Buch

Madeleine »Max« Maxwell wollte Archäologin werden, um Abenteuer zu erleben, unfassbare Entdeckungen zu machen und gelegentlich die Welt zu retten. Doch die Wirklichkeit holt sie ein: Archäologen verbringen ihre Zeit in Museen zwischen staubigen Büchern und noch staubigeren Fundstücken, die niemanden interessieren. Da erhält sie ein besonderes Jobangebot. Wenn sie die Zusatzausbildung übersteht – und die wenigsten tun das –, wird sie Abenteuer erleben, die jene von Indiana Jones wie einen Sonntagsspaziergang aussehen lassen. Und wenn sie überlebt, wird sie wenigstens ein paarmal die Welt retten …

Autor

Jodi Taylor war die Verwaltungschefin der Bibliotheken von North Yorkshire County und so für eine explosive Mischung aus Gebäuden, Fahrzeugen und Mitarbeitern verantwortlich. Dennoch fand sie die Zeit, ihren ersten Roman »Miss Maxwells kurioses Zeitarchiv« zu schreiben und als E-Book selbst zu veröffentlichen. Nachdem das Buch über 60 000 Leser begeisterte, erkannte endlich ein britischer Verlag ihr Potenzial und machte Jodi Taylor ein Angebot, das sie nicht ausschlagen konnte.

Ihre Hobbys sind Zeichnen und Malerei, und es fällt ihr wirklich schwer zu sagen, in welchem von beiden sie schlechter ist.

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Roman

Deutsch von Marianne Schmidt

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »Just One Damned Thing After Another (The Chronicles of St. Mary’s Book 1)« bei Accent Press, Cardiff Bay.

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Copyright der Originalausgabe © 2013 by Jodi Taylor

This translation published by arrangement with Accent Press Ltd.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Werner Bauer

Umschlaggestaltung und Artwork: Isabelle Hirtz, Inkcraft unter Verwendung mehrerer Motive von © Shutterstock.com (Nimaxs; Sloth Astronaut; Vitaly Grin)

HK · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-24006-6
V001

www.blanvalet.de

»Die Geschichte hier habe ich mir einfach ausgedacht. Also bitte, liebe Historiker und Physiker, reißt mir wegen eventueller Unstimmigkeiten nicht gleich den Kopf ab, falls wir uns mal auf der Straße begegnen sollten.«

Jodi Taylor

»Geschichte ist nichts anderes als ein fatales Ereignis nach dem anderen.«

Arnold Toynbee

Eins

In meinem Leben gab es zwei Momente – Momente, in denen sich alles änderte. Momente, in denen alles auf Messers Schneide stand. Augenblicke, in denen die Dinge in die eine oder in die andere Richtung hätten laufen können.

Der erste war der Moment, in dem ich nach einem weiteren Tag, an dem ich in der Schule nichts als Unruhe gestiftet hatte, vor meiner Direktorin Mrs. De Winter stand. Ich hatte mich für schweigendes Schmollen entschieden und wartete darauf, von der Schule geworfen zu werden, denn über Drei Verwarnungen und du bist draußen war ich längst hinaus. Aber dazu kam es nicht.

Sie sagte seltsam eindringlich: »Madeleine, Sie können nicht zulassen, dass Ihre häuslichen Umstände Ihr ganzes Leben bestimmen. Sie sind intelligent – Sie haben Fähigkeiten, die Ihnen noch nicht einmal bewusst sind. Dies ist die einzige Chance, die Sie jemals haben werden. Ich kann Ihnen helfen. Lassen Sie mich das tun?«

Bislang hatte mir keiner jemals Hilfe angeboten. Irgendetwas in mir flackerte auf, aber Misstrauen und Argwohn lassen sich nur schwer abstellen.

Mit sanfter Stimme fuhr sie fort: »Ich kann Ihnen helfen. Letzte Chance, Madeleine. Ja – oder nein?«

Ich bekam kein Wort heraus, saß in meinem selbst geschaffenen Gefängnis fest.

»Ja – oder nein?«

Ich holte tief Luft und sagte Ja.

Sie reichte mir ein Buch, einen Notizblock und zwei Stifte.

»Wir fangen mit dem alten Ägypten an. Lesen Sie die ersten beiden Kapitel und Kapitel sechs. Sie müssen lernen, wie man Informationen aufnimmt, auswertet und präsentiert. Ich will 1.500 Wörter über die genaue Natur von Ma’at. Bis Freitag.«

Ich flüsterte: »Aber … Sie wissen doch, dass ich das nicht mit nach Hause nehmen kann.«

»Sie können die Schulbibliothek benutzen und Ihre Sachen dortlassen. Miss Hughes erwartet Sie.«

Das war das erste Mal.

Das zweite Mal kam zehn Jahre später. Eine E-Mail völlig aus heiterem Himmel.

Meine liebe Madeleine,

Sie sind sicherlich überrascht, von mir zu hören, aber ich muss Ihnen gestehen: Seitdem Sie die Universität Thirsk verlassen haben, habe ich Ihre Karriere mit großem Interesse und auch mit einigem Stolz verfolgt. Ich schreibe Ihnen nun, um Ihnen die Details eines Jobangebotes vorzustellen, das Sie sicherlich höchst spannend finden werden.

Aus Ihrer Zeit an der Thirsk-Universität werden Sie sich bestimmt an eine Schwesterniederlassung erinnern, nämlich an das St. Mary’s-Institut für Historische Forschung – eine Einrichtung, die, so meine ich, jeden ansprechen dürfte, der wie Sie eine weniger strukturierte Lebensführung anstrebt. Die Arbeit dort ist eher an der praktischen Seite der historischen Forschung ausgerichtet. Mehr kann ich Ihnen im Augenblick nicht verraten.

Das Institut hat seinen Sitz unmittelbar vor den Toren von Rushford, wo ich jetzt lebe, und Vorstellungsgespräche finden am Vierten des nächsten Monats statt. Haben Sie vielleicht Interesse? Ich habe das Gefühl, das könnte genau das Richtige für Sie sein, weshalb ich sehr hoffe, dass Sie es in Erwägung ziehen. Ihre Reisen und Ihre Erfahrungen auf dem Gebiet der Archäologie dürften Ihnen gute Chancen einräumen, und ich glaube wirklich, dass Sie genau der Typ sind, nach dem man dort sucht.

Die Bezahlung ist miserabel, und die Arbeitsbedingungen sind noch schlimmer, aber es ist ein wunderbarer Ort zum Arbeiten. Sie haben dort einige sehr talentierte Leute. Wenn Ihr Interesse geweckt ist, dann klicken Sie bitte auf den unten stehenden Link, um einen Vorstellungstermin zu vereinbaren.

Aber es tut mir leid; wo bleiben nur meine Manieren? Ich wollte Ihnen so dringend von dieser Gelegenheit berichten, dass ich ganz vergessen habe zu fragen: Wie geht es Ihnen? Herzlichen Glückwunsch zu Ihren akademischen Erfolgen an der Thirsk, Doktor Maxwell! Es ist immer sehr befriedigend zu sehen, wenn sich eine frühere Schülerin so gut entwickelt, ganz besonders eine, die in ihren frühen Jahren so viele Schwierigkeiten bewältigen musste.

Bitte lehnen Sie diese Gelegenheit nicht unbesonnen ab. Ich weiß, dass Sie immer lieber im Ausland gearbeitet haben, aber angesichts der Möglichkeit, dass Amerika seine Grenzen wieder dichtmachen könnte, und in Anbetracht des Auseinanderbrechens innerhalb der EU ist es nun vielleicht an der Zeit, einen etwas gediegeneren Lebenswandel anzustreben.

Wie Sie unschwer merken, liegt mir wirklich sehr viel daran, dass Sie sich bewerben, aber bitte lassen Sie sich nicht von mir in irgendeiner Art und Weise beeinflussen!

Mit freundlichen Grüßen:

Sibyl De Winter

Ich sage immer, so richtig begann mein Leben erst an dem Tag, als ich durch die Tore von St. Mary’s schritt. Auf dem Schild war zu lesen:

Universität von Thirsk

Institut für Historische Forschung

Campus der St.-Mary’s-Stiftung

Direktor: Doktor Edward G. Bairstow BA, MA, Ph. D.

Forschungsmitglied der Historischen Gesellschaft

Ich drückte auf den Summer, und eine Stimme antwortete: »Kann ich Ihnen helfen, Miss?«

»Ja, mein Name ist Maxwell. Ich habe um 14.00 Uhr einen Termin bei Doktor Bairstow.«

»Gehen Sie die Zufahrt hoch und kommen Sie dann durch die Vordertür herein. Sie können es nicht verfehlen.«

Klang ein wenig überoptimistisch. Ich hatte mich mal in einem Treppenschacht verlaufen.

An der Vordertür trug ich mich in eine Liste ein und wurde höflich von einem uniformierten Wachmann mit einem Detektor gescannt, was mich nicht schlecht überraschte. Immerhin war das eine Bildungseinrichtung. Ich tat mein Bestes, um harmlos auszusehen, und es schien zu funktionieren, denn der Mann führte mich durch den Vorraum in die Halle. Dort stand Mrs. De Winter und erwartete mich, und sie sah kein bisschen anders aus als beim letzten Mal, als ich sie gesehen hatte. Das war an dem Tag gewesen, als sie mich an die Thirsk brachte. Der Tag, an dem ich dieser Erfindung des Teufels – auch Familie genannt – entkam.

Wir lächelten uns an und schüttelten uns die Hände.

»Soll ich Sie vor dem Vorstellungsgespräch herumführen?«

»Sie arbeiten hier?«

»Ich bin sporadisch hier und suche gelegentlich nach neuen Mitarbeitern. Hier entlang, bitte.«

Das Gebäude war riesig. Die Haupthalle, in der jedes Wort widerhallte, war Teil des ursprünglichen Gebäudes mit typisch mittelalterlichen schmalen Fenstern. Ganz am anderen Ende entdeckte ich ein reich verziertes Treppenhaus aus Eichenholz mit zehn flachen Stufen und einem breiten Absatz in der Mitte, von dem aus nach rechts und nach links eine Galerie abging, die einmal rings um die Halle herumführte.

Von dieser Galerie aus gelangte man in verschiedene Räume. Ein Saal schien nur für Kostüme und Requisiten reserviert zu sein. Leute liefen geschäftig mit Armen voller Kleidung und Nadeln zwischen den Lippen herum. Gewänder in unterschiedlichem Zustand der Fertigstellung hingen auf Bügeln oder an Schneiderpuppen. Die Räume waren hell, sonnig und von Geplauder erfüllt.

»Wir arbeiten viel für Film und Fernsehen«, erklärte Mrs. Enerby, die für die Garderobe zuständig war. Sie war klein und rund mit einem liebenswerten Lächeln. »Manchmal holen sie nur Erkundigungen ein, dann schicken wir ihnen genaue Angaben über passende Kostüme und Materialien. Aber manchmal sollen wir die Sachen auch selbst anfertigen. Dieses Gewand hier zum Beispiel ist für eine historische Sendung über das Leben von Karl II. und die Restauration. Viel Busen und Sex, wie man sieht, aber ich habe immer schon gedacht, dass Charles ein furchtbar unterschätzter Herrscher war. Dieses Kleid hier ist für Nell Gwyn in ihrer »orangefarbenen« Phase, und dieses hier für die französische Kurtisane Louise de Kérouaille.«

»Es ist hübsch«, bemerkte ich höflich und achtete sorgfältig darauf, das Material nicht zu berühren. »Die Details sind phänomenal. Leider ist es aber ein wenig zu modern für mich.«

»Dr. Maxwell interessiert sich für alte Geschichte«, erklärte Mrs. de Winter. Es klang entschuldigend, wie ich fand.

»Oje«, seufzte Mrs. Enderby. »Na ja, es könnte schlimmer sein, schätze ich. Da gibt es natürlich auch Faltenwürfe und Togen und Tuniken, aber trotzdem …« Sie brach ab. Offenkundig hatte ich sie enttäuscht.

Von hier aus gingen wir nach nebenan zu Professor Rapson, der für Forschung und Entwicklung verantwortlich zeichnete. Er war so dermaßen der typisch exzentrische Professor, dass ich anfangs dachte, dass man mich veräppeln wollte. Er war supergroß und superdünn, mit einem Einstein-Schopf, und seine Hakennase erinnerte mich an das vordere Ende eines Eisbrechers. Und er hatte keine Augenbrauen, was mir wirklich einen deutlichen Hinweis hätte geben sollen. Aber er lächelte freundlich und lud uns ein, einen genaueren Blick auf sein vollgestopftes Reich zu werfen. Ich bekam einen kurzen, verlockenden Eindruck von einem überladenen Schreibtisch, überall verstreuten Büchern und außerdem einem Laboraufbau.

»Dr. Maxwell hatte noch nicht ihr Gespräch«, sagte Mrs. De Winter in ziemlich warnendem Tonfall.

»Oh, oh, richtig, ja, nein, ich verstehe«, sagte Professor Rapson und ließ meinen Ellbogen los. »Nun, das ist es, was ich gern als »praktische« Geschichte bezeichne, meine Liebe. Das Geheimnis des griechischen Feuers? Wir sind dran. Wie wurde ein römischer Streitwagen gelenkt? Wir bauen einen, und dann können Sie es selbst herausfinden. Welche Reichweite hatte ein Katapult? Wie weit genau kann man eine tote Kuh schleudern? Wie lange dauert es, jemandem das Gehirn durch die Nase herauszuziehen? Irgendeine Frage dieser Art – kommen Sie zu mir, und wir werden die Antwort für Sie herausfinden! Das ist es, was wir tun.«

Einer seiner ausladend rudernden Arme traf ein Becherglas mit irgendetwas Trübem darin, das ebenso gut Einbalsamierungsfluid hätte sein können wie das Lebenselixier oder Sokrates’ Schierlingstrank. Er wischte das Glas von der Arbeitsfläche, und es zerschellte auf dem Fußboden. Alle traten einen Schritt zurück. Die Flüssigkeit bildete Bläschen, zischte und sah aus, als ob sie sich durch den Bodenbelag fressen wollte. Ich konnte eine Menge anderer solcher feuchten Flecke entdecken.

»O du meine Güte! Jamie! Jamie! Jamie, mein Junge, flitz mal schnell nach unten, ja? Schöne Grüße an Dr. Dowson; sag ihm, es kommt wieder mal was durch seine Decke!«

Ein junger Kerl nickte freundlich, stand von seinem Platz am Arbeitstisch auf und suchte sich einen Weg durch das Durcheinander aus halb fertigen Modellen, unidentifizierbarer Ausrüstung, schwankenden Bücherstapeln und fleckigen Whiteboards. Im Vorbeigehen grinste er mich an. Tatsächlich schien das hier ein wirklich netter Haufen zu sein. Das Einzige, was mir merkwürdig vorkam, war die Tatsache, dass Mrs. De Winter jede Vorstellung mit der Warnung einleitete, dass ich mein Gespräch noch nicht gehabt habe. Die Leute lächelten und schüttelten mir die Hand, aber nirgends schaffte ich es über die Türschwelle.

Ich traf Mrs. Mack, die Küchenchefin. Mahlzeiten, so informierte sie mich, waren rund um die Uhr erhältlich. Ich versuchte, eine Erklärung dafür zu finden, warum eine historische Fakultät solche Öffnungszeiten haben sollte, aber mir fiel einfach nichts ein. Nicht dass ich mich beklagen würde. Ich kann problemlos vierundzwanzig Stunden am Tag essen.

Die Bar und die Lounge nebenan hatten beinahe dieselbe Größe wie der Speisesaal und machten interessanterweise die Prioritäten deutlich. Alles sah durch häufige Nutzung abgewetzt und aufgrund von Geldmangel schäbig aus, ganz besonders die Bar.

Weiter unten auf demselben Gang gab es einen kleinen Kiosk, der Taschenbücher, Schokolade, Toilettenartikel und andere elementare Dinge verkaufte.

Ich verliebte mich in die Bibliothek, die offenkundig gemeinsam mit der Halle das Herzstück des Gebäudes bildete. Hohe Decken ließen sie geräumig wirken, und ein riesiger Kamin machte sie behaglich. Gemütliche Stühle standen überall herum, und durch hohe Fenster an einer Wand flutete Sonnenlicht herein. Zusätzlich zu Massen an Büchern gab es auch die neuesten elektronischen Geräte zur Informationsbeschaffung, Studienbereiche, Tische für Simulationen und Hologramme und, wenn man durch einen Torbogen ging, ein riesiges Archiv.

»Egal, was Sie suchen, wir haben es irgendwo«, sagte Doktor Dowson, der sich mir als Bibliothekar und Archivar vorstellte und der offenbar eine Art Südwester trug. »Zumindest, bis dieser alte Trottel da oben uns alle in die Luft jagt. Wissen Sie, dass wir manchmal Helme aufsetzen müssen?«, fuhr er entrüstet fort. »Ich sage Edward immer wieder, er soll ihn und sein gesamtes Team von Verrückten auf der anderen Seite des Hawking unterbringen, wenn wir auch nur die geringste Chance aufs Überleben haben sollen!«

»Dr. Maxwell hat ihr Gespräch noch nicht gehabt«, unterbrach ihn Mrs. De Winter, und Dowson ging dazu über, halblaut vor sich hin zu murren. Auf Latein. Ich starrte etwas besorgt zur Decke, die tatsächlich ziemlich löchrig und fleckig aussah, aber immerhin schien sich nichts durch die Bausubstanz dieses vermutlich denkmalgeschützten Gebäudes zu fressen.

»Hat man Ihnen das schon erzählt?«, fragte er. »Letztes Jahr hat sein Forscherteam versucht, die russischen Kanonen beim Angriff der leichten Brigade nachzubauen, sich aber bei der Reichweite verrechnet und stattdessen den Uhrturm zerstört.«

»Nein«, sagte ich und antwortete damit auf eine Frage, die vermutlich eher rhetorischer Natur gewesen war. »Schade, dass ich nicht dabei war.«

Und schon wurde ich resolut weitergeschoben.

Wir blieben am Eingang zu einem langen Gang stehen, der in einen separaten, moderneren Teil des Campus zu führen schien. »Was befindet sich denn da?«

»Das ist der Hangar, wo wir unsere technische Produktionsanlage und die Ausrüstungen untergebracht haben. Im Moment ist keine Zeit für eine Besichtigung; wir sollten uns auf den Weg zu Dr. Bairstows Büro machen.«

Ich dachte über das befremdliche Gespräch nach und wie wir zu dem Angriff der leichten Brigade gekommen waren, als ich plötzlich feststellte, dass jemand mit mir sprach. Ein Mann mittlerer Größe mit dunklem Haar und einem Durchschnittsgesicht, das allerdings bemerkenswert wurde durch ein Paar strahlende, hellblau-graue Augen, lächelte mich an. Der Unbekannte trug einen orangefarbenen Overall. Und anders als praktisch alle, die ich bislang getroffen hatte, hatte er Augenbrauen.

»Es tut mir so leid«, sagte ich. »Ich habe gerade über die Krim nachgegrübelt.«

Er lächelte. »Sie gehören eindeutig hierher.«

»Chief, das ist Dr. Maxwell.«

»Ich hatte mein Gespräch noch nicht«, sagte ich, nur um zu zeigen, dass ich aufgepasst hatte.

Einer seiner Mundwinkel zuckte.

»Dr. Maxwell, dies ist der leitende technische Direktor, Leon Farrell.«

Ich streckte meine Hand aus. »Freut mich, Sie zu treffen, Mr. Farrell.«

»Die meisten Leute hier nennen mich einfach Chief, Doktor.« Langsam streckte er ebenfalls die Hand aus und schüttelte meine. Seine Hand fühlte sich warm, trocken und voller Schwielen an. Die Hände eines arbeitenden Mannes.

»Willkommen im St. Mary’s.«

Mrs. De Winter klopfte auf ihre Armbanduhr. »Dr. Bairstow wird schon warten.« Ich nickte dem Chief zu, und wir setzten unseren Weg fort. Sekunden später hatte ich ihn vollkommen vergessen. Ich weiß – eine Aufmerksamkeitsspanne wie ein Teebeutel.

Nun, dies also war Dr. Edward Bairstow. Er stand mit dem Rücken zum Fenster, als wir eintraten. Ich sah einen großen, dürren Mann, dessen Kranz aus grauem Haar rings um seinen Kopf mich an die Federbüschel um den Hals eines Geiers erinnerte. Etwas abseits saß eine fantastisch aussehende Frau in einem vorteilhaft geschnittenen Kostüm mit einem Notizpad vor sich. Sie sah elegant und würdevoll aus und so, als sei sie sehr schnell mit einem Urteil bei der Hand. Dr. Bairstow stützte sich schwerfällig auf einen Gehstock und streckte eine Hand aus, die so kalt wie meine eigene war.

»Dr. Maxwell, willkommen. Danke für Ihr Kommen.« Seine leise, klare Stimme verströmte eine Menge Autorität. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er je schrie. Er war nicht der Typ Mann, der seine Stimme erheben musste, um für Aufmerksamkeit zu sorgen. Seine scharfen Augen begutachteten mich. Er ließ sich nicht anmerken, zu welchem Urteil er gelangte. Ich bin gewöhnlich nicht besonders gut im Umgang mit Autoritätspersonen, aber dies hier war auf jeden Fall eine Situation, in der man aufpassen musste.

»Ich danke Ihnen, dass Sie mich eingeladen haben, Dr. Bairstow.« Ab und an kann ich mich auch benehmen.

»Dies ist meine persönliche Assistentin, Mrs. Partridge. Wollen wir uns setzen?«

Wir nahmen Platz, und dann ging es los. Die erste Stunde lang sprachen wir nur über mich. Ich hatte den Eindruck, dass fehlende Hinweise auf nahe Verwandte und ein Mangel an engen Beziehungen eher zu meinen Gunsten ausgelegt wurden. Dr. Bairstow war bereits mit den Einzelheiten meiner Qualifikationen vertraut, und wir unterhielten uns eine Weile über den Krimskrams, den ich in Archäologie und Anthropologie nach meinem Studienabschluss erledigt hatte, und über meine Arbeitserfahrungen und Reisen. Ganz besonders interessierte er sich dafür, wie ich es fand, in anderen Ländern und in anderen Kulturen zu leben. Wie leicht fiel es mir, Sprachen zu erlernen und mich in ihnen verständlich zu machen? Hatte ich mich je in Gesellschaft anderer isoliert gefühlt? Wie war ich damit klargekommen? Wie lange brauchte ich, um mich irgendwo einzugewöhnen?

»Warum haben Sie sich für Geschichte entschieden, Dr. Maxwell? Bei all den aufregenden Entwicklungen in der Raumfahrt im Laufe der letzten zehn Jahre und dem Mars-Projekt, das kurz vor dem Abschluss steht – was hat Sie dazu gebracht zurückzublicken anstatt nach vorn?«

Ich machte eine Pause und ordnete und überarbeitete meine Gedanken. Ich war acht Jahre alt. Es war ein schlimmes Weihnachten gewesen. Ich saß in meinem Kleiderschrank auf dem Boden. Irgendetwas Unbekanntes drückte sich in mein Hinterteil. Ich rutschte herum und zog ein kleines Buch hervor – über Heinrich V. und die Schlacht von Azincourt. Ich las es, und dann las ich es wieder und wieder, bis es beinahe auseinanderfiel. Ich habe nie herausgefunden, wo es hergekommen war. Dieses kleine Buch entfachte in mir die Liebe zur Geschichte und setzte eine Kette von Ereignissen in Gang, die mein Leben veränderten. Ich besaß es noch immer. Es war so ziemlich das Einzige, was ich aus meiner Kindheit herübergerettet hatte. Geschichte zu studieren öffnete mir Türen in andere Welten und zu anderen Zeiten, und das wurde meine Zuflucht und meine Leidenschaft. All diese Tatsachen stutzte ich auf drei kurze, unpersönliche Sätze zurecht.

Von da aus ging es weiter zum St. Mary’s. Dr. Bairstow umriss die Funktionen und die Ausrichtung, und er erweckte den Eindruck einer großen, lebendigen und unkonventionellen Organisation. Ich stellte fest, dass mein Interesse daran immer größer wurde. Es gab keinen bestimmten Moment, an dem ich es hätte festmachen können, aber als er weitersprach, beschlich mich das Gefühl, dass ich irgendetwas verpasste. Dies hier war ein großer Campus. Sie hatten eine Sicherheitsabteilung und servierten vierundzwanzig Stunden am Tag warmes Essen; es gab eine Fertigungsanlage und jede Menge Ausrüstung und eine technische Abteilung. Er hielt einen Moment inne, schob ein paar Unterlagen hin und her und erkundigte sich dann, ob ich irgendwelche Fragen hätte.

»Ja«, sagte ich. »Was ist Hawking?«

Eine ganze Weile lang antwortete er nicht, dann drückte er sich ein Stückchen vom Tisch weg und warf Mrs. Partridge einen Blick zu. Die legte ihr Pad aus der Hand und verließ den Raum. Ich sah ihr hinterher, als sie ging, und wandte meinen Blick dann wieder Dr. Bairstow zu. Irgendetwas hatte sich verändert.

Er fragte: »Woher wissen Sie vom Hawking?«

»Nun«, sagte ich langsam, »es ist natürlich nicht allgemein bekannt, aber …«, und ließ den Satz an dieser Stelle verhallen. In neun von zehn Malen funktioniert diese Taktik. Dieses Mal allerdings nicht. Er starrte mich an, und die Stille dehnte sich. »Es erscheint mir nur merkwürdig, dass ein Hangar in einer Abteilung der historischen Fakultät nach einem berühmten Physiker benannt ist.«

Noch immer bekam ich keine Antwort, aber ich hatte nicht vor weiterzusprechen. Stille hat für mich nichts Furchteinflößendes. Ich verspüre nie den Drang, sie zu füllen, wie es bei so vielen anderen Menschen der Fall ist. Wir starrten einander eine Weile lang an, und es hätte durchaus interessant sein können, aber genau in diesem Augenblick kam Mrs. Partridge wieder ins Zimmer zurück und umklammerte einen Ordner, den sie vor Dr. Bairstow ablegte. Er schlug ihn auf und verteilte die Papiere vor sich auf dem Tisch.

»Dr. Maxwell, ich weiß nicht, was man Ihnen erzählt hat, aber vielleicht könnten Sie mir verraten, was Sie wissen.«

Er hatte meinen Bluff durchschaut.

»Absolut gar nichts«, sagte ich. »Ich habe gehört, wie der Name fiel, und habe mich gewundert. Ich bin auch neugierig, was die große Zahl an Mitarbeitern angeht. Wozu brauchen Sie ein Sicherheitsteam oder Techniker? Und warum muss jeder hier darüber informiert werden, dass ich mein »Gespräch« noch nicht hatte? Was geht hier vor sich?«

»Ich bin gern bereit, Ihnen alles zu verraten, was Sie wissen wollen, aber vorher muss ich Sie darüber informieren, dass ich das nicht tun kann, wenn Sie nicht vorher diese Unterlagen unterschreiben. Bitte beachten Sie, dass diese Dokumente rechtlich bindend sind. Das klingt vielleicht wie irgendeine obskure juristische Formel, aber um mich ganz unmissverständlich auszudrücken: Sollten Sie jemals auch nur ein Sterbenswörtchen von dem, was ich Ihnen gleich erzählen werde, nach außen dringen lassen, dann werden Sie mindestens die nächsten fünfzehn Jahre in einer Einrichtung verbringen, von deren Existenz keine Bürgerrechtsorganisation auch nur den leisesten Schimmer hat. Bitte nehmen Sie sich eine Minute Zeit, um sehr gründlich nachzudenken, ehe Sie fortfahren.«

Gründlich nachdenken war etwas für andere Leute. »Haben Sie mal einen Stift?«

Zuvorkommend förderte Mrs. Partridge einen Kugelschreiber zutage, und ich unterschrieb und zeichnete eine enorme Menge von Dokumenten ab. Dann nahm sie mir das Schreibgerät wieder aus der Hand, was im Grunde auch schon unsere ganze Beziehung umriss.

»Und nun«, sagte Dr. Bairstow, »werden wir Tee trinken.«

Mittlerweile war der Nachmittag in den Abend übergegangen. Dies hier dauerte deutlich länger, als für einen einfachen Forschungsauftrag angemessen gewesen wäre. Es war unverkennbar, dass es sich keineswegs um einen einfachen Forschungsauftrag handelte. Ich verspürte einen Hauch von Vorfreude. Irgendetwas Aufregendes würde geschehen.

Dr. Bairstow räusperte sich. »Da Sie nicht so klug waren, die Beine in die Hand zu nehmen und zu verschwinden, werden wir nun auch den Rest bereden.«

»Und das ist dann das berühmte Gespräch

Er lächelte und rührte in seinem Tee.

»Haben Sie angesichts von Forschungen und Archäologie und – nennen wir das Kind doch beim Namen – Herumgerate nicht auch schon einmal gedacht, wie viel besser es wäre, wenn wir stattdessen tatsächlich zu jedem historischen Ereignis zurückreisen könnten und selbst Zeuge sein würden? Um mit Fug und Recht sagen zu können: ›Ja, die Prinzen im Tower waren am Ende von Richards Regierungszeit noch am Leben. Und das weiß ich, weil ich es mit eigenen Augen gesehen habe.‹«

»Ja«, bestätigte ich. »Das wäre bestimmt eine tolle Sache, auch wenn mir durchaus ein paar Beispiele einfallen, wo eine solche Gewissheit nicht besonders geschätzt werden würde.«

Er schaute mit einem Ruck hoch.

»Als da wären …?«

»Nun, ein gewisser Stall in Bethlehem beispielsweise. Stellen Sie sich mal vor, Sie und Ihr Team schlagen dort mit Ihrer Polaroidkamera auf, und der Herbergsvater öffnet übereifrig die Tür und sagt: »Hereinspaziert, Sie sind meine einzigen Gäste, und es gibt jede Menge Platz hier im Haus.« Das würde doch für eine Menge Unruhe sorgen.«

»Was noch eine Untertreibung sein dürfte. Aber nichtsdestoweniger haben Sie den Sachverhalt glasklar erfasst.«

»Also«, sagte ich und beobachtete ihn genau, »vielleicht ist es ganz gut, dass es so etwas wie Zeitreisen nicht gibt.«

Er hob kaum merklich die Augenbrauen.

»Oder, um die Sache zu präzisieren, keinen allgemeinen Zugang zu Zeitreisen.«

»Ganz genau. Auch wenn die Bezeichnung »Zeitreise« so Sci-Fi ist. Wir benutzen sie nicht. Hier im St. Mary’s untersuchen wir große historische Ereignisse in zeitgenössischem Umfeld

Wenn man es so bezeichnete, ergab plötzlich alles einen Sinn.

»Sagen Sie mir, Dr. Maxwell, wenn die gesamte Menschheitsgeschichte wie ein glänzendes Band vor Ihnen liegen würde, wohin würden Sie reisen? Was würden Sie gern mit eigenen Augen sehen?«

»Den Trojanischen Krieg«, sagte ich, und meine Worte überschlugen sich beinahe. »Oder die Spartaner bei den Thermopylen. Oder Heinrich in Azincourt. Oder Stonehenge. Oder zuschauen, wie die Pyramiden gebaut werden. Oder Persepolis sehen, ehe es niederbrennt. Oder Hannibal beobachten, wie er seine Elefanten über die Alpen bringt. Oder nach Ur reisen und Abraham treffen, den Vater von allem.« Ich machte eine Pause, um Luft zu holen. »Ich könnte mal eine Wunschliste anfertigen.«

Dr. Bairstow lächelte dünn. »Vielleicht werde ich Sie eines Tages darum bitten.« Dann stellte er seine Tasse ab. Im Nachhinein erkenne ich, wie er sich während unseres Gesprächs langsam vorantastete, um sich eine Meinung von mir zu bilden, und wie er scheibchenweise Informationen preisgab, um meine Reaktionen darauf zu beobachten. Ich musste irgendetwas richtig gemacht haben, denn er sagte: »Nur so aus Interesse: Wenn man Ihnen die Möglichkeit eröffnen würde, bei einem der aufgezählten, aufregenden Ereignisse dabei zu sein, würden Sie dann zugreifen?«

»Ja.«

»Einfach so? Für manche Leute ist es naheliegend, sich danach zu erkundigen, wie es mit der sicheren Rückkehr aussieht. Manche lachen. Manche Menschen äußern Ungläubigkeit.«

»Nein«, erwiderte ich langsam. »Ich gehöre nicht zu den Ungläubigen. Ich denke sogar, es ist auf jeden Fall möglich. Ich wusste nur nicht, dass es bereits jetzt schon möglich ist.«

Er lächelte, sagte aber nichts, sodass ich mich weiter vorwagte. »Was geschieht denn, wenn man nicht zurückkann?«

Mitleidig schaute er mich an. »Eigentlich ist das das geringste Problem.«

»Ach ja?«

»Ja, sehen Sie, die Technologie existiert schon eine geraume Weile. Das größte Problem ist jetzt die Geschichte selbst.«

Ja, das erklärte alles. Aber, wie Lisa Simpson mal sagte: »Es ist besser, zu schweigen und für einen Dummkopf gehalten zu werden, als den Mund aufzumachen und damit jeden Zweifel wegzuwischen.« Und so blieb ich stumm.

»Stellen Sie sich die Geschichte als einen lebenden Organismus vor, der seine eigenen Abwehrmechanismen hat. Die Geschichte lässt nicht zu, dass sich irgendetwas an den Geschehnissen ändert, die bereits vergangen sind. Wenn die Geschichte auch nur für einen winzigen Augenblick befürchtet, dass das passieren könnte, dann wird sie, ohne zu zögern, den bedrohlichen Virus ausschalten. Oder den bedrohlichen Historiker, wie wir uns zu nennen pflegen. Und es ist ganz leicht. Wie schwierig ist es, einen zehn Tonnen schweren Gesteinsbrocken auf einen potenziell gefährlich werdenden Historiker fallen zu lassen, der gerade die Errichtung von Stonehenge beobachtet? Noch eine Tasse Tee?«

»Ja, bitte«, sagte ich, entschlossen, mir in puncto Kaltschnäuzigkeit nicht den Rang ablaufen zu lassen.

»Also dann«, sagte er, als er mir meine Tasse reichte, »gestatten Sie mir, dass ich Sie noch einmal frage: Angenommen, Ihnen würde die Möglichkeit eröffnet, das London des sechzehnten Jahrhunderts zu besuchen, sagen wir mal, um der Parade anlässlich der Krönung von Elizabeth I. beizuwohnen – Sie sehen schon, es geht nicht immer nur um Schlachtfelder und Blut –, würden Sie dann immer noch dort hinwollen?«

»Ja.«

»Es ist Ihnen also vollkommen klar, dass es nur um die Gelegenheit geht, zu beobachten und zu dokumentieren, ja? Irgendeine Form der Interaktion ist nicht nur außerordentlich unklug, sondern gewöhnlich streng untersagt.«

»Wenn man mir eine derartige Möglichkeit eröffnen würde, dann würde ich das sehr klar und deutlich begreifen.«

»Bitte seien Sie ganz ehrlich, Dr. Maxwell, rührt diese bewundernswerte Ruhe und Gelassenheit daher, weil Sie tief, ganz tief in Ihrem Innern denken, dass ich offenbar nicht mehr alle Tassen im Schrank habe und dass das eine Geschichte ist, die sich heute Abend prima im Pub erzählen lässt?«

»Tatsächlich, Dr. Bairstow, feiere ich gerade tief, ganz tief in meinem Innern eine verdammt wilde Party.«

Er lachte.

In Mrs. Partridges Büro saß wartend der stille, dunkelhaarige Mann mit den stechenden Augen, den ich auf der Treppe getroffen hatte.

»Ich werde Sie dann mal hier beim Chief lassen«, sagte Dr. Bairstow und raffte einige Papiere und Datenkristalle zusammen. »Sie haben einen interessanten Nachmittag vor sich, Dr. Maxwell. Viel Spaß.«

Wir verließen das Büro und gingen den langen Gang hinunter, der mir schon vorher aufgefallen war. Ich hatte das völlig verrückte Gefühl, in eine andere Welt einzutreten. Die Fenster, die in regelmäßigen Abständen auf der einen Seite des Flurs eingelassen waren, ließen das Sonnenlicht in breiten Streifen auf den Boden fallen, und wir wechselten von Helligkeit ins Dunkle, von Wärme in Kühle, von dieser Welt in eine andere. Am Ende des Korridors befand sich eine Tür mit einem Tastenfeld daneben.

Wir betraten einen großen, foyerartigen Bereich mit einigen weiteren, gewaltigen Türen gegenüber.

»Sicherheitstüren«, bemerkte der Chief beiläufig.

Natürlich, was hätte ich denn gedacht? Jedes historische Institut braucht Sicherheitstüren. Rechts von mir führte eine Treppe nach oben, daneben befand sich ein großer Aufzug mit den Ausmaßen eines Krankenhausfahrstuhls. »Zum Krankentrakt«, sagte der Chief. Links ging ein Flur mit einigen unbeschilderten Türen ab und verlief sich im Dämmerlicht.

»Hier entlang«, sagte er. Ob dieser Mann jemals mehr als zwei oder drei zusammenhängende Worte sprach?

Die großen Türen führten in einen riesigen, hallenden Raum im Stile eines Hangars. Ganz am anderen Ende konnte ich zwei verglaste Bereiche entdecken.

»Dies sind die Büros. Eins davon für IT.« Er machte einen Wink zum linken Raum. »Und einen für uns Techniker.« Nun deutete er auf den rechten. Auf einer Seite erstreckte sich über unseren Köpfen ein Gerüst wie eine Galerie, an deren Geländer drei oder vier Gestalten in blauen Overalls lehnten. Sie schienen auf irgendetwas zu warten.

»Historiker«, sagte er, nachdem er meinen Blicken gefolgt war. »Sie tragen Blau. Techniker laufen in Orange herum, IT in Schwarz und die Sicherheitsleute in Grün. Nummer drei sollte bald zurück sein. Das ist das Empfangskomitee.«

»Das ist … sehr freundlich«, sagte ich.

Er runzelte die Stirn. »Es ist ein gefährlicher und schwieriger Job. Es gibt kein Unterstützernetz bei dem, was wir tun. Wir müssen aufeinander achtgeben, deshalb auch dieser Empfang. Um ihnen beizustehen und damit sie sich alles von der Seele reden können.«

»Was muss denn von Ihrer Seele?«

»Was auch immer dem Team bei diesem Auftrag zugestoßen ist.«

»Und woher wissen Sie, dass der Mannschaft etwas zugestoßen ist?«

Er seufzte. »Es sind Historiker. Denen passiert immer irgendwas.«

Auf beiden Seiten des Hangars gab es zwei Reihen von hohen Sockeln. Riesige, dicke schwarze Kabel schlangen sich darum und verschwanden dann in Windungen in den schummrigen Bereichen dahinter. Einige Sockel waren leer, auf anderen standen kleine, hüttenähnliche Gebilde. Sie alle unterschieden sich ein bisschen in Form und Größe, und jedes sah aus wie eine bescheidene, schmuddelige Bude aus Steinen mit flachem Dach und ohne Fenster. Es war die Art von Bauwerk, wie sie praktisch überall zwischen Ur im Zweistromland und einer Kleingartensiedlung mitten in einer modernen Stadt zu finden sein könnte. Ausgestattet mit einer wackligen, von Hand gefertigten Leiter an einer Seite, mit einem kaputten Rad neben der Tür und einigen Hühnern, die ringsum mit Picken beschäftigt waren, dürften die Dinger praktisch unsichtbar sein.

»Und das sind …?«, fragte ich und deutete auf die Verschläge.

Zum ersten Mal lächelte er. »Dies ist unsere Basis während der Missionen. Wir nennen sie Pods. Wenn unsere Historiker einen Einsatz haben, dann leben und arbeiten sie darin. Nummer eins und zwei.« Er zeigte darauf. »Wir benutzen sie normalerweise als Simulatoren und für Ausbildungszwecke, weil sie klein und einfach sind. Pod drei müsste jeden Augenblick wieder zurückkommen. Pod fünf wird gerade für einen Sprung vorbereitet. Pod sechs ist unterwegs. Pod acht auch.«

»Wo stecken Pod vier und sieben?«

Leise antwortete er: »Verloren«, und blieb schweigend stehen. Ich konnte praktisch die Staubflocken in den einfallenden Streifen des Sonnenlichts tanzen hören.

»Wenn Sie ›verloren‹ sagen, meinen Sie dann damit, dass Sie nicht wissen, wo sie sich befinden, oder dass sie aus irgendeinem Grund nie zurückgekehrt sind?«

»Das eine oder das andere. Oder beides. Vier ist ins Jerusalem des zwölften Jahrhunderts unterwegs gewesen, weil es den Auftrag hatte, die Kreuzzüge zu dokumentieren. Das Team hat sich nie zurückgemeldet, und alle folgenden Rettungsversuche sind gescheitert. Sieben hat einen Sprung ins frühe römische Britannien gemacht, nach St. Albans, und wir haben die Besatzung ebenfalls nie wiedergefunden.«

»Aber Sie haben gesucht?«

»Oh, ja, noch wochenlang. Wir lassen unsere Leute nie einfach zurück. Aber wir haben weder sie noch ihre Pods entdecken können.«

»Wie viele Leute haben Sie denn schon verloren?«

»Bei diesen beiden Gelegenheiten zusammen fünf Historiker. Ihre Namen stehen in der Kapelle.« Er sah den verwirrten Ausdruck auf meinem Gesicht. »Auf unserer Gedenktafel für diejenigen, die nicht zurückgekommen oder gestorben sind oder beides. Unsere Verschleißrate ist hoch. Hat Dr. Bairstow das nicht erwähnt?«

»Doch«, sagte ich. »Er …« Ich wollte fragen, wie hoch, aber in diesem Augenblick begann ein Licht über dem Sockel mit der Drei zu blinken. Orangefarben gekleidete Gestalten tauchten scheinbar aus dem Nichts auf und schleppten Versorgungskabel, Transportwagen und allerhand Werkzeuge an. Und still und leise, ohne viel Tamtam, ohne Fanfare und ganz sicher ohne die Titelmelodie von BBC Radiophonic Workshop, materialisierte sich Pod drei auf seinem Sockel.

Nichts passierte.

Ich sah zum Chief. »Ähm …«

»Wir gehen nicht hinein. Sie kommen heraus.«

»Warum?«

»Die Dekontamination läuft noch. Sie wissen schon, Pest, Pocken, Cholera, diese Dinge eben. Wir sollten nicht hineingehen, ehe sie sich nicht haben blicken lassen.«

»Aber was ist, wenn sie verletzt sind?«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und jemand brüllte: »Einen Arzt!«

Die Techniker in Orange teilten sich wie das Rote Meer, und zwei Männer, die augenscheinlich Ärzte waren, kamen durch den Hangar getrabt. Dann verschwanden sie im Pod.

»Was geschieht da? Wer ist da drin?«

»Nummer drei? Das müssten Lower und Baverstock sein, die aus China, frühes zwanzigstes Jahrhundert, zurückkommen. Boxer-Aufstand. Es sieht aus, als wenn sie medizinische Versorgung bräuchten, allerdings ist es nichts Ernstes.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Wenn man genügend Rückankünfte mitbekommen hat, dann hat man ein Gefühl dafür. Das wird schon wieder bei denen.«

Wir standen beide schweigend da und beobachteten die Tür, bis endlich zwei Leute, ein Mann und eine Frau in orientalischer Kleidung, herausgehumpelt kamen. Die Frau hatte einen Verband quer über dem Auge, und der Mann trug einen Arm in der Schlinge. Beide schauten hinauf zum Gerüst und winkten. Die Männer in Blau winkten zurück und riefen Frotzeleien herunter. Die Heimkehrer und die Ärzte machten sich davon. Die orangefarben gekleideten Techniker umschwärmten den Pod.

»Wollen Sie mal einen Blick hineinwerfen?«

»Ja, bitte.«

Aus der Nähe wirkte der Pod sogar noch unpersönlicher und noch weniger beeindruckend als von der anderen Seite des Hangars aus.

»Tür«, sagte der Chief, und eine arg mitgenommene Tür, die wie aus Holz aussah, schwang lautlos auf. In diesem enorm großen Hangar wirkte das Innere des Pods klein und eng.

»Da sind Toilette und Dusche«, sagte der Chief und deutete auf eine abgetrennte Ecke. »Hier haben wir die Anzeigen.« Eine Konsole mit einer Ansammlung von völlig unverständlichen Anzeigen, blinkenden Lichtern, Knöpfen und Schaltern befand sich unter einem großen, an der Wand angebrachten Bildschirm; die Außenkameras zeigten jetzt nur noch einen Ausschnitt des Hangars. Zwei abgewetzte und ungemütlich aussehende Drehsitze waren auf dem Boden vor den Anzeigen befestigt.

»Der Computer kann per Hand oder Stimme aktiviert werden, wenn Sie mit jemandem sprechen wollen. Überall an den Wänden gibt es Fächer mit der Ausrüstung, die Sie für Ihren jeweiligen Auftrag benötigen. Schlafgelegenheiten können bei Bedarf hier herausgezogen werden. In diesem Pod können bis zu drei Leute bequem liegen, vier, wenn man etwas zusammenrückt.«

Dicke Kabelstränge führten an den Wänden hoch und verschwanden in der getäfelten Decke.

Mitten in diesem Durcheinander von ziemlich abgenutztem, aber zweifellos alle High-Tech-Kriterien erfüllenden Inventar entdeckte ich zu meiner Überraschung einen kleinen Teekessel und zwei Becher, die es sich auf einem Regalbrett unter einem ziemlich großen Erste-Hilfe-Kasten gemütlich gemacht hatten.

»Ja«, sagte der Chief ein bisschen resigniert. »Zeigen Sie mir eine Tasse Tee, und ich werde Ihnen mindestens zwei dazugehörige Historiker zeigen.«

In dem winzigen Raum müffelte es abgestanden nach verschwitzten Menschen, Chemikalien, heiß gelaufener Elektronik und nassem Teppich, und darunter mischte sich der beißende, alles durchdringende Geruch von einer Toilette. Ich sollte noch herausfinden, dass es in allen Pods gleich roch. Historiker pflegten Witze darüber zu machen, dass die Techniker den Gestank nahmen und die Pods drum herumbauten.

»Wie funktioniert es?«

Er starrte mich wortlos an. Okay, vielleicht war es eine dumme Frage.

»Und jetzt?«

»Gibt es noch irgendetwas, das Sie gern sehen würden?«

»Ja, alles.«

Und so bekam ich die »andere« Tour. Wir gingen zur Abteilung für Sicherheit, wo grün gekleidete Leute Waffen und Ausrüstung überprüften, auf Monitore starrten, herumrannten und sich immer wieder gegenseitig etwas zuriefen.

»Gibt es ein Problem?«, fragte ich.

»Nein, ich fürchte, wir sind einfach ein lauter Haufen. Ich hoffe, Sie haben keine heiligen Hallen des Lernens erwartet.«

Ich traf Major Guthrie, groß, mit dunkelblondem Haar, der damit beschäftigt war, irgendetwas zu tun. Er unterbrach seine Arbeit und starrte mich an.

»Können Sie schießen? Haben Sie je eine Waffe abgefeuert? Können Sie reiten? Können Sie schwimmen? Wie fit sind Sie?«

»Nein. Nein. Ja. Ja. Überhaupt nicht.«

Er wartete ab und musterte mich von oben bis unten. »Können Sie einen Mann töten?«

Ich sah ihn ebenfalls von oben bis unten an. »Mit genügend Zeit wohl schon.«

Er lächelte zurückhaltend und streckte seine Hand aus. »Guthrie.«

»Maxwell.«

»Willkommen.«

»Danke.«

»Ich werde Ihre Fortschritte mit großem Interesse verfolgen.«

Das klang gar nicht gut.

Wir beendeten den Rundgang mit einer Besichtigung des Außengeländes, das sehr schön war – wenn man die seltsam verkohlten Stellen im Gras und die fast blauschwarzen Schwäne außer Acht ließ. Gerade als ich den Mund aufmachte, um etwas zu fragen, gab es einen kurzen Knall im zweiten Geschoss, und die Fenster bebten.

»Warten Sie«, sagte Chief Farrell. »Ich habe diese Woche Dienst und will sehen, ob der Feueralarm losgeht.«

Ging er nicht.

»Das ist nicht so gut, nicht wahr?«, fragte ich.

Er seufzte. »Nein, das bedeutet, dass sie wieder einmal die Batterien rausgenommen haben.«

Ich war hier wirklich genau am richtigen Fleck.