DHONIELLE CLAYTON

Das gefährliche erste Jahr

Aus dem amerikanischen Englisch
von Doris Attwood

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© 2022 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »The Marvellers« bei Henry Holt and Company

Text © 2022 Dhonielle Clayton, Published by Arrangement with CHICKENLITTLE DHONIELLE LLC.

Übersetzung: Doris Attwood

Umschlagillustration und -gestaltung: Nele Schütz Design/Sonja Gebhardt unter Verwendung von Shutterstock.com (Gleb Guralnyk, rtquest, Arzu Husegnova, ekosuwandono, Victoria Bat, archivector) und Sonja Gebhardt

Karten copyright © 2022 ChickenLittle Dhonielle LLC.

Illustration des »Gesucht«-Posters © Svetla Radivoeva

Innenillustrationen © Liz Dresner und Trisha Previte

ah · Herstellung: bo

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-28582-1
V002

www.cbj-verlag.de

Für all diejenigen, die in magischen Geschichten fehlen und die schon geglaubt haben,

an ihnen sei überhaupt nichts Marvelhaftes

und

für Jason Reynolds, der Drachen hasst.
Fragt ihn gerne, warum!

Die Paragone

Arkanum-Trainingsinstitut für marvelhaftes und mysteriöses Streben

Unterschule

Wunderprächtige Grüße und ein herzliches Willkommen,

wir freuen uns sehr, dir mitteilen zu dürfen, dass du am Arkanum-Trainingsinstitut für marvelhaftes und mysteriöses Streben angenommen wurdest, zu dem nur Marvelhafte Zugang erhalten. Es ist eine Ehre, von der Arkanum-Direktion auserwählt zu werden, und diese Einladung bedeutet, dass du bewiesen hast, alle Voraussetzungen zu erfüllen, dich uns anschließen zu dürfen. Doch nur durch konstant gute Leistungen kannst du die nötigen Grade erlangen, um auch dauerhaft bleiben zu können.

Sobald deine Sternenpost in der Sternstation eintrifft, bekommst du eine Nachricht mit den Koordinaten des Sternenstaub-Piers, von dem die Lehrlinge der Jahrgangsstufe eins zum diesjährigen Standort des Arkanums aufbrechen.

Alles Licht für dich und die Deinen! Frohes Marveln!

Laura Ruby

Erste Assistentin von Großmeister MacDonald und Großmeisterin Rivera, Unterschule

PS: Für Simple verboten! Wenn du diesen Brief einem Nicht-Marveller zeigst, zerfällt er zu Staub – also versuch es erst gar nicht. Sonst wirst du es bereuen.

TEIL I
EINE GANZ
NEUE WELT

KAPITEL 1
Die Glückswurzel

Marvelhaft.

So nannte man die glücklichen Kinder. Ein Lob wie auf warme Brötchen geträufelter Honig. Aber in Ellas Familie hielt man nichts davon, jemanden für Kleinigkeiten zu überhöhen. Hast du deine Kleider gebügelt? Dein Bett gemacht? Den Tisch abgeräumt? Und am allerwichtigsten: Kümmerst du dich um deine eigenen Angelegenheiten, damit sich niemand um dich kümmern muss?

Und sogar jetzt, bei der großartigsten … der fantastischsten … der spektakulärsten Sache, die in den bislang elf Jahren von Ella Durands Leben jemals passiert war, kabbelten sich ihre Eltern ununterbrochen und sagten ihr, was sie tun sollte.

»Hast du alles auf Kleiderbügel gehängt? Granny hat deine Mäntel selbst gebügelt, nachdem das alte Bügeleisen den Geist aufgegeben hat«, sagte Mama. »Ich will keine einzige Falte darin sehen.«

Drei Juju-Truhen schwebten mitten im Wohnzimmer der Durands, gefüllt mit Ellas ordentlich zusammengelegter und fein säuberlich gepackter Kleidung. Sie würden jeder Inspektion standhalten. Ihr seidenes Innenfutter glühte warm, als sich eine Glücksbeschwörung in Ellas Sachen flocht.

»Ja, Mama«, erwiderte sie genervt.

»Hast du den Fabulier-Anhänger?«, fragte Papa.

»Ja, Papa.« Ella fasste sich an die Brust, wo das kunstvoll geschliffene Medaillon mit den Gesichtern ihrer Eltern unter ihrer Bluse ruhte.

»Und die Flechthände?«

Ella deutete auf den Kosmetikkoffer, in dem sich eine Wachsnachbildung der Hände ihrer Mutter befand. »Natürlich.«

Mama zog an einer von Ellas langen Twists. »Ich werde nicht zulassen, dass meine Kleine so weit von zu Hause weg ist und ihr Kopf wie ein Vogelnest aussieht. Ich habe deine Lieblingsfrisuren in die Hände beschworen. Weißt du noch, wie du sie benutzt? Erinnerst du dich an das Wecklied?«

»Ja …«

»Aubrielle, mein Schatz, sie hat alles, was sie braucht.« Papa lugte hinter seiner Zeitung, dem Fabulier-Kurier, hervor. Er tippte sich an den schwarzen Zylinder, und die winzigen Schädelimitationen rund um die Krempe lächelten Ella an. »Wir sollten aufbrechen.«

Mama seufzte. »Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob das wirklich eine so gute Idee ist, Sebastien.«

Damit löste sie den ungefähr achtzigmillionsten Streit der beiden über Ellas Schulwechsel an das Arkanum-Trainingsinstitut für marvelhaftes und mysteriöses Streben aus.

Ella steckte sich die Finger in die Ohren. Sie stritten sich deswegen schon den ganzen Sommer. Mama und Granny wollten, dass sie zu Hause blieb und weiter Madame Collettes Fabulierschule besuchte. Praktisch die ganze Gemeinde hatte eine Meinung dazu, ob sie gehen oder bleiben sollte. Aber Papa war der Ansicht, dass es Zeit für ein neues Abenteuer war, und Ella war mehr als bereit, sich kopfüber darauf einzulassen.

Mama und Papa verstummten urplötzlich, als Grannys Hahnen-Gefährte Paon mit einem lauten Krähen von der Veranda ins Wohnzimmer stolzierte.

»Hört ihr endlich auf mit dem Geschrei?«, brüllte Granny durchs Fenster herein. »Ihr ruiniert mir den Sonnenuntergang. Die zweite Garde ist schon laut genug! Sie übertreiben es dieses Jahr wirklich mit der Parade.«

Ella versteckte ihr Grinsen. »Können wir die Truhen jetzt ins Auto laden?«

»Ich komme auch mit! Ich komme auch mit! Ich komme auch mit!« Ellas jüngere Schwester Winnie stürmte ins Wohnzimmer. Ihre eigene winzige Juju-Truhe schwebte hinter ihr her und platzte vor Spielsachen beinahe aus allen Nähten.

Ella bedachte sie mit einem strengen Blick. »Das haben wir doch schon mindestens tausend Mal durchgekaut. Du bist zu klein.«

»Na schön, aber kann ich wenigstens deinen Brief noch mal sehen?« Winnie blickte flehend zu ihr auf.

»Nur, wenn du ihn mir vorliest.«

»Aber ich mag Lesen nicht«, jammerte Winnie.

»Dann darfst du ihn auch nicht sehen.«

»Ich will ihn mir nur kurz angucken.« Winnie schmollte.

»Abgemacht ist abgemacht.«

»Na gut!« Sie stampfte mit ihrem winzigen Fuß auf. »Na gut!«

Ella gab ihrer Schwester mit einem Seufzen den Brief. Winnie schnappte nach dem nachtschwarzen Umschlag, als wäre er ein Kolibrikuchen, bei dem ihr so sehr das Wasser im Munde zusammenlief, dass sie ihn am liebsten mit einem Happs verschlingen würde. Sie kippte den Umschlag nach links und rechts, damit er glitzerte, und quietschte vor Begeisterung, als die fünf Symbole darauf leuchteten: Das Auge zwinkerte, der Mund lächelte und streckte die Zunge heraus, das Ohr wackelte, die winzige Hand winkte und das kleine Herz pulsierte. Diese Details gefielen auch Ella am besten.

Die fünf Paragone des Marvelns.

Sie konnte es kaum erwarten, zu erfahren, was an ihr marvelhaft war, und dann anhand ihrer Talente einer der fünf Gruppen zugeteilt zu werden.

Winnie schob einen Finger unter das Sternenstaub-Siegel, zog den Brief heraus und begann zu lesen.

Ella würde sich nie daran gewöhnen, wie unglaublich die Worte klangen – die Worte ihrer ganz persönlichen Einladung. Ihrer ganz persönlichen Chance, eine Marvellerin zu werden.

»Wie bekommt man eigentlich ein Marvel?«, wollte Winnie wissen.

»Du wirst damit geboren. Du bekommst es von deiner Familie oder deiner Gemeinde.«

Papa räusperte sich. »Ich kenne viele Marveller, die sich ihr Marvel auch selbst ausgesucht haben.«

Ella wirbelte herum. »Davon hab ich nirgends gelesen!«

»Du musst noch viel lernen, mein Kleines.« Papa widmete sich wieder der Zeitung.

»Und was wird mein Marvel sein?« Das war Ella den ganzen Sommer nicht aus dem Kopf gegangen.

»Ein Fabulier-Marvel natürlich«, antwortete Mama, als stellte sich diese Frage überhaupt nicht.

»Im Umschlag sind auch Gutscheine drin, hast du gesehen? Sie bewegen sich und die Zahlen verändern sich ständig. Auf dem hier steht, dass dieser Laden die billigsten Wettergläser anbietet – WARTE! Nein, jetzt ist es der hier!« Winnies Augen weiteten sich vor Begeisterung.

Auch Ella staunte über die zappelnden Gutscheine. Sandhyas Sensationeller Schnickschnack-Shop pries gerade die günstigsten Astrolabien an, woraufhin die Preise von Woodfolks Wunderbare Waren wütend flackerten.

»Ich will auch mit«, jammerte Winnie. »Und ich will auch ein Marvel. Vielleicht kann ich ja mit Meermenschen sprechen!«

Ella riss ihrer Schwester die Einladung wieder aus der Hand. »Mach mir nicht alles kaputt, okay?«

Papa warf Ella einen scharfen Blick zu und nahm Winnie auf den Arm, als wäre sie so leicht wie eine Kugel Schokoladeneis. »In nur fünf Jahren packen wir auch deine Sachen, Grille. Sobald du elf bist.«

»Wenn alles gut läuft«, murmelte Mama leise, aber Ella beschloss, es zu ignorieren.

Natürlich würde alles gut laufen. Besser als gut. Spektakulär, um genau zu sein. Absolut marvelhaft!

Winnie schniefte und drückte das Gesicht an Papas Brust. Greno, seine Ochsenfrosch-Gefährtin, quakte laut, kletterte aus seiner Hemdtasche und verfing sich in seinen langen Locs, während Mamas dicklicher Alligator Gumbo ins Zimmer getrottet kam und in Ellas offenen Juju-Truhen herumschnüffelte, als wäre er das Einzige, was darin noch fehlte.

»Ist die Schule wirklich im Himmel? Wie kann sie denn schweben? Ist sie nicht viel zu schwer?«, fragte Winnie. »Und wie sind die Marvellischen so? Können wir uns das mal anschauen?«

»Das wirst du schon sehen, mein Schatz«, versuchte Papa, sie zu beruhigen. »Das wirst du schon sehen.«

Ella warf einen Blick auf ihren Beutel, der vor all den Büchern und Manuskripten überquoll, die sie in diesem Sommer in der Grioterie gelesen hatte. Sie hatte unzähligen Geschichten gelauscht und die Griots endlos damit genervt, ihr alles zu erzählen, was sie über die Marveller und ihr Arkanum-Trainingsinstitut wussten. Mama und Papa hatten kaum etwas mit den Marvellern zu tun, deshalb wusste auch Ella nicht so viel, wie sie gerne wissen würde.

»Fabulieren ist nicht marveln, das ist sicher«, rief Granny mit einem Lachen von der Veranda. »Und so hoch oben im Himmel zu wohnen, kann nicht natürlich sein.«

Ella schloss die Augen und ließ ihrer Fantasie freien Lauf. Sie hatte oft davon geträumt, wie es am Arkanum wohl sein würde. Doch genauso, wie es alljährlich seinen Standort wechselte – auch das hatte sie gelesen –, sah es auch in keinem Jahr wieder so aus wie in dem zuvor. In alten Broschüren erinnerte es manchmal an ein Kunstmuseum, manchmal an ein Grandhotel und hin und wieder an ein Ferienlager. Aber meistens schien es ein Internat zu sein. Ella hatte keine Ahnung, was sie bei der Ankunft erwartete.

Ihre Eltern hatten ihr so viel über das Arkanum erzählt, wie sie konnten, obwohl sie selbst nie dort gewesen waren. Kein Fabulierer war jemals zuvor ein Marveller gewesen.

Ella würde die Erste sein.

Marveller kamen mit einem Marvel zur Welt – einem Licht in ihrem Inneren, das sie magische Meisterleistungen vollbringen ließ. Sie lebten über allen anderen, hoch oben im Himmel, weit entfernt von den magielosen Simplen … und den Fabulierern.

Marveller waren ganz eindeutig anders als Fabulierer, die mit einem starken Zwielicht in sich geboren wurden, das es ihnen ermöglichte, Beschwörungen zu wirken und sich um die Verstorbenen in der Dunkelwelt zu kümmern.

Ella würde die erste Fabuliererin sein, die das Arkanum jemals besuchte – und, falls sie die Prüfungen bestand, auch die erste, die in die marvellische Gemeinschaft aufgenommen werden würde. Ganz offiziell. Damit würde sie ihre Familie sehr stolz machen. Vor allem Papa.

Ellas Herz schlug so wild, als wäre ein Glühwürmchen in ihrer Brust gefangen. Sie war bereit.

Mama warf einen letzten Blick in Ellas Juju-Truhen. Sie nickte zustimmend und ihr Gesichtsausdruck wurde weicher. Ella wischte mit einer Hand über die Schnallen, und die Deckel klappten zu. Sie summte die Versiegelungsbeschwörung, die Mama ihr beigebracht hatte, damit alles sicher verstaut war.

»Ab mit euch in den roten Wagen«, wies Ella das Gepäck dann an.

Die Truhen schlugen Funken und sausten in den hinteren Teil des Hauses.

Granny humpelte von der Veranda herein. »Drück mich noch mal, bevor du gehst.«

Ella warf sich in die Arme ihrer Großmutter, schmiegte sich ganz fest an ihren weichen, runden Bauch und atmete so viel von ihrem Duft ein, wie sie nur konnte: ein Hauch von Honig, ein bisschen Lavendel und ein wenig Butter.

»Vergiss nicht, dass du von einem mächtigen Baum abstammst.« Granny schob die Ärmel nach oben und enthüllte die Fabulierzeichnung auf ihrer braunen Haut.

Ein kunstvolles Gewirr aus Wurzeln und sich windenden Blumen erstreckte sich in erhabenen Tintenlinien über Grannys Körper, genau wie bei Mama. Im Laufe der Jahre war es immer komplexer geworden und hatte sich über den ganzen Rücken, die Arme und Beine ausgebreitet. Ella liebte es, mit den Fingern darüberzufahren, wenn Granny ihr manchmal erlaubte, Öl in ihre Kopfhaut zu massieren. Es faszinierte sie, dass sich die Zeichnung noch immer veränderte – eine Knospe hier, eine neue Blüte dort, jedes Mal, wenn ihre Großmutter ihr Können anwandte. Sowohl sie als auch Ellas Mama zierte eine Landkarte ihrer besonderen Talente und Fähigkeiten.

Fabulieren hinterließ eben Spuren.

Granny küsste ihren Zeigefinger und legte ihn auf den winzigen Fleck in Form einer Kidneybohne in Ellas Nacken, der für die meisten wie ein Muttermal oder eine missglückte, leicht geschwollene Tätowierung aussehen musste. Er war erschienen, als Ella begonnen hatte, mit ihrer Großmutter in der Fabulierapotheke zu arbeiten. Granny hatte ihr beigebracht, dass Tollkirschen Komplimente liebten, dass man für Ausflüge in die Dunkelwelt Pennys in den Schuhen brauchte und dass man Fabulierkessel am besten mit Zwielicht-Sternenstaub würzte. Lange Zeit hatte der Fleck immer gleich ausgesehen, bis er sich schließlich wie eine Knospe geöffnet hatte. Seither wuchs eine dünne Linie, die an einen Bleistiftstrich erinnerte, aus dem Mal. Ellas erste Zeichnung als Fabuliererin begann genauso, wie die ihrer Mutter, ihrer Großmutter und ihrer Urgroßmutter vor ihr: voll freudiger Erwartung auf die künftigen Fabulierwerke.

»Sie hat sich noch weiter ausgebreitet. Jetzt werde ich gar nicht sehen, wie sie wächst. Aber du schreibst mir doch?«

»Ja, ganz bestimmt.«

»Und erzählst mir alles?«

»Natürlich.«

»Und du spazierst mir nicht durch diese Städte. Es ist nicht natürlich, da oben zu sein. Böse Dinge geschehen …«

»Ich weiß, Granny.« Ella hatte die Geschichte von der Zwillingsschwester ihrer Mutter bereits unzählige Male gehört: Sie war beim ersten und einzigen Ausflug der Familie in eine marvellische Stadt verschwunden. Und tatsächlich war sie nur eine von vielen Fabulierern, die nie von einer Reise in den Himmel zurückgekehrt waren. Aber das würde Ella nicht passieren. »Ich verspreche dir, dass ich gut auf mich aufpasse.«

Granny gab ihr einen Kuss auf die Stirn und half ihr, den strahlend weißen Mantel anzuziehen. »Mach uns stolz, hörst du?«

Das würde Ella ganz bestimmt.

»Lass dir nichts von ihnen gefallen«, fügte ihre Großmutter hinzu.

Ella zwinkerte ihr zu. »Niemals.«

»Bist du bereit?«, fragte Papa.

Ella blickte sich noch ein letztes Mal um. Fabulierkessel brodelten auf dem Herd, auf dem Familienaltar flackerten hohe Kerzen und erleuchteten die Porträts ihrer lächelnden Vorfahren. Im Sternenzwielicht erstrahlende Glasgefäße standen in den Regalen. Der Garten zog sich an der Hauswand entlang, und Ella hatte das Gefühl, als wäre auch er näher gekommen, um sich von ihr zu verabschieden. »Bis bald«, flüsterte sie und rannte hinaus.

Sie hüpfte unter einer mächtigen Lebenseiche hindurch, die in der Mitte des Vorgartens aufragte, ihre uralten Äste ein Dach aus Windspielen, blauen Glasflaschen und schillernden Kugeln. Ella blickte an dem Baum empor und flüsterte auch ihm einen Abschiedsgruß zu. Der Baum schüttelte sich.

»Beeil dich, Ella«, rief Mama. »Es zieht ein Sturm auf.«

Papas roter Wagen stand auf dem Kutschplatz. Sie stiegen ein und das Fabuliersymbol am Eingangstor leuchtete auf, als es sich öffnete. Ella hielt den Atem an. Jetzt ging es los.

Papa lenkte den Wagen durch die Straßen von New Orleans. Simple eilten hierhin und dorthin, ohne einmal aufzusehen, und bemerkten daher nicht, wie immer mehr Fabulierfamilien die Fenster öffneten und singend bunte Regenschirme an den Stadthimmel beschworen, um den Regen abzuhalten. Ihr Trampeln und Klatschen dröhnte durch den grollenden Donner. Ein Chor aus Stimmen drang in den Wagen: »Sturm zieh vorüber. Störe ihre Reise nicht. Zieh vorüber!«

Granny sagte oft: »Fabulieren ist wie ein Lied, dessen Melodie und Rhythmus nur wir hören und fühlen können.«

Der Wagen rollte langsam unter dem farbenfrohen Dach hindurch. Ella erkannte Kerzen in den Fenstern einiger Häuser und sah schwarz, rot und grün geschmückte Veranden, die zeigten, dass die Bewohner ihre Entscheidung unterstützten, das Arkanum-Trainingsinstitut zu besuchen. Viele aus der Gemeinde trugen ihre besten Sonntagskleider und warfen Ella Fabulierrosen zu – wunderschöne schwarze Blumen mit roten Sprenkeln, die jeder Fabulierer stets im Haus hatte, weil sie Glück brachten.

Die Blütenblätter regneten auf sie herab, und Ellas Herz schwoll an von all den guten Wünschen, die durch die Wagenfenster zu ihr drangen.

»Viel Glück, Ella!«

»Wir beten für dich und deinen Erfolg.«

»Pass auf dich auf.«

Manche von ihnen verneigten sich und lüfteten ihre Hüte.

»Die Duvernays haben gar keine Kerze ins Fenster gestellt«, bemerkte Winnie. »Und die Beauvais auch nicht.«

»Sei still«, sagte Mama. »Kümmere dich nicht darum.«

Ella war viel zu aufgeregt, um sie zu fragen, was das zu bedeuten hatte.

Kurz darauf lenkte Papa den Wagen auf dem Congo Square an den roten Toren der Dunkelwelt vorbei, wo die mächtigen Todesdoggen thronten und über jene wachten, die das Land der Verstorbenen betreten wollten. Ella warf ihnen eine Kusshand zu, und die beiden Hunde nickten ihr mit ihren riesigen Köpfen zu.

»Wirst du sie vermissen?«, fragte Winnie.

»Ich glaube nicht. Na ja, zumindest nicht für eine Weile.« Ella freute sich nun schon so lange darauf, ihr Zuhause zu verlassen, dass sie sich überhaupt nicht vorstellen konnte, Heimweh zu haben.

»Wirst du mich vermissen?« Winnies Augen weiteten sich.

Ella kitzelte sie durch, bis Papa vor dem Haus ihrer besten Freundin anhielt. Reagan Marsalis’ komplette Familie stand dort auf dem Rasen in dem kleinen Vorgarten, um Ella zu verabschieden. Mr Marsalis nahm den Zylinder ab, und seine Frau blies ihr einen Kuss zu. Ella grinste so breit, dass ihr das Gesicht wehtat.

Reagan kam zum Wagen gerannt, die braunen Wangen in der Septemberhitze schweißbedeckt. Ella kurbelte das Fenster herunter.

»Die bringt dir Glück.« Reagan reichte ihr eine leuchtend blaue Glückswurzel aus der Dunkelwelt. Eine ihrer Lieblingspflanzen.

Ella streckte sich danach, und die Blume wanderte von Reagans Hand in ihre. »Danke.«

»Schreibst du mir?«, fragte Reagan.

»Jeden Tag.«

Ella hielt den Kopf aus dem Fenster, um Reagan so lange wie möglich sehen zu können, die dem Wagen hinterherlief, bis Papa in Richtung der Docks abbog. Sie wünschte sich, Reagan hätte die Einladung der Marveller auch angenommen und würde mit ihr gehen.

Gerade als ein Hauch von Traurigkeit sich in ihr Herz bohren wollte, entdeckte Ella einen marvellischen Wasserzeppelin, der wie eine Sternschnuppe über dem Wasser schaukelte und nur auf sie zu warten schien.

Ihr Magen schlug Purzelbäume.

Das war der bedeutendste Abend in ihrem Leben … vielleicht sogar in ihrer aller Leben.

Die Marvellische Zeit

ARKANUM-TRAININGSINSTITUT ÖFFNET TORE FÜR FABULIERER

Ein Kommentar von Renatta Cooper

20. September

Am Arkanum zieht ein neuer Morgen auf – und nicht alle sind glücklich darüber. Gewiss werden bald zahlreiche wütende Bürger vor den mächtigen Himmelstoren protestieren.

Warum?

Weil die Schule das Undenkbare getan hat: Nach 250 Jahren wurde die altehrwürdige Lehranstalt für Fabulierer aus aller Welt geöffnet.

Nachdem der Klage des bekannten amerikanischen Fabulier-Politikers Sebastien Durand vor dem Obersten Marvellischen Gerichtshof stattgegeben wurde, ist das Zugangsverbot für unrechtmäßig und als mit der marvellischen Verfassung nicht vereinbar erklärt worden.

Ein neues magisches Gesetz wurde erlassen und die Verfassung ergänzt – und nun können Fabulierer einfach in die Schule hineinspazieren.

Bislang hat sich jedoch erst eine einzige Fabuliererin eingeschrieben: Sebastiens Tochter, Ella Durand.

Mögen die Sterne ihr beistehen!

KAPITEL 2
Der Sternenstaub-Pier

Die Fahrt zum Sternenstaub-Pier schien für Ella so schnell vorbei zu gehen wie ein Blitzschlag. Im einen Moment sauste sie mit ihrer Familie noch über den Golf von Mexiko dahin, und im nächsten befanden sie sich schon mitten im Atlantischen Ozean auf dem Sternenstaub-Pier und warteten auf die Ankunft der Himmelsfähren für den nächsten Abschnitt der Reise. Die Spätseptemberhitze klebte förmlich an Ellas Haut.

Pralle Sternenlaternen schwebten über ihnen wie gigantische Leuchtkäfer. Wasserzeppeline streckten die Nase aus dem Wasser und lieferten immer mehr Familien auf dem leuchtenden Steg ab. Ella hätte schwören können, dass sie spürte, wie er sich ganz langsam unter ihren Füßen ausdehnte, damit alle Platz darauf fanden.

Ganz in Weiß gekleidet standen die Lehrlinge der ersten Jahrgangsstufe wie ein Schwarm Tauben zusammen, jederzeit bereit, mit ihren Marvelkoffern loszufliegen. Ella warf einen Blick auf ihre Juju-Truhen, die ihr im Vergleich auf einmal seltsam vorkamen. Sie atmete tief durch, strich sich die Uniform glatt und versuchte, die Kapuze über ihre langen Twists zu ziehen. Ihre Finger zitterten vor Aufregung. Keine Patchwork-Schürzen, Fabulierkittel oder Familien-Wechselringe mehr. Alles neu. Alles anders.

»Ich erwarte wöchentliche Sternenpost, mein Kind«, forderte Mama.

Ella schaute zu ihrer Mutter, deren braune Haut im Mondlicht schimmerte. Selbst wenn sie aufgebracht war, war sie unglaublich schön. »Ja, Mama.«

»Es ist eine große Verantwortung, die Erste zu sein. Du tust das nicht nur für dich selbst, du repräsentierst uns alle.« Papa legte eine warme Hand auf Ellas Schulter.

»Ich weiß«, versicherte sie ihm.

Winnie zupfte sie am Arm. »Was sind das für Leute?« Sie zeigte auf den Rücken einer Frau in ihrer Nähe.

»Wächter«, flüsterte Mama.

»Und was sind Wächter?«, fragte Winnie.

»Dasselbe wie die Simplen-Polizei.« Ella fand, dass die Wächter aussahen wie ein Trupp wütender Spielzeugsoldaten. Die goldenen Wappen auf ihren Uniformjacken leuchteten, und sie wünschte sich, sie könnte eine Hand ausstrecken und das M wenigstens kurz berühren.

»Müssen sie unbedingt bei uns sein?« Winnie lehnte sich an Ella. »Ich mag ihre seltsamen Hunde nicht.« Einige Wächter führten rotäugige Wölfe an Leinen mit sich. »Und die Vögel sehen auch gemein aus.« Sie zeigte auf die schwarzen Raben, die die Wächter in den Himmel schickten, um die eintreffenden Wasserzeppeline im Auge zu behalten.

»Tss, tss, tss. Kümmere dich nicht darum. Sie sorgen nur dafür, dass alles reibungslos abläuft«, tadelte Mama sie.

Ella wollte gar nicht daran denken, wie nicht reibungslos aussehen würde. Sie selbst hatte jedes einzelne Detail geplant: Sie hatte ausgewählt, welche Kleider ihre Eltern und Winnie tragen sollten, Granny gebeten, ihr die Haare zu flechten und mit Zauberschleifen zusammenzubinden und sie hatte die Glückswurzel von Reagan in die Tasche gesteckt. Sie fuhr immer wieder mit der Hand hinein, um sie zu kitzeln, und genoss das Gefühl, wie sich die Blätter ausstreckten, um ihre Fingerspitzen zu berühren. Es war beinahe so, als würde ihre beste Freundin ihre Hand halten.

Heute Abend musste alles perfekt sein. Und Ella würde perfekt sein.

Sie winkte den Schaulustigen auf den Stegen nebenan zu. Da sie sie ohnehin anstarrten, fand Ella, sie könnte auch ebenso gut Hallo sagen. Einige hielten Schilder in der Hand, aber seltsamerweise konnte Ella die Worte darauf nicht entziffern, obwohl sie die Augen angestrengt zusammenkniff. Die Nachtluft schien bei jedem Versuch noch dichter und diesiger zu werden. Eigenartig. Vielleicht war das ja irgendein Marveller-Trick. Ella musste wirklich noch sehr viel lernen.

»Kannst du lesen, was auf den Plakaten steht?«, fragte sie ihren Vater.

»Nein«, antwortete er. »Wahrscheinlich nichts Wichtiges.«

Ella schenkte der Menge ihr strahlendstes Lächeln und versuchte, es so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Die Pressefähren kreisten über ihnen, die Blitzlichter ihrer Kameras leuchteten ununterbrochen auf, und sie sandten immer neue Nachrichtenboxen aus.

Papa zeigte zum Mond. »Ich freue mich aufs Fliegen!«

Die Himmelsfähren des Arkanum-Trainingsinstituts würden jede Minute eintreffen, um sie mitzunehmen. Mama sagte zwar oft: »Ein bewachter Kessel kocht nie«, aber Ella war sich sicher, dass die dicken Wolken jede Sekunde vor Licht explodieren würden. Aufregung und Vorfreude kribbelten förmlich in ihr.

Plötzlich wurde die Menge auf einen Mann mit brauner Haut und einem Turban aufmerksam, der auf einem Podium stand.

»Willkommen, willkommen! Was für ein glorreicher Abend … ein wahrlich marvelhafter Abend, wenn man es so ausdrücken will … und ich will es so ausdrücken.« Er fuchtelte mit den Armen in der Luft herum. »Die Warteschlange beginnt hier. Genau hier. Bitte hier entlang. Die Nachnamen, bitte!« Eine schillernde Schriftrolle schwebte direkt über seiner Schulter. Ella wusste, dass auch ihr Name darauf stand.

»Ella, Ella!« Winnie nahm Ellas Hand. »Schau mal: Da sind Sterne auf deinem Kleid. Wenn die Dinger da« – sie zeigte zu den schwebenden Sternenlaternen hinauf – »dir ganz nahe kommen, siehst du sie.«

»Das ist kein Kleid, das ist ein Marvellischer Mantel«, korrigierte Ella, weil sie als große Schwester nicht zulassen konnte, dass Winnie so törichte Sachen von sich gab.

Winnie streckte eine Hand aus, um den Mantel zu berühren, aber Ella wich den kleinen Fingern aus. »Du machst ihn nur schmutzig.«

»Ich will keinen weißen Mantel.«

»Alle Einser tragen einen weißen Mantel«, erklärte Ella.

»Ich will aber einen blauen, weil das meine Lieblingsfarbe ist.« Winnies Augen füllten sich mit Tränen.

»Blau ist für die Dreier. Und außerdem bist du sowieso noch zu klein, um mitzukommen«, erinnerte Ella ihre Schwester, auch wenn sie diesmal ein wenig traurig dabei wurde.

Oft nervte Winnie Ella, kam unerlaubterweise in ihr Zimmer oder jammerte ihr die Ohren voll, dass sie mit ihr spielen und genau das tun wollte, was Ella tat. Aber als Ella nun zu den anderen Kindern auf dem Steg schaute, fragte sie sich, wie viele neue Freunde sie am Arkanum-Institut wohl finden und wie lange das dauern würde. Sie vermisste Reagan jetzt schon, und wenn sie ehrlich war, glaubte sie, dass sie ihre kleine Schwester auch vermissen würde. Denn sie wusste, dass sie sich immer darauf verlassen konnte, dass Winnie ihre beste Freundin sein wollte, ganz gleich, was passierte.

Ein lautes Nach-Luft-Schnappen erschreckte Ella und riss sie aus ihren Gedanken. Geflüster breitete sich in den verschiedensten Sprachen aus.

Mamas wohlgenährter Alligator Gumbo glitt aus dem Wasser auf den Pier und klopfte aufgeregt mit dem Schwanz.

»Na endlich«, sagte Mama. »Du bist eben auch nicht mehr der Jüngste, was? Macht dir das tiefe Wasser zu schaffen, alter Junge? Du kommst gerade noch rechtzeitig, um unserem Mädchen zum Abschied zu winken.«

Gumbo gab ein Grunzen von sich.

Ein paar der Kinder wichen vor ihnen zurück, während andere näher kamen, um besser sehen zu können.

Ella hatte gelesen, dass die meisten Marveller zwar Haustiere besaßen und manchmal auch Monster hielten, aber nur Fabulierer Gefährten kannten. Für Ella war das immer etwas völlig Alltägliches gewesen … bis jetzt. Hier auf dem Pier kamen ihr die eigentlich normalen Dinge an ihrer Familie mit einem Mal merkwürdig vor. Und das, obwohl sie von all diesen Leuten umgeben war, die ganz eindeutig anders waren.

Aber sie freute sich schon darauf, ihnen zu erzählen, was bei den Fabulierern besonders war. Und Ella war sich sicher, dass die anderen es großartig finden würden.

»Wollen wir einsteigen?«, fragte Mama.

»Oh, dann bist du also endlich so weit?«, erwiderte Papa mit einem Lächeln.

Mama schnalzte mit der Zunge, legte eine Hand auf Ellas Schulter und ging auf den Mann mit dem Turban und der schwebenden Schriftrolle zu. Die Wächter klebten weiter an ihnen, als sie sich in die Schlange stellten. Alle starrten sie an. Ella zwinkerte ihnen zu, wie Granny es in solchen Situationen immer tat.

Der Mann lächelte strahlend. Sein langer Bart glitzerte, als wäre er mit Sternenstaub gepudert. Sein prachtvoller Turban änderte permanent die Farbe: Der kunstvoll verschlungene Stoff wechselte zwischen Pfauenblau, leuchtendem Orange und Buttergelb, während die winzigen Diamanten darauf im Mondlicht funkelten. Er trug einen dunkelroten Marvellischen Mantel, dessen Kragen mit den unterschiedlichsten Könner-Abzeichen bedeckt war, und Ella konnte es kaum erwarten, ihm dazu Löcher in den Bauch zu fragen. Dank ihrer Recherchen wusste sie bereits, dass er ein Arkanum-Meister sein und mindestens den achten Grad in seinem Marvel erlangt haben musste. Das Arkanum-Wappen – ein Stern mit fünf Spitzen – pulsierte auf seinem Umhang, als bestünde es aus lebendigen Adern.

Der Mann blickte zu Ella hinunter. »Nachname? Obwohl ich glaube, ich kenne ihn bereits.«

»Durand«, antwortete sie.

Die Schriftrolle öffnete sich ganz von allein und jeder Name, den er vorlas, leuchtete auf: »Davidson, Delilah. Nein. Doumbouya, Hassan. Auch nicht du. Duca, Giulia. Nicht ganz. Domen, Yuyi. Nahe dran. Aaah … Durand, Ella.«

Ella nickte.

»Und ich bin Master Thakur, Paragon des Geschmacks mit Gewürz-Marvel.« Er streckte ihr die Hand hin. Ella nahm sie, und er schüttelte ihren Arm so lange, bis sie ihn anlächelte. Als er wieder losließ, tanzte ein winziger Sternanis auf ihrer Handfläche. »Die Zunge spricht die Wahrheit! Es ist so schön, dass du hier bist. Ich freue mich darauf, dich besser kennenzulernen.«

Während Mama und Papa weiter mit Master Thakur plauderten, stupste Mamas Alligator-Gefährte Ella am Bein an und grinste mit seinem Maul voller scharfer Zähne zu ihr herauf. Sie beugte sich zu Gumbo und gab ihm einen Kuss auf die nasse Nase. Noch mehr Leute drehten sich um und glotzten sie an, und Ella musste zugeben, dass es vielleicht wirklich ein wenig seltsam war, dass sie einen vier Meter langen Alligator dabei hatten. Ein Junge schob sich näher heran und beobachtete sie mit zusammengekniffenen Augen, gefolgt von einem kleinen Mädchen, das sich hinter ihm hielt und Gumbos Schwanz bewunderte. Mama begrüßte die beiden freundlich. Ella wollte ihnen gerade erklären, wer Gumbo war, als sie schon wieder davonhuschten.

Plötzlich legte sich Schweigen über den Pier.

Die ersten Himmelsfähren brachen durch die Wolken, ihre Messingnasen glühend wie Sonnen. Die Initialen – A. T. I. – glühten auf den Bäuchen der Luftschiffe, die Motoren hell erleuchtet von in vergoldeten Kugeln rotierenden Sternen. Ella fand, dass sie beinahe aussahen, als wären Wale in die Luft aufgestiegen, die sich riesige Kutschen aus Glas auf den Rücken geschnallt hatten. Sie konnte weich gepolsterte Sofas, elegante Servierwagen und funkelnde Lichter im Inneren der Fähren erkennen.

Ihr klappte vor Staunen die Kinnlade herunter. »Papa, wie funktionieren die Motoren?«

»Mit Stellazität. Du wirst bald alles darüber lernen.« Er legte eine Hand auf ihre Schulter.

Ella hielt den Atem an und riss die Augen auf, so weit sie nur konnte. Sie wollte kein einziges Detail verpassen, als die Fähren mit kaum einem Flüstern auf dem Wasser landeten, die mächtigen Rümpfe glänzend wie eine Nacht voller Sterne, während Dampfwolken zischend von den Rudern aufstiegen.

Aus der ersten Himmelsfähre trat eine wunderschöne Frau mit brauner Haut, einen Kranz aus papiernen Ringelblumen auf dem Kopf. Sie war in einen schwarzen Marvellischen Mantel gehüllt und ihr Gehstock glitzerte im Mondlicht. Ella wusste, dass sie zu den wichtigsten Personen des Arkanums gehörte und der Grund dafür war, dass Ella überhaupt dorthin gehen durfte.

Großmeisterin Paloma Rivera.

Ella hatte ihr Gesicht schon viele Male als Projektion von marvellischen Nachrichtenboxen in Papas Arbeitszimmer gesehen. Sie hatte sich dort hineingeschlichen, um der Großmeisterin zuzuhören, wenn diese dafür appellierte, das Arkanum für alle zu öffnen, weil die marvellische Gesellschaft Platz für jeden Magischen bieten sollte.

Ella stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte den Hals, um besser sehen zu können. In echt war die Frau sogar noch beeindruckender.

Sie begrüßte Master Thakur und wies die schwebende Schriftrolle an, in ihrer Manteltasche zu verschwinden. »Willkommen, marvellische Familien, in dieser unglaublichen Sternennacht. Es ist der Beginn eines ganz neuen Abenteuers für eure Kinder.« Ihre Stimme war genauso schön wie sie, süß und sonnendurchflutet wie ein Topf voller Honig. »Ich bin nur eine Hälfte des tatkräftigen Zweierbundes, der im kommenden Jahr das Arkanum-Trainingsinstitut leiten wird. Großmeister MacDonald wird uns bei der Ankunft erwarten.«

Sie schlug eine Seite ihres Mantels zurück, und ein Wirbel aus Konfetti explodierte aus den Stofffalten. Das kunstvoll geschnittene Seidenpapier war mit kleinen Elefanten, Schweinen, Kühen, Schlangen und Hähnen verziert. Die rechteckigen Papierschnipsel schwärmten durch die Menge und veranstalteten einen gewaltigen Lärm. Die Großmeisterin legte eine Hand an ihr Revers und tippte auf eine aufwendig verzierte Anstecknadel. »Ich bin eine Paragonin der Berührung mit Papier-Marvel. Die Hand kennt keine Furcht!«

Einige in der Menge wiederholten den Satz, und Ella vermutete, dass sie ebenfalls Paragone der Berührung sein mussten.

Sie blickte zu ihrem Vater. »Ich kann es kaum erwarten, auch ein Marvel zu haben.«

»Bald, mein Kind, bald.« Er drückte ihre Schulter. »Du wirst dein Marvel und dein Motto bekommen und den Platz einnehmen, der dir zusteht.«

Mamas Augen verengten sich, und Ella hörte, wie sie mit den Zähnen knirschte. Sie beschloss jedoch, es zu ignorieren, denn sie freute sich schon viel zu sehr darauf, endlich dazuzugehören.

Noch mehr Konfetti regnete auf die Menge herab. Ein magentafarbener Elefant trötete Ella mit seinem winzigen Rüssel an. Sie wollte ihn einfangen, aber er verpuffte zu einer Kugel aus Rauch.

Die Menge applaudierte, als die Großmeisterin sich leicht verneigte.

»Alles Licht für euch. Was wir euch beibringen werden, ist kein Kinderspiel. Ihr braucht Disziplin, Ehrgefühl und höchste Konzentration, um euer Innerstes zum Strahlen zu bringen. Ich freue mich so sehr, dass ihr alle hier seid.« Ella spürte, wie der Blick der Großmeisterin für einen Moment auf ihr und ihrer Familie ruhte. »Verabschiedet euch jetzt, liebe Kinder, und dann fliegen wir los, ja?« Sie wies mit einem Arm nach rechts. »Es ist an der Zeit, die nächste Generation großer Marveller einzuläuten.«

Die Türen der Himmelsfähren öffneten sich mit einem dampfenden Ächzen. Die anderen Lehrlinge gaben ihren Eltern zum Abschied einen Kuss und stellten sich dann in einer Reihe auf. Auch Ella holte tief Luft, um Mama und Papa Auf Wiedersehen zu sagen.

»Oh nein, das glaube ich nicht«, bremste sie Mama. »Wir kommen mit dir.«

Ella zog einen Schmollmund, aber Großmeisterin Rivera löste sich aus der Menge und kam auf sie zu.

Alle drehten sich zu ihr.

Ella hielt den Atem an.

»Würden Sie gerne mit mir fliegen?«

Ella starrte in die warmen Augen der Großmeisterin und konnte deren Lächeln förmlich spüren. Sie blickte ihre Mutter über die Schulter hinweg an und wartete darauf, dass sie nickte.

»Ich kann Ihnen versichern, dass der Flug äußerst komfortabel ist«, fügte die Großmeisterin hinzu.

»Es wäre uns eine Freude«, antwortete Papa. »Nicht wahr, Aubrielle?«

Mama zog eine Augenbraue hoch. »Ja. Ja, natürlich.«

Großmeisterin Rivera zwinkerte Ella zu. Die Wächter eskortierten sie zu der größten Himmelsfähre, während die anderen Lehrlinge und ihre Familien so weit wie möglich zurückwichen.

Mama wirkte nervös. Papa spannte die Schultern an. Ella strahlte und kam sich vor wie etwas ganz Besonderes.

»Willkommen!« Großmeisterin Rivera breitete die Arme aus.

Die Himmelsfähre erstrahlte in voller Pracht: weiche Samtsitze, Knöpfe aus Messing, die Ella am liebsten alle gedrückt hätte, und eine Sternenkarte, auf der bunte Tiere schillerten.

»Hier entlang.« Ein Platzanweiser führte sie den langen Gang hinunter.

»So viele Sitze nur für uns«, bemerkte Papa.

»Gumbo braucht schon allein drei«, sagte Mama.

»Es ist uns wichtig, dass Sie sich wohlfühlen«, versicherte Großmeisterin Rivera und führte Ellas Eltern zu einer Sitznische.

Ella stürmte voraus und suchte sich den Platz mit der besten Aussicht. Winnie rannte ihr hinterher und setzte sich ihr gegenüber.

Eine Frau mit einer Pagenmütze bot ihnen ein Tablett mit blubbernden Getränken an. »Wie wäre es mit einem Fizzler? Wir haben sämtliche Geschmacksrichtungen. Was darf es sein?«

Ella nahm sich einen violetten. Winnie wollte einen grünen.

»Ihr solltet ihn schnell trinken, sonst schwebt er vielleicht davon«, riet die Frau. »Außerdem hilft er den Ohren dabei, sich an die Höhe zu gewöhnen, sobald wir abheben.«

Ella leerte das Glas in einem Zug, und die süßen Blasen zerplatzten auf ihrer Zunge.

»Guck mal!« Winnie zeigte aus dem Fenster.

Ella schaute hinaus. Die Tür der Himmelsfähre schloss sich. Die Stellazitätssphären explodierten vor Licht, als die Motoren zu brummen begannen.

Die Fähre stieg in die Luft, und Ellas Magen rauschte wie in einer Achterbahn abwärts. Sie griff nach Winnies Hand und drückte sie fest.

Nun gab es kein Zurück mehr.

Ella blickte in die Tiefe und konnte den Sternenstaub-Pier schon nicht mehr sehen. Sie flogen an mehreren schwebenden Leuchttürmen vorbei und kämpften sich durch dunkle Sturmwolken. Minuten kamen Ella wie Stunden vor, und sie fürchtete schon, sie würden niemals ankommen. Aber als gerade ein wenig Ungeduld in ihr aufsteigen wollte, breitete sich die Erde unter ihnen aus wie eine von Grannys mit feinen Lichtfäden bestickten Patchworkdecken.

Es war wie ein einziges großes Wunder: Sternfruchtbäume und Mondblumen; ein senkrechtes Labyrinth aus dicken Kabeln, die Seilbahnen und Gondeln zu vergoldeten Docks hinauftransportierten; Ballons, die Feuerwerkskörper abwarfen – und die Tore des Arkanum-Trainingsinstituts für marvelhaftes und mysteriöses Streben, deren Eisenspindeln und Kupferspitzen wie pures Sonnenlicht glänzten. Sie glichen einem tosenden Meer aus Metall, und die Türme und Kuppeln drehten und wanden sich in schwindelnde Höhen. Sie ragten so hoch auf, dass Ella gar nicht sehen konnte, wo sie begannen und wo sie endeten. Die unzähligen Fenster schillerten, als wollten sie sie mit einem Zwinkern willkommen heißen.

Ella hielt den Atem an.

Sie wünschte sich so sehr, hier dazuzugehören.

Und sie würde tun, was immer dafür nötig war. Sie würde jede Jahrgangsstufe meistern. Sie würde jede Prüfung bestehen.

Sie würde eine Marvellerin werden.

Die Beste von allen.

DAS FABULIERGESETZ

Der Bund der Vereinigten Marveller verkündet hiermit, dass alle Fabulierer* weltweit ab sofort ein Recht auf Mitgliedschaft in der marvellischen Gemeinschaft haben. Die neuen Verfassungszusätze setzen die alten Regelungen für Fabulierer außer Kraft und gewährleisten die absolute Gleichberechtigung in allen marvellischen Städten und Instituten.

*Der Begriff »Fabulierer« umfasst sämtliche Gemeinden des Vereinigten Fabulierer-Kongresses, einschließlich der Abordnungen aus Nordamerika, Mittelamerika, Südamerika, Kuba, Kap Verde usw.

Das Kartenspiel des Todes

Nur wenige Augenblicke nach Ellas Ankunft am Arkanum-Trainingsinstitut beugte sich eine Frau über eine Nachrichtenbox von Die Marvellische Zeit und verfolgte das Geschehen aus ihrer Gefängniszelle. Die hell flackernde Meldung ließ ihre blassweiße Haut noch geisterhafter erscheinen.

Die Frau gackerte krächzend, ihr ungenutztes Lachen rau wie Schleifpapier. »Ha, bei allen Sternenspitzen, sie haben sie tatsächlich reingelassen.« Sie beugte sich so dicht wie möglich zu der schwarz-weißen Projektion, streckte eine Hand aus und versuchte, die erste Fabuliererin einzufangen, die jemals die renommierte Schule besuchen würde. Doch die Lichtversion glitt durch ihre Finger wie ein Irrlicht, während die Schlagzeilen pulsierten: STICH INS WESPENNEST FÜR ARKANUM-UNTERSCHULE und RIESENSKANDAL NACH AUFNAHME VON FABULIERER-KIND. Die Artikel über die kleine Fabuliererin krochen an dem winzigen Heliogramm des Mädchens vorbei.

Die Frau drehte langsamer an der Kurbel der Nachrichtenbox, damit die Worte gemächlicher heraussprudelten und sie jedes einzelne in sich aufsaugen konnte.

»Das wird die großartigste Show im ganzen Universum.« Die Frau lächelte. »Fürs Erste …«

Ein Fenster tauchte in der rechten Ecke ihres Käfigs auf. Sie blickte zu den anderen Gefängniszellen hinaus, die über dem düsteren Abgrund schwebten wie traurige, spärlich leuchtende Sterne an einem höllischen Himmel. Die Fenster hatten die Frau stets verspottet wie ein krankes Gruselkabinett. Sie waren ein grandioser Trick, der sie furchtbar neidisch machte, denn sie liebte große Illusionen.

Die Welt würde niemals erfahren, dass sie in einem Kartenspiel gefangen war, das mitten in der Zeit schwebte, zwischen Leben und Tod. Eine ewige Bestrafung. Die Marvellischen liebten Vorschriften.

»Abendessen«, schrie jemand in die Zelle.

Die Frau hatte bereits vor Stunden gegessen. In der Nähe des Essensschachts stand ein Laternenmast aus Messing. Ein nettes neues Extra. In dem Schacht befand sich ein kleiner flatternder Kolibrikuchen und breitete seine Flügel aus. Ein Messingschlüssel durchbohrte ihn wie eine Gabel.

Ein Lächeln schlich sich auf das ernste, aber hübsche Gesicht der Frau. Endlich. Sie hatte Geduld bewiesen. Nun folgte sie dem köstlichen fliegenden Kuchen, fing ihn ein und zog den schweren Schlüssel heraus. Sie leckte die Glasur ab und enthüllte eine filigran gravierte Rose sowie die Initialen C. B. auf dem Stiel. Die Asse hatten Wort gehalten – wie immer.

Hier gab es keine Türen, aber das war kein Problem. Das, was sie in den Händen hielt, war genau das, was sie brauchte. Ihre Fingerspitzen kribbelten förmlich. Es war schon so lange her, dass sie gespürt hatte, wie ihr Marvel in ihr vibrierte, als würde Stellazität durch ihren Körper strömen. Elf Jahre. 4.015 Tage. 96.360 Stunden.

Sie lachte, bis sich ihr Mund ganz trocken anfühlte.

Man hatte ihr etwas gestohlen, und sie würde es sich zurückholen.