Über das Buch
Die Grafikerin Jef schlägt sich in der Großstadt mehr schlecht als recht durchs Leben. Als in einem mondänen Urlaubsort ein Stipendium ausgeschrieben wird, gerät Jef durch eine übermütige Lüge unter die fünf ausgewählten Künstler. Dank ihres frisierten Lebenslaufs zieht sie in die marode Villa Strand. In der Gruppe kommt Jef sich vor wie eine Hochstaplerin; und sie ist es ja auch. Ist Jef zu ungebildet, um die elitäre Kunst zu verstehen, oder steht sie in Wahrheit vor einer Fassade? Die ohnehin schon wechselhafte Dynamik läuft durch das Auftauchen einer alten Frau aus dem Ruder. Die Frau ist der Familie Strand offenbar ein Dorn im Auge. Jef beginnt, der Geschichte auf den Grund zu gehen.
Über die Autorin
Franziska Hauser, geboren 1975 in Pankow/Ostberlin, hat zwei Kinder. Sie studierte Fotografie an der Ostkreuzschule bei Arno Fischer und ist Autorin. Ihr Debütroman Sommerdreieck erhielt den Debütantenpreis der lit.COLOGNE und stand auf der Shortlist des aspekte-Literaturpreises. Ihr zweiter Roman Die Gewitterschwimmerin war für den Deutschen Buchpreis nominiert.
FRANZISKA HAUSER
KEINE VON IHNEN
ROMAN
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille
Einband-/Umschlagmotiv: Franziska Hauser, Berlin
eBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-2368-8
luebbe.de
lesejury.de
Wir sagen Naturschauspiel, aber alles an der Natur ist echt, nie gespielt. Unecht sind nur die Menschen. Da ist einfach zu viel Luft zwischen denen. Sie möchte reden, ohne Vorsicht walten zu lassen, ohne befangen zu sein, die Hand ausstrecken. Die selbstsicher reden, versteht man nicht. Die von sich plappern, sehen einen nicht. Kunst hilft, die eigenen Störungen unter Kontrolle zu halten. Alle Künstler sind Trickser. Nur stören die sich am wenigsten dran. Man wünscht ihnen das Schlimmste an den Hals. Zum Beispiel ein erfülltes Sexualleben.
Sie hat mit dem Alltag genug zu ertragen. Sie möchte ihnen entfliehen. Den Umgangstönen. Allein wie ein Schreiben abzufassen ist, nervt. Schreib einfach: Wir möchten eine Responsibilität für die suffiziente Reputation vor Ort aufspüren, um unser Renommee zu sublimieren. Behaupte einfach, Schriftstellerin zu sein. Bewirb dich für Literatur. Klappt es, lebst du in der Klapsmühle der Stipendiaten. Die Tage sind leer. Die Gespräche öden dich an. Du kannst mit allem nichts anfangen. Was an den anderen lebendig ist, geistert urtot als Gespenst herum.
Die betreiben Kunst, um nicht arbeiten zu müssen. Wo die Miete gezahlt wird. Wo du Kunst aus dir pressen musst zum Dank. Wärst du obdachlos, gehörte die Welt dir. Du redest mit den Vögeln. Du atmest die gleiche Luft wie sie. Ohne dass deine App die Atemzüge mitzählt. Dich davon abzuhalten, ist aller Stipendien oberster Sinn. Der Rest ist Waschmaschinenprogramm, Toastbrot, Nudelsalat. Nach drei Monaten gehen alle auseinander, getrennter als vorher schon. Die Obdachlosen; vielleicht sind sie es ja auch nur, weil sie zu oft abgelehnt worden sind und keinen Bock drauf hatten, weiter zu tricksen.
Peter Wawerzinek
»Jennifer!«, brüllte ihr Vater. Sie hätte die Tür nicht öffnen dürfen, bevor das Auto ganz stillstand, das musste sie wirklich lernen.
Wegen der Katzen und um die Großmutter wiederzusehen, war sie gleich zum Haus gerannt. »Nächstes Jahr kommst du als Schulkind zu mir«, hatte die Großmutter im vorigen Sommer gesagt.
Im Flur erschrak Jennifer für einen Moment. Der Spiegel hing schon immer an der Garderobe, aber gesehen hatte sie sich darin noch nie. Jetzt stand sie ihrem gebräunten Gesicht gegenüber, verstand, dass sie gewachsen war, und dann verstand sie, dass sie in dieser Geschwindigkeit weiterwachsen würde, ob sie wollte oder nicht.
Ihre Sommerfreundin hatte sich auch verändert, trug jetzt Brille, und der Pferdeschwanz war ab.
Nachdem alle Schubladen in Haus und Scheune durchsucht waren, fand sich eine Rolle Draht und Jennifer machte sich selbst eine Brille. Eine Schere fand sich auch.
»Das darf man nicht alleine machen!«, rief die Sommerfreundin entsetzt und rannte aus der Scheune. »Jenny hat sich den Zopf abgeschnitten!«
Die Eltern waren darüber weniger empört als über das voreilige Öffnen der Autotür.
Jetzt war die Verbundenheit zwischen den Mädchen wiederhergestellt, und sie richteten ihre Höhle aus dem letzten Jahr ein, unter der umgestürzten Erle, deren Wurzel wie eine Theaterkulisse gegen den See stand.
Jennifer liebte auch die einsamen Scheunennachmittage, wenn ihre Freundin bei Kaffee und Kuchen zu Hause bleiben musste. Niemand hörte ihre rumplige Musik auf dem verstimmten Klavier. Hühner saßen auf dem Deckel des Instruments, Tasten fehlten und die Drahtsaiten hatten sich gelöst.
»Was hat das Kind an der Hand?«, sagte die Großmutter. »Komm, gib brav dein Händchen her, Jennylein.« Die Großmutter zog ihr die Hand hinterm Rücken vor. »Nein, das gibt’s doch nicht! Weißt du denn gar nicht, dass du damit Geld verdienen kannst?«, setzte ihre Brille auf und schrieb einen Kaufvertrag. »Zwei Mark pro Stück. Wie viel bekommst du dann?«
»Sechs?«
»Richtig! Und jetzt schreib deinen ganzen Namen. Ohne Unterschrift ist es ja nicht gültig.« Jenifer Marie Brakel, schrieb sie langsam und sauber.
»Na, da hast du mir ja ein N übrig gelassen?«, sagte die Großmutter, »ich werd es für dich aufbewahren«, und schrieb Annnelies Marie Brakel.
Die drei Pflaster mit Zauber-Honig durfte Jennifer erst nach siebzehn Tagen abreißen, und da ließ die aufgeweichte Haut sich wegwischen wie Kaugummi. Die Warzen hatte Oma in einer kleinen Metalldose, die klapperte und die Jennifer nicht haben durfte, weil die Geschwüre sonst wieder an ihre Hand gesprungen wären.
Auf dem Heimweg weinte sie. Aber es war ein Fehler, zu weinen. Eine Charakterschwäche, wie ihr der Vater erklärte. Sie müsse lernen, nicht so empfindlich zu sein. Jennifer weinte leise.
*
Baby, do you understand me now … singt ihr Klingelton, und so beginnt jeder Anruf mit der Bitte um Verständnis.
Jef geht aus dem Büro, setzt sich mit einer Zigarette auf die Feuertreppe, den Rücken gegen die warme Ziegelwand gelehnt, und ruft ein energisches »Ja!« ins Telefon, wie um ihr Verständnis vorzuschießen. »Gerburg Strand!«, sagt eine Frauenstimme streng, und Jef presst vor Schreck ihre Zigarette in den Aschenbecher. »Spreche ich mit Jennifer Brakel?«
Schlagartig wird ihr bewusst, dass die erfundene Geschichte über die Zusammenarbeit mit Professor Strand zwar schon bruchstückhaft in ihrem Hirn herumliegt, sich aber noch nicht glaubhaft vortragen lässt. »Ja, das bin ich.«
Sie sei aufgrund ihrer Zusammenarbeit mit dem Künstler ausgewählt worden, teilte die Stimme mit, als müsste Jef jetzt für ihre Lüge bezahlen. Wann sie vor Ort zu sein habe und dass eine Anwesenheitspflicht für die Dauer von drei Monaten bis zur Jubiläumsveranstaltung gelte, da sonst das Stipendium zurückzuzahlen sei, wird wie eine amtliche Verordnung ins Telefon gebellt. Jef kann nur Ja und Nein sagen, und nach dem Gespräch hat sie das Gefühl, sich versehentlich in blöde Schwierigkeiten gebracht zu haben. Sie versucht, die angerauchte Zigarette aus dem Aschenbecher zu reparieren, und weiß, sie ist eine Betrügerin. Eine Hochstaplerin.
Ihr Bewerbungstext war doch damals nur eine alberne Spielerei gewesen. Diese Unbeschwertheit ist ihr jetzt ein Rätsel.
Es war die beste Zeit ihres Lebens, als sie mit Rita zusammenwohnte und es Weinabende gab, an denen sie in der Küche gesessen und überlegt hatten, wo sie das Geld für die Miete herbekamen. Jef suchte nach Kunststipendien, und es war lustig, für das Anschreiben angesagte Fremdworte so unsinnig wie möglich aneinanderzureihen. »Wir müssen unsere Arbeit unbedingt als transformative Versuchsanordnung bezeichnen, und auf jeden Fall muss das Wort Schnittstelle vorkommen«, hatte Rita gesagt, mit den Füßen getrampelt und die Hand auf den Tisch gehauen vor Lachen. »Schreib mal: Wir möchten eine Responsibilität für die suffiziente Reputation vor Ort aufspüren, um unser Renommee zu sublimieren.«
Jef schrieb es auf. Abgeschickt hatten sie die absurde Bewerbung damals nicht.
Vor zwei Wochen fand Jef sie wieder. Ihre ernst gemeinten Bewerbungen für Ideenausschreibungen wurden nie beantwortet. Warum diese?
Das Telefon klingelt wieder. Auf dem Display steht: Sparkasse. Wie können die erwarten, dass ich freiwillig einen Termin mache, damit die Bank mein überzogenes Konto sperren kann, denkt Jef. Please don’t let me be misunderstood, lässt sie das Handy weitersingen.
»Das will doch keine Sau so genau wissen, was der Typ mit dir gemacht hat«, sagt eine Kollegin, die zum Rauchen rausgekommen ist und hinter den langweiligen Aktfotos, die Professor Strand vor Jahren von Jef gemacht hat, Erotikbilder vermutet. »Fahr dahin, Mann. Mach das, echt. Ist doch ein Traum. Bisschen Kunst machen und dafür bezahlt werden! Hallo?«
»Was soll ich denn bitte für eine Kunst machen?«, sagt Jef. »Ich hab noch nie Kunst gemacht. Ich hab überhaupt nichts zu sagen!«
Als Jef abends an der Bushaltestelle sitzt, beobachtet sie zwei lachende Mädchen in High Heels, die um eine Ecke biegen, als erschienen sie direkt auf einer Kinoleinwand. Lange Haarsträhnen fliegen ihnen um die Schultern. Jef kennt diese übermütige Stimmung, in der sie das Getriebe der Großstadt einmal geliebt hat und sich von der Großstadt geliebt fühlte. Sie kennt diesen Zustand, in dem es reicht, den richtigen Song zu hören, um mit allen Männern der Stadt schlafen zu wollen. Warum macht es sie nicht mehr glücklich, im kurzen Rock mit einer Freundin auf einem Barhocker zu sitzen und Cappuccino zu trinken?
*
Wenn Jennifer als Kind krank war, hatte ihre Genesung dem strengen Plan zu folgen, den ihre Mutter festlegte. Jedes Mal, wenn die Mutter das Zimmer betrat und unangenehme Utensilien auf einem Tablett hereintrug, hatte sie diesen genervten Blick, und Jennifer wusste: Es war ihr eigener Fehler, krank zu sein. Es hätte vermieden werden können und durfte nicht wieder vorkommen. Temperatur und Tabletteneinnahme wurde in eine Tabelle eingetragen, und das Kranksein bestand aus dem kontrollierten Ablauf aller Bedürfnisse. Jede Bewegung, die Jennifer machte, unterlag entweder einer Pflicht oder einem Verbot. Mit schlechtem Gewissen lag sie im Bett und wusste, in der Schule musste ihretwegen der Unterrichtsplan geändert werden, Vertretungslehrer mussten einspringen, Stunden fielen aus, und das nur, weil die Tochter der Lehrerin Fieber hatte.
Mit zehn Jahren begann sie jedes Unwohlsein vor der Mutter zu verbergen und nahm heimlich Medikamente. Wenn sie erkältet war, beeilte sie sich in der einen Stunde, die sie vor ihren Eltern nach Hause kam, Dampfbäder zu machen, Zitronentee zu trinken, Vitamine zu nehmen, heiß und kalt zu duschen. Vor den Eltern gab sie sich alle Mühe, gesund zu wirken.
In den Sommerferien wurde sie endlich zur Großmutter gebracht.
Wie wenig Jenny und ihre Sommerfreundin aus dem Nachbarhaus brauchten, um sich frei zu fühlen. Eine Feuerstelle, Wasser und eine Decke. Die Höhle am Waldrand war alle Sommer leicht wiederherzustellen. Hier ein dicker Ast drüber, da ein paar Zweige angelehnt, dann Moos und Blätter, und sie konnten vor ihrem Ausweichlager sitzen, wo sie ungestört waren. Jeden Tag nahmen sie Essen mit, bauten weiter und gingen am Abend Hand in Hand singend zurück. Dass sie für immer zusammenbleiben würden, war klar.
Die Eltern lachten sie aus, als sie ihre Tochter am Ende der Ferien von der Großmutter abholen kamen und Jennifer dem Umzugsauto ihrer Sommerfreundin hinterherrannte, die zum sechsten Schuljahr in die Stadt zog. Jennifer stolperte in den Straßengraben und blieb weinend liegen. Sie hasste ihre Eltern dafür, dass sie sich so einig waren.
Die Oma und die Sommerfreundin mehr zu lieben als die Eltern, musste bedeuten, mit ihr stimmte etwas nicht.
Am Freundeverlieren zu leiden, betrachteten die Eltern als harmlose Kinderkrankheit, die sich verwachsen würde. Das konnten nicht ihre Eltern sein, dachte sie. Die mussten sie adop-tiert haben. Ihre wahren Eltern mussten Leute mit Gefühlen gewesen sein. Wo sonst sollte sie die herhaben?
*
Jef packt ihren Koffer mit dem Gefühl, einen Fehler zu machen.
Als sie ihn über den U-Bahnhof zieht, kann sie sich kaum noch vorstellen, die erstickende Wärme in den letzten Wochen als kühl empfunden zu haben. Jetzt ist die Luft kalt und der Tunnel warm.
Sie fährt durch die Keller der Großstadt, hat sich an dieses Getriebe längst gewöhnt.
Am Hauptbahnhof zieht sie ihren Koffer durch die Menschenmenge und versucht zielstrebig zu wirken, obwohl sie nicht weiß, auf welcher der vier Ebenen des verkreuzten Bahnhofs ihr Gleis liegt. Wer nicht zielstrebig wirkt, wird angerempelt, wie der Mann mit der einzelnen Rose, der verirrt an der Rolltreppe steht. Sieht nicht aus, als ob das helfen wird, will Jef ihm laut zurufen.
Sie weiß nicht mehr, was sie damals mehr geärgert hat, als ihr letzter Freund auf diese hilflose Idee mit der Rose gekommen war: Dass Rosen offenbar nur im Notfall vorkommen, oder der leidende Blick, in dem die Bitte lag, wenigstens aus Mitleid bei ihm zu bleiben.
Während Jef zwischen grauen Schallschutzwänden wie durch einen Graben fährt, wird sie unruhig und fürchtet sich vorm Rasen in ihre unsichere Zukunft. Lieber würde sie schlafen, vertraut aber dieser Betonzwischenwelt nicht. Als endlich Wälder zu sehen sind, macht es sie kaum zufriedener. Die Bäume sehen vertrocknet aus, und die Vorfreude, die sich sonst beim Zugfahren eingestellt hat, flackert nur als Erinnerung auf.
Sie würde gerne mit jemandem reden, um zu testen, wie glaubwürdig es klingt. Beiläufig, als wäre es nicht das erste Mal, dass sie im Haus eines Künstlers mit Künstlern wohnt, um Kunst zu machen, würde sie den Hinweis fallen lassen: Sie wird jetzt für drei Monate eine Stipendiatin sein.
Der alte Mann, der neben ihr sitzt, ist aber mit Brille, Zeitschrift und Fahrkarte so beschäftigt wie mit einem komplizierten Puzzle, und die Frau gegenüber sieht aus wie eine Echse: Riesenaugen und ein dünnlippiger Mund, der offen steht. Ihre kleine Zungenspitze huscht unruhig herum und schnellt andauernd zwischen den Zähnen hervor. Jef hält es kaum aus, sie nicht andauernd im Blick zu behalten, um sicherzugehen, dass ihre Zunge nicht blitzartig ausrollt, um ihr eigenes Auge abzulecken.
Immerhin war der Koreaner beeindruckt, der jetzt in Jefs Bett schläft, auf ihrem blauen Küchensofa sitzt und ihre Miete bezahlt.
Im Gegensatz zu Jefs Frage nach einem Nebenjob, mit dem sie ihre Selbstständigkeit als Gebrauchsgrafikerin finanzieren konnte, waren auf ihre Rundmail, in der sie ihre Wohnung zur Untermiete angeboten hatte, sofort Reaktionen gekommen.
Sie steigt um, kauft in dem fremden Bahnhof einer fremden Stadt einen Espresso, setzt sich auf ihre Tasche und beobachtet den Vorplatz. Woanders neu anzufangen, wäre womöglich eine Lösung. Es muss Städte geben, in denen das Leben weniger schwer ist. Städte, in denen Rechnungen einfach bezahlt werden, ohne dass man darum kämpfen muss. Mittelmäßige Städte für ein mittelmäßiges Leben, in denen mittelmäßige Kompetenzen ausreichen. Jef würde einen mittelmäßigen Freund finden und in eine mittelmäßige Zufriedenheit verfallen.
Der Gedanke ist nicht neu. Er hat sich oft angeboten, wie ein trockenes Stück Kuchen, das sie endlich nehmen würde, wenn sie entweder keine Torte mehr sehen könnte oder halb verhungert wäre.
Vielleicht würde sie einen Mann finden, der ihr immerzu die Welt erklärt. Einen, über den sie sich mit Rita lustig gemacht hätte, als sie noch befreundet waren. Rita äffte diese Männer im Vorbeigehen nach »Pass mal auf Baby, das ist so …«, sagte Rita mit tiefer Stimme und einem Gang wie ein Affe. »Das Gras ist grün und der Himmel ist blau, verstehst du?«
Vielleicht würde es reichen, wenn er dabei eine angenehme Stimme hätte. So einer würde Jef endlich vom Selberdenken abhalten.
Sie steigt in einen anderen Zug, der genauso aussieht wie der vorherige, setzt sich auf den gleichen Platz, rechts am Ende eines Waggons, und fährt weiter.
Als der Vater eines unzufriedenen Babys aggressiv mit einer Rassel klappert, denkt Jef schon wieder an Rita. Rita hätte sicher so etwas gesagt wie: »Guck, das macht er, weil er dem Kind am liebsten eine runterhauen will. Dazu werden solche Klappern nämlich hergestellt.«
Vielleicht hätte Rita daraus eine Performance entwickelt, sich nackt an eine Säule fesseln lassen, mit Kinderrasseln geklappert und die Gäste aufgefordert, sie zu ohrfeigen.
Ein bärtiger Mann in bunten Turnschuhen setzt sich Jef gegenüber, starrt auf eine kalte Zigarette, die er zwischen den Fingern hält, und wippt mit dem Knie, als müsse er die Zylinderkolben des Zuges antreiben. Dann hält er ein winziges Handy ans Ohr und flüstert so, dass es freundlich klingen soll: »Ich würd dich nachher gerne ein bisschen zuballern.«
Er wirkt seltsam fürsorglich. Jef wünscht sich, jemand würde so etwas zu ihr sagen.
Schließlich bleibt der Zug auf der Strecke stehen. Große Vögel fliegen langsam über offene Rinderställe unter Wellblechdächern, wo Hunderte schwerer Tiere dicht zwischen Eisenstangen stehen und beim Atmen dampfen. Jef sieht, wie ein Mann mit armlangem rosa Gummihandschuh etwas aus einer Kiste nimmt und durch die unruhig muhenden Reihen geht.
Der Zug fährt weiter, und Jef überlegt, ob sie mit einem zusammen sein könnte, der Kühe besamt. Einer muss es ja machen, würde so einer bestimmt sagen, und was Rita dazu sagen würde, wäre: Die Tiere könnten das sicher selber. Aber vielleicht denkt so einer gar nicht darüber nach.
Mit dem letzten Umsteigen sitzt sie in einem gläsernen Panoramawagen. Die Bahnlinie gehöre zum Weltkulturerbe, erklärt eine Ansage, und Jef schläft endlich ein. Die Wange im Pullover, zwischen Kopf und Scheibe, schreckt sie hoch bei Durchsagen, in denen Worte vorkommen wie: spektakulärster Streckenabschnitt, imposanteste Schlucht. Jef kommt sich vor wie damals als Kind, wenn die Eltern aus dem Auto auf jedes Pferd zeigten, das in der Landschaft herumstand. »Harmonisch eingebettet in die atemberaubende Landschaft der sagenumwobenen Bergwelt, sehen Sie links das charmante Kreisviadukt.« Jef hebt das Handy zu spät vor die Scheibe, die Kamera reagiert zu langsam, und schon ist die imposante Schlucht mit dem Eisbach unter dem Zug durchgetaucht. Zu müde zum Staunen schläft sie ein.
Im Schlaf ist Jef glücklich. Alles ist richtig. Sie muss nicht arbeiten, nicht denken, sich nicht selbst optimieren, weil Schlafen ein optimaler Zustand ist. Sie muss nicht selbst leben, nicht essen, kein Essen kaufen und vor allem kein Geld verdienen, das dann doch wieder nicht für die ganze Miete reicht. Als sie diesen herrlichen Zustand verlassen muss, bedankt sich die Stimme gerade fürs Bereisen der hundertjährigen Bahnstrecke.
Der alte Professor ist hier also mit der Bahnstrecke geboren worden. Jef stellt sich vor, dass er als Kind eines Ingenieurs oder Gleisarbeiters hergekommen sein könnte. Vielleicht hat sein Vater diese Schwellen verlegt, die Viadukte gemauert und seine Mutter die Kleider der Bahnarbeiter gewaschen oder ihnen Essen gekocht.
Jef zieht ihren Koffer hinunter zum See, um den die Häuser der Stadt sich versammelt haben. Die Luft ist seidig, als sie zur Uferpromenade hinabgeht. Erst nachdem sie ihren Blick eine Weile in das blaugrüne Wasser getaucht hat, fragt sie nach dem Weg.
Das Geburtshaus von Professor Strand liegt am Hang gegenüber, nah am Wasser, umgeben von niedrigen Nadelbäumen, und sieht unscheinbar aus für seine Größe. Hellgrau und verletzbar. Nicht so robust wie die umliegenden Gebäude.
Es ist kalt. Die Menschen, die um den See spazieren, vergraben die Gesichter in den Schals und sind den Wind nicht gewohnt, der ihnen in die Jacken bläst und durch die Haare jagt. Gestern muss es hier wärmer gewesen sein. Das verrät die feuchte Luft, die noch mit dem Geruch von warmem Stadtstaub vermischt ist.
Dieses Haus, Gott bewahr, vor falschen Freunden und Gefahr, liest Jef, als sie im Näherkommen die sorgfältige Schmuckschrift über den Fenstern der zweiten Etage erkennt. An dem löchrigen Putz und der gewaltigen alten Holztür und an den zarten Fensterstreben, von denen der Lack blättert, sieht Jef: Hier ist seit Jahren nichts ausgebessert worden.
Residenzprogramm Haus Strand, steht auf einem flatternden Zettel, der mit einer Reißzwecke an der Tür befestigt ist und noch keinen Regen abbekommen hat.
Die Eisenklinke lässt sich nicht bewegen. Jef findet eine kleine primitive Plastikklingel, die an einem Kabel baumelt und nicht aussieht, als könnte sie etwas bewirken. Aber irgendwo im Inneren löst sie einen leisen Ton aus.
Niemand öffnet, und als Jef mit beiden Händen an der Klinke rüttelt, lässt die Tür sich doch öffnen, als habe sie entschieden, Jef erst jetzt, nachdem sie geklingelt hat, einzulassen. In dem großen Vorraum steht eine Kommode mit Kunstzeitschriften und einem historischen Telefonapparat. Licht fällt durch die bunten Scheiben über der Tür auf die gemusterten Bodenfliesen. In jeder Ecke ein samtgepolsterter Stuhl. Jef ist nicht sicher, ob sie das Haus als historisches Museum betrachten soll, oder ob es einfach von der Gegenwart vergessen wurde. Als sie die Tür mit der Sütterlin-Aufschrift: Büro öffnet, hört sie jemanden lachen. Das Büro ist holzgetäfelt, alte Schränke mit endlosen kleinen Schubfächern stehen herum und wirken, als wären sie seit einem halben Jahrhundert nicht mehr geöffnet worden.
Jef erschrickt vor einer alten Frau, die hinter ihr steht, einen Wischeimer trägt und mit einem Handfeger die Tür abfegt. »Weißt du, wo sie den Besen stehen gelassen hat?«, fragt die Frau, sieht Jef gütig an und hält den Kopf schief. »Nein?«, sagt Jef unwirsch, und die Frau lächelt mit penetranter Betulichkeit. Ihr fusseliges gelbgraues Haar ist hochgeknotet, Strähnen hängen vor dem Gesicht wie Spinnweben. Sie ist auf keinen Fall die Frau, mit der Jef telefoniert hat. Ihre Augen sehen aus, als wollte sie jedem Kind ihre knochige Hand hinhalten und sagen: Wolln wir mal in den Garten gehen und nachsehen, ob wir da was finden, woraus wir einen Kuchen backen können? Nur würde es wahrscheinlich jedem Kind vor ihrer Erscheinung grausen. Der zu große Kittel ist schief geknöpft. Sie fegt weiter an der Tür herum und lässt den Staub liegen, der sich in den Ecken gesammelt hat.
Als Jef an ihr vorbeigeht, riecht sie muffig, nach nasser Wolle bei Regen und nach ungewaschenem Haar. Noch etwas anderes, beißendes, von Terpentin, oder Katzenpisse, ist in diesem Geruch. »Sie wird vergesslich. So wird’s dir auch gehen.« Die Frau nickt verschmitzt, und Jef hat plötzlich Angst, von ihr verflucht zu werden.
Das Haus sieht von innen noch älter aus als von außen. Es riecht nach Keller. Jef geht die knarrende Treppe rauf, kehrt um, geht zurück, weil ihr einfällt, dass sie ihren Koffer nicht mit der verrückten Alten hier unten alleine lassen sollte. Jef zerrt den Koffer Stufe für Stufe hinter sich her.
Mit Schwung führt die Treppe über einen Absatz mit verwinkelter Diele hinauf in einen holzgetäfelten Salon. Eine lange Fensterfront lässt so viel Licht hinein, wie Jef es dem trüben Wetter nicht zugetraut hätte. Der Salon ist nur der Vorraum zu einem Saal, den sie jetzt betritt. Vier Menschen auf einer rosasamtenen Sitzgruppe am Ofen betrachten Jef.
»Hi«, sagt eine sehr kleine junge Frau mit neon-orangeroten Fingernägeln, die auf dem Sofa liegt, etwas kaut und »Sonja« sagt.
Sie geben einander befangen die Hand, als würde ihnen diese Förmlichkeit vom Haus aufgetragen, und Jef denkt, dass sie es wohl kaum fertigbringen wird, das Mädchen nicht Sunny zu nennen. Oleksii, ein dünner Mann mit schwarzem Bart und Glatze, sitzt neben ihr. Ein Zellstofftaschentuch steckt am Handgelenk im Pulloverärmel. Daneben Kevin, ein unscheinbarer Rothaariger. Er gibt Jef die Hand. »Nenn mich Vin.«
Ein breiter Mann mit Locken ist offenbar der älteste. »Wolf«, sagt er, und seine Hand ist warm und trocken.
»Jef«, sagt sie. »Hi, Jef«, singen die Neonfingernägel und tanzen kurz in der Luft. »Heißt du wirklich so?«, fragt Wolf. Jef hasst diese Frage und sie hasst ihren richtigen Namen. »Jennifer«, sagt sie. Wolf nickt. »Vin und Jef. Hört sich an wie Ikea-Stühle.«
Jef nimmt einen Keks aus der alten Blechdose, die auf dem Tisch steht, geht durch den Saal, sieht aus den Fenstern, um sich zu orientieren. Der Keks schmeckt verbrannt. Es hat zu nieseln begonnen. Zur Bergseite gibt es eine Terrasse mit Stühlen und Tischen, von denen Regen auf nasses Holz tropft. Zur Seeseite ein großes Rundbogenfenster. Es rahmt das dunstige Bild vom See ein und von den zufriedenen Häusern dahinter. Wie eine Betonwand steht der Nebel in endloser Gleichmäßigkeit über allem.