er sich umgedreht, so trage es der nächste schon wieder davon. Planck, Einstein, die Curies, Rutherford und Bohr hatten nacheinander das noch bei der Jahrhundertwende schön übersichtlich und stabil erscheinende Gebäude der Physik so schwer erschüttert, daß der humorvolle und als Interpret der modernen Richtung wohl erfolgreichste Lehrer dieser Generation, der in München dozierende Arnold Sommerfeld, meinte, am besten solle man neugierige Studenten vor dem Eintritt in dieses Studium folgendermaßen warnen:

«Achtung, Einsturzgefahr! Wegen radikalen Umbaus vorübergehend geschlossen!»

Rutherford behauptete allerdings kühn, an all dem Wirrwarr seien nicht die experimentellen, sondern nur die theoretischen Physiker schuld: «Die tragen ihre Schwänze zu hoch», knurrte er. «Wir praktischen Physiker müssen sie wieder herunterziehen.»

3

Was war denn eigentlich geschehen? Die von Nachkriegswehen geschüttelte Welt fand mitten in ihren Revolutionen und Inflationen kaum die Zeit, die Geduld oder vielleicht einfach nicht die Kraft, die tiefste aller Umwälzungen, die bedeutsamste aller Abwertungen zu begreifen: den tiefen Wandel des Weltbildes. Planck hatte die seit Jahrtausenden als selbstverständlich geltende Behauptung erschüttert, daß die Natur keine Sprünge mache, Einstein hatte die als feste Größen angesehenen «Tatsachen» Raum und Zeit für relativ erklärt und Materie als «festgefrorene» Energie erkannt, die Curies, Rutherford und Bohr aber zeigten nun, daß das Unteilbare teilbar, daß das Feste, wenn man ganz genau hinsah, nicht stabil, sondern in ständiger Bewegung und Veränderung war.

Eigentlich hätten die Alpha-Kugeln des Professors Rutherford schon damals nicht nur die Stickstoffatome, sondern auch die seelische Sicherheit der Menschen erschüttern und seit vielen Jahren vergessene Weltuntergangsängste freilegen müssen. Aber all das schien damals noch fern von der mit den einfachen menschlichen Sinnen wahrnehmbaren Tageswirklichkeit zu sein. Was die Physiker mit ihren komplizierten Instrumenten festzustellen oder mit ihren noch komplizierteren Rechnereien über die «wahre Natur» unserer Welt zu erfahren glaubten, war, wie man noch allgemein annahm, nur ihre Sache. Übrigens schienen sie ja selbst keine nahen praktischen Folgen von ihren Entdeckungen zu erwarten. Rutherford hatte ausdrücklich versichert, er glaube, die Welt werde die Auswertung der in den Atomen schlummernden Energie nie erleben (ein Irrtum, an dem er bis zu seinem Tode im Jahre 1937 festhielt).

«Wir leben sozusagen auf einer Insel von Schießbaumwolle», schrieb 1921 der deutsche Physiker und Nobelpreisträger Walter Nernst, als er versuchte, die neuesten Ergebnisse der Forschung Rutherfords einer größeren Öffentlichkeit verständlich zu machen. Aber zur Beruhigung hängte er gleich einen Nebensatz an: «… für die wir Gott sei Dank das anzündende Streichholz noch nicht gefunden haben.»