Das Buch
Auf dem Rückweg von einem Raubzug wird der junge Ragnvald Eysteinsson über Bord geworfen und zum Sterben im kalten Wasser zurückgelassen. Sein Stiefvater hatte mit dem Kapitän des Schiffes, Solvi Klofe, ein Komplott geschmiedet, um Ragnvald die Ländereien seines Vaters vorzuenthalten. Doch wie durch ein Wunder überlebt Ragnvald. Er schließt sich dem Tross des mächtigen Wikingerkönigs Harald an und schwört Rache.
Ragnvalds Schwester Svanhild hat im Haus ihres Stiefvaters einen ähnlich schlechten Stand wie ihr Bruder, was noch durch ihren Freiheitsdrang verstärkt wird. Als Frau kann sie ihr Schicksal nicht selbst bestimmen, sondern muss ständig fürchten, gegen ihren Willen verheiratet zu werden. Als sie sich in einen gutaussehenden Fremden verliebt, ahnt sie zunächst nicht, dass es sich um Ragnvalds Erzfeind Solvi handelt. Als Solvi ihr anbietet, ihrem Schicksal durch eine Heirat mit ihm zu entgehen, muss Svanhild sich zwischen ihrer Freiheit und ihrer Loyalität zu ihrem Bruder entscheiden ...
Die Autorin
Linnea Hartsuyker ist Absolventin des Creative-Writing-Programms der New York University sowie der Cornell University Engineering School. Sie hat sich intensiv mit der Geschichte Haralds I. von Norwegen beschäftigt, seit sie durch Recherchen in schwedischen und norwegischen Kirchenbüchern erfahren hat, dass er zu den Vorfahren ihrer Familie zählt.
Linnea
Hartsuyker
Die Fjordland-Saga
Band 1
Roman
Aus dem Amerikanischen von
Edigna Hackelsberger
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-1519-5
Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage Juli 2017
© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017
© 2017 by Linnea Hartsuyker
Titel der amerikanischen Originalausgabe: The Half-Drowned King
(Harper, an imprint of HarperCollins Publishers, LLC)
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®, München
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
KAPITEL 1
Ragnvald tanzte über die Riemen und sprang von einem zum anderen, während die Männer ruderten. Manche von ihnen hielten kurz inne, um es ihm leichter zu machen, andere versuchten, ihn abzuschütteln, wenn er auf ihrem Riemen landete. Der Wind aus den Bergen, der vom ausklingenden Winter kündete, fegte über den Fjord und pfiff durch die Bäume, die die Klippen säumten. Doch die Sonne schien, und Ragnvald, der ein Wollhemd und eine warme Kniebundhose trug, fror nicht. Er hatte die Sachen während der ganzen Heimreise über das Nordmeer getragen, auch als sie durch die Stürme und Nebel zwischen Irland und seiner Heimat gefahren waren.
Er berührte den Vordersteven und hielt sich einen Augenblick daran fest, um zu verschnaufen.
»Komm zurück«, rief Solvi. »Du klammerst dich ja an den Drachen wie ein Weib!« Ragnvald holte tief Luft und stieg erneut auf den ersten Riemen. Hier saß sein Freund Egil, dessen gebleichtes Haar in der Sonne glänzte. Egil sah zu ihm hoch und lächelte; er würde ihn niemals zu Fall bringen. Doch jetzt geriet Ragnvald ins Wanken, als er entgegen der Fahrtrichtung des Schiffes weitersprang, denn die Sonne blendete ihn. Seine Bewegungen wurden unsicher, er taumelte, rutschte ab, fing sich aber bei jeder Aufwärtsbewegung der Riemen wieder und wurde davon weitergeschleudert, bis er endlich am Heck war. Über die Reling schwang er sich zurück auf das Achterdeck, wo er einen sicheren Stand hatte.
Solvi hatte demjenigen einen goldenen Armreif versprochen, der es schaffte, auf den Riemen das ganze Schiff entlangzulaufen, vom Heck bis zum Bug und wieder zurück, während die Männer ruderten. Ragnvald hatte es als Erster versucht, denn er wusste, dass Solvi auf Wagemut Wert legte. Nun, da er wieder auf dem Deck angekommen war, musste er grinsen: Sein Lauf würde nur schwer zu überbieten sein. Die ganze Reise stand für ihn unter einem guten Stern. Zunächst hatte sie ihm die Möglichkeit gegeben, endlich einmal seinem mürrischen Stiefvater zu entfliehen. In Irland, wo schon so viele ihr Leben lassen mussten, war er keiner Krankheit zum Opfer gefallen. Und jetzt hatte er sich auch noch einen Platz auf Solvis Schiff für den nächsten Raubzug im Sommer verdient. Im Laufe des Winters hatte er sich an seine schlaksigen Arme und Beine gewöhnt, so dass er nicht mehr bei jedem Schritt über die eigenen Füße stolperte. Sollten die anderen ruhig versuchen, ihn zu übertrumpfen!
»Nicht schlecht«, meinte Solvi und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. »Wer wagt es, Ragnvald Eysteinsson herauszufordern?«
Ulfarr, Solvis Mann für das Vorschiff, trat als Nächster nach vorne. Er war ein gestandener Mann mit Schultern, die um die Hälfte breiter waren als die von Ragnvald, und einer langen gelben Mähne, die er sich mit Gerblauge zu bleichen pflegte.
»Das ist ein Spiel für junge Kerle, Ulfarr«, rief Solvi ihm zu. »Und du trägst zu viel Schmuck. Die Göttin Ran wird dich zu sich holen.«
Ulfarr schaffte nur wenige Schritte, bevor er abrutschte und mit einem lauten Platsch ins Wasser fiel. Schwer atmend tauchte er aus dem eisigen Nass wieder auf und klammerte sich an einen der Riemen. Solvi warf den Kopf in den Nacken und lachte.
»Zieht mich rauf, verdammt«, rief Ulfarr.
Ragnvald beugte sich zu ihm hinunter und zerrte ihn an Bord. Ulfarr schüttelte sich wie ein nasser Hund und spritzte Ragnvald von oben bis unten mit Salzwasser voll.
Egil versuchte es als Nächster. Er sah aus wie ein Storch, als er über die Reling stieg, schlaksig und unbeholfen, wie er war. Hier war jedoch Behändigkeit gefragt.
Angespannt sah Ragnvald ihm nach. Tatsächlich schaffte Egil es beinahe bis zum Vordersteven, doch dann verlor er das Gleichgewicht. Er klammerte sich an den Steven, bis Ragnvald ihm wieder hinaufhalf, so dass er lediglich nasse Füße bekam. Ragnvald ließ sich auf einem Stapel Felle nieder, um den nächsten Herausforderern zuzuschauen, die jedoch einer nach dem anderen ausrutschten und ins Wasser fielen.
Die steilen Felswände des Fjords zogen an ihnen vorüber. Der Schnee von den Gipfeln des gewaltigen norwegischen Gebirgsrückens stürzte hier unten als Schmelzwasser in großen Kaskaden die Klippen hinunter, und in der zerstiebenden Gischt fing sich das Sonnenlicht in unzähligen Regenbogen. Auf den Felsen am Fuß einer Klippe sonnten sich Seehunde, plump und glänzend. Neugierig und ohne Furcht beobachteten sie die vorüberziehenden Schiffe – Langschiffe machten Jagd auf Menschen, nicht auf Felle.
Solvi stand am Heck seines Schiffes. Er lobte erfolgreiche Versuche und lachte über misslungene. Dennoch merkte Ragnvald, dass Solvi dem Wettlauf nur seine halbe Aufmerksamkeit schenkte. Seine Augen waren unaufhörlich in Bewegung; immer wieder schaute er hinüber zu den Klippen und Wasserfällen. Dieselbe Vorsicht und Achtsamkeit hatte er auch bei ihren Überfällen an den Tag gelegt, und damit hatte er seine Männer mehr als einmal vor den irischen Kriegern gerettet. Und die Iren kämpften fast so gut wie die Nordmänner!
Ragnvald hatte Solvi während der ganzen Fahrt mit großer Bewunderung beobachtet – aus gutem Grund: Solvi war klug, aber zugleich auch äußerst geschickt darin, seine Männer für sich zu gewinnen. Ragnvald war erstaunt gewesen, diese beiden Charakterzüge in einer Person vereint zu finden. Wie oft gab es Draufgänger und Säufer, die sich zwar viele zu Freunden machten, aber so unvorsichtig waren, dass ihr Leben als Krieger nicht lange währte. Ragnvalds Vater, Eystein, hatte auch zu dieser Sorte Mensch gehört. Jeder von Solvis Männern hatte während der langen Fahrt etwas über Eystein zu erzählen gewusst, und alle schienen sie enttäuscht, dass Ragnvald nicht mehr nach ihm geraten war – einem Mann, an dessen Geschichten man sich noch ein Jahrzehnt später erinnerte, der seine Pflichten gleichgültig vernachlässigt hatte, wann immer es ihm beliebte.
Solvi lachte über den nächsten Versuch, den nächsten Sturz, den nächsten seiner Männer, der strauchelnd über die Reling kletterte und vor ihm auf das Achterdeck plumpste, in dem eiskalten Wasser nach Atem ringend. Solvi war ein gutaussehender Mann mit schmalem Gesicht und hohen Wangenknochen, die rot leuchteten wie reife Äpfel. Als kleiner Junge hatte er sich die Beine übel verbrannt, nachdem sich der Inhalt eines Kessels über ihn ergossen hatte; es hieß, schuld daran sei eine von König Hunthiofs Zweitfrauen gewesen, die von Eifersucht getrieben war, weil der König Solvis Mutter mehr Zuneigung entgegenbrachte als ihr. Die Brandwunden waren gut verheilt – auch in diesem Punkt hatte er sich als tapferster Kämpfer erwiesen, dem Ragnvald je begegnet war –, selbst wenn seine Beine verkrüppelt geblieben waren und etwas kürzer als normal. Man nannte ihn deshalb auch Solvi Klofe – Solvi, der Kurzbeinige; ein Name, der ihn lediglich zu einem breiten Grinsen veranlasste – zumindest, wenn ihn einer seiner Freunde so nannte.
Am anderen Ende des Schiffes setzte eben der nächste Krieger zu einem Sprung an und wäre beinahe gestürzt. Solvi lachte und rüttelte an einem der Riemen, um ihn zu Fall zu bringen. Inzwischen waren nur noch wenige übrig, die versuchen konnten, Ragnvalds Glanzleistung zu übertreffen. Lediglich der Sohn des Lotsen, ein schlanker junger Mann mit dem sicheren Tritt einer Bergziege, hatte die ganze Strecke geschafft und war vom Heck zum Vordersteven und zurück getanzt.
Hinter ihnen segelten die fünf Schiffe, die in Solvis Konvoi verblieben waren. Manche hatten ihn bereits verlassen, um Söhne heim zu ihren Höfen oder Fischer zurück zu ihren Booten zu bringen. Wiederum andere Schiffe hatten schon ihren Kurs geändert, in Richtung der Inseln entlang der Inside Passage; ihre Kapitäne nannten sich Seekönige und herrschten über Königreiche, die aus nichts als Felsen und engen Fahrrinnen bestanden. Wenn ihr Schlachtruf ertönte, strömten die Männer in Scharen zu ihnen. Auch Solvis Vater nannte sich einen Seekönig, denn obwohl er von den Bauern von Maere Abgaben forderte, verweigerte er die anderen königlichen Pflichten und besaß selbst keinen Hof in Tafjord.
Es war noch früh im Jahr und damit ausreichend Zeit für einen Beutezug über den Nordatlantik oder eine kurze Fahrt zu den ungeschützten Küsten Frieslands im Sommer. Dennoch war Ragnvald froh, wieder nach Hause zu kommen. Hinter den Ausläufern der Skanden warteten seine Schwester Svanhild und der Rest seiner Familie auf ihn – und außerdem Hilda Hrolfsdatter, seine Auserkorene. Er hatte zwei Kupferbroschen für sie ergattern können, gefertigt von den nordischen Schmieden von Dublin. Der nordische König dort hatte sie ihm als Belohnung überreicht, nachdem Ragnvald einen gewagten Überfall auf ein irisches Dorf angeführt hatte. Sie würden hübsch an ihr aussehen, groß wie sie war, und gut zu ihrem rötlichen Haar passen. Eines Tages würde sie der großen Halle vorstehen, die er an derselben Stelle errichten wollte, an der einst die Halle seines Vaters niedergebrannt war. Bis dahin würde Ragnvald ein erfahrener Krieger sein, mit kräftigen Muskeln wie Ulfarr, und seinen Reichtum am Gürtel und um die Arme tragen. Hilda würde ihm große Kinder gebären, Söhne, denen er das Kämpfen beibringen würde.
Diesen Sommer, wenn die Familien des Sogn-Bezirks zum Thing zusammenkamen, wollte er sie für sich fordern. Zwischen seiner Familie und ihrer gab es bereits eine Übereinkunft, auch wenn die Verlobungszeremonie noch nicht stattgefunden hatte. Er hatte sich auf dem Raubzug bewiesen, hatte genug Vermögen erworben, um weitere Leibeigene für den Hof in Ardal kaufen zu können. Jetzt, wo er zwanzig Jahre alt war und als Mann galt, konnte er Hilda heiraten. Damit hätte sein Stiefvater auch keinen Grund mehr, ihm das Land seines Vaters, das ihm von Geburts wegen zustand, vorzuenthalten.
Während des Winters war ihm außerdem eine silberne Halskette in die Hände gefallen, die Svanhild ausgezeichnet stehen würde. Zuerst würde sie lachen und so tun, als gefiele sie ihr nicht – was sollte sie, die den ganzen Tag nur Kühe hütete, denn auch mit Silber anfangen? –, doch ihre Augen würden leuchten, und sie würde die Kette von da an nicht mehr ablegen.
Solvi rief Ragnvald und den Sohn des Lotsen zu sich. Er strich über das dicke goldene Band, das sich um seinen Arm wand. Es war von Dubliner Goldschmieden gefertigt und mit Karneolen und Lapislazuli besetzt – ein Schmuckstück, wie es Königen gebührte. Sollte er tatsächlich beabsichtigen, es zu verschenken, wäre er ein wahrhaft großzügiger Herr.
»Ich hätte genügend Armreifen für euch beide«, sagte Solvi, »aber ich würde lieber einen von euch fallen sehen.« Er grinste den Sohn des Lotsen an, als hätte er Ragnvald gar nicht bemerkt. Nun, beim nächsten Lauf würde er schon dafür sorgen, dass Solvi ihn nicht übersah, dachte sich Ragnvald. »Wer von euch beiden als Erster zurück am Heck ist, soll den Armreif bekommen. Ragnvald, du läufst am Steuerbord entlang.« Bei diesen Worten schaute Solvi ihm in die Augen. Ein Lufthauch ließ Ragnvald frösteln. Er bevorzugte Backbord, das wusste Solvi doch. Die ganze Fahrt über hatte er diese sonderbare Wechselhaftigkeit bei Solvi beobachtet: Mal begegnete er Ragnvald mit Wohlwollen, gab ihm Ratschläge oder lobte ihn, doch schon im nächsten Augenblick tat er so, als existiere er gar nicht. In solchen Momenten erinnerte Solvi ihn an seinen Stiefvater Olaf. Bei diesem wusste Ragnvald dann immer, dass er sich einfach noch mehr anstrengen musste, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen, und dass alles, was er tat, perfekt sein musste. Wie er jedoch Solvis Verhalten zu deuten hatte, wusste Ragnvald nicht.
Er lockerte seine Schultern und schüttelte die Beine aus, die vom Sitzen steif geworden waren. Dann kletterte er auf die andere Seite des Schiffes, von wo aus er dem Sohn des Lotsen einen herausfordernden Blick zuwarf. Beim Tanz über die Riemen musste man ständig sein Gleichgewicht verlagern, war immer kurz davor, zu fallen, und wenn man sich wieder gefangen hatte, glitt einem auch fast schon der nächste Riemen unter den Füßen weg. Er musste seinem Körper vertrauen und den Rhythmus der Ruderschläge spüren, sich auf jeden Einzelnen der Männer einstellen, wenn das eine Ruderblatt tief ins Wasser eintauchte, während das andere flach durch ein Wellental glitt. Agni, der Sohn des Lotsen, war kleiner und behänder als Ragnvald. Er hatte seine ganze Kindheit auf Schiffen verbracht und würde nur mit Mühe zu schlagen sein.
Solvi gab das Startzeichen, und Ragnvald lief los. Jetzt wo er ein Gefühl für die Bewegung bekommen hatte, würde er nicht einmal jeden Riemen berühren müssen. Er sprang im Gleichklang mit den Ruderschlägen, ließ sich von ihrem Schwung nach vorne werfen. Der Wind wurde kräftiger, und das Schiff rollte immer steifer in der stärker werdenden Dünung.
Noch vor dem Sohn des Lotsen erreichte Ragnvald den Bug. Er machte kehrt und hatte fast schon das Steuerruder erreicht, als Solvi rief: »Genug jetzt!«
Ragnvald streckte die Hand nach der Reling aus, um sich zurück auf das Deck zu schwingen. Er wollte bei dem schweren wollenen Segel mit anpacken, denn Solvi würde jede Hand brauchen können, bis es festgezurrt und gegen den Wind gestellt wäre.
»Du nicht«, sagte Solvi. Er stand jetzt ganz nah bei Ragnvald. Seine Worte galten nur ihm. Die Riemen, die die Männer eben noch gehalten hatten, verschwanden unter seinen Füßen. Das Wasser, über das er so sicher getanzt war, saugte nun an seinen Beinen und zog ihn hinunter. Die Kälte drang durch seine Hosenbeine. Er hing an den Planken der Reling und sah, wie die Männer die Ruder schwangen. Diejenigen, deren Blicke den seinen trafen, wandten schnell den Kopf ab.
»Helft mir rauf!«, rief er. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass Solvi ihn über Bord gehen lassen wollte. »Hilf mir«, rief er noch einmal, an den einzigen Freund gewandt, auf den er sich noch verlassen konnte. »Egil, hilf mir doch!« Einen Augenblick lang schien Egil hin und her gerissen, dann sprang er auf. Doch Solvis Männer schlossen sich zu einer Mauer zusammen und hielten Egil an der Schmalseite des Schiffes zurück.
Verzweifelt klammerte Ragnvald sich an die Reling; die Kante des Holzbalkens schnitt ihm in die Arme. Immer wieder versuchte er, mit den Füßen Halt zu bekommen. Dann sah er, wie Solvi nach dem Dolch an seinem Gürtel griff.
»Ich wünschte, es bliebe mir erspart«, sagte Solvi, »aber …«
»Was?«, schrie Ragnvald. »Warte, mach das nicht – zieh mich rauf!« Solvis Gesicht hatte einen harten, entschlossenen Ausdruck angenommen. Jede Spur von Güte war gewichen. Ragnvald erstarrte, als Solvi den Dolch aus der Scheide zog und damit in Richtung seiner Kehle stieß. Ragnvald drehte den Kopf zur Seite, um dem Angriff auszuweichen, und die Klinge schnitt ihm tief in die Wange.
Der Schmerz riss ihn aus seiner Erstarrung. Das Blut pochte in seinen Schläfen. Egil würde die Mauer aus Solvis Kriegern nicht durchbrechen und ihm zu Hilfe kommen. Wenigstens hatte Ragnvald noch sein Schwert. Er war inzwischen so sehr gewöhnt, es zu tragen, dass er es sich auch bei dem Wettlauf nicht abgeschnallt hatte, um sein Gleichgewicht besser halten zu können. Mit einer Hand ließ er den Balken los, um danach zu greifen, konnte die Klinge in dieser Position aber nicht herausziehen. Er klammerte sich wieder an die Reling und schwang sich hinter den Achtersteven, so dass das Schwert nun zwischen seinem Körper und dem Schiff eingeklemmt war.
Solvi packte Ragnvalds Handgelenk und wollte ihn hochziehen, um ihm einen weiteren Dolchhieb zu verpassen, während dieser immer noch krampfhaft versuchte, mit den Füßen festen Stand zu bekommen. Solvi stöhnte und stach erneut zu, doch in diesem Moment ließ Ragnvald sich schlaff hängen, in der Hoffnung, dass Solvi nicht gleichzeitig sein Gewicht halten und ihm einen tödlichen Stoß versetzen konnte. Ein ums andere Mal stieß er sich von der Bordwand des Schiffes ab, nur um irgendwie aus Solvis Reichweite zu kommen. Dieser klammerte sich an Ragnvald, bis er schließlich mit seinem ganzen Oberkörper über der Reling hing. Noch einmal erwischte er Ragnvald leicht am Hals, dann ließ er ihn los, um nicht selbst über die Planken gezogen zu werden.
Ragnvald rang nach Luft, als er das eisige Wasser in seinem Gesicht spürte. Er atmete ein und musste husten. Das Salzwasser brannte in seinen Wunden, doch erschien ihm dieser Schmerz nur schwach gegenüber der schneidenden Kälte, die ihm wie Messerstiche in die Glieder fuhr, und dem Schock über Solvis Verrat. Die Strömung war an dieser Stelle des Fjords stark und würde ihn rasch vom Schiff forttragen, wenn er nichts unternahm. Dennoch blieb er unbeweglich, den Kopf nur knapp über der Wasseroberfläche, und wartete hundert Herzschläge lang, ehe er den Kopf hob und die Augen öffnete.
Die Strömung hatte ihn schon fast bis unter die Ruder des nächsten Schiffes im Konvoi gespült. Er hörte, wie die Männer an Bord lachten, so wie noch kurz zuvor die auf Solvis Schiff. Ragnvald streckte den Kopf aus dem Wasser und hob einen seiner triefnassen Arme. Er war mit diesen Männern in den Kampf gezogen, hatte mit ihnen einen langen, harten Winter über eine Küstenfestung verteidigt und nach hitzigen Gefechten die Frauen mit ihnen geteilt. Sie mussten ihm doch helfen.
Dann fielen ihm wieder die Männer ein, die sich Egil in den Weg gestellt hatten. Hinter der ganzen Sache steckte also nicht Solvi allein. Noch einen Tag zuvor hätte er sich dafür verbürgt, dass diese Krieger ihr Leben riskieren würden, um seines zu schützen, so wie auch er es getan hätte. Doch wenn er nun nicht einmal mehr Solvi vertrauen konnte, wie sollte er dann wissen, woran er bei den anderen war? So ließ er sich also von der Strömung am Schiff vorbeitragen, ohne den Männern zu rufen.
Die Kälte drang ihm durch alle Glieder, seine Zähne klapperten. Sein ganzer Groll gegenüber Solvi war jetzt weit weg, schien ebenso im Wasser zu verschwinden wie die Wärme aus seinem Körper. Mit der Zunge tastete er die Backentasche ab, dort wo Solvi ihm den Dolchhieb versetzt hatte, und nahm den eisenartigen, salzigen Geschmack von Blut wahr, vermischt mit dem des brackigen Fjordwassers. An einigen Stellen hatte Solvi ihm die Backe komplett durchgeschnitten, doch immerhin war sein Mund unversehrt geblieben. Er dankte Gott dafür, dass ihm wenigstens dies erspart geblieben war.
Einmal hatte er bereits eine solche Wunde bei jemandem gesehen: Einem Krieger waren von einem Mönch Wange und Mundöffnung mit der Axt durchschnitten worden, und die Wunde eiterte, bis das halbe Gesicht des Mannes verfault war und er in seinem Schmerz und Fieberwahn nur noch brüllte. Ragnvald würde Solvi aufspüren und sich freimütig von ihm töten lassen, ehe er einem solchen Schicksal anheimfallen wollte. So würde er nach seinem Tod wenigstens nach Walhalla gelangen anstatt in eine jener kalten, stinkenden Höllen für gefallene Feiglinge.
Die Sonne war bald hinter den Klippen untergegangen, und die Luft in seinem Gesicht, die ihm im Vergleich zum eisigen Wasser eben noch warm erschienen war, ließ ihn jetzt frösteln. Seine Glieder fühlten sich schwer und taub an, und rasch driftete er auf den langen, leeren Gang zu, der jenseits der Kälte auf ihn wartete. Wenn er hier ins Reich des Todes glitt, würde niemand seine Leiche finden. Ein solcher Tod wäre beinahe ebenso schändlich, als wenn er an einem Fieber zugrunde ging. Er hätte es zurück zum Schiff schaffen können, und doch hatte er sich wie ein Feigling tot gestellt, anstatt den ungleichen Kampf aufzunehmen. Sein Stiefvater Olaf hatte recht gehabt: Ragnvald war einfach noch kein Krieger, und nun würde er auch niemals einer sein.
Seine wollene Tunika hing schwer an ihm, zog ihn beinahe unter Wasser. Er versuchte, Richtung Ufer zu schwimmen, doch die Strömung war hier, in der Mitte des Fjords, rasch und kräftig, so dass er kaum dagegen ankam. Irgendetwas zerrte an seinem Fußgelenk – die kalten, gierigen Finger von Ran, der Göttin des Meeres und der Schiffbrüchigen, die ihn mit in die Tiefe ziehen wollte, in ihre eisige Festhalle.
Es wäre gar kein so übler Tod, dachte er sich – vielleicht sogar besser, denn als kalte Leiche auf ewig in einem einsamen Hügelgrab zu liegen. Immerhin gab es in Rans Halle unzählige Seefahrer und Fischer. Schon sah er sie vor sich, wie sie ihre meerwassergefüllten Trinkhörner langsam zu einem stummen Toast erhoben. Jedes gekenterte Schiff opferte der Göttin seine Schätze, und ihre Krieger tobten wie rasend durch die Fluten, um sie zu bergen. Das Licht brach sich in all dem Gold, mit dem ihre Halle ausgeschmückt war, und flimmerte bis zur Wasseroberfläche hinauf, wo Ragnvald trieb.
Mit Staunen sah er die schemenhaften Figuren tief unter sich, Gebilde aus Licht und Dunkel. Goldene Netze zierten das Deckengewölbe der Halle. Eine Meerjungfrau nahm ihn beim Arm und führte ihn hinunter zu dem kalten Fest. Wird das meine neue Wohnstatt sein?, fragte er sich. Werde ich Tag für Tag Fisch essen? Und ist es nun an mir, andere Seemänner zu ertränken?
Die Kiemen an ihrem Hals flatterten. Sie bat Ragnvald, auf einer Bank vor einem Lagerfeuer Platz zu nehmen, das keinerlei Hitze verströmte und aus dem blau-grüne Flammen emporzüngelten. Er hatte keine Ahnung, wie lange er so dasaß, inmitten seiner stummen Gastgeber. Die Meerjungfrauen brachten ihm zu essen und zu trinken, doch alles schmeckte nach Salz und roch nach Fisch. Ihm war kalt, unendlich kalt.
Dann wurden die Türfügel aufgestoßen, und ein riesiger Wolf schritt herein, blauäugig und mit goldenem Fell, aus dem die Funken stieben. Langsam streifte er durch die Halle, bis zum anderen Ende. Hin und wieder berührte er mit der Schnauze einen der Männer, die dann entweder verbrannten oder aber den grünlichen Schimmer des Meerwassers verloren und stattdessen einen metallenen Glanz annahmen. Ragnvald beobachtete, wie der Wolf von einem Mann zum anderen lief, und fragte sich, was er ihm wohl bringen würde: Asche und Tod oder strahlenden Ruhm. Als er näher kam, sah Ragnvald, dass das Fell des Wolfes stellenweise verfilzt und glanzlos war. Er streckte die Hand aus, und wo er ihn berührte, begann er hell zu strahlen wie frisch geschmiedetes Metall. Die Augen des Tieres waren blau wie der Sommerhimmel und sein Fell unter Ragnvalds Händen so warm, dass er kaum die Flammen spürte, die seine Finger und Unterarme hinaufkrochen, die ihn wärmten, während sie anderswo in der Halle Fleisch und Holz verzehrt hatten. Ragnvald beugte sich vor und schlang seine Arme um den Wolf. Die Flammen züngelten an seinem Hals empor und füllten seinen Blick mit blauem Feuer. Er wusste, dass er hier unten, in seiner Umarmung mit dem Wolf, sterben konnte, und doch blieb ihm nichts, als dem Tod ins Gesicht zu sehen.
Es wäre kein schändlicher Tod, mit diesem Wolf, den ihm die Götter gesandt hatten. Er wollte sich ihm hingeben, doch irgendetwas zerrte an seinem Fußgelenk. Diesmal konnten es nicht die eisigen Finger von Rans Dienerinnen sein, denn er befand sich ja bereits in ihrem Reich. Er wehrte sich, schrie wütend und strampelte wild, doch dann spürte er, wie ihn kräftige Hände packten und aus dem Wasser zogen.