Mein Kollege Tobias Bachmann begann eine seiner Danksagungen mit den Worten Niemand schreibt ein Buch wie dieses wirklich alleine … und ich möchte ihn an dieser Stelle schamlos zitieren. Niemand schreibt ein Buch wie dieses wirklich alleine. Aber das ist nur die eine Wahrheit.
Die andere ist folgende: Je komplexer ein Roman wird, desto länger wird die Liste von Personen, bei denen man sich bedanken muss, da irgendwann der Zeitpunkt kommt, an dem man die Distanz verloren hat und den eigenen Roman nicht mehr beurteilen kann.
Zum Glück habe ich eine Reihe von hartnäckigen Testlesern, die mich seit Jahren auf jeden Fehler in meinen Manuskripten aufmerksam machen – so auch bei diesem Buch. Sehr zu meiner eigenen Verzweiflung. Manchmal hasse ich sie sogar dafür! Mein Dank geht daher an Günter Suda, Heidemarie Gruber, Jürgen Pichler, Michael Adam, Magdalena Adam und Gaby Willhalm. Sollte Ihnen ein Fehler im Manuskript auffallen, bleibt mir nur, ihn auf meine eigene Kappe zu nehmen, denn ich höre nicht immer auf meine Testleser.
Für rechtliche Informationen bedanke ich mich bei der Anwältin Dr. Mahler-Hutter, die mir trotz ihrer knappen Zeit immer bei einem Kaffeeplausch auf ihrer Terrasse mit Antworten weiterhalf. Meine kriminaltechnischen Fragen konnten mir der Berndorfer Polizeibeamte Robert Froihofer, der Berliner Staatsanwalt Frank Heller und zum mittlerweile vierten Mal ein Wiener Kripobeamter beantworten, der nicht genannt werden möchte, mir aber immer wieder mit seinen Ideen aus plottechnischen Zwickmühlen geholfen hat.
Was den psychotherapeutischen Aspekt anbelangt, so danke ich Alya Saleh und Dr. Helmut Jelem, die mich während intensiver Gespräche auf viele Ideen gebracht haben. Für medizinische Fragen standen mir Kamila Zientek, Ursula Sturm, Dunja Hu, Martina Tschenscher, Matthias Gassner und Dr. Christian Wörgetter zur Verfügung. Falls Sie mal jemanden umbringen möchten, fragen Sie am besten Dr. Christian Wörgetter – er hat unglaubliche Ideen.
Unbekannterweise danke ich Michaela Huber, Imke Deistler und Angelika Vogler für ihre unermüdliche Arbeit und ihre Publikationen auf dem Gebiet der dissoziativen Identitätsstörung, die mir wieder einmal die Augen für die komplexen Strukturen der menschlichen Seele geöffnet haben.
Last but not least gilt mein Dank Dr. Uwe Neumahr von der AVA-International, der mich knapp zwei Jahre lang unermüdlich betreut und mit mir die unterschiedlichsten Exposé-Entwürfe durchgekaut hat, bis wir diesen Stoff fanden. Während dieser Zeit gab er mir zahlreiche Tipps und Ratschläge, unterbreitete mir Verbesserungsvorschläge und versorgte mich mit Material und Buchempfehlungen, so dass ich an manchen Tagen den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sah. Dennoch – oder vielleicht gerade deswegen – war diese Zeit die lehrreichste für mich.
Zum Abschluss danke ich Lisa Gurdijew für die Geschichten, die sie mir ins Ohr geflüstert hat. Ich hoffe, die Arbeit hat sich gelohnt. Falls Sie ihr eines Tages begegnen sollten … kommen Sie ihr nicht zu nahe!
Andreas Gruber, geboren 1968 in Wien, studierte an der dortigen Wirtschaftsuniversität, arbeitet halbtags im Büro eines Pharma-Konzerns und lebt mit seiner Familie und vier Katzen in Grillenberg in Niederösterreich. Er ist zweifacher Gewinner des Vincent Preises und dreifacher Gewinner des Deutschen Phantastik Preises. Weitere Informationen unter www.agruber.com .
Die Tachonadel zitterte.
Hundertzehn km/h.
Das Cabrio holperte über die letzte Bodenwelle und raste in die steil nach links abfallende Kurve, die zum Leuchtturm führte.
»Ich weiß es nicht!«, brüllte Hockinson.
Und ob der Scheißkerl es wusste! Lisa spürte, wie die Fliehkraft sie aus dem Sitz hob. Unwillkürlich nahm sie den Fuß vom Gaspedal.
Sogleich trat Hockinson auf die Bremse.
Die Reifen quietschten.
Es war wie bei einem Achterbahnlooping. Der Fahrtwind zerzauste ihr Haar, die Möwen kreischten, und sie spürte das salzige Meerwasser auf den Lippen. Wenn sie sterben würde, musste es eben sein. Aber zumindest würde der Scheißkerl mit ihr krepieren. Sie riss die Arme hoch und schrie.
Währenddessen umklammerte Hockinson das Lenkrad. Der Wagen rutschte gefährlich nahe an den Klippen über die Straße. Sie beugte sich aus dem Wagen. Zwei Räder waren auf dem Asphalt, unter den anderen beiden spritzten Kieselsteine in den Abgrund.
Hockinsons Gesicht war so weiß wie der Kalkstein der Felsen. Schweiß lief ihm über die Stirn. Wie ein Rallyefahrer riss er das kleine Sportlenkrad herum und schaltete hektisch herunter, sodass das Getriebe gequält aufkreischte.
Am Ende der Steilkurve bekam er den Wagen unter Kontrolle.
Fünfundsechzig km/h.
Er ließ den Wagen ausrollen und lenkte ihn auf der nächsten Anhöhe zum Straßenrand. Einige Meter vor den Klippen hielt er. Unter ihnen lag der Leuchtturm auf der vorgelagerten Felseninsel.
Hockinson zog die Handbremse an. Der Motor tuckerte immer noch im Leerlauf.
Das Radio spielte »Stairway to Heaven«.
»Unglaublich!« Lisa strich sich das Haar aus dem Gesicht.
Hockinson sackte im Sitz zusammen. Seine Hände zitterten. Bestimmt stand er knapp vor einem Herzinfarkt.
Lisa fühlte sich so lebendig wie nie zuvor. Sie rückte auf dem Sitz herum. »Gratuliere, Eddie, du bist noch am Leben. Wie lautet der letzte Name auf der Liste?«
Hockinson sah sie nicht einmal an. »Steigen Sie aus«, keuchte er. »Sofort!«
Mit einem Satz hockte sie rittlings auf ihm. Er wollte sich wehren, doch bevor er seine Hände nach oben bekam, hielt sie bereits den Schal umklammert und zog an beiden Seiten.
Einige Perlen sprangen ab und verteilten sich im Fußbereich des Wagens.
»Ich weiß es nicht«, röchelte Hockinson.
»Der Name!«, brüllte Lisa.
Sie zog fester. Der Seidenschal schnitt tief in seinen Hals, sodass sich die Hautfalten über den Stoff wölbten. Binnen Sekunden lief sein Kopf dunkelrot an. Er versuchte nach ihren Haaren zu greifen, doch sie straffte den Schal so sehr, dass seine Augen hervortraten und ihm Tränen über die Wangen liefen.
»Der Name!«, brüllte sie.
Er brachte keinen Ton heraus. Sein Mund klaffte auf, die Zunge hing wie ein aufgequollener Fremdkörper in seinem Rachen.
Sie wusste selbst nicht, woher sie die Kraft nahm. Es kostete sie nicht einmal besonders viel Mühe, so fest zu ziehen, dass sie glaubte, sein Kopf könnte jeden Moment von den Schultern springen.
Psychisch Kranke bringen oft enorme, unerklärliche Kräfte auf … Wer hatte das gesagt? Marty? Doktor Gessler?
»Der Name«, flüsterte sie.
Doch Hockinson konnte schon längst nicht mehr antworten. Seine Augen starrten in den blauen Himmel, wo die Möwen über dem Wagen kreisten. Möglicherweise war er jetzt ebenfalls dort oben. Nein, nicht dort oben, korrigierte sie sich und blickte auf den in der Hitze flimmernden Asphalt. Der Knabe schmorte in der Hölle.
Sie ließ ihn los.
Hockinsons Augen bewegten sich nicht. Sein Kopf fiel schlaff zur Seite.
Hastig blickte sie zum Leuchtturm, dann in beide Richtungen der Küstenstraße. Weder Mensch noch Auto weit und breit.
Wie viel Zeit blieb ihr?
Sie sprang aus dem Wagen, spannte den Sicherheitsgurt über Hockinsons Bauch und ließ den Verschluss einrasten. Anschließend fing sie den Seidenschal ein, den der Wind herumwirbelte, und kroch damit unter den Wagen.
Es stank nach Benzin und verbranntem Gummi. Sie wickelte das Ende des Schals um die Radaufhängung der hinteren Achse. Sie durfte keinen Knoten machen. Es musste natürlich aussehen.
Nachdem der Schal straff herumgewickelt war, kroch sie unter dem Wagen hervor.
»Scheiße!«, fluchte sie. Nun war der Absatz ihres Stöckelschuhs tatsächlich abgebrochen. Rasch schlüpfte sie aus den Schuhen und warf sie an den Straßenrand. Danach beugte sie sich ins Wageninnere, um die Handbremse zu lösen.
Es fiel ihr nicht schwer, den Wagen anzuschieben. Die Kieselsteine knirschten unter den Rädern. Nach einigen Metern straffte sich der Schal. Hockinsons Kopf wurde nach hinten gezogen und gegen die Nackenstütze gepresst.
»Schlaf gut, mein Prinz«, flüsterte sie.
Nur noch wenige Meter bis zum Abgrund.
Aus dem Auspuff qualmte eine stinkende Wolke.
Schließlich rollten die Vorderreifen über die Klippe. Lisa stemmte sich ein letztes Mal gegen das Heck. Der Schal war mittlerweile zum Zerreißen gespannt.
Plötzlich gab der Widerstand nach, das Cabrio glitt über die Kante. Mit einem Splittern und Krachen stürzte der Wagen den Abhang hinunter, überschlug sich und blieb wenige Meter vor dem Leuchtturm liegen.
Lisa wandte sich ab. Sie blickte auf ihre dreckigen Hände und an ihrem ölverschmierten Kleid hinunter. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie barfuß war.
Wo waren ihre Schuhe?
Sie sah sich um.
Ihr schwindelte.
Am Straßenrand lag ein Paar eleganter Schuhe. Lisas Stöckelschuhe! Wie kamen die dorthin?
Wo war Lisa überhaupt? Sybil sah sich um.
Am Ende des Abgrunds lag ein verbeulter Wagen mit einer männlichen Leiche darin. Das Bild vor ihren Augen flimmerte. Sie griff sich an die Schläfen. Plötzlich waren wieder diese schrecklichen Kopfschmerzen da. Dieser Anblick! Hatte sie es schon wieder getan? Wie konnte das nur passieren? Das schlechte Gewissen krampfte ihren Magen zusammen. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr Schädel jeden Moment zerspringen.
Ich habe es für Lisa getan, schärfte sie sich ein. Um diese Sache endlich zu erledigen. Sie wiederholte den Satz wie ein Mantra. Immer und immer wieder.
Ich habe es für Lisa getan!
Endlich ließ der Druck nach.
Mit den Schuhen in der Hand lief sie über den Asphalt der Küstenstraße zum nächsten Ort.
»Ich wollte dir doch nur helfen«, murmelte sie.
Dir doch nur helfen.
Drei Tage nach den Ereignissen in Cuxhaven wurde Pulaski endlich aus dem Krankenhaus entlassen.
Während er ans Bett gefesselt war, hatten die Ärzte permanent an seiner Schulter herumgedoktert. Zumindest hatten ihm die Quacksalber ein Einzelzimmer mit Blick auf den Park an der Delitzscher Straße gegeben. Er hatte nicht einmal Bukowskis Hot Water Music zu Ende lesen können, da ihn seine Tochter und die Kollegen vom Revier besuchten, die Beamten des LKA Sachsen, die Ermittler aus Flensburg und sogar die hohen Tiere aus Hamburg und vom LKA Niedersachsen. Außerdem hatte sich Staatsanwalt Kohler, der Lackaffe, in sein Krankenzimmer bequemt, um ein Gespräch unter vier Augen mit ihm zu führen. Wenn er das schon hörte – unter vier Augen!
Trotz des ganzen Trubels kam Pulaski glimpflich davon. Horst Fux hatte ihn während der gesamten letzten Woche in den Dienst gestellt, und er hatte in dieser Zeit immerhin mehrere Morde aufgeklärt, Boltens Leichnam sichergestellt sowie Sybil und Greta Hockinson verhaften können. Ohne die junge Anwältin aus Wien wäre das natürlich nie so rasch über die Bühne gegangen. Aber der Zufall wollte es nun mal, dass er sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort getroffen hatte.
Natürlich zog der Fall einen Rattenschwanz an bürokratischen Komplikationen mit sich, aber für so etwas waren die Sesselpupser in den Ministerien zuständig. Ein wenig gefiel sich Pulaski sogar in der Rolle des »Helden«, wie ihn ein Reporter der Leipziger Volkszeitung in einem Artikel nannte. Zumindest war Pulaski das für seine Tochter, denn er hatte wie versprochen den Mörder von Natascha Sommer gefunden. Ein Lokalsender hatte sogar eine kurze Reportage über ihn gebracht, und er war für etwa dreißig Sekunden im Krankenbett zu sehen gewesen, wie er interviewt wurde und in die Kamera winkte.
Doch trotz all der Besucher – eine Person war nicht gekommen. Er hatte es sich gerade noch verkneifen können, Staatsanwalt Kohler nach ihr zu fragen. Außerdem hatte er sich vorgenommen, sie anzurufen, sobald er das Krankenhaus verlassen und statt des lächerlichen Anstaltskittels endlich wieder seine eigene Kleidung tragen konnte. Hoffentlich hatte Sonja Willhalm seinen peinlichen Fernsehauftritt nicht gesehen.
Pulaski trat ins Freie, den Arm in der Schlinge und den Mantel über der lädierten Schulter. Die Sonne schien. Ein warmer Herbsttag. Vor dem Haupteingang der Klinik wartete seine Tochter auf ihn. Sie trug Fetzenjeans mit Rissen über den Knien, die angeblich total in waren, Turnschuhe und eine blaue Windjacke und hielt ihr Skateboard mit den abgewetzten Rollen unter dem Arm. Sie hatte die gleichen Sommersprossen und dieselben spitzen Knie wie ihre Mutter, dachte er.
»Schulfrei?« Er blickte auf die Armbanduhr. Zehn Uhr vormittags.
Jasmin strahlte übers ganze Gesicht. »Ich habe frei bekommen – Pflegeurlaub! Meine Klassenkameraden haben dich im Fernsehen gesehen.«
»Du auch?«
Sie grinste schief. »Ich hab’s auf Video aufgenommen. Du warst nur kurz im Bild und sahst schrecklich aus – tust du übrigens immer noch! Wann rasierst du dich?«
Er strich sich über den Dreitagebart. »Heute Abend.« Dann langte er in die Manteltasche und kramte die Zigarettenpackung hervor. Seit seinem Besuch in Ochsenzoll hatte er die Glimmstängel nicht mehr angerührt. »Damit höre ich endgültig auf.« Er zerdrückte die Schachtel und warf sie in den Mülleimer neben der elektrischen Schiebetür. Ebenso das Feuerzeug.
»Mama wäre stolz auf dich.«
»Und du?«
»Natürlich auch.« Sie drückte ihn.
»Vorsicht.« Er musste lachen, weil sie sich wie ein Kleinkind an ihn quetschte. Sicherheitshalber schob er den angeschlagenen Arm zur Seite.
Während sie zur Busstation gingen, nahm er das Handy aus der Tasche.
»Hör mal kurz weg – ich muss ein Gespräch unter Erwachsenen führen.«
»Klar doch.« Sie schlüpfte unter seinen Mantel und sah gelangweilt den vorbeifahrenden Autos nach.
Zumindest tat sie so. In Wahrheit spitzte sie garantiert die Ohren, damit ihr kein Wort entging.
Pulaski wählte Sonja Willhalms Nummer. Nach dem fünften Klingeln hob sie ab. »Störe ich Sie bei einer Therapie?«
»Ich mache gerade Pause«, antwortete sie. Es folgte eine peinliche Schweigesekunde, ehe sie weitersprach. »Sind Sie noch im Krankenhaus?«
»Wurde soeben entlassen.«
»Ich hätte Sie gern besucht, aber wir hatten rund um die Uhr Leute von den verschiedensten Behörden hier, die alles auf den Kopf stellten. Meine Patienten reagierten dementsprechend.«
»Die Todesfälle von Natascha und Martin haben bestimmt eine Menge Staub aufgewirbelt.«
»Dank Ihnen.« Er hörte sie lachen. »Sie sind ein Held, ich habe Sie gestern Abend in den Nachrichten gesehen.«
»Meine Tochter sagt, ich habe schrecklich ausgesehen.«
»Na ja …« Sie lachte erneut. »In echt sehen Sie besser aus.«
Das war das Stichwort. Plötzlich schlug sein Herz schneller. »Ich bin Ihnen noch ein Abendessen schuldig.«
»Sie haben Ihr Versprechen nicht vergessen?«
»Wie könnte ich das?«
Er spürte, wie sich Jasmin aus der Umarmung löste. Sie sah ihn mit zwei zu großen Fragezeichen geformten Augen an.
Und? Wer ist sie?, las er auf ihren Lippen.
»Diesen Freitagabend? Ich hole Sie um acht Uhr ab.«
Gib mir bloß keinen Korb, dachte er. Gib mir bloß …
»Das würde mich sehr freuen.«
Für einen Moment war er sprachlos. Immerhin war es sein erstes ernstzunehmendes Date seit Jahren.
Jasmin boxte ihn in die Seite. Wer ist das?
»Fahr mit dem Skateboard zur Bushaltestelle!«, flüsterte er, wusste aber im gleichen Moment, dass Jasmin keine Sekunde von seiner Seite weichen würde, solange er telefonierte.
»Mit wem sprechen Sie?«
»Mit meiner Tochter. Sie ist ein Quälgeist.«
»Ich würde sie gern kennenlernen.«
»Was?« Pulaskis Herz machte einen Satz. Diese Aufregung hatte er während der letzten Jahre kein einziges Mal verspürt – nicht einmal im Dienst.
»Ich … wir könnten …«, murmelte er. »Vielleicht sollten wir …«
Da nahm ihm Jasmin das Telefon aus der Hand, sprang aufs Skateboard und rollte den Bürgersteig entlang.
»Hallo? Hier spricht Jasmin«, sagte sie.
»Bist du verrückt? Gib mir das Telefon!«, zischte er.
Doch Jasmin war schon zu weit entfernt, als dass er sie einfangen konnte.
»Falls Sie Lust haben, könnten Sie uns am Wochenende begleiten«, schlug Jasmin vor. »Wenn uns das Wetter keinen Strich durch die Rechnung macht, gehen Papa und ich mit dem Hund unseres Nachbarn in den Johannapark. Spielen Sie Frisbee? Tatsächlich? Der Hund ist komplett verrückt danach. Das sollten Sie sich nicht entgehen lassen. Haben Sie Papa übrigens in den Nachrichten gesehen? Genau. Er sah schrecklich aus, oder?« Sie kicherte.
Nach einer Weile kam Jasmin auf dem Skateboard zurück und hielt ihm das Handy frech vor die Nase. »So macht man das.«
Kommentarlos nahm er das Telefon und warf einen Blick auf das Display. Die Verbindung war unterbrochen.
»Wenn du das noch einmal machst …«
»Sie ist nett«, fiel ihm Jasmin ins Wort. »Ich freue mich schon darauf, sie am Wochenende kennenzulernen.«
»Ich sollte dich besser zu Hause lassen.«
»Kommt gar nicht in Frage. Nicht mal, wenn du mich mit Handschellen an ein Heizungsrohr kettest«, sagte sie in Anspielung auf die Fernsehreportage.
Dieses Biest! Er dachte an Sonja Willhalm. Was würde sie jetzt wohl von ihm denken? Dass er einen kleinen Drachen als Tochter und bei der Erziehung total versagt hatte? Aber immerhin schienen sich die beiden gut unterhalten zu haben. Zumindest hatten sie über ihn gescherzt. Frauen! Dabei hatte er ganz vergessen, Sonja zu erzählen, dass Lesja Prokopowytsch den Mordversuch in Göttingen trotz des starken Blutverlusts überlebt hatte. Sie befand sich wieder in der psychiatrischen Anstalt Herberhausen in Doktor Pinsgers Obhut. Der Arzt mit dem Blick eines aufgeschreckten Huhns hatte ihn gestern angerufen, um ihm von ihrer Genesung zu erzählen.
Egal, es würde noch weitere Gelegenheiten geben, um mit Sonja darüber zu reden – allein!
»Das nächste Gespräch ist beruflich, also schwirr ab!«
»Ja, Paps.«
Er sah ihr nach, wie sie grinsend ihre Runden auf dem Skateboard zog.
Mittlerweile hatte Pulaski die Bushaltestelle erreicht. Es wurde Zeit, nach Wien zu telefonieren. Er setzte sich auf die Holzbank und wählte eine Nummer, die er vor zwei Tagen per SMS erhalten hatte.
Kurz nach zehn Uhr vormittags war Evelyn mit allem fertig. Sie hatte sich am Montag auch noch Urlaub genommen und war erst an diesem Morgen in der Kanzlei erschienen. Seit Stunden arbeitete sie in ihrem Büro, und nun war die letzte Schachtel voll. Sie riss das Klebeband ab und warf die Rolle in die leere Schublade.
Ihr neues Handy klingelte. Eine deutsche Vorwahl erschien auf dem Display.
»Evelyn Meyers«, meldete sie sich.
»Können Sie mir eine gute Anwältin empfehlen?«
Sie lachte. »Herr Pulaski! Wie geht’s Ihnen?« Sie warf sich in den Stuhl und legte die Beine auf den Tisch.
»Wie sagt ihr Wiener doch immer? Ich kann nicht klagen!« Er erzählte ihr von dem Trubel der letzten Tage, bis er schließlich zum wichtigsten Punkt kam. »Seit gestern graben die Beamten mit rund einhundert freiwilligen Helfern die Dünen an der Küstengegend vor Wremen um.«
»Werden sie Manuels Leiche je finden?«
»Bestimmt«, antwortete Pulaski. »Die Kollegen gehen nicht gerade zimperlich mit Greta um. Sie ist ziemlich kooperativ und hat die Stelle genau beschrieben, an der sie und Bolten die Leiche des Jungen verscharrt haben. Zehn Jahre sind zwar eine lange Zeit, aber es wurden schon Tote gefunden, die länger unter der Erde lagen.« Er machte eine Pause. »Wie ist es bei Ihnen gelaufen?«
»Die letzten Tage waren hart, aber das brauche ich Ihnen ja nicht zu erzählen. Ich sprach mit Ihren Kollegen aus Flensburg wegen Smolles Selbstmord auf Sylt und mit Frau Doktor Melanie Gessler aus der Klinik in Ochsenzoll.«
»Oh, unsere gemeinsame Freundin.«
»Diesmal war sie sogar freundlich zu mir.«
»Was Sie nicht sagen.«
»Ich habe auch meine Kaffeehausrechnung bezahlt.«
Er lachte, dann wurde er ernst. »Wie geht es Sybil?«
»Sie ist zurzeit bei Gessler in Behandlung.«
»Und wie geht es Ihnen?«
Evelyn seufzte. »Wenn man bedenkt, dass alles mit den Nachforschungen in zwei harmlosen Rechtsfällen begann … Aber mittlerweile ist die Wahrheit ja ans Licht gekommen. Das Bundeskriminalamt muss nun die anderen ›Unfälle‹ aufrollen, die Sybil initiiert hat.«
»Und auch die Morde an den drei Jugendlichen. Die Beamten haben alle Hände voll zu tun. Bei der Durchsuchung von Boltens Haus sind übrigens ein paar schreckliche Dinge ans Tageslicht gekommen.«
Evelyn dachte an das Zimmer mit der roten Lampe, den Stofftieren und den Videokassetten.
»Ich erspare Ihnen die Details – aber eines ist sicher: Es ist kein Schaden, dass dieser Mistkerl nicht mehr unter uns weilt.«
Sie schwiegen eine Weile. Für einen Moment dachte sie an den Mann mit dem Kastenwagen, der sie vor zwanzig Jahren in die Jagdhütte verschleppt hatte. Wo immer er jetzt lebte – sie hatte sich vorgenommen, keinen Gedanken mehr an ihn zu verschwenden. Alfons Bolten war an seiner Stelle verbrannt und mit ihm ihr Hass und alle Schuldgefühle.
»Erinnern Sie sich noch an das, was ich Ihnen im Krankenwagen gesagt habe?«, fragte Pulaski.
»Als Sie im Delirium waren?«
»Ich war vollkommen klar!«, widersprach er.
Evelyn lachte. »Ja, ich erinnere mich.«
»Und?«
»Ich werde Ihren Ratschlag befolgen – aber nicht nur das. Einige Dinge in meinem Leben ändern sich gerade zum Positiven.« Sie blickte auf die zugeklebten Schachteln, die auf dem Boden ihres leeren Büros standen.
»Das freut mich zu hören.«
»Ich erzähle Ihnen mehr, sobald Sie nach Wien kommen.«
»Abgemacht, ich bin schon neugierig.«
»Ich wünsche Ihnen alles Gute.« Sie verabschiedeten sich, und Evelyn legte auf.
Ein Gefühl der Wehmut überkam sie, als sie an die Kanzlei dachte. Wie lange hatte sie hier gearbeitet? Nach dem Tod ihrer Eltern hatte sie bereits während des Studiums jedes Jahr ihre Ferialpraxis hier absolviert. Elf Jahre in diesen Räumen waren eine verdammt lange Zeit. Anfangs war auch Patrick noch bei seinem Vater beschäftigt gewesen, später hatte Holobeck sie unter seine Fittiche genommen. Während dieser Zeit erlebte sie alle Höhen und Tiefen einer Rechtsanwaltskanzlei mit. Doch elf Jahre waren mehr als genug. Sie legte den Schlüssel zu ihrem Büro auf den leeren Schreibtisch und erhob sich.
Hinter der Milchglastür zeichnete sich ein Schatten ab. Die Klinke wurde niedergedrückt. Krager trat ein. Der Pitbull machte seinem Spitznamen alle Ehre. Wortlos und mit zusammengekniffenen Augen sah er sich in ihrem Büro um. In der Hand hielt er das gefaltete Kündigungsschreiben, mit dem er nervös gegen seinen Oberschenkel trommelte.
»So schnell ist es also nun gegangen«, knurrte er. »Sie hatten Recht mit Ihrer Vermutung über Peter Holobeck, und ich habe Ihnen nicht geglaubt. Das tut mir leid.«
Evelyn hob die Augenbrauen. Sie hätte nicht gedacht, diese Worte jemals aus seinem Mund zu hören.
»Ist das der Grund, weshalb Sie mich verlassen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe Ihren Ratschlag beherzigt.«
Er blickte sie fragend an.
»Meine Vergangenheit aufgearbeitet. Mittlerweile weiß ich, was ich will.«
»Und was wollen Sie?«
»Sie haben mir immer davon abgeraten, aber es ist meine Berufung. Ich mache mich als Verteidigerin für Strafrechtsfälle selbständig.« Sie merkte, wie ein klein wenig Stolz in ihrer Stimme mitschwang.
»Womit denn?«, fragte Krager zähneknirschend.
Sie hatte diese Frage vermutet.
»Demnächst werde ich meinen ersten Fall übernehmen«, antwortete sie. »Sybil Woska ist einundzwanzig Jahre alt und österreichische Staatsbürgerin. Sie wird innerhalb der nächsten Wochen von Deutschland ausgeliefert und des Mordes an zehn Männern beschuldigt.« Sie machte eine Pause. »Ich verteidige sie.«
»Ist das Mädchen vermögend?«
Die Frage sah ihm ähnlich. »Wohl kaum. Aber wir werden genug Medienpräsenz und Sponsoren finden, um die Pflichtverteidigung zu finanzieren.«
Krager nickte langsam. »Ein starkes Programm für den Anfang. Falls Sie meine Hilfe benötigen …« Er machte eine Handbewegung, die wohl bedeuten sollte, dass er jederzeit für sie da war.
»Danke.«
»Und …« Krager zögerte. »Richten Sie meinem Sohn schöne Grüße aus.« Er reichte ihr die Hand.
Sie sah ihn erstaunt an. Damit hatte sie nicht gerechnet. »Mache ich.«
Draußen wartete Patrick auf sie. Sein linkes Hosenbein war an der Seite aufgeschnitten. Der Spaltgips reichte bis zur Hüfte. Er lehnte auf seinen Krücken schief in einer Toreinfahrt auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Irgendwie wirkte er wie eine desolate Ausgabe von James Dean.
Sie lief zu ihm hinüber.
»Hallo, Spitzmausigel.«
»Hallo, mein Großer.«
»Wie ist es gelaufen?«
»Einen schönen Gruß von deinem alten Herren.«
»Das meinst du nicht ernst, oder?«
»Doch – irgendwie habe ich den Eindruck, dass ihn die ganze Angelegenheit geläutert hat. Vielleicht lädt er dich ja eines Tages zum Mittagessen ein.«
»Ein Essen mit Staranwalt Krager? Nein, danke. Apropos, da fällt mir ein Witz ein.«
»Schieß los!« Sie konnte es kaum erwarten.
»Schieß los?«, wiederholte er verblüfft. »Sonst willst du meine Witze doch nie hören.«
»Diesmal schon. Los, erzähl!«
Sie gingen die Straße zum Park hinunter, wo Evelyns Wagen stand.
»Also, eine Jacht ist auf hoher See mitten im Haigebiet gesunken. Alle Passagiere wurden von den Haien gefressen, bis auf einen, der ein Anwalt war. Warum?«
»Weil er schneller schwimmen konnte?«
»Weil Haie sich nicht an Artgenossen vergreifen!« Er lachte laut auf.
Evelyn schmunzelte. »Was machst du eigentlich heute Abend?«
»Soll ich dich auf deiner Joggingrunde durch den Stadtpark begleiten?«
»Nein, ich meine es ernst.«
»Mein Bein hochlagern und fernsehen. Warum?«
»Wenn ich dich mit dem Wagen abhole, schaffst du es ins Marriot zu einem Candle-Light-Dinner?«
»Sag bloß, du …?« Sein Mund klappte herunter. »Aber so schnell werden wir keinen Tisch bekommen.«
Schmunzelnd dachte sie an den alten, grauhaarigen Kripobeamten aus Leipzig, der im Krankenwagen versucht hatte, sich neben den Infusionsflaschen aufzurappeln. Er hatte Recht behalten. An diesem Abend war er tatsächlich bei klarem Verstand gewesen.
»Ich habe vor drei Tagen telefonisch einen Tisch reserviert und gehofft, du würdest ja sagen.«
Stimmengemurmel, schrilles Gelächter und das Knallen der Sektkorken drangen durch die dünne Milchglastür in Evelyn Meyers’ Büro. Jedes Mal, wenn jemand durch den Gang marschierte, vibrierte die Scheibe. Mussten die so toben? Bei dem Lärm konnte sich niemand konzentrieren.
Eigentlich hatte Evelyn die Kanzlei schon längst verlassen wollen. Es war acht Uhr abends. Ihre beiden Katzen – Bonnie und Clyde – mussten gefüttert werden, und ihr Magen begann auch schon zu knurren. Im Grunde brauchte sie nur ins Foyer vorzugehen. Im Empfangsraum der Wiener Rechtsanwaltskanzlei standen die Cocktails zu Dutzenden auf den Tabletts, und im großen Besprechungsraum und den Besucherzimmern türmten sich Kaviar-, Lachs- und Thunfischbrötchen auf den Tischen. Aber dann hätte sie sich den Klienten und befreundeten Anwälten aussetzen müssen – und darauf konnte sie verzichten. Smalltalk war noch nie ihre Stärke gewesen.
Sie schob die Unterlagen auf ihrem Schreibtisch auseinander und betrachtete die verschiedenen Gutachten, Polizeiprotokolle, Zeugeneinvernahmen und Fotos der Kripo und der Feuerwehr. Daneben lag die Mitschrift des ersten außergerichtlichen Vergleichsgesprächs, das sie mit dem Anwalt der Klägerin in einem Restaurant geführt hatte. Die Gegenseite gab sich nicht mit ein paar Tausend Euro zufrieden. Dieser verdammte Kanaldeckel-Fall! Sie wollte höchstens noch eine Stunde daran arbeiten. Natürlich konnte sie sich mit sämtlichen Unterlagen durch die Hintertür davonstehlen und zu Hause weitermachen. In Ruhe weitermachen! Denn bis auf Bonnie und Clyde gab es in ihrer Wohnung niemanden, der sie ablenken konnte. Aber sie kannte sich. Es würde so enden, dass sie neben den Resten einer kalten Pizza im Wohnzimmer saß, den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sah … und um vier Uhr morgens auf der Couch aufwachte.
Am schlimmsten war jedoch, dass sie vor wenigen Tagen für einen Sekundenbruchteil ein merkwürdiges Déjà-vu-Gefühl gehabt hatte. Sie war wegen der vorbereitenden Tagsitzung im Landesgericht erschienen und hatte aus dem Augenwinkel einen Blick auf ihre Unterlagen geworfen. Peng! Die Assoziation war genauso schnell wieder weg gewesen, wie sie gekommen war. In diesem Fall steckte ein Detail, das ihr etwas sagen wollte – aber sie kam nicht dahinter, was es war. Und je länger sie durch die Unterlagen blätterte, desto mehr zweifelte sie an ihrem Verstand.
Die weit entfernte, dumpfe Stimme ihres Chefs riss sie aus den Gedanken. Sie hörte ihn im Gang auf ihr Büro zukommen. Sein Schatten zeichnete sich hinter der Glastür ab, dann klopfte er an und betrat ihr Zimmer. Er klopfte immer an! In dieser Hinsicht war Krager ein Gentleman. Er trug einen Designeranzug von Armani, hatte graumelierte Schläfen, ein kantiges Gesicht, war groß und trotz seiner sechzig Jahre ein Charmeur – vielleicht sogar ein wenig zu galant. Außerdem war er redegewandt und … Beinahe wäre ihr das Wort »seriös« in den Sinn gekommen. Von manchen Klienten hatte sie gehört, dass ein »seriöser Anwalt« ein Widerspruch in sich sei, womit sie zweifellos Recht hatten. Krager war bestimmt nicht die Mutter Teresa unter den Juristen, aber er bemühte sich um Fairness – sofern es das Geschäft zuließ. Seinen Spitznamen, Pitbull, besaß er nicht umsonst.
Dann stand er vor ihr, eine Akte und ein Sektglas in den Händen. »Evelyn, Sie müssen mir nicht beweisen, dass Sie eine toughe Anwältin sind – nicht heute.« Er hatte wieder seinen väterlichen Blick aufgesetzt. Evelyn wusste, er konnte auch anders, doch heute war sein Tag. Die Kanzlei Krager, Holobeck & Partner feierte ihr fünfundzwanzigjähriges Bestehen, und die Räume waren zum Bersten voll mit Notaren, Richtern, Presseleuten, befreundeten Wirtschaftsanwälten und den Vertretern großer Unternehmen. Krager nahm prinzipiell keine kleinen Firmen als Klienten. Hier gaben sich Bankdirektoren und Manager von Fluglinien, Versicherungskonzernen, Kaufhaus- und Elektrohandelsketten die Klinke in die Hand.
»Ich möchte nur noch diese Unterlagen …«
»Evelyn, das sind doch bloß Ausreden«, unterbrach er sie. Dieses förmliche Sie, kombiniert mit ihrem Vornamen, duldete keinen Widerspruch. »Lassen Sie den Fall für eine Stunde liegen, und schließen Sie sich uns an. Sie verrennen sich da in eine Sache, die nichts bringt.«
Nichts bringt? Der Angeklagte war der beste Freund ihres Vaters gewesen, der einzige Mensch, der sich nach dem Unfall ihrer Eltern um sie gekümmert hatte – und das wusste Krager verdammt genau!
Bevor sie etwas sagen konnte, deutete Krager zur Tür. »Da draußen warten aufregendere Fälle: Ein batteriebetriebenes Radio schlittert über die Armaturenablage, knallt aufs Lenkrad, der Airbag öffnet sich und schleudert einem Stadtrat das Radio ins Gesicht. Die Witwe verklagt die Herstellerfirma des Airbags auf fünf Millionen Euro.«
Sie kannte den Fall. »Leider haben wir nicht gewonnen.« »Ich weiß, aber das sind die Aufträge, die Geld bringen – im Gegensatz zu einem Fall, bei dem ein Mann über eine Baustellenabsperrung stolpert und sich in einem Kanal das Genick bricht.«
Es klang, als wollte er sich über sie lustig machen.
»Ich kenne den Angeklagten persönlich, und die Baustelle war ordnungsgemäß gesichert«, sagte sie.
»Ja, ich weiß, ein verlorener Prozess würde Ihren Bekannten in den Ruin treiben. Aber hören Sie zu …« Seine Stimme hatte den väterlichen Ton verloren. »Wir sind nicht die Caritas, und für kleine soziale Angelegenheiten wie diese gibt es Kanzleien, die sich darauf spezialisiert haben.«
»Diesmal beißen Sie auf Granit«, entgegnete sie. Die Baufirma von Onkel Jan – wie sie den Freund ihres Vaters seit ihrer Kindheit nannte – lief nicht gerade gut, und eine Niederlage vor Gericht würde ihn ruinieren. Sie konnte ihn nicht im Stich lassen, das war sie ihm schuldig.
Krager setzte sich salopp auf die Kante ihres Schreibtisches, was sonst nicht seine Art war. Dabei fiel sein Blick auf einen Stapel Farbfotos. Er schob die ersten davon auseinander. »Stammen die wieder von Ihrer dubiosen Quelle?«
Wie oft hatten sie das Thema schon durchgekaut? »Ich löse die Fälle auf meine Art«, antwortete sie nur. »Sie wollen Ergebnisse – wie ich sie liefere, bleibt meine Sache.«
Er starrte sie eine Weile an. »Von mir aus. Aber nachdem dieser Fall abgeschlossen ist, reden wir ein ernstes Wort miteinander. Es gibt da eine lukrative Sache, die ich Ihnen anvertrauen möchte.«
»Wird eine kleine Privatbank verklagt, weil sie unbürokratisch arbeitet, keine Kontospesen verrechnet und den Großbanken die Kunden wegschnappt?«
»Überlassen Sie die zynischen Bemerkungen besser mir, dafür sind Sie zu jung und zu hübsch.« Er nickte zur Tür. »Schließen Sie sich uns an?«
»Ich arbeite weiter.«
»Ihre Entscheidung.« Krager wedelte mit der Mappe. »Das Strafverfahren wurde eingestellt. Kieslingers Autopsiebericht kam heute Nachmittag vom Gericht herein.«
Evelyn fuhr im Stuhl hoch. Kieslinger war der Mann, der in den offenen Kanalschacht gefallen war. »Seit drei Tagen warte ich darauf!«
»Ich wollte Ihnen die Unterlagen erst morgen geben, nach der Feier. Aber da Sie sich ohnehin in den Fall verbeißen und nicht eher Ruhe geben …« Er ließ den Satz unausgesprochen und legte die Mappe auf den Tisch.
Sofort schlug Evelyn den Deckel auf und überflog die Zeilen des Gerichtsmediziners, bis sie zu der Stelle mit Todeszeit und Todesursache kam.
Ihr stockte der Atem.
»Kieslinger ist weder an Genick- noch an Schädelbruch gestorben«, sagte Krager.
»Sie haben den Bericht gelesen?«
»Natürlich. Zwischen Sekt, Geplänkel und Kaviarbrötchen gibt es immer wieder eine stille Minute. Hören Sie, Evelyn …« Wieder der väterliche Ton, doch diesmal mit einem leisen, gefährlichen Beigeschmack. »Sie werden den Fall verlieren. Der Obduktionsbericht bricht Ihnen das Genick. Kieslinger ist kopfüber in den engen Kanalschacht gestürzt und knapp über dem Boden steckengeblieben. Der Schacht stand dreißig Zentimeter unter Wasser. Kieslinger konnte sich nicht bewegen und ist …«
»… ertrunken«, vollendete Evelyn den Satz. Sie blickte vom Autopsiebericht auf.
»In Luftröhre, Lunge und Magen befanden sich zwei Liter Abwasser.«
Die engen Gassen des zweiten Wiener Gemeindebezirks waren zu dieser späten Stunde wie leergefegt. Wer dennoch durch die Gegend lief, war entweder Zuhälter, Geldeintreiber, ging auf den Strich oder wollte sein Geld um jeden Preis in einer Bar loswerden. Noch dazu sahen die Gassen bei Nacht verheerender aus als bei Tag. An manchen Stellen war die Straßenbeleuchtung ausgefallen. Müllsäcke stapelten sich auf und neben den vollen Tonnen, Hundekot lag an jeder Häuserecke, und aus manchen Wohnungen drang der übliche Ehestreit.
Das Geschrei erinnerte Evelyn an die Auseinandersetzungen ihrer Eltern, die sie als Mädchen belauscht hatte. Eigentlich war ihre Kindheit nicht so schlecht verlaufen – bis zu jenem Zeitpunkt, als sie den Mann kennengelernt hatte, der alles veränderte. Ab diesem Moment war ihre Kindheit zu Ende gewesen.
Sie stieg über die leeren Holzpaletten eines Gemüseladens, dessen Rollläden zur Hälfte unten waren. Nachdem sie die Punkte des Autopsieberichts mehrmals in ihrem Büro durchgegangen war, hatte sie versucht, Patrick am Handy zu erreichen – ihre dubiose Quelle. Ab und zu war er ihr bei Ermittlungen behilflich, doch diesmal ging er nicht ans Telefon. Aber sie würde auch ohne ihn herausfinden, was vor zwei Wochen in der Czerningasse passiert war.
Evelyn hatte die Kanzlei durch die Hintertür verlassen, ohne den anderen ein Wort zu sagen. Noch ein paar Gläser Sekt, und nicht einmal Krager würde ihre Abwesenheit bemerken. Während der Autofahrt hatte sie mit der Tochter ihrer Nachbarin telefoniert, die einen Schlüssel zu Evelyns Wohnung besaß. Conny liebte es, wenn sie Bonnie und Clyde mit Hühnchen aus der Dose füttern durfte. Natürlich tat das Mädchen damit auch ihr einen Gefallen. Wegen all der Geschäftsessen und Abendtermine, die oft bis Mitternacht dauerten, hätten die beiden Katzen bestimmt schon längst den Aufstand geprobt, in Evelyns Schuhe gepinkelt oder die Vorhänge von den Gardinenstangen gefetzt.
Evelyns Ford Fiesta parkte unter einer der wenigen funktionierenden Laternen an der Häuserecke. Von dort war sie zu Fuß in die Czerningasse gegangen. Das Klappern ihrer Stöckelschuhe hallte von den Hauswänden wider. Nach wenigen Metern erreichte sie den Ort, wo Kieslinger vor zwei Wochen gestorben war. An der Ecke befand sich eine winzige Bankfiliale mit einem Geldautomaten, auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Bar. Die bunten Neonröhren über dem Eingang des Entrez-Nous waren zur Hälfte ausgefallen und surrten mehr, als dass sie blinkten. Die Autos, die vor dem Club parkten – ein Porsche, ein Mercedes und zwei Audis –, passten nicht in diese schäbige Wohngegend. Anscheinend ließen sich ihre Besitzer gern in einer Bar volllaufen, in der sie niemand vermuten würde.
Der Asphalt in der Straßenmitte war aufgerissen. Hinter der Baustellenabsperrung befand sich der offene Kanalschacht. Der Deckel lag immer noch daneben im Sand. Evelyn war schon einmal hier gewesen, doch nicht weit gekommen, da die Kripo den Unfallort abgeriegelt hatte. Mittlerweile scherte sich niemand mehr um die Baustelle. Was hatte Rudolf Kieslinger, den renommierten Kinderarzt im Ruhestand, wohl in diese Gegend geführt? Der Geldautomat?
Nicht einmal drei Tage nach seinem Tod führte die Witwe bereits eine Privatklage gegen Onkel Jan. Der Sachverständige von Onkel Jans Haftpflichtversicherung hatte die Baustelle für ausreichend gesichert befunden. Deshalb war die Versicherung ausgestiegen und hatte keinen Cent gezahlt. Falls Onkel Jan den Prozess verlor, haftete er mit seinem Privatvermögen.
Der raffinierte Anwalt der Gegenseite hatte beim ersten außergerichtlichen Vergleichsgespräch behauptet, Kieslinger sei nach dem Besuch einer Benefizveranstaltung für krebskranke Kinder zur U-Bahn-Station gelaufen, wegen der schlechten Beleuchtung über die angeblich fahrlässig abgesicherte Absperrung gestolpert und kopfüber in den offenen Schacht gestürzt. Es gab schon blöde Zufälle! Vor allem weil die nächste U-Bahn-Station verdammt weit entfernt lag.
Jedenfalls wollte die Witwe sieben Millionen, was in Anbetracht der Begräbniskosten, Schmerzensgeldforderungen und Unterhaltsansprüche wegen Einkommensverlust völlig überzogen war.
Evelyn kannte die Richterin, und die Sache sah düster aus. Falls es hart auf hart ging, müsste Onkel Jan Konkurs anmelden. Dann säßen sieben Arbeiter, eine Bürokraft und ein Lehrling auf der Straße. Das wäre der letzte Schlag in einer langen Kette von Unglücksfällen, die ihre Familie seit ihrer Kindheit hatte hinnehmen müssen – und Evelyn hatte es satt, immer auf der Verliererseite zu stehen.
Sie knipste die kleine Stabtaschenlampe an, die immer im Handschuhfach ihres Wagens lag, schlüpfte aus den Stöckelschuhen, zog den Rock hoch und stieg über die Absperrung. Während sie die Lampe mit den Zähnen hielt, band sie ihr langes blondes Haar zu einem Zopf. Anschließend kletterte sie über die Eisenleiter in den Schacht. Er war eng und roch nach Kloake. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, wadentief in Dreck zu treten, doch am Ende der Leiter berührte sie trockenen Boden. Nach dem Unfall hatten die Stadtwerke wohl die Wasserzufuhr zum Kanaltrakt abgesperrt, und bei den warmen Temperaturen dieser Septembertage wunderte es sie nicht, dass der Kanal binnen weniger Tage ausgetrocknet war.
Hier hatte Kieslinger, ein Bär von einem Mann, also kopfüber gesteckt – und zwar so fest, dass ihn die Feuerwehrleute mit einer Seilwinde rausziehen mussten. Zu der Zeit, als es passiert war, hatte sich niemand mehr auf der Straße befunden, der Kieslinger hätte helfen können. Wie jetzt. Evelyn versetzte sich in seine Lage, bewegungslos hier zu hängen, mit dem Gesicht unter Wasser. Das eigene Gewicht drückte ihn immer tiefer nach unten, und er bekam die Arme nicht frei, um sich hochzustemmen. Das Wasser lief ihm in Nase und Ohren. Er konnte nicht um Hilfe rufen. Irgendwann musste er atmen, konnte aber nicht, und …
… sie spürte wieder den Jutesack über dem Gesicht, roch die feuchten Wände und fühlte die Kälte des Bodens, die ihre Finger klamm werden ließ. Sie konnte sich nicht bewegen. Das Seil schnitt immer tiefer in ihre Gelenke, und sie würgte die Magensäure hoch, konnte aber nicht ausspucken, weil das Klebeband so fest um ihren Mund …
Evelyn schrie auf und öffnete die Augen. Nicht schon wieder! Ihr Herz raste. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ohne es bemerkt zu haben, hatte sie sich in dem engen Schacht auf den Boden gekauert und die Knie an der Betonwand aufgeschürft. Die Taschenlampe war ihr aus der Hand gefallen und in die Seitenröhre gerollt. Zum Glück litt sie nicht an Klaustrophobie, sonst hätte sie in diesem Moment eine Panikattacke bekommen.
Evelyn kauerte sich tiefer hinunter, doch die Röhre war zu eng. Sie konnte die Lampe nicht mit den Fingern erreichen. Da bemerkte sie den Rand eines glänzenden Gegenstands, der aus dem getrockneten Schlamm ragte. Vermutlich eine Münze. Sie grub die Stelle auf und zog das Objekt heraus. Es war zu groß für eine Münze und sah eher wie eine kleine, ovale Kunststoffhülle aus. Evelyn wischte den Dreck ab. Ein Porschelogo kam zum Vorschein.
Ein Funkschlüssel!