Ein Bauch spaziert durch Venedig

Cover

Friedrich Nietzsche

Während ich vor vielen Jahren vor allem in meine Töpfe hineinstierte und auf der «Wolke sieben» meines Restaurants ein arbeitsames, aber zugleich wohliges Leben führte, fehlte mir irgendwann trotzdem etwas, nämlich fremde und neue Impulse. So kam es schließlich auf Drängen meiner Frau zur längst überfälligen Erweiterung meines Horizonts, als ich 1987 ein Flugzeug nach Venedig betrat. Beim Abheben starrte ich bedrückt und an der Technologie zweifelnd auf die sich durchbiegenden Flügel. Meine Frau hatte alles organisiert, und die junge Familie zog ins berühmte Luxushotel «Gritti Palace» ein. Ich konnte anfangs an nichts anderes denken als an die einzig sichere Konstante meines jungen Unternehmerlebens, das Ostinato von Eingangsrechnungen. Nach zwei Tagen war mir das aber vollkommen wurscht, denn der Sog dieser bezaubernden Stadt wurde rasch stärker als alle Existenzsorgen. Außerdem hatte ich irgendwo gelesen, dass nahezu alle Genies dieser Welt auf dem wackeligen Boden der Unvernunft zu Ruhm gelangten.

Venedig blies mir den Kopf frei, und ich sog die venezianische Lebensart, die neuen Gerichte und die Umgangsformen im Gritti auf wie ein Löschpapier, das ein Goethe-Epigramm

Welch ein Wohlleben, die zwanglosen Osterien, die vielen Trattorien und Restaurants! Venedig hat sich bei mir bis heute schwer festgesetzt, und ich bin nahezu jedes Jahr einmal wiedergekommen – im Winter, im Sommer, bei Hitze, bei Nebel und Hochwasser. Immer wieder zog es mich in die Serenissima, und so wird es auch bis zu meinem Lebensende bleiben.

Auf meinen Reisen habe ich stets Tagebuch geführt, und die Hefte füllen mittlerweile eine ganze Bordeauxkiste. Von all diesen Erlebnissen kann ich hier nur einiges berichten, natürlich reicht es in keiner Weise, um dieser Stadt gerecht zu werden. Denn was man dort sehen, fühlen und schmecken kann, lässt sich letztlich nicht in ein Buch packen, sondern verlangt nach immer neuen Besichtigungen vor Ort.

Beim Reisen geht es mir immer um Gewinn, und zwar den beglückendsten, den es gibt, nämlich die Einverleibung des Schönen. Und nirgendwo auf der Welt ist der Tisch damit reichlicher gedeckt als in der Serenissima. Man muss aber dafür empfänglich sein. Casanova sagte sinngemäß, mit dem Hirn sei es wie mit dem Schießpulver, es ist tot und still. Wenn man es aber entzündet, gibt es Explosionen. So weit muss es mit unserem Verstand zwar nicht kommen, und keinesfalls sollen sich meine Leser wie in einem Kunstführer verfranzen. Es geht mir im Folgenden darum, eine Empathie für Vergangenes zu entzünden, weil die Ernte davon bis in die Zukunft tragen kann.

Über Venedig wurden schon Schiffsladungen von Büchern abgekippt. Braucht es noch ein weiteres? Ich meine ja, denn

Ich möchte in diesem Buch ein paar meiner Lieblingsorte vorstellen und zeigen, dass man sich in Venedig am besten einfach treiben lässt und auch auf den Nebenpfaden wandeln sollte, denn an jeder Ecke tut sich etwas Neues auf. Bevor es aber Richtung Lagune geht, möchte ich auch das Festland ein wenig vorstellen, die Terra ferma. Im Laufe der Geschichte hat sich die Dogenrepublik, die den geflügelten Löwen im Wappen trägt, zu der Region Veneto erweitert, das hinaufreicht bis zu den dolomitischen Zacken. Der majestätische San-Marco-Löwe verbindet die Hauptstadt mit dem Festland, denn auch in Venetiens Flagge ist er zu finden. Im Süden grenzt Venetien an die Region Emilia-Romagna, im Westen an die Lombardei, der Nordzipfel ans österreichische Tirol und Kärnten. Die Grenze führt am Ostufer des Gardasees entlang hinauf bis nach Südtirol. Auch nach Osten lässt

Es lohnt sich sehr, den Blick auf dieses Umland Venedigs zu lenken, das oft etwas unterbeleuchtet bleibt. Davon handelt der erste Teil dieses Buches, sozusagen die Vorspeise, bis dann im zweiten Teil der Hauptgang serviert wird: die Durchlauchtigste Republik Venedig (la Serenissima Repubblica di San Marco). Ich sage es gern und immer wieder: Die schönste Art zu verreisen ist immer noch, den Kopf in Bücher zu stecken.

In der Nähe von Ca’ d’Oro

Ich begebe mich als leidenschaftlicher Italienreisender gern auf die Spuren des französischen Schriftstellers Michel de Montaigne (1533–1592), dessen Essais für mich zu den wichtigsten Büchern überhaupt zählen. Nachdem er jahrelang zurückgezogen auf Schloss Montaigne sein philosophisches Dasein gefristet hatte, ließ er sich in den Jahren 1580/81 über die Alpen nach Venetien kutschieren, bereiste auch Venedig und Rom. Seine Erfahrungen hielt er im Tagebuch einer Reise durch Italien über die Schweiz und Deutschland fest, und etwas darin erinnert an die heutige Zeit. Epidemien plagten das Volk, Montaigne musste an den Toren jeder Stadt eine bolletta di sanità vorlegen, sozusagen seinen Impfausweis. Tolerant, genau und in entspannter Laune schildert er Koch- und Tischgebräuche, beschreibt das Leben des «einfachen Volkes», die Besuche bei den «höheren Ständen» und natürlich die Landschaft. Motorboote gab es damals noch nicht, auch führte keine Brücke nach Venedig. In Fusina bei Mestre wurde eine Gondel bestiegen. In Venedig angekommen, war Montaigne begeistert von der Lage und angetan vom «Gewühl von Menschen aus aller Herren Länder …».

Und nun wiederum, grob gerechnet weitere 250 Jahre später, macht sich ein schwäbischer Koch auf den Weg nach Italien, zwar nicht gerade im Postkutschentempo, dafür aber mit Bedacht, sodass das Innere dem Äußeren gut folgen kann. Etappenweise möchte ich mich diesmal der Lagune nähern, und meine Tochter Eva begleitet mich. Im Juni 2021 brechen wir auf zu einem kleinen Roadtrip durch Venetien. Eva meint, beim Fliegen käme die Seele nicht hinterher, man solle sich stets auf dem Landweg nähern und auf diese Art behutsam in «Land und Leute» hineinwachsen. Übrigens, meine Tochter dient mir auf dieser Reise sozusagen als Blindenhündin. Sie regelt alles, zu dem ich zu faul bin, organisiert unsere Hotels und unsere Tische und ist die unangefochtene Herrin der Kreditkarte.

Unsere Route wird uns von Stuttgart über Ulm und Füssen nach Reutte in Tirol, über den Fernpass nach

Sehr bequem fahren wir die Brennerautobahn bergan und kein Stau klemmt uns fest. Es ist wenig Verkehr, nur ein antiker VW-Bulli mit Hippiebemalung orgelt sich über die Europabrücke und ist für kurze Zeit unser Augenglück und Weggefährte. In jüngeren Jahren litt ich unter ungestümem Vorwärtsdrang und sammelte jede Menge Strafzettel, drückte das Gaspedal durch bis zum Anschlag, bekam aber von der Landschaft fast nichts mit. Nun erlebe ich, dass es wahrlich Schöneres gibt als den Rausch der Raserei. Es fällt mir nicht schwer, die österreichische Geschwindigkeitsbegrenzung einzuhalten, über die der Altkanzler Helmut Kohl mal die Warnbotschaft hinausschleuderte: «130 km/h sind für Deutsche unzumutbar.» Goethe schrieb seinerzeit von der Fahrt über den Brennerpass: «Die Postillons fuhren, daß einem Sehen und Hören verging, und so leid es mir tat, diese herrlichen Gegenden mit der entsetzlichsten Schnelle und bei Nacht wie im Fluge zu durchreisen, so freute es mich doch innerlich, daß ein günstiger Wind hinter mir herblies und mich meinen Wünschen zujagte.»

Ziemlich verschnarcht verfehle ich fast die Ausfahrt nach Brixen. Ohne Brixen war mir noch nie eine Fahrt in den Süden möglich. Das liegt nicht daran, dass gehobene Stände

Erkundung Brixens mit dem Rad

Goethe übernachtete als wirklich erste Verfehlung seiner Italienreise 1786 nicht im «Hotel Elephant», das schon seit über 400 Jahren die Türen für Vorbeireisende geöffnet hat. Seine Pferde zogen bergab schneller als ihm lieb war: «Der Postillon schlief ein, und die Pferde liefen den schnellsten Trab bergunter, immer auf dem bekannten Wege fort; kamen sie an ein eben Fleck, so ging es desto langsamer. Der Führer wachte auf und trieb wieder an, und so kam ich sehr geschwind, zwischen hohen Felsen, an dem reißenden Etschfluß hinunter. Der Mond ging auf und beleuchtete ungeheure Gegenstände.» Goethe stand ziemlich unter Kuratel der Kutscher, die sich nicht nach ihm richteten, sondern nach den Pferden: «Brixen, wo man mich gleichsam entführte, so dass ich mit dem Tage in Kollmann ankam.»

Michel Montaigne berichtete 1581 hingegen empört von der Halsabschneiderei der Wirte. Er nächtigte in Brixen jedoch ebenso wenig wie Goethe im «Elephanten», sondern im «Goldenen Adler». Diesen Gasthof gibt es urkundlich schon seit 1500, und Montaigne erwähnt ihn und die Stadt sehr lobend: «très belle ville» (eine sehr schöne Stadt) in einer «bonne auberge» (einer guten Herberge) übernachtet!

Das «Hotel Elephant» wurde schon zur Zeit Goethes von der gleichen Familie geführt wie heute. Das erste Mal war ich

Garten gegenüber dem Hotel «Elephant»

Das «Elephant» ist ein Hotel wie ein Museum, aber alles andere als museal, sondern perfekt in Schuss, und das Personal ist von beeindruckender Professionalität. Der Koffer

Brixen, wenn auch keine große Stadt, ist bei mittlerer Sommerhitze zu Fuß kein Vergnügen. Überhaupt, tierartige Fortbewegung überlasse ich gerne anderen, und meine Tochter denkt zum Glück genauso. Sie ist eine ziemlich modern ausgerüstete Lady, und an ihrer Lenkstange ist das Handy mit Ortungssystem befestigt. Wir radeln gemächlich die antiken Pflastersteine zum Dom hinab. Ursprünglich wurde die Kirche in der Zeit der Gotik gebaut und in den späteren Jahren dem barocken Zeitgeschmack angepasst. Das Innere ist dementsprechend üppig, was nicht so mein Ding ist. Vielleicht liebe ich ausladenden Gipsstuck mit obligater Goldhöhung auch deshalb nicht so sehr, weil ich selbst so üppig bin.

Beim Kreuzgang des Doms verweilen wir länger. Mit seinen gotischen Fresken gehört er zu den bedeutendsten Kunstdenkmälern Südtirols. An der dritten Arkade tritt der berühmte Elefant vor unser Auge. Geboren wurde das geradezu adelige Tier 1540 in Indien und auf den Namen Soliman getauft. Er war ein Geschenk der Tochter Karls V. und Isabellas von Portugal an den Neffen des Kaisers und späteren Kaiser Maximilian II. Elefanten galten als die gewaltigsten Staatsgeschenke und wurden immer wieder halb um die Welt befördert. Karl der Große erhielt von Kalif

Von unser Besichtigungstour zurück, verweilen wir noch kurz im Hotelpark. Es herrscht immer noch eine Bullenhitze, und so nehmen wir das Abendessen auf der Terrasse ein, an einem Tisch, den mancher vielleicht einen Katzentisch nennen würde. Es war jedoch der letzte, der zu haben war, und wir sind mitten im Geschehen. Hinter, neben und vor mir wuselt das Servicepersonal. Hätte ich es ruhiger haben wollen, hätte ich mir eine lauschige Ecke im Garten suchen können. Aber nix da, mich interessiert immer, wie der Service den Ansturm der vielen Gäste bewältigt. Und ja, sie machen es sehr gut, ich brauche mich nicht sorgen, dass ich mich als Kollege zum Helfen anbieten muss.

Der Tisch direkt neben mir ist eine sogenannte Service-Station, dort sind Bestecke, Servietten und sonstige Tischgeräte bevorratet. Der Oberkellner bereitet dort gerade ein Tatar zu, es klappert und scheppert und er entschuldigt sich lachend: «Da sitzen Sie direkt neben der Werkstatt!» Es ist faszinierend, mit welcher Routine er das Tatar mit den vielen Zutaten anmischt. Der Mann ist sich seines Auftritts auch

Nach einem kalten Bier, nun sichtlich erholt, bestelle ich einen Wein vom Schloss Juval. Das Weingut im Vinschgau wird vom Sohn des Bergsteigers Reinhold Messner sehr gut geführt. Der Weißburgunder aus dem Jahr 2019 mit frischem Duft spendet mir geradezu morgendliche Frische. Nach dem Tatar sind Schlutzkrapfen an der Reihe. Letztere sind nichts anderes als Ravioli, meist in brauner Butter mit Salbei serviert. Eva gibt bereits auf, aber ich nehme noch etwas Reh. Dann kommt noch Käse und ein schöner Rotwein dazu, ein Lagreiner, beides sind mir immer das beste Betthupferl. Die Südtiroler Weine liebe ich wirklich sehr, denn gerade die rote Lagreinertraube um Bozen zwickt mich nicht durch übermäßige Säure. In meiner Jugend, als mein Magen noch rieslingtauglich war, konnte ich noch jeden Sauerampfer vertragen.

Im «Elephanten» wurde schon immer auf solidem Niveau gekocht. Damals kaute sich die Tiroler Küche aber noch vorwiegend krachledern, knödelig und von Bauernspeck befeuert. Mittlerweile ist diese Küche zwischen Gebirgsspezialitäten und italienischen Einflüssen auf dem Höchststand. In nahezu jedem Ort ist ein außergewöhnliches Gasthaus zu finden. So die Berichte meiner Freunde. Mehr kann ich dazu nicht sagen, weil mir nie eine andere Idee kam, als den «Elephanten» aufzusuchen.

Wer nach solchen Abendessen nicht traumlos ins Bett fällt, dem ist nicht zu helfen. Als finalen Gutenachtgruß hole ich

Nach einer tatsächlich formidablen Nacht schaue ich mir am nächsten Morgen vor dem Frühstück noch das Hotel genauer an. Zwar bin ich hier schon oft abgestiegen, aber ich will ja nun darüber schreiben und gucke deshalb ein bisschen genauer hin. Es tut richtig gut, dass man hier die Gewissheit hat, nicht in einem juvenilen Start-up-Unternehmen verwahrt zu werden. Nur erlesene Antiquitäten sind hier zu finden, und keinerlei Kunstblumen beleidigen meinen Sinn fürs Exquisite. Ganz besonders sticht mir die breite, geradezu festliche Treppe ins Auge. Ein roter Teppich ist über die Stufen gezogen und wird von polierten Messingstangen in Fasson gehalten. Es kommt aber noch toller, und das habe ich wirklich noch nirgends gesehen: um den Teppich zu schonen, und überhaupt wegen des Sauberkeitsanspruchs, führt in der Mitte der Teppichtreppe ein weiß erstrahlender, frisch gewaschener Baumwollstreifen ins Parterre. Es mutet an, als hätte man dem roten Läufer eine gestärkte Serviette aufgelegt. Man merkt, hier ist eine Besitzerfamilie am Start, die mit Herz und Professionalität zu Werke geht. Die Tradition des Hauses ist immer spürbar, aber mein Zimmer ist dennoch modern und absolut elegant. Nirgends überflüssige Schnörkel, die vielleicht mein Vater geliebt hätte, der an diesem Hotel nie vorbeifuhr, ohne hier gut zu essen.

Edler Aufstieg

Dem Licht entgegen gehe ich zum Frühstück auf die Terrasse mit Ausblick auf den gegenüberliegenden Park, der mitten in der Stadt liegt. Gute Croissants machen mich ganz verrückt, und ich verliere in ihrer Anwesenheit rasch die Beherrschung. Opulentes Frühstück ist ja eigentlich mehr

Dem geneigten Leser sage ich es gleich: Lassen Sie es bleiben, es sei denn, Sie haben wirklich sehr viel Zeit. Wir befehlen unserem Auto das Bergsteigen auf dem Weg nach Sankt Ulrich im Grödnertal, durchfahren Wolkenstein, um kurz zu verweilen und eine kleine Gedenkminute für den Dichterfürsten des Spätmittelalters, Oswald von Wolkenstein (um 1377–1445), einzulegen. Von ihm sind über 130 Texte überliefert. Sie gehören zu den bedeutendsten Buchschätzen überhaupt. Seine zwei Liedersammlungen sind kalligraphisch prachtvoll gestaltet und mit Notenschrift ausgestattet und waren schon in damaliger Zeit eine Seltenheit.

Doch weiter. Auf dem Papier mutet die Berg-und-Talfahrt zunächst harmlos an. Die Karte liegt unschuldig eben auf dem Tisch, in meinem Fall ist es das iPad, und gaukelt uns vor, völlig flach und easy zu sein. Unser Plan ist es, auf die andere Seite der Dolomiten ins Tal der Piave vorzustoßen, um dann von oben nach Venetien einzufallen.

Venetien beginnt allerdings viel früher als man ahnt, nämlich mitten in den Dolomiten in der Nähe des Falzaregopasses. In Luftlinie dehnt sich die Strecke durch die Bergwelt höchstens auf 60 Kilometer. Durch die schöne, ergreifende Landschaft arbeitet sich unser Auto durch Spitzkehren in

Dramatische Landschaft – die Dolomiten

Rauf und runter durch enge Kurven, dann, endlich, meine ich, die Drei Zinnen erahnen zu können. Doch welch ein Irrtum. Es geht wieder runter ins Tal, und das noch sehr

Nach der Olympiastadt werden die Spitzkehren weniger, es geht nun ständig bergab. Die Ortschaft Giralba liegt direkt unter den Drei Zinnen, so sieht es jedenfalls auf der Landkarte aus. Auf dieser kann man nicht erkennen, dass dazwischen noch ein Gebirgsmassiv die Sicht nimmt. Ein bisschen wehmütig sind wir schon, denn um sich den Drei Zinnen zu nähern, hätten wir noch mal einen Umweg fahren müssen. Kurz vor Auronzo di Cadore können wir wenigstens eine Zacke der Drei Zinnen erspähen. Diese zeigt sich wegen der großen Entfernung jedoch ziemlich klein, aber Eva und ich sind beide mit außergewöhnlicher Fantasie ausgestattet und meinen, vor dem inneren Auge dort sogar Kletterer erspähen zu können. Egal, jetzt wissen wir wenigstens, warum die Dolomiten seit Generationen die Leute in Begeisterung versetzen. Die Durchfahrung des Gebirgs hat über fünf Stunden in Anspruch genommen, dies nur nochmals als Warnung. Hätten wir Evas Mutter, meine Ehefrau und meinen Lebenskompass Elisabeth dabeigehabt, sie hätte uns für diese Detour schwer zusammengestaucht.

Das Tal der Piave ist erreicht, die Schnellstraße führt an Pieve di Cadore vorbei. Gedanklich spendiere ich mir eine Gedenkminute für den großen Maler Tizian (ca. 1488–1576),

Wir genehmigen uns keine Pause und kein Mittagessen, sondern drängen vorwärts. Vor Valdobbiadene mehren sich die Hinweisschilder, dass wir uns nun auf einem Schlachtfeld befinden. Drei furchtbare Gefechte des Ersten Weltkriegs entließen viel Blut in die Wasser der Piave, die sich teilweise aufstaute, da die Leichen den breiten Fluss verstopften. 1918 kämpften an der sogenannten «Prosecco-Linie» die Österreicher und Deutschen gegen die Italiener. Ernest Hemingway (1899–1961) diente zu dieser Zeit an der Piave als Sanitäter. Er versorgte Verwundete und machte sich freiwillig mit einem Fahrrad auf den Weg, um den Kameraden einen Rucksack voll Schokolade und sonstiger Verpflegung zu bringen, als er sich einen Granatsplitter fing. Aus dieser Erfahrung destillierte er seinen späteren Roman In einem anderen Land (1929). Auch sein Landsmann, der sozialkritische Schriftsteller John Dos Passos (Manhattan Transfer), diente kurze Zeit als Sanitätsfahrer an dieser Front.

Damals wurden alle Brücken gesprengt. Heute ist davon nichts mehr zu sehen, das Grün um uns herum zeigt sich als aufgeräumte Kulturlandschaft, und bequem führt die Straße nach Westen über die Piave auf die Asolaner Berge zu. Links und rechts säumen unzählige Prosecco-Weinstöcke unsere Straße. Das echte Proseccogebiet liegt zwischen Valdobbiadene am östlichen Ufer der Piave und dehnt sich weiter bis ins südöstliche Conegliano aus. Im Südwesten schließt sich das Prosecco-Dreieck bei Asolo. Aus diesen, geradezu ineinander lieblich verschlungenen Hügeln kommen die edelsten Schaumweine mit dem berühmten Signet: Denominazione di Origine Controllata e Garantita (DOCG). Mamma

Valdobbiadene – Heimat des Prosecco

Eine gefüllte Prosecco-Flöte erster Güte erwartet uns im legendären «Hotel Cipriani» in Asolo, aber das muss noch warten. Die Uhr zeigt erst vier, und an der Villa di Maser einfach so vorbeizurauschen, käme einem Kulturfrevel gleich. Die Villa di Maser nennt sich eigentlich Villa Barbaro (nach der berühmten venezianischen Patrizierfamilie) und liegt unweit von Asolo an einer schmalen Landstraße. Vom

Ein Juwel: Villa di Maser

Wer sich die Villa Maser anschauen möchte, sollte allerdings vorher das Internet nach den Öffnungszeiten abklopfen. Ins Innere habe ich es vor vielen Jahren einmal geschafft,

Weiter geht’s. Es bleibt noch Zeit für einen Umweg nach Possagno. In nur fünfzehn Minuten sind wir am Grab Antonio Canovas, dessen Werke man im Museum des Ortes bewundern kann. Sein Mausoleum ist dem Parthenon in Athen nachempfunden, also wieder ein Tempel, der an die alten Griechen erinnert. Der Bildhauer gilt als ein ganz Großer des Klassizismus, er lebte von 1757 bis 1822, wurde hier in Possagno geboren und wirkte viel in Oberitalien, vorwiegend jedoch in Venedig. Das Museum müssen wir uns leider sparen, aber ein Rundgang um das Bauwerk, auf den eine Sichtachse mit weißem Kies hinführt, ruft in mir, mittlerweile hungrig und müde, doch noch erhebende Gefühle hervor.

Nicht nur die Stimmung an diesem Ort, sondern auch der dahinter aufragende Monte Grappa zwingt mich zur Nachdenklichkeit. Am 11. November 1918 war nach vier verheerenden Jahren der Krieg zu Ende, aber im Geburtsstädtchen von Canova lebte schon seit einem Jahr niemand mehr. 1917 war der Ort evakuiert worden, weil deutsche und österreichische Truppen ins Veneto vorgedrungen waren. Ständig wurde Possagno vom Monte Grappa aus beschossen. Canovas Bruder hatte die vielen Gips-Plastiken des großen Künstlers zu einer Sammlung, der «Gipsoteca di Possagno» zusammengeführt, damals weltweit die größte ihrer Art. Sie wurde dann im Dezember 1917 dezimiert, als zwei Granaten der österreichischen Artillerie einschlugen. Auch diese Geschichten gehören zu dieser lieblich anmutenden Gegend,

Canova-Tempel bei Possagno

Eine schmale Straße führt bergan, dann wieder hinab. Vor vierzig Jahren verbrachte ich in dieser idyllischen Endmoräne, welche die Gletscher der Eiszeit hinterlassen haben, mit meiner Frau Elisabeth einige Tage. Das Städtchen Asolo kann man getrost als Traumort bezeichnen, in der Hauptreisezeit kann es hier allerdings sehr voll werden. Den Marktplatz schauen wir uns morgen an, lieber biegen wir in eine enge Gasse ab und dann rechter Hand pfeilgrad in die große Garage des Hotels ein, in das wir heute einkehren werden.

Im Restaurant des Hotels ist eine Klientel anzutreffen, die sich vom sogenannten Neureichentourismus erheblich absetzt. Auf der Terrasse am Nebentisch sitzt ein Engländer, der deutlich hörbar kein Cockney spricht. Er gibt seine Bestellung auf und wendet sich dann wieder seinem Buch zu, auf dem ich den Titel Aretino ausmachen kann. Auf Pietro Aretino, der über lange Zeit in Venedig wilde Schriften verfasste und mit seinen Texten in einem Maße glänzte, dass sogar Tizian ihn porträtierte, werden wir noch gesondert zu sprechen kommen.

Neben dem Hotel führt eine schmale Gasse bergan aufs Zentrum zu. Die Villa Duse ist leider nicht zu besichtigen, ihre prächtige Vorderseite wäre nur vom gegenüberliegenden Abhang zu sehen. Eleonora Duse (1858–1924) war um die Jahrhundertwende neben der Französin Sarah Bernhardt die berühmteste Schauspielerin der Zeit. In Asolo lebte auch die englische Forschungsreisende Freya Madeline Stark (1893–1993), die stolze hundert Jahre alt geworden ist. Von der hatte ich noch nie gehört, aber der Concierge,

Keine Frage, das «Cipriani» hat eine starke Aura, vielleicht nicht für jeden, aber ich bin für alte Gemäuer empfänglich. Ich glaube nicht an Geister, aber meine reichliche Fantasie zieht mich zu den Verstorbenen, für die ich manchmal mehr Empathie empfinde als für die Lebenden. Nach drei Tagen war dann aber so viel Geld verwohnt, dass wir die Stätte dieser gastronomischen Hochkultur verlassen mussten. Seitdem sind 45 Jahre vergangen, und in Zehnjahresabständen sind wir immer wieder mal vorbeigekommen.

Hotel Cipriani in Asolo

Das Hotel ist sich immer treu geblieben, ist aber dennoch zeitgemäß in Schuss und gut restauriert, durch WLAN

Auf der Terrasse blicken meine Tochter und ich anschließend auf einen wundervollen Garten mit Palmen, einem Granatapfelbaum und auf die traumhafte Landschaft, die sich dahinter erstreckt. Der Dichter Giosuè Carducci (1835–1907), in Oberitalien berühmt, nannte Asolo «die Stadt der hundert Horizonte». Es ist eine schöne Wandergegend, aber selbst mit dem Auto tut sich hinter jeder Kurve ein anderer entzückender Blick auf. Irgendwie erinnert mich diese Kulturgegend an die idealisierte Landschaftsmalerei der Romantik.

Zum Asolaner Prosecco werden heute bigoli di Bassano con ragù d’anitra, also Entenragout, bestellt. Bigoli sind eine Spezialität Venetiens, es handelt sich dabei um dicke hausgemachte Eierspaghetti. Es gibt Teigpressen, durch die man sie quetschen kann. Man kann sie auch fertig kaufen, aber dann sehen sie aus, als hätten sie im Windkanal trainiert. Mit diesem Rezept jedoch bereiten Sie sie zu wie vor fünfhundert Jahren. Sie werden mit dem Handteller auf einem bemehlten Brett zu langen, dünnen Würstchen «genudelt».

Für 4 Personen

250 g

Hartweizengrieß

3

Eidotter (Eigelb)

1

Ei

TL

Olivenöl

TL

Salz

Egal, wie die Maßeinheiten sind, am Schluss muss ein sehr fester Teig zusammengeknetet sein. Den Teig immer feucht abdecken und etwa haselnussgroße Stücke entnehmen. Diese zwischen den Handtellern zu einem Torpedo formen. Möglichst kein Mehl auf den Tisch streuen, dann lange Würstchen ausrollen. Die fertigen Bigoli anschließend gut mit Mehl bestreuen, damit sie nicht zusammenkleben. Die «Würmer» dürfen gern zwanzig Zentimeter lang sein. Sie kommen für 7 Minuten in kochendes Wasser.

Eine kleine Warnung vorab: Pro Person benötigt man, wenn der Teig fertig ist, mindestens 15 Minuten für das Zwirbeln. Die Nudeln sehen etwas «homemade»-zerknittert aus.

Im Hotel Cipriani und in ganz Venetien werden die Bigoli bevorzugt mit Entenragout gereicht. Ganz zwanglos kann man aber Bigoli in allen Variationen bereiten, die auch für Spaghetti angewendet werden.

Meine Tochter wählt das berühmte «Carpaccio Cipriani». Es gibt mittlerweile unzählige Carpaccio-Varianten, von Käse, Orangen, Kohlrabi, Rote Bete, Zucchini usw. Alles Blödsinn, es gibt nur ein Carpaccio, und das wurde vom Gründer dieses Hotels erfunden: Ein großer Teller wird mit hauchdünn geschnittenem Rinderfilet belegt, Pfeffer und Salz kommt obenauf und darüber wird mit einer speziellen Mayonnaise,

Costoletta alla Milanese

Für 2 Personen

2

Kalbskoteletts, dünn geklopft

EL

Semmelbrösel (bitte vom Bäcker)

EL

Mehl

2

Eier

250 g

Butterschmalz

EL

frische Butter

Pfeffer, Salz

Allgemein hält man die costoletta, wie das Wiener Schnitzel, für ein simples Gericht. Trotzdem behaupte ich, dass neunundneunzig Prozent der Bröselfans, im Gegensatz zu mir, nicht an einer Fritteusenphobie leiden. Kurzum, was man oft unter einfacher Küche einordnet, ist meist davon belastet, dass es sich viele Köchinnen und Köche zu einfach machen und die Lappen einfach in die Fritteuse schmeißen. Es kommt aber eben genau auf die Panade an. Fertige Industrie-Semmelbrösel taugen nicht einmal zum Sandburgenbauen, man sollte deshalb das Gebrösel beim Bäcker kaufen.

Auf das Fleisch kommt es natürlich auch an. Ein vakuumiertes, im eigenen Saft vor sich hinsäuerndes Quälfleisch wird immer erstickt schmecken. Also gutes Fleisch aus dem

Die Fleischscheiben in Mehl wenden, dann das Mehl etwas abklopfen, durchs geschlagene Ei ziehen und anschließend auf den Bröseln wenden. Nicht andrücken. Schwimmt das Kotelett beim Garen im Fett, ist es weniger der Schwerkraft ausgesetzt und kann sich auch nach unten gut ausdehnen und Blasen bilden. Auf den Geschmack hat das keinen Einfluss. Für diese Prozedur benötigt man sehr viel Fett, und ich denke, dass nicht nur ein Schwabe darüber nachgrübelt, ob das sinnvoll ist. Aber eigentlich müsste alles in wirklich viel Butterschmalz sanft gebraten werden. Zu bedenken ist auch, dass Venetien traditionell kein Olivenöl-Land, sondern wie die Emilia und die Lombardei der Butter verfallen ist. Der Titel Città grassa («fette Stadt») für Bologna rührt von der Butter. Also, trotz aller Italomania: kein Olivenöl.

Über das Hotel, über Asolo mit seinem völlig erhaltenen mittelalterlichen Stadtbild und die Umgebung gäbe es noch viel zu erzählen. Vor allem über die unzähligen Berühmtheiten, die sich am pittoresken Lokalkolorit erfreuten, das «Namedropping» würde gar kein Ende nehmen. Rechts hinter mir in der Ecke sitzt ein älterer Herr, der mich überaus freundlich grüßt. Woher kennt er mich? Als ich mich nach Essen, Wein und Grappa zu meinem Zimmer vorarbeite, komme ich am Concierge vorbei, und er klärt mich auf: «Diesem Herrn gehört das Gemäuer, es ist Massimo Zanetti, der Besitzer des Segafredo-Konzerns, und er freut sich über jeden Gast.» In Deutschland ist diese Marke etwa für Espresso bekannt.