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Triggerwarnung
Die Autorin
Die Romane von Sarah Sprinz bei LYX
Impressum
Dunbridge Academy
ANYONE
ROMAN
Seit dem Neujahrsball der Dunbridge Academy fühlt sich Victoria Belhaven-Wynford nicht mehr wie sie selbst. Womöglich liegt es daran, dass sie seitdem Valentine Ward, den Rugbycaptain und heimlichen König des Internats, datet, ohne zu wissen, ob er wirklich der Richtige für sie ist. Ihr bester Freund Charles Sinclair scheint davon jedenfalls wenig begeistert. Sinclair, den Tori nicht um seine Meinung gebeten hat. Und Sinclair, den sie ein einziges Mal in ihrem Leben geküsst hat, und seitdem erfolglos versucht, über ihn hinwegzukommen, denn anscheinend sind sie zwar Seelenverwandte, doch eben nicht mehr als das. Dass Sinclair beim alljährlichen Schultheaterstück des Internats den Romeo spielen soll und seine ganze Aufmerksamkeit ihrer Mitschülerin Eleanor widmet, die für die Rolle der Julia ausgewählt wird, kommt Tori da gerade recht. Bis sie für die Aufführung in der Drehbuch-AG an der Liebesgeschichte feilen soll, die ihr bester Freund und sie im echten Leben wohl niemals haben werden …
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält Elemente, die triggern können.
Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Eure Sarah und euer LYX Verlag
Für alle,
die sich selbst verloren haben.
Es wird nie zu spät sein,
euch wiederzufinden.
All the world’s a stage,
and all the women and men
merely players.
William Shakespeare
two ghosts – harry styles
fuck up the friendship – leah kate
cigarette daydream – cage the elephant
night changes – one direction
partners in crime – finneas
people watching – conan gray
idfc – blackbear
to be so lonely – harry styles
1 step forward, 3 steps back – olivia rodrigo
fool’s gold – one direction
always you – louis tomlinson
just fucking let me love you – lowen
moral of the story – ashe feat. niall horan
bored – billie eilish
same mistakes – one direction
entertainer – zayn
favorite crime – olivia rodrigo
all too well (10 minute version) – taylor swift
why won’t you love me – 5 seconds of summer
the beach – wolf alice
i want to write you a song – one direction
out of my league – fitz and the tantrums
love story – taylor swift
we made it – louis tomlinson
Siebte Klasse
Tori ist mein erster Kuss, in einem dunklen Flur während der Horrorfilmnacht Ende September. Valentine Ward aus der Achten hat die ursprüngliche DVD gegen eine mit Altersfreigabe »ab achtzehn« ausgetauscht, kaum dass Mr Ringling das Fernsehzimmer verlassen hat. Wenn er Aufsicht hat, schläft er meistens im Aufenthaltsraum ein und hat keine Ahnung, was wir eigentlich tun. In dieser Nacht hoffe ich, dass ihn der Wind weckt, der um die alten Gemäuer pfeift.
Ich würde gerne sagen, dass ich Tori nach draußen folgen musste, weil sie sich gruselt, aber die Wahrheit ist, Tori folgt mir nach draußen, als ich nach den ersten dreiundzwanzig Minuten aufstehe. Es ist nicht so, als hätte ich Angst. Oder würde heimlich weinen. Nein, gar nicht. Wirklich nicht.
Ich ziehe nur gerade ernsthaft in Betracht, heute nicht im Internat zu schlafen, sondern Dad anzurufen, um ihn zu bitten, mich abzuholen. Andererseits wäre ich dann zu Hause ganz allein in meinem Zimmer. Oben im Schlafsaal höre ich wenigstens, dass die anderen da sind. Henry, der manchmal im Schlaf redet, und Gideons Schnarchen, wenn er auf dem Rücken liegt.
»Hey.«
Ich fahre herum, zu dieser Tori-förmigen Gestalt, die plötzlich im Halbdunkeln vor mir steht. Sie ist die verfluchte Meisterin im Sich-Anschleichen, das müsste ich eigentlich inzwischen wissen.
»Hey.« Ich straffe die Schultern. »Alles klar?«
»Geht es dir gut?«, fragt sie, und in ihren Augen glitzert das bisschen Licht von der Treppenhausbeleuchtung. Ein Windstoß bläht die Vorhänge auf und bewegt ihre Haare. Tori sieht anders aus, wenn sie ihr offen über den Rücken fallen. Im Unterricht trägt sie sie immer geflochten oder hochgebunden. Die Dielen knarzen, als sie einen Schritt auf mich zukommt.
»Ja, ich … mir ist nur eingefallen, dass ich noch …« Ja, was? »Na ja, ist eigentlich auch egal.« Ich schlucke. Warum kann ich nicht erst denken und dann reden?
»Ich finde Horrorfilme auch bescheuert«, sagt sie.
Ich spanne mich an. Auch … Was heißt hier auch? Wer sagt, dass ich sie bescheuert finde? Ich liebe Horrorfilme. Sie machen mir nichts aus. Aber warum sage ich dann nichts? Ich kann nur weiter auf dieser Fensterbank sitzen und den Atem anhalten. Tori steht vor mir, und sie bewegt sich nicht. Ihre Augen, die eigentlich braun sind, sehen fast schwarz aus. Mein Herz stolpert, als sie näher kommt. Sie steht zwischen meinen Knien-nah. Ich kann ihr pfirsichiges Shampoo riechen-nah. Sie beugt sich vor und küsst mich-nah.
Sie küsst mich.
Schnell, kurz, irgendwie unbeholfen. Es ist ein Wimpernschlag, ein Sekundenbruchteil. Es ist so schnell vorbei, dass ich nicht einmal sagen kann, ob ihre Lippen weich sind. Ob sie so sind, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich zweifle ernsthaft daran, dass das gerade wirklich passiert ist, aber mein rasender Puls scheint sich ziemlich sicher zu sein.
Tori weicht zurück, während ich die Hand hebe, um meinen Mund zu berühren. Mein Herz pocht laut in meinen Ohren, und ich will, dass sie es noch mal macht. Ich will ihre Handgelenke umfassen und sie wieder zu mir ziehen. Aber ich wage es nicht. Weil sie meine beste Freundin ist. Meine beste Freundin, die ich küssen will und … Verdammte Scheiße. Ich will sie küssen. Ich will es. Ich will nicht irgendwer für sie sein, ich will alles sein.
Ich stehe auf, um nach ihr zu greifen, doch genau in der Sekunde dringen unterdrückte Schreie und Lachen aus dem Fernsehraum. Wir zucken gleichzeitig zusammen, ein Windstoß drückt den Fensterflügel neben mir nach innen, irgendwo fliegt laut knallend eine Tür zu.
Als ich Tori wieder anschaue, sieht sie ein bisschen aus wie ein blasses Gespenst. Ihre Augen sind riesig und erschrocken. Sie beißt sich kurz auf die Unterlippe, bevor sie zu sprechen beginnt.
»Tut mir leid, ich …«
»Nein«, sage ich schnell und mache einen Schritt auf sie zu. Bereut sie es? Ist es, weil ich nicht reagiert, geschweige denn den Kuss erwidert habe? Ich sollte …
»Hey!« Valentine Wards Stimme lässt mich herumfahren. Er kommt gerade aus Richtung der Toiletten. »Macht ihr rum, oder was?«
Toris Blick streift mich, er fühlt sich an wie eine heiße Ohrfeige. Und dann dreht sie sich um und stößt ein Lachen aus, bitter und nervös. »Ähm, nein? Sinclair hat nur Angst.«
Natürlich. Charles Sinclair, der sich nie traut, der immer alles falsch macht.
»Ich habe keine Angst«, sage ich, während ich ihr folge.
Und woher sollte ich wissen, dass es die erste Lüge sein würde von unendlich vielen, die wir einander erzählen?
»Was hast du so lange da drinnen getan?«
Lächle. Er meint es nicht so. Und selbst wenn, es macht dir nichts aus.
»Mich kurz frisch gemacht«, erwidere ich so gleichgültig wie möglich und straffe die Schultern. In meinem Kopf höre ich die Stimme meiner Mutter.
Wenn du ein Kleid dieses Kalibers tragen willst, musst du aufrecht gehen. Schultern nach hinten, heb das Kinn.
Ich weiß, wie es funktioniert. Ich hatte genügend Gelegenheit, für Anlässe wie den Neujahrsball der Dunbridge Academy zu üben. Valentine ebenfalls, schließlich lautet sein Nachname Ward, doch obwohl ich einen Schritt näher trete, reicht er mir nicht den Arm. Er schaut mich gar nicht richtig an, sondern wendet sich wieder seinen Zwölftklässler-Freunden zu. Sie lachen und unterhalten sich, machen ihre Witze, die ich nicht verstehe, während sie rauchen und die eisige Luft in meine Lunge kriecht. Die Musik aus dem Festsaal ist dumpf im Hintergrund zu hören. Schülerinnen und Schüler stehen in kleinen Grüppchen auf dem gepflasterten Platz zwischen den alten Gebäuden aus dunklem Backstein. Teure Anzüge, atemberaubende Ballkleider, glitzernde Armreife und Ohrringe im Wert von Kleinwagen, Armbanduhren, so exklusiv und kostspielig, dass sie nur zu Anlässen wie diesem getragen werden. Es ist der eine Abend im Jahr, an dem die Dunbridge Academy ihrem Ruf als Eliteinternat alle Ehre macht. Man kann das Geld geradezu riechen. Ein bisschen so wie bei den Abendessen und Veranstaltungen, zu denen ich meine Eltern manchmal begleite.
Ich sehe zu der geöffneten Flügeltür, aus der ich gekommen bin. Eben noch war mir viel zu heiß, aber die Kälte hier draußen erinnert mich daran, dass es Mitte Januar ist. Mein sandfarbenes Kleid ist bodenlang und hat enge Ärmel, doch der dünne Satinstoff wärmt nicht im Geringsten. Eine feine Gänsehaut zieht sich über meinen Nacken. Ich verschränke fröstelnd die Arme und trete neben Val. Mein Rückenausschnitt ist definitiv spektakulär und war das ausschlaggebende Argument für dieses Kleid, doch gerade wünschte ich, ich hätte mich für etwas Wärmeres entschieden. Ich sollte wieder reingehen. Ich rauche nicht und könnte im Warmen warten, bis Val zurück ist. Oder er könnte mir sein Jackett anbieten, aber das scheint ihm nicht im Entferntesten in den Sinn zu kommen.
Meine Füße tun weh, ich bin müde, aber es ist noch nicht einmal Mitternacht. Reiß dich zusammen, Belhaven-Wynford. Letztes Jahr warst du bis kurz nach halb zwei auf der Tanzfläche und hattest die Nacht deines Lebens. Werde ich langsam alt, ist es das? Oder liegt es daran, dass ich damals mit Sinclair, Henry, Olive und den anderen viel mehr Spaß hatte? Wo sind sie überhaupt? Val sieht nicht so aus, als würde er mich vermissen, wenn ich jetzt für einen Moment zu meinen Freunden gehe. Ich bin kurz davor, mich auf die Suche nach ihnen zu begeben, als ich erneut Leute aus dem Foyer nach draußen kommen sehe.
Sinclair hat beide Hände in den Hosentaschen seiner dunklen Anzughose vergraben, und er ist betrunken. Ich erkenne es an seiner Haltung, selbst im schummrigen Licht der Laternen und Feuerschalen, die draußen aufgestellt wurden. Flackerndes Licht an den Mauern des Innenhofs und der glühende Blick meines besten Freundes, der sich sofort auf mich richtet. Ich kenne Sinclair in der dunkelblauen Schuluniform der Dunbridge Academy, deren Jackett er leidenschaftlich hasst und das er fast nur über die Schulter geworfen trägt, doch der schwarze Anzug, den er zu den Lederschuhen und dem weißen Hemd ausgesucht hat, schmiegt sich wie angegossen an seinen schlanken Körper. Ich weiß nicht, was er mit seinen blonden Haaren gemacht hat, aber sie fallen ihm heute besonders lässig in die Stirn. Er sollte mir dankbar sein, dass ich ihm ausgeredet habe, kurz vor dem Ball noch zum Friseur zu gehen. Er sieht immer aus wie ein frisch geschorener Pudel, wenn er danach zurückkommt. Aber heute Nacht sieht er gut aus, und er hat keine Ahnung.
Emma, die mit Henry hinter ihm geht, winkt mir zu, als sie mich entdeckt. Sie windet sich aus Henrys Arm, den er ihr über die Schulter gelegt hat, und läuft auf mich zu. Ich bin mir ziemlich sicher, dass niemand dieses eng anliegende dunkelblaue Kleid so rocken würde wie sie. Emma ist die sportlichste und zugleich eleganteste Person, die ich kenne, und gemeinsam mit Henry, der tragen kann, was er will, und immer aussieht wie ein verfluchter Prinz, sind sie das ultimative Power-Couple.
»Bin gleich wieder da«, murmele ich und drehe mich von Val und der Rauchwolke weg, die gerade in meine Richtung weht. Mir ist ein bisschen übel, was nicht ausschließlich an dem Zigarettenqualm liegt. Den ganzen Tag schon spüre ich eine gewisse Grundanspannung, die dafür gesorgt hat, dass ich beim Abendessen kaum einen Bissen runterbekommen habe. Ich warte noch auf den Moment, an dem die Nervosität endlich nachlässt und ich den Ball genießen kann.
»Und, wie ist die Stimmung, Freunde der Nacht?« Es ist erstaunlich, wie gut gelaunt ich klingen kann, obwohl ich mich innerlich taub fühle.
Sinclairs Blick legt sich schwer auf mich, als ich das Frösteln unterdrücke. Er nimmt die Hände aus den Hosentaschen, und ich weiß, dass sie warm sind. Aber ich gehe nicht zu Sinclair und lasse ihn den Arm um mich legen, einfach, weil wir das immer so machen und er der einzige Kerl ist, der mich berühren kann, ohne dass es etwas bedeutet. Ich bleibe stehen, Emma sagt etwas, aber der Inhalt ihrer Worte dringt nicht zu mir durch. Sinclair weicht meinem Blick aus. Ich versuche zu lächeln, aber es ist schwierig, weil ich nicht aufhören kann, mich zu fragen, warum es seit einer Weile so seltsam zwischen uns ist. Warum ich mich wie eine Verräterin fühle, weil ich mit Val hier bin und den Abend mit ihm und seinen Freunden verbringe anstatt mit meinen eigenen. Es ist schließlich nicht so, als hätte Sinclair mich an Vals Stelle gefragt, ob ich seine Begleitung sein möchte. Ich habe wie jedes Jahr darauf gewartet, weil jeglicher Feminismus meinen Körper verlässt, wenn es um dieses Neujahrsball-Thema geht, und ich insgeheim gefragt werden will, so wie die ganzen Protagonistinnen in all den Büchern gefragt werden. Von ihm. Sinclair. Natürlich halb ironisch, als beste Freunde, auch wenn alle etwas hineininterpretiert hätten. Aber Sinclair hat mich nicht gefragt. Natürlich nicht. Er hat Ellie Inglewood gefragt, die damit bei ihren Freundinnen angegeben hat. Jetzt hat Sinclair ein paarmal mit ihr getanzt und anschließend nur noch bei Henry und den anderen herumgestanden. Normalerweise wäre ich mit Gideon gegangen oder mit Omar. Jemandem, den ich mag und gut kenne. So gut, dass ich mir sicher sein kann, dass er nichts von mir will. Tja, aber in diesem Jahr ist nichts normal, denn ich gehe mit Val, der garantiert etwas von mir will. Das ist es schließlich, was mir an ihm gefällt. Gewollt werden. Wer will nicht gewollt werden von Valentine Ward, dem Captain des Rugbyteams und heimlichen König der Dunbridge Academy?
Emma fächelt sich ein bisschen Luft zu und kichert, also ist sie mit großer Wahrscheinlichkeit angetrunken. Henry beugt sich zu ihr und küsst sie. Die einzige Sache, die mich am Neujahrsball stört. Der Alkohol, der jedes Jahr in rauen Mengen heimlich eingeschleust wird.
Ich schaue zu Sinclair, der aus seinem Jackett schlüpft. Eine steile Falte hat sich zwischen seine Augenbrauen gegraben, als er es mir reicht. Ich zögere.
»Du frierst«, erklärt er knapp. Seine Stimme klingt kühl, aber gleichzeitig ist da etwas in seinen hellen Augen, das mich weiche Knie bekommen lässt.
Bevor ich auch nur daran denken kann, das Jackett zu nehmen, spüre ich einen schweren Arm um meine Schultern.
»Gehen wir wieder rein?«
Ich rieche den Alkohol in Vals Atem und will den Kopf wegdrehen, aber ich zwinge mich, es nicht zu tun. Am Ende wird er sauer, wenn ich ihn jetzt vor meinen Freunden bloßstelle. Er ist empfindlich, was das angeht, das ist nichts Neues. Und er hat seine Gründe, auch wenn ich mir wünschen würde, dass er sich mir dazu öffnen würde. Aber seit wir mehr miteinander zu tun haben, kann ich an einer Hand abzählen, wie oft Val über seine Schwester gesprochen hat. Sein Verhältnis zu ihr scheint nicht besser geworden zu sein, nachdem sie die Dunbridge Academy vor ein paar Jahren verlassen hat, um in Oxford zu studieren.
»Gerne.« Ich nicke, während Sinclair sein Jackett wieder anzieht. Seine Lippen sind eine schmale Linie, so fest presst er sie aufeinander.
»Wo hast du Ellie gelassen?«, fragt Val in diesem herablassenden Tonfall, auf den Sinclair absolut allergisch reagiert. »Schon ins Bett gebracht, oder ist sie mit ihren Kindergartenfreundinnen spielen?«
»Val«, murmele ich beschwichtigend und versuche ihn zur Seite zu schieben. Es ist die eine Sache, die mich wirklich nervt. Dass er und Sinclair ständig aneinandergeraten und diese unnötigen Machtspielchen treiben müssen.
Sinclair ballt die Hände zu Fäusten. »Schnauze, Ward!«
»Nicht so frech, okay?«, sagt Val und macht einen Schritt auf ihn zu. Er ist größer als Sinclair, und auch wenn ich nicht glaube, dass sie unreif genug sind, um sich wirklich zu prügeln, werde ich nervös.
»Ja? Sonst was?«, zischt Sinclair. »Wird dein beschissener Onkel davon hören? Schade, dass er nicht mehr hier unterrichtet.«
»Pass auf, was du sagst.«
»Val … Lass uns gehen.« Ich ziehe Valentine am Arm zurück, aber er schüttelt meine Hand ab.
»Weiß deine Mutter, dass du auf ihrem Neujahrsball trinkst?«, fragt er.
»Nein, aber sie wird sich freuen zu erfahren, woher der Alkohol kommt.«
»Fick dich, Sinclair«, knurrt Val. Ich atme leise auf, als er sich endlich mitziehen lässt. Es fühlt sich falsch an, mit ihm Richtung Eingang zu gehen und Sinclair und die anderen stehen zu lassen. »Sorry«, murmelt er, sobald wir außer Hörweite der anderen sind. »Ich weiß, das war unnötig und sie sind deine Freunde.«
Ich öffne den Mund, aber ich bin zu überrascht, um etwas zu sagen. Zumindest etwas Angemessenes. »Nicht schlimm.« Äh, doch? Ich finde es nicht in Ordnung, wie er mit meinen Freunden spricht. Aber anscheinend merkt Val das selbst. Und er wirkt wirklich schuldbewusst und vergräbt die Hände in den Hosentaschen.
»Das hier ist genauso bescheuert wie die lächerlichen Galas meiner Mutter«, sagt er und bleibt stehen. »Alle sind nur da, um gesehen zu werden.«
Ich nicke und denke an die Veranstaltungen von Veronica Ward, zu der meine Familie regelmäßig eingeladen ist. Die Villa von Vals Familie befindet sich eine knappe Dreiviertelstunde von meinem Elternhaus entfernt. Unsere Väter golfen zusammen, wenn sie nicht gerade als Begleitung unserer Mütter bei irgendwelchen Geschäftsessen erscheinen. Vals Mum ist ein großer Name in der Immobilienbranche, während meine Mutter als Galeristin die Upper Class mit Gemälden ausstattet, deren Wert mitunter in der Größenordnung netter Einfamilienhäuser liegt. Sie arbeiten häufig zusammen. Eine Hand wäscht die andere, könnte man sagen. Die Wahrheit ist jedoch, dass man in unseren Kreisen einfach gern unter sich bleibt.
Der Name Ward war mir schon als Kind ein Begriff. Valentine dürfte es mit Belhaven-Wynford nicht anders gehen. Es stand außer Frage, dass wir uns an der Dunbridge Academy wieder begegnen würden, schließlich ist das Internat die Anlaufstelle der britischen High Society, um ihren Sprösslingen Zugang zu erstklassiger Bildung zu ermöglichen. Böse Zungen behaupten, dass hier praktischerweise auch die Erziehung für sie erledigt wird, aber darüber kann ich nicht urteilen, schließlich kenne ich es nicht anders. Wäre ich eine Figur in einem meiner Romane, müsste ich dieses Leben in der elitären Blase wohl aus Prinzip verabscheuen, aber die Wahrheit ist, dass ich zu schätzen weiß, was Mum und Dad William und mir ermöglichen. Es wäre undankbar, das nicht anzuerkennen, auch wenn der Druck, den der gesellschaftliche Einfluss meiner Familie mit sich bringt, manchmal schwer auf meinen Schultern lastet. Neben meinem Bruder ist Val tatsächlich der Einzige, mit dem ich darüber reden kann. Meistens bin ich froh, dass meine Freunde damit nichts zu tun haben. Aus wohlhabenden Elternhäusern stammen sie zwar alle, doch die Lebensrealität meiner Familie ist ihnen trotzdem fern.
»Wir können auch gehen«, schlage ich vor. Meine leise Hoffnung verpufft, als Val den Kopf schüttelt. Wäre ja auch zu schön gewesen, endlich aus diesen High Heels zu kommen.
»Nein, schon gut«, meint er. »Außerdem siehst du zu heiß aus, um jetzt zu verschwinden. Die anderen sollen noch ein bisschen länger Grund haben, neidisch zu sein.«
Mir wird heiß. Die anderen … Also Sinclair. Wobei ich nicht glaube, dass mein bester Freund eifersüchtig auf Val wäre. Mir ist schließlich auch egal, dass Sinclair auf Eleanor aus der Zwölften steht. Völlig egal.
»Wie du möchtest«, sage ich.
Val lächelt, ein Anblick, den ich nicht oft zu sehen bekomme. Normalerweise ist sein Gesicht ähnlich hart wie der Ausdruck in seinen braunen Augen. Seine Knochenstruktur ist nicht von dieser Welt. Valentine Ward, Wangenknochen, Wangenknochen, Wangenknochen und eine klassische Nase, die ihn wie einen dieser stolzen griechischen Götter aussehen lässt. Er ist schon ziemlich attraktiv, vor allem wenn er wie jetzt einen perfekt sitzenden dunklen Anzug trägt, der seine Schultern betont, die auf die genau richtige Art und Weise breit sind. Valentine Ward ist groß, schlank und athletisch. So wie man sich den Rugbycaptain eines Eliteinternats eben vorstellt.
Er legt seine Hand an meinen unteren Rücken. »Ich habe gehört, ihr kommt nächstes Wochenende zu uns zum Essen«, sagt er, während wir hineingehen.
»Dann hast du mir etwas voraus«, erwidere ich. »Ich weiß von nichts.«
»Meine Mutter möchte, dass ich dabei bin. Ich dachte, du hättest vielleicht Lust, deine Eltern zu begleiten. Würde den Abend um einiges erträglicher machen.«
Ich zögere. Es ist nicht so, als wüssten meine Eltern nicht, dass Val und ich uns annähern, wie Mum es zu nennen pflegt. Aber es wäre das erste Mal, dass wir als Paar vor ihnen auftreten. Falls wir das überhaupt sind. Ein Paar … Ich habe keinen blassen Schimmer, aber ich möchte auch nichts überstürzen. Wir gehen gemeinsam auf den Neujahrsball, und das kann alles und nichts bedeuten. Als Val mich vor den Weihnachtsferien gefragt hat, ob ich seine Begleitung sein möchte, galt mein erster Gedanke Sinclair. Erst dann konnte ich mich freuen. Val hat sich wirklich Mühe gegeben. Er ist mit mir durch Ebrington Tales geschlendert, obwohl ich weiß, dass er Bücher sterbenslangweilig findet, bevor wir im Blue Room Café heiße Schokolade getrunken haben und er mich schließlich gefragt hat. Es war absolut richtig, Ja zu sagen, auch wenn ich danach die halbe Nacht wach lag und mir das Gesicht meines besten Freundes vorstellen musste, wenn er davon erfahren würde.
»Ich rede mal mit ihnen«, sage ich rasch. »Kommt Pippa auch?«
Vals Miene verhärtet sich, während er den Kopf schüttelt. Es ist immer kritisch, seine Schwester zur Sprache zu bringen. Philippa Ward hat vor vier Jahren den Abschluss an der Dunbridge Academy gemacht, ehe sie mit drei Stipendien ihr Jurastudium in Oxford aufgenommen hat. Sie ist die absolute Überfliegerin und der ganze Stolz der Wards. Nicht dass Valentines Eltern auf ihn nicht auch stolz wären, aber sie sind sehr auf die schulischen Leistungen ihrer Kinder fokussiert. Und Val glänzt nicht gerade im Unterricht. Seit sein Onkel nicht mehr am Internat unterrichtet, scheint es sogar noch enger für ihn zu werden.
»Nein, sie hat Prüfungen«, entgegnet er knapp und zieht die Hand zurück. Großartig. Es ist jedes Mal ein spitzer Stich in die Brust, wenn er so abblockt, anstatt seine Gefühle zu zeigen. Ich rede mir ein, dass er es nie gelernt hat. Veronica und August Ward sind keine kalten Menschen, aber ich habe sie auch nicht gerade für ihre überschwängliche Herzlichkeit im Gedächtnis.
»Warte«, sagt Val und schaut kurz zu beiden Seiten, dann geht er entschlossenen Schrittes zur Garderobe, die sich seitlich im Foyer befindet. In einer relativ uneinsehbaren Ecke entdecke ich Cilian, der sich gerade über einen Tisch beugt. Mir wird kalt, als ich begreife, was sie hier machen.
Ich habe es immer für ein Gerücht gehalten, dass die Abschlussklässler heimlich koksen, aber anscheinend war das naiv von mir. Ich bleibe stehen, während Val auf die anderen zugeht. Ein paar Achtklässler kommen aus dem Saal und werfen uns skeptische Blicke zu. Hoffentlich sieht uns keiner der Lehrer. Ich beiße mir leicht auf die Unterlippe, während ich mich umsehe.
»Tori.« Vals Stimme klingt fragend. Als ich mich zu ihm drehe, zieht er auffordernd die Augenbrauen nach oben.
Ich schüttele rasch den Kopf. »Nein danke.«
Danke … Bescheuerter geht’s nicht.
»Ach komm schon.« Cilian schaut auf.
»Ich möchte nicht«, sage ich mit der festesten Stimme, zu der ich gerade fähig bin.
»Du bist eine Belhaven-Wynford, machen wir uns nichts vor. Der Schnee gehört bei euch doch zum guten Ton.«
»Lass gut sein«, springt mir Val zu meiner Überraschung bei. In seiner Stimme liegt etwas Bedrohliches, das Cilian sofort verstummen lässt. Dieser wirft mir einen abschätzigen Blick zu, bevor er sich wegdreht.
»Sorry«, sagt Val in meine Richtung. »Ich mache das normalerweise nicht, aber die letzten Wochen waren echt beschissen.«
Ich nicke nur in die seltsame Stille, die plötzlich herrscht, während Val sich über den Tisch beugt und einen Finger an seine Nase legt. Es wirkt nicht gerade so, als täte er das hier zum ersten Mal. Und es gefällt mir nicht. Es gefällt mir überhaupt nicht. Ich finde es schon schlimm genug, dass alle trinken, aber vielleicht bin ich auch zu empfindlich. Irgendwie kann ich Val sogar verstehen. Seit sein Onkel die Dunbridge Academy verlassen musste, hat er es nicht gerade leicht. In weniger als acht Wochen beginnen die Abiturprüfungen der Zwölftklässler, und na ja, er hat womöglich auf seine Unterstützung gesetzt. Ich bin selbst alles andere als eine Streberin, aber meine Noten sind einigermaßen solide. Als ich Val letztens angeboten habe, dass wir zusammen lernen könnten, hat er das ein bisschen in den falschen Hals bekommen. Wir haben gestritten, er hat den Nachmittag mit diversen Langhanteln und dem Rudergerät im Fitnessraum des Internats verbracht, und ich habe beschlossen, mich nicht mehr einzumischen.
Val richtet sich wieder auf. Er fährt sich mit dem Handrücken über die Nase, legt den Kopf für einen Moment in den Nacken. Seine Nasenflügel beben, während er die Luft einzieht.
»Alles okay?«, frage ich leise, als er anschließend seinen Arm um meine Schultern legt.
Er nickt, ohne mich anzusehen. »Willst du tanzen?«
Ich zögere, denn wenn ich ehrlich bin, würde ich am liebsten zu Sinclair, Emma und den anderen. Es ist der erste Neujahrsball, den ich nicht mit meinen besten Freunden verbringe. Aber es ist auch der erste, bei dem ich ein echtes Date habe. Es ist das, was ich wollte. Ich zwinge mich zu einem Lächeln.
»Gerne.«
Val trinkt aus der Ginflasche, die Cilian ihm reicht, und mein Magen zieht sich etwas zusammen. Ich schüttele den Kopf, als Val sie mir hinhält.
»Vielleicht später.«
Lüge.
Val sagt nichts, aber er verdreht die Augen, während er die Flasche erneut an seine Lippen führt. Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet.
Laute Musik empfängt uns, als wir durch die großen Flügeltüren in den Ballsaal treten. Ich erkenne den Song bereits an den ersten Takten. »Thinking Bout You« von Ariana Grande. Die Tanzfläche ist voll, Pailletten und die Kristallleuchter glitzern im Licht. Mein Magen macht einen kleinen Hüpfer, als Val mir den Arm reicht, während wir die wenigen Stufen der breiten Steintreppe vom Eingang hinabgehen. Als ich kurz zu ihm schaue, sieht er wieder versöhnlicher aus. Das Licht fällt auf sein Gesicht, wirft Schatten über seine scharfen Züge. Ich bin mit Valentine Ward auf dem Neujahrsball. Es ist wirklich wahr.
Und alle sehen zu. Ich spüre die Blicke auf mir, als wir unten ankommen. Val nimmt seinen Arm nicht weg. Er führt mich in die Mitte des Saals, vorbei an den Leuten, die sich am Rand der Tanzfläche an den Stehtischen unterhalten. Mittelstufenschülerinnen und -schüler, die sich gegenseitig anstoßen und verstohlen auf uns deuten.
Es fühlt sich ein bisschen an wie ein Traum, als Val sich zu mir dreht und die Hand an meinem Rücken platziert. Ich spüre seine Muskeln, als ich seinen Oberarm greife. Es ist nur ein winziger Moment, doch ich denke plötzlich an Sinclair und den Tanzkurs in der Achten. Als der Bizeps meines besten Freundes überraschend hart war und ich ihn irgendwie nicht anfassen konnte, ohne dieses flaue Gefühl im Magen zu bekommen. Wie Mr Acevedo uns fast vor die Tür geschickt hätte, weil wir in jeder Stunde nur hysterisch gelacht und die Schritte falsch ausgeführt haben. Es trifft mich wie ein Stromschlag, als ich über Vals Schulter hinweg zum Eingang hinaufschaue. Direkt in Sinclairs ausdrucksloses Gesicht. Er lehnt oben am Geländer neben der Flügeltür. Emma und Henry sind dazu übergegangen, hemmungslos rumzuknutschen, Gideon steht neben ihm, seine Lippen bewegen sich. Aber Sinclair gibt sich nicht einmal Mühe, so zu tun, als hörte er zu. Er schaut nach unten. Zu Val und mir, und sein Blick gräbt sich auf direktem Weg in meine Seele.
»Hey, hier spielt die Musik.«
Ich drehe den Kopf zurück zu Val. Sein Lächeln passt nicht zu seiner scharfen Stimme. Hat er Sinclair und die anderen bemerkt, oder war das gerade nur witzig gemeint? Ich suche in seinem Gesicht nach Anzeichen dafür, dass er verärgert ist, finde aber keine.
»Sorry.« Ich lächle.
Val zieht mich etwas näher. »Hast du Spaß?«, fragt er.
Ich nicke, es ist ein Reflex. »Ja, sehr.«
»Ach, Tori …« Er seufzt kopfschüttelnd, während wir uns im Takt der Musik bewegen. »Was mache ich falsch?«
»Wieso?«, entgegne ich sofort. »Es ist großartig, ehrlich.«
»Willst du lieber zu deinen kleinen Freunden?«
Ist das wirklich so offensichtlich? Ich muss mir mehr Mühe geben.
»Nein. Ich bin mit dir hier.«
»Das bist du«, sagt Val. Auf einmal sieht er mir in die Augen. Nicht nur kurz, beiläufig, es ist ein richtig tiefer Blick, der mich von innen heraus lähmt. Küssen wir uns jetzt? In den Romanen und Filmen wäre es nun an der Zeit dafür. Tanzfläche, eng umschlungen. Vorbeugen, Augen schließen. Hilfe.
Ich weiß nicht, ob Val meine Panik spürt. Er weicht etwas zurück, hebt den Arm, ich drehe mich. Als er mich anschließend wieder zu sich zieht, spüre ich seine Hand weiter unten als noch gerade eben. Ein nervöses Kribbeln fließt durch meinen Körper. Von meinem Scheitel bis zu den Zehenspitzen. Es ist fast so, als würde ich jede seiner Berührungen überdeutlich wahrnehmen. Das Lied endet, und natürlich ist es wie in all diesen schlechten Highschool-Filmen. Eine langsame Nummer beginnt. Val legt beide Hände an meinen Po und drückt mich an seinen Körper.
»Vorsicht, mein Freund.«
Keine Ahnung, wo sie plötzlich herkommt, doch bevor ich verstehe, was geschieht, rückt Eleanor Attenborough Vals Hände an meinem unteren Rücken zurecht. Und mit zurecht meine ich deutlich nach oben.
»Du hältst dich doch für einen Gentleman, nicht wahr?« Sie wirft ihm einen Kuss zu, als er empört den Mund öffnet. Ihr Blick streift mich, sie mustert mich kurz. Es ist kein einschüchternder Blick, eher ein aufmerksamer. Ein Ist es okay für dich, was hier gerade passiert?-Blick.
Sie dreht sich erst weg, als ich unsicher lächle, und verschwindet in der Menge.
»Alter, Eleanor«, murmelt Val, bevor er sie nachäfft. »Vorsicht, mein Freund … Scheiße, ist sie eifersüchtig, oder was?«
Ich bleibe stumm. Möglich, dass Val das anders sieht, aber auf mich wirkt es nicht gerade so, als traure Eleanor ihm nach. Wie lange waren die beiden überhaupt zusammen? Höchstens zwei Monate – selbstverständlich lange genug, dass jeder an der Dunbridge Academy darüber gesprochen hat. So ist das hier nun mal.
»Wenn du mich fragst, hat die sie nicht mehr alle.« Ich kann nicht reagieren, so schnell nimmt Val meine Hand und zieht mich mit sich. »Wie auch immer, lass uns abhauen.«
Mein Bauchgefühl sagt mir, dass es keine gute Idee ist, ihm zu widersprechen, also folge ich ihm. Val wirkt heute irgendwie etwas sprunghaft. Gerade wollte er schließlich tanzen und noch nicht gehen. Liegt das am Kokain? Dann sollte er jetzt erst recht nicht allein sein, oder?
Sinclair, Gideon, Emma und Henry sind verschwunden, als wir die Stufen zur Tür hinaufgehen. Vals Freunde im Foyer ebenfalls. Er schaut mich nicht an, sondern zieht sein Handy aus der Tasche, während wir nach draußen gehen.
»Die sind garantiert hinter der Turnhalle«, murmelt er und zögert. »Ist dir kalt?«
Mein Magen hüpft, als er tatsächlich sein Jackett auszieht und es mir reicht. Geht doch. Das ist mein erster Gedanke. Der zweite: Oh mein Gott, Valentine Ward bietet mir seine Jacke an. Sie ist mir natürlich zu groß, und ich liebe es.
»Wollen wir zu den anderen?«, fragt er.
Ich nicke. »Klar.«
»Oder willst du jetzt doch lieber zu deinen Freunden?«
Er fragt es ohne diesen Vorwurf in der Stimme, aber sein Blick ist schwer von Erwartungen, als er mich ansieht. Es gibt nur eine richtige Antwort, das weiß ich.
»Nein.« Ich schüttele den Kopf. Zumal ich auch gar nicht weiß, wo sie nun sind. »Lass uns gehen.«
Val lächelt dieses Lächeln, bei dem sich nur ein Mundwinkel hebt. Es ist so attraktiv.
»Ich wusste, dass du dich richtig entscheidest«, sagt er. Wir gehen um die Ecke, und er drückt mich gegen eine Wand, in seinem Jackett und der Dunkelheit. Mein Herz explodiert. »Victoria Belhaven-Wynford, du bist zu cool für deine Elftklässler-Freunde, hat dir das schon mal jemand gesagt?«
»Du bist der Erste.«
Val schmunzelt. »Bin ich das?«
Und dann küsst er mich.
Es ist eine einzige fließende Bewegung, und ich habe sie nicht kommen sehen. Ich spüre die Kälte der Wand durch sein Jackett und meinen pulsierenden Herzschlag, direkt an Vals Lippen.
Atme durch die Nase. Schließ die Augen. So steht es in all den Romanen. Gott, sogar die Frauen in den Büchern, die das zum ersten Mal machen, kriegen es hin. Sie haben es im Blut. Und das hier ist nicht mal mein erster Kuss. Okay, es ist der erste richtige, aber wenn ich die Augen zumache, ist da Sinclair auf dieser Fensterbank, und die blonden Haare fallen ihm vor die Augen, während wir gleichzeitig zurückweichen.
Val umfasst meinen Kopf und zieht mich näher. Er fragt nicht, ob das hier in Ordnung ist. Er nimmt mich in Besitz, als wäre es die einzig überlebenswichtige Aufgabe einer Frau, in Besitz genommen zu werden. Bücher haben mir beigebracht, dass das romantisch ist, aber gerade fühlt es sich irgendwie eher bedrohlich an. Wie eine Aufforderung zu etwas, für das ich eventuell gar nicht bereit bin.
Ich weiche nicht zurück, weil ich dazu keine Möglichkeit habe. Und weil ein Teil von mir genießt, was gerade passiert. Mein Magen kribbelt, meine Knie sind weich.
Ich zucke zusammen, als Leute näher kommen. Val schenkt ihnen keine Beachtung. Er schiebt sein Bein zwischen meine Knie, und mein Körper reagiert. Nervöses Pochen. Ich küsse ihn.
Und mein bester Freund sieht dabei zu.
Es ist ein leerer Blick aus Sinclairs Augen, und er schießt eiskalt auf direktem Weg in meinen Bauch. Ein Sekundenbruchteil vergeht, dann dreht er sich weg. Der unterdrückte Laut, der mir entfährt, lässt Val aufhören.
Seine Lippen glänzen, seine Pupillen sind weit, als er zurückweicht. Er macht mir auf eine erregende Art und Weise Angst.
»Bin ich der Erste?«, wiederholt er.
Ich weiß nicht, was er hören will. Würde es ihm gefallen, wenn es so wäre? Der Kuss mit Sinclair damals in der Siebten zählt genau genommen nicht. Er war nur Spaß. Ich nicke. Mein Mund ist trocken.