
Manfried Rauchensteiner
DER ERSTE WELTKRIEG
und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918
BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR · 2013
Vollständig überarbeitete und wesentlich erweiterte Fassung des 1993 erschienenen Bandes
Der Tod das Doppeladlers. Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg 1914–1918
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Ausschnitt aus: Albin Egger-Lienz, Den Namenlosen 1914; Tempera Leinwand, 1916
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Printed in Lithuania
Print-ISBN 978-3-205-78283-4
Datenkonvertierung: Beltz, Bad Langensalza
eBooks: 978-3-205-79259-8
Inhalt
1.Der Vorabend (13)
Der Ballhausplatz und das Defizit an Krieg (17) – Das Pulverfass (22) – Die Sozialisierung der Gewalt (34) – Armer Staat, reiche Konzerne (44)
2.Zwei Millionen Mann für den Krieg (51)
Die »gesamte bewaffnete Macht« (51) – Zweibund und Dreibund (63) – Die militärischen Absprachen (68) – Präventivkrieg, ja oder nein? (78)
3.Blutige Sonntage (85)
Das Attentat (85) – Der Schock (89) – Die Julikrise (93)
4.Die Entfesselung des Kriegs (121)
Franz Joseph I. (123) – Die Ruhe vor dem Sturm (125) – Das »Gefecht« bei Temes Kubin (129) – Erlösung durch den Krieg (139) – Der erste Schuss (145) – Ein Reich macht mobil (147)
5.»Gott sei Dank, das ist der große Krieg!« (163)
Aufmarsch nach Staffeln und Paketen (163) – Erzherzog »Fritzl« geht an die Front (179) – Das Reitergefecht von Jarosławice (184) – Die Einleitungsfeldzüge (187)
6.Die Umstellung auf einen langen Krieg (203)
Die Kriegswirtschaft beherrscht den Alltag (204) – Verwundete, Kranke und Tote (221) – Das Hinterland wird zur Festung (225) – Amtlich wird verlautbart (229) – Der Tod des Generals Wodniansky (232)
7.Das Ende der Euphorie (247)
Die Festung am San (248) – Fleet in being (266) – Im Schatten des Galgens (271) – Belgrad und das Scheitern auf dem Balkan (279)
8.Der erste Kriegswinter (293)
Über die Kriegsziele (294) – Der Tod in den Karpaten (306) – Tarnów–Gorlice (321)
9.Unter Beobachtung (329)
Von Helden und Feiglingen (330) – Das Prager »Hausregiment« (354)
10.»Der König von Italien hat Mir den Krieg erklärt« (369)
»Sacro egoismo« (377) – Der Londoner Vertrag (383) – Das letzte Angebot (389)
11.Die dritte Front (399)
Das Prävenire (402) – Am Isonzo und in den Sieben Gemeinden (406) – Der Abnützungskrieg (419)
12.Fabriklicher Krieg und innere Front 1915 (429)
Soldatsein und Arbeitsleid (437) – Armeeoberkommando und Innenpolitik (441) – Soldatenspielerei? (449) – Der Versuch, Stürgkh zu stürzen (452)
13.Sommerschlacht und »Herbstsau« (459)
Um den Vorrang der Kriegsschauplätze (459) – Die »schwarz-gelbe« Offensive (466) – Die vierte Offensive gegen Serbien (477)
14.Kriegsziele und Mitteleuropa (487)
Das Saloniki-Problem (487) – Winterkrieg in Russland und Montenegro (491) – Die Mittelmächte und Mitteleuropa (496) – Die Vision vom Siegfrieden (504)
15.Südtirol: Das Ende einer Illusion (I) (517)
Die Osterbegehrschrift (519) – Die »Strafexpedition« wird vorbereitet (522) – Der Angriff (533)
16.Luck: Das Ende einer Illusion (II) (541)
Die Brusilov-Offensive (541) – Die Hindenburg-Front (552) – Giftgas (560) – Die »Gemeinsame Oberste Kriegsleitung« (565)
17.Wie finanziert man einen Krieg? (577)
Die Suche nach dem Nervus Rerum (577) – Die Kriegsanleihen (585) – Das Wüten der Notenpresse (598)
18.Die Namenlosen (605)
Die Friedensaktion der Mittelmächte (611) – Hohenzollern gegen Habsburg (614) – Um den Zusammentritt des österreichischen Parlaments (621) – Karl Graf Stürgkh (1859–1916) (624)
19.Der Tod des alten Kaisers (631)
Nachruf auf den Übervater (638) – Der geriatrische Zirkel (645) – Die Militärkanzlei Seiner Majestät (650) – Der Thronfolger (655) – Das Testament (658)
20.Kaiser Karl (665)
Die neuen Diener ihres Herrn (668) – Das Hindenburg-Programm (674) – Von Koerber zu Clam-Martinic (675)
21.Die Zeichen an der Wand (683)
Hunger und Krönung (683) – Der Sieg über Rumänien (692) – Friedensschritte (695) – Der uneingeschränkte U-Boot-Krieg (700) – Conrad-Krise (710)
22.Die Folgen der russischen Februarrevolution (717)
Der strategische Gleichklang (717) – Der Sturz des Zaren (719) – Frieden ohne Annexionen und Kontributionen (725) – Proletarier aller Länder, vereinigt euch! (730) – Die Wiedereröffnung des Reichsrats (734)
23.Sommer 1917 (741)
Clam-Martinic am Ende (741) – Das System frisst seine Kinder (749) – Die Militärverwaltung in den besetzten Gebieten (755) – Tiszas Sturz (765)
24.Kerenskij-Offensive und Friedensbemühungen (771)
Der Seesieg in der Otrantostraße (772) – Die »Hand des Kindes« (775) – Die tschechische Legion (779) – Ein deutscher General über die Donaumonarchie (787) – Friedensfühler (791)
25.Der Pyrrhussieg: die Durchbruchsschlacht von Flitsch–Tolmein (799)
Das Festungssyndrom (799) – Operation »Waffentreue« (805) – Krieg gegen die USA (827)
26.Lager (835)
Fremde in der Heimat (836) – Die Internierten (849) – Von Iwans, Serben und Wallischen (853) – Die Sibirische Klarheit (864) – Italien (873)
27.Friedensfühler im Schatten von Brest-Litovsk (879)
Die russische Oktoberrevolution (879) – Neue Gespräche in der Schweiz (883) – Nochmals Polen (887) – Jahreswende 1918 (889) – Die Verhandlungen in Brest (896) – Wilsons 14 Punkte (899)
28.Innere Front (905)
Die Jännerstreiks (905) – Fortsetzung in Brest (910) – Der sogenannte Brotfrieden (914) – Meuterei (921)
29.Die Junischlacht in Venezien (931)
Die »Parma-Verschwörung« (931) – Der Zusammenbruch der Rüstungsindustrie (941) – Die Idee zur letzten Offensive (945) – Der Waffenbund (948) – Der Angriff (952)
30.Ein Reich resigniert (965)
Generalmajor von Bolzano vermisst (965) – Vier Millionen Helden (972) – Die Armee zerfällt (981)
31.Das Dämmerreich (995)
Gericht über Österreich-Ungarns letzte Offensive (995) – Das vorletzte Kabinett des habsburgischen Österreich (999) – Die Radikalen geben den Ton an (1003) – Österreichisch-ungarische Truppen an der Westfront (1007) – D’Annunzio über Wien (1010) – Der Untergang der »Szent István« (1014) – Front und Hinterland (1018)
32.Der Krieg wird Geschichte (1025)
Das Kaisermanifest (1027) – Die Auflösung beginnt (1033) – Der Angriff der Alliierten (1039) – Der Waffenstillstand in der Villa Giusti (1043) – Der letzte Armeeoberkommandant (1047) – Te Deum laudamus (1050)
Epilog (1053)
Nachwort (1055)
Danksagung und Widmung (1063)
Anmerkungen (1067)
Gedruckte Quellen und Literatur (1157)
Personen- und Ortsregister (1197)
Karte – Der russische Kriegsschauplatz (Vorsatz)
Karte – Der italienische Kriegsschauplatz (Nachsatz)
[<< 11 Seitenzahl der gedruckten Ausgabe]
Hundertjahr-Feier der Völkerschlacht von Leipzig in Wien, 16. Oktober 1913. Kaiser Franz Joseph vor den Fahnendeputationen an der Ringstraße. Rechts von ihm der Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand
und die Erzherzöge mit militärischen Rängen. In der zweiten Reihe ganz rechts Erzherzog Friedrich. [<< 12]
1. Der Vorabend
Schon vor Jahrzehnten hat man im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg und der Eroberungspolitik des nationalsozialistischen Deutschland die Semantik bemüht und gefragt, ob dieser Krieg ausgebrochen oder bewusst entfesselt worden ist. Verhältnismäßig einmütig wurde von Entfesselung gesprochen. Beim Ersten Weltkrieg ist das nicht so klar. Er ist wohl ebenso herbeigeführt und entfesselt worden, wie er ausgebrochen ist. Doch wer herbeiführte, auslöste, entfesselte oder auch nur nicht verhinderte, ist meist Sache subjektiver Einschätzungen und Hervorhebungen geworden. Jeder Standpunkt wurde bereits mit Vehemenz vorgetragen und mit Dokumenten untermauert.1 Mittlerweile ist die Formulierung des amerikanischen Diplomaten George F. Kennan eine Art unverbindlicher Gemeinplatz geworden, wonach man es mit der »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« zu tun hätte.2
Bereits lange vor 1914 wurde in zahllosen Publikationen über einen zukünftigen Krieg sehr verallgemeinernd der Begriff »Weltkrieg« verwendet. Als ob man seine Dimension in Worte fassen und zur Abschreckung verwenden wollte. Dann gab es ihn. In der englischen, französischen und italienischen Literatur festigte sich der Begriff vom »Großen Krieg« (Great War, Grande guerre, Grande guerra), während das deutsche Reichsarchiv nach dem Krieg den Begriff »Weltkrieg« aktualisierte.3 In Österreich mischte sich Nostalgisches in die Begrifflichkeit, und man sprach und schrieb dann von Österreich-Ungarns letztem Krieg.
Doch das mit der »Urkatastrophe« hat gewiss einiges für sich, denn aus den Folgen des ersten großen Kriegs des 20. Jahrhunderts, mit seiner doch weit gehenden Beschränkung auf Europa und seine angrenzenden Gebiete, resultierten die meisten Voraussetzungen für den zweiten tatsächlichen Weltkrieg, vor allem das Aufkommen totalitärer Regime in Russland und Deutschland sowie die Involvierung von Staaten aller sechs Kontinente und aller Weltmeere. Und bis zu einem gewissen Grad wurde der Erste Weltkrieg erst ein Vierteljahrhundert später, doch noch innerhalb derselben Generation zu Ende gekämpft. Während aber die meisten Mächte, die schon im Ersten Weltkrieg die Bezeichnung »Hauptkriegführende« erhalten hatten, ihren Anteil am zweiten großen Krieg des 20. Jahrhunderts noch steigerten, galt das für ein Reich nicht mehr: Österreich-Ungarn. Es war im Gegensatz zum Deutschen Reich, dem zur [<< 13] Sowjetunion gewordenen Russland, aber auch der nunmehr neutralen Türkei unwiederbringlich dahin. Die Donaumonarchie unter habsburgischer Herrschaft war an den Folgen der »Urkatastrophe« zugrunde gegangen. Sie zählte ab nun zu den gescheiterten Staaten.
Auf der Suche nach den Ursachen für den ersten großen Konflikt wurde vieles genannt, nicht zuletzt auch die ins Auge springende Tatsache, dass für die meisten großen Mächte, die wissentlich und willentlich 1914 Krieg begannen, in erster Linie deren Stärke, vielleicht auch nur deren scheinbare Stärke und der Wunsch nach Gebietserweiterung, zumindest aber Machtzuwachs ausschlaggebend waren. Deutschland suchte Macht und Einfluss auszuweiten, zumindest aber nicht zu verlieren. Ihm wurde eine »Flucht in den Krieg« nachgesagt.4 Für Frankreich wurden Prestige und eine ordentliche Portion Revanchismus und für Russland gerade jüngst wieder das Bestreben, im Umweg über einen siegreichen Krieg den Weg nach Konstantinopel zu finden, genannt.5 Großbritannien fürchtete die deutsche Dominanz, das Osmanische Reich wollte die in mehreren Kriegen verlorenen Territorien wiedergewinnen. Italien, schließlich, wollte sich mit seinem Beitritt zur Koalition von Briten, Franzosen und Russen um die von Italienern bewohnten Gebiete erweitern und seine nationalen Träume erfüllen. Österreich-Ungarn aber, eine – wie es so schön hieß – »stagnierende Großmacht«6, sah ähnlich wie Großbritannien in der Aufrechterhaltung der geltenden europäischen Ordnung eine Chance. Das aber nicht aus innerster Überzeugung, sondern aufgrund einer evidenten Schwäche. Sie, und vor allem sie war der Grund dafür, dass Krieg zur Lösung der Probleme dann doch wenn schon nicht angestrebt, so nicht mehr regelrecht ausgeschlossen wurde.
Dieses Zögern der Habsburgermonarchie, ihre staatlichen Ziele entschlossener zu vertreten, wird mit ihren strukturellen Besonderheiten, dem komplizierten dualistischen Aufbau des Vielvölkerreichs in eine österreichische und eine ungarische Reichshälfte, den besonderen und vor allem durch Nationalitätenfragen ausgelösten Problemen, mit den vorhandenen Bündnissen und schließlich auch mit personellen Fragen in Verbindung gebracht. Es sind dies aber nur einige Aspekte für die meist nicht reflektierte Feststellung, die Monarchie hätte sich überlebt gehabt. Vielleicht ist sie an ihrem »Absolutismus« zugrunde gegangen, den der österreichische Sozialdemokrat Viktor Adler lediglich »durch Schlamperei gemildert« sah. Schon lange vor 1914 waren Staatsbesuche in der Donaumonarchie auch mit der Feststellung kommentiert worden, die ausländischen Gäste würden kommen, um sich Österreich noch einmal anzuschauen, »eh’s zerfallt«.7
Bei der Beschreibung dessen, was gerade die Habsburgermonarchie die Flucht in den Krieg antreten ließ, wird aber auch noch anderes berücksichtigt werden müssen. Das Fin de Siècle, jene Stimmung, die zunehmend und nicht zuletzt in der Kunst ihren Ausdruck fand, war wohl weniger Endstimmung als vielmehr ungeduldiges Aufbre [<< 14] chen in eine neue Zeit. Das Wegtrotzen stieß jedoch nicht nur in der Kunst an seine Grenzen, sondern ebenso in der Wirtschaft und vor allem in der Politik. Die Völker des Reichs wurden von zentrifugalen Kräften beherrscht. Es war wie eine zeitverschobene Wiederholung von Biedermeier und Vormärz, nur dass weniger der staatliche Zwang als die Konvention die Zügel anlegten. Letztlich staute sich Jahrzehnte hindurch etwas auf, bis schließlich ein einzelnes Ereignis eine Kettenreaktion auslöste.
Immer häufiger war die Ansicht zu hören, nur ein Krieg könnte helfen, die anstehenden Probleme zu überwinden. Das war freilich keine ausschließlich österreichisch-ungarische Marotte oder Ausdruck eines gesteigerten Bellizismus. Auch Staaten wie Großbritannien, Frankreich und Russland, aber auch Italien, das Osmanische Reich und die Länder im Balkanraum hatten immer wieder Krieg als Mittel zur Konfliktregelung eingesetzt. Die Habsburgermonarchie aber erweckte den Anschein, als ob sie so sehr mit sich selbst beschäftigt wäre, dass sie weder die Sozialisierung der Gewalt mitmachte noch Krieg als Mittel der Politik einzusetzen bereit und imstande wäre. Bis sie schließlich doch in dieses europäische Konzert einstimmte. Vielleicht hatte sie sich gerade wegen ihres Zögerns, Krieg zu führen, in den Augen jener, die ihre Armeen sehr viel eher einzusetzen bereit waren, überlebt. Doch der Tod des Doppeladlers ging in Etappen vor sich.
1908 schien die Welt noch einigermaßen in Ordnung zu sein, zumindest aus Wiener Sicht. Der 78-jährige Kaiser Franz Joseph feierte sein 60-jähriges Regierungsjubiläum. Es war nicht sein Wunsch gewesen, dass es groß begangen wurde, doch nach einigem Zögern fügte sich der Monarch den Argumenten eines rührigen Personenkomitees. Dabei wurde ein Aspekt ganz bewusst in den Vordergrund gerückt: Die Feier und vor allem ein Huldigungs-Festzug vom Wiener Prater über die Ringstraße sollten dazu dienen, die Einheit in der Vielfalt zu demonstrieren, die Völker der Habsburgermonarchie ein gemeinsames Bekenntnis ablegen zu lassen und Treue zum Herrscher zu bekunden.8 Es ging darum, den übernationalen Reichsgedanken zu beschwören. Am Freitag, dem 12. Juni 1908, fand der Festzug statt. Spektakel, Schaustellung und Huldigung gingen programmgemäß über die Bühne. 12.000 Menschen setzten sich in einem sieben Kilometer langen Zug in Bewegung. Hunderttausende sahen zu. Im Nationalitätenzug marschierten vorneweg Vertreter des Königreichs Böhmen, gefolgt von jenen der Königreiche Dalmatien und Galizien, geteilt in eine ost- und eine westgalizische Abordnung, dann die Gruppen der Erzherzogtümer Niederösterreich und Oberösterreich, der Herzogtümer Salzburg, Steiermark, Kärnten, Krain, Schlesien und der Bukowina, unter denen sich auch Rumänen, Ruthenen und Lippowaner fanden. Eine der prächtigsten Gruppen repräsentierte die Markgrafschaft Mähren, dann folgten die Gruppen der Markgrafschaft Istrien und Triest, der gefürsteten Grafschaften Görz und Gradisca und schon gegen Ende des Nationalitätenzugs die Gruppen der gefürsteten Grafschaft Tirol und des Landes Vorarlberg. [<< 15] Sämtliche Glocken Wiens läuteten, Ansprachen wurden gehalten, die Volkshymne erklang. Die Sonne schien, der Kaiser war zufrieden. Doch bei genauerem Hinsehen waren nicht nur die Gruppen und Delegationen aufgefallen, die in diesem Festzug mitgezogen waren, sondern auch jene, die fehlten. Die Völker der ungarischen Reichshälfte, vornehmlich also Ungarn, Slowaken, Kroaten und Serben, hatten keine Veranlassung gesehen, bei diesem Wiener Spektakel mitzumachen. Sie kamen zwar in den historischen Szenen vor, doch nicht im Zug der Nationalitäten. Ebenso wenig wie die Vertreter des bosnisch-herzegowinischen Okkupationsgebiets. Das ließ sich irgendwie erklären: Die Völker Österreichs huldigten, nicht aber jene des Königreichs Ungarn. Die Tschechen Böhmens und Mährens aber hatten unter einem an sich nichtigen Vorwand ihre Nicht-Teilnahme verkündet und wollten nicht gemeinsam mit den Deutschen dieser Kronländer am Festzug teilnehmen. Und auch die Italiener fehlten unter den Südtiroler und Trentiner Abordnungen. Man ging darüber hinweg, und von ausländischen Diplomaten war zu hören: »In der ganzen Welt gibt es kein Land, wo die Dynastie so fest steht wie hier und wo man so etwas zustande brächte.« Der österreichisch-ungarische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand meinte sogar, »dies wäre mehr als eine gewonnene Schlacht« gewesen.9 Am Tag danach schien alles wie vorher – und doch war es anders geworden. Ein vergleichbarer Aufmarsch der Nationalitäten sollte nie mehr stattfinden. So gesehen markierte der Kaiser-Huldigungs-Festzug das Ende einer Ära, ehe sie noch zu Ende war. Doch die Weichenstellungen waren schon Jahrzehnte vorher erfolgt, und gerade die Jahre von 1908 an brachten nur die Beschleunigung eines Prozesses, der von Zeitgenossen und Nachlebenden mit zunehmender Erregung erlebt wurde.
Seit 1867 die Auflösung der Habsburgermonarchie mit der Reichsteilung in eine österreichische und eine ungarische Reichshälfte begonnen und die k. u. k. Monarchie ihren Anfang genommen hatte, liefen zwar die Auflösungs- und die Stabilisierungstendenzen parallel ab, doch der Erfolg Ungarns bei seinen Unabhängigkeitsbestrebungen war jedenfalls Vorbild für andere Völker des Reichs. Phasen faktischer Unregierbarkeit waren die Folge. Und nach Jahrzehnten unausgesetzter Bemühungen, dauerhafte Lösungen zu finden, machten sich Zeichen der Resignation bemerkbar. Es musste also etwas geschehen. Das glaubten nicht nur Außenpolitiker und »Präventivkrieger«, sondern viele und vor allem Intellektuelle. Jene noch zu beschreibende Stimmung in der Julikrise 1914, in der die Geistigkeit Europas mit wenigen Ausnahmen den Krieg begrüßte, und zwar nicht nur aus nationalen, sondern aus grundsätzlichen Erwägungen heraus, war in Österreich-Ungarn in hohem Maß vorhanden. Die Philosophie, Soziologie, Psychologie, Journalistik und, nicht zu vergessen, die Geschichtswissenschaft leisteten das Ihre, um im Krieg etwas Selbstverständliches und Notwendiges zu sehen. Schließlich wurde auch seit der Jahrhundertwende international vorexerziert, wo der Krieg im Rahmen des politischen Verkehrs seinen Platz hatte. So gut wie kein Jahr ver [<< 16] ging, in dem es nicht irgendwo auf der Welt einen größeren Krieg gab, der die Mächte des sogenannten europäischen Konzerts militärisch forderte. Es gab folglich schon ausgeprägte Erwartungshaltungen und Voraussetzungen, die letztlich die Entfesselung des Weltkriegs zu einem einfachen Handgriff werden ließen. Und Österreich-Ungarn, das eine Art »Defizit an Krieg« hatte, tat schließlich, was es glaubte, tun zu müssen, und legte Hand an sich selber an.
Der Ballhausplatz und das Defizit an Krieg
Bei der Frage, wo denn bei der Vorgeschichte des Weltkriegs anzusetzen ist, spielt natürlich die Außenpolitik eine besondere Rolle. Die Zusammenhänge verleiten zwar dazu, immer weiter zurückzugehen und schon weit zurückliegende Geschehnisse in die Darlegung der Kriegsursachen mit einzubeziehen. Denn wäre das oder jenes nicht gewesen, dann hätte dies und das nicht stattgefunden.10 Sucht man jedoch nach jenen Vorgängen, die die Außenpolitik Österreich-Ungarns im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert am nachhaltigsten beeinflusst haben, dann stößt man sehr rasch auf den Machtverlust des Osmanischen Reichs. Dadurch, dass die Habsburgermonarchie an der Peripherie eines kollabierenden Großreichs lag, wurde ihre Außenpolitik auf ganz bestimmte Räume gelenkt. Die Erbschaft, die hier anzutreten war, schien aber alles einzuschließen, was auch den Türken zu schaffen gemacht hatte. Der Zerfall oder auch nur die drohende Auflösung eines Großreichs zieht ja immer gewaltige Probleme nach sich, denn jene, die stabilisierend wirken und ein Reich erhalten wollen, stehen naturgemäß mit jenen in Konflikt, die eine Erbschaft antreten wollen.11 Das war im Fall des Osmanischen Reichs genauso wie dann später im Fall Österreich-Ungarns, der kollabierenden Großmacht im Donauraum. Noch unternahm die Habsburgermonarchie gezielte Anstrengungen, um dem Verfall entgegenzuwirken. Vielleicht war es aber gerade der fast zwanghafte Versuch, aus dem verhängnisvollen Kreis ausbrechen zu wollen, der der österreichisch-ungarischen Politik etwas Hektisches und manchmal auch etwas Unberechenbares gab.12
Die Außenpolitik der Monarchie stieß dort an ihre Grenzen, wo es zu einer Interessenkollision mit jenen Mächten kam, die als dynamische imperialistische Großmächte auftraten, also vor allem dort, wo Großbritannien, Frankreich und das Deutsche Reich ins Spiel kamen; dort, wo sich der Rivale im Kampf um die türkische Erbschaft, nämlich das zaristische Russland, zu Wort meldete, und wo nach Expansion suchende Mittel- und Kleinstaaten auftraten, die ihre jeweiligen Forderungen durchzusetzen bestrebt waren. Das galt vor allem für Italien und schließlich für Serbien. Dass ihr Zusammenspiel und ihre Gegnerschaft bei der Darlegung der Gründe für den Ausbruch des Weltkriegs berücksichtigt werden müssen, ergibt sich von selbst. Wie sonst wollte [<< 17] man die Reaktionen auf bestimmte Vorgänge, die Bündnispolitik und schließlich die Kriegsziele verstehen?
Der Krieg bereitete sich in erster Linie auf dem Balkan vor. Zwar war immer wieder der Ausbruch eines Kriegs gegen Russland oder die Einbeziehung der Habsburgermonarchie in einen deutsch-französischen Krieg befürchtet worden, doch den Spannungen zwischen Österreich-Ungarn bzw. Deutschland einerseits und Russland andererseits oder auch den Spannungen zwischen Deutschland und Frankreich fehlte jene spontane Aggressivität und das Irrationale, das auf dem Balkan ins Spiel kam. Dort war nichts fest gefügt und gab es kein Gleichgewicht. Und als der österreichisch-ungarische Außenminister Baron Aloys Lexa von Aehrenthal 1908 die Monarchie auf eine aktivere Außenpolitik einschwor und damit eine Revision der Politik seines Vorgängers, des polnischen Grafen Agenor Gołuchowski, einleitete, kam das Gefüge auf dem Balkan noch zusätzlich und auf dramatische Weise in Unordnung.
Aehrenthal hatte als Präsidialchef im Ministerium des Äußern, dann als Gesandter in Bukarest (Bucureşti) und schließlich von 1899 bis 1906 als Botschafter in St. Petersburg reichlich Erfahrungen sammeln und Einblicke gewinnen können, und was er begann, schien zunächst weder besonders unlogisch noch besonders aufregend. Es kam bestenfalls überraschend.13 Der Berliner Kongress hatte Österreich-Ungarn 1878 ein Mandat zur Okkupation Bosniens und der Herzegowina gegeben. Ebenso sollte ein zwischen Serbien und dem im Westen der Balkanhalbinsel gelegenen Fürstentum Montenegro liegendes Gebiet, der sogenannte Sandschak von Novi Pazar, von Österreich besetzt werden. Österreich-Ungarn durfte im Okkupationsgebiet Truppen stationieren (in Bosnien und Herzegowina auch Soldaten ausheben) sowie administrative Angleichungen vornehmen und die Verkehrswege ausbauen, im Übrigen aber sollte die nominelle Oberhoheit des Sultans erhalten bleiben. Doch Österreich-Ungarn sah in den beiden Provinzen eine Art Ersatzkolonie und hatte ja auch schon große Erfahrung in der »Europäisierung« von ost- und südosteuropäischen Gebieten. Also wurden die Strukturen des habsburgischen Vielvölkerreichs auf das Okkupationsgebiet ausgedehnt. 1907 war darangegangen worden, von Wien nach Sarajevo, der Hauptstadt Bosniens, und von dort nach Mitrovica im Sandschak eine Bahnlinie zu bauen. Das hätte nach der Fertigstellung des Projekts eine außerhalb Serbiens führende Bahnverbindung nach Saloniki entstehen lassen. Das Projekt hatte in Serbien helle Empörung ausgelöst, denn in Belgrad fürchtete man eine Festigung der österreichisch-ungarischen Herrschaft im Okkupationsgebiet, an dem ja auch die Serben interessiert waren. Russland unterstützte Serbien. Der Bau der Bahnlinie wurde dennoch begonnen, allerdings kam man nicht sehr weit.
Das Bahnprojekt war ein weiterer Stein auf dem Weg einer Verständigung Serbiens mit der Donaumonarchie, und fortan wurde jeder, der sich in Serbien für eine Annäherung einsetzte, der Anbiederung geziehen. Wien kam nur insofern in eine komfortablere Situation, als die Ermordung des serbischen Königs Aleksandar und seiner [<< 18] Frau und das Massaker, das eine Gruppe von Offizieren 1903 verübt hatte, schockartig wirkten und auch in der westlichen Presse die Schlussfolgerung nach sich zog: Serbien gehört nicht zu den zivilisierten Staaten Europas! »Der geeignete Ort für so einen grausamen, im Voraus geplanten Mord an einem König wäre ein mittelasiatisches Khanat, jedoch nicht eine Stadt in Europa«,14 schrieb man in einer britischen Zeitung. Die Putschisten bildeten dann den Kern der Geheimorganisation »Die Schwarze Hand«.
Während des russisch-japanischen Kriegs 1904/05 fürchtete man in Russlands Hauptstadt St. Petersburg genauso wie in Belgrad, dass Österreich-Ungarn die Situation nützen und das Okkupationsgebiet Bosnien und Herzegowina annektieren würde. Doch in Wien wurden nicht einmal nennenswerte Erwägungen in diese Richtung angestellt. Der Minister des Äußern, Graf Gołuchowski, hatte andere Sorgen und Prioritäten. Wohl aber brachte dann sein Nachfolger, Aehrenthal, im Januar 1908 das Sandschak-Bahnprojekt neuerlich zur Sprache, das ihm als Vorstufe zu einer regelrechten Angliederung wichtig schien. Er stellte das Einvernehmen mit den Türken her und informierte anschließend den russischen Außenminister, Graf Aleksej Izvolskij, über die österreichischen Absichten. Russland verhielt sich keinesfalls ablehnend. Es verfolgte jedoch eigene Ziele und wollte seine wegen des Kriegs in Fernost unterbrochene Hinwendung nach Europa in der Weise wieder beginnen, dass es in der Meerengenfrage, dem alten russischen Traum von der Beherrschung von Bosporus und Dardanellen, initiativ wurde. In St. Petersburg begann man zu sondieren und suchte nicht zuletzt die Unterstützung Österreich-Ungarns. Zeitgleich ereignete sich im Osmanischen Reich die sogenannte jungtürkische Revolution. Das Osmanische Reich erhielt eine neue Verfassung, und es schien durchaus möglich, dass der Sultan aus innenpolitischen Zwängen die 1878 von Österreich-Ungarn okkupierten Provinzen zurückforderte. Damit wären alle Investitionen ebenso wie die strategischen Ziele verloren gegangen. Auch wenn das Spekulation bleiben sollte, trieb es doch die Politik Aehrenthals voran. Er sah es als naheliegend an, dass sich Österreich-Ungarn mit Russland verständigte und einen Abtausch der Interessen vornahm.15 Am 16. September 1908 kam es zu einem Treffen Aehrenthals mit Izvolskij im mährischen Städtchen Buchlau (Buchlovice), in einem Schloss des Grafen Leopold Berchtold, des Nachfolgers Aehrenthals als Botschafter Österreich-Ungarns in Russland. Die Abgeschiedenheit des Orts der Unterredung hatte zwei Gründe: Zum einen konnte man abseits der Wahrnehmung anderer Staatskanzleien konferieren; und außerdem war die gegenseitige Sympathie der beiden Außenminister enden wollend, also sollte die Begegnung möglichst kurz gehalten werden. In einem kleinen Salon und unter vier Augen verständigten sich die beiden Außenminister innerhalb weniger Stunden dahin gehend, dass Österreich-Ungarn Bosnien und die Herzegowina annektieren, den Sandschak aber an die Türkei zurückgeben würde. Im Gegenzug wollte die Donaumonarchie die russische Meerengenpolitik unterstützen.16 Das Zögern von Zar Nikolaj II., auf diese Regelung einzu [<< 19] gehen, und – was noch schlimmer war – der dumme Ehrgeiz und die Voreiligkeit eines österreichischen Diplomaten, des Botschafters in Paris, Rudolf Graf Khevenhüller-Metsch, der die Buchlauer Abmachung noch vor dem vereinbarten Termin weitererzählte, führten zum Eklat. Die Meerengenfrage interessierte natürlich auch andere, vor allem Großbritannien. Und in London schloss man kategorisch aus, Russland die seit dem Krimkrieg verwehrte freie Durchfahrt von Kriegsschiffen durch den Bosporus und die Dardanellen zu erlauben. Außenminister Izvolskij spielte daraufhin die Sache herunter und erklärte, in Buchlau nur über die Möglichkeit eines neuen, dem Berliner Kongress von 1878 ähnelnden Treffens der europäischen Großmächte gesprochen zu haben. Dort hätte Österreich-Ungarn seine Wünsche vorbringen sollen und wäre des russischen Verständnisses sicher gewesen. Aehrenthal hatte das aber anders in Erinnerung und sah die Kehrtwendung Izvolskijs als schlichte Ausrede. Dass die Russen mit ihrem Meerengenprojekt nicht weiterkamen, war letztlich deren Problem. Aehrenthal seinerseits wollte die Bosnien- bzw. Sandschak-Frage jedenfalls ganz im Sinne der Buchlauer Vereinbarungen lösen. Bei diesem Vorgehen fand er die Zustimmung der Parlamente Österreichs und Ungarns, aber auch jene Kaiser Franz Josephs und des Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand. Am 7. Oktober 1908 erfolgte die kaiserliche Proklamation der Annexion Bosniens und der Herzegowina. Sie sollten künftig »normale« Provinzen der österreichisch-ungarischen Monarchie sein.
Spätestens hier könnte man einen Ausflug in die kontrafaktische Geschichte machen und sich fragen: Was wäre gewesen, wenn? Hätten die Türken die beiden Provinzen zurückgefordert und bei einer Weigerung womöglich Krieg gegen Österreich-Ungarn geführt? Wäre der österreichisch-serbische Konflikt ohne das bosnische Problem eskaliert? Hätte sich an der russischen Haltung gegenüber der Habsburgermonarchie etwas geändert? Wäre der österreichisch-ungarische Thronfolger vielleicht nie nach Sarajevo gefahren …? Es kam anders!
Mit dem Osmanischen Reich gab es bald wieder Einvernehmen, da Österreich-Ungarn für türkische Domänen in den annektierten Gebieten eine angemessene Entschädigung zahlen wollte. Außerdem wurde der Sandschak von Novi Pazar mit seinen rund 350.000 Menschen an die Türkei zurückgegeben; und insgesamt hatte das Osmanische Reich kein Interesse daran, es sich mit der Habsburgermonarchie auf Dauer zu verscherzen. Doch die Auseinandersetzungen Österreichs mit Russland und vor allem mit Serbien, das die staatsrechtliche Veränderung auf dem Balkan als bedrohlich und vor allem auch als etwas ansah, das seiner eigenen Expansion hinderlich war, gingen weiter. Zu guter Letzt sah sich Aehrenthal veranlasst, die mit Russland getroffenen Vereinbarungen auszugsweise zu publizieren, um über den aktuellen Anlass hinausgehend deutlich zu machen, dass Russland einer Annexion schon 1876 und 1877 zugestimmt hatte und dass auch die Vereinbarung mit Izvolskij bei Weitem konkreter war, als es der Russe mittlerweile wahrhaben wollte. [<< 20]
Dieser Schritt wurde – berechtigt oder nicht – von St. Petersburg als Peinlichkeit empfunden und als Demütigung gesehen. Doch damit nicht genug: Da Serbien zwei Tage nach der österreichischen Annexionserklärung eine Teilmobilmachung durchführte und sich auch verbal überaus aggressiv zeigte, verlangte Aehrenthal von Belgrad eine Erklärung, in der es seine Bereitschaft bekunden sollte, mit Österreich-Ungarn wieder normale gutnachbarliche Beziehungen aufzunehmen. Serbien antwortete mit der Forderung nach einer Kompensation für den Länderzuwachs der Habsburgermonarchie. Das war nun wirklich schwer zu begründen und fand auch bei den Russen keine Unterstützung. In St. Petersburg ging man sogar so weit, Österreich zu verstehen zu geben, dass die Donaumonarchie mit einem Eingreifen Russlands nur dann zu rechnen hätte, wenn sie sich zu einer »Promenade militaire« nach Belgrad entschließen sollte.
Schließlich unternahm Großbritannien einen Vermittlungsversuch, der nach endlosem Hin und Her und nachdem sich auch das Deutsche Reich eingeschaltet hatte, von Österreich-Ungarn akzeptiert wurde. Serbien gab eine Erklärung ab, wonach es die Beziehungen zu Österreich-Ungarn wieder positiv gestalten wollte. Auch wenn dieser Erklärung keine wirkliche Bedeutung zukam und man in Österreich-Ungarn wohl auch nicht mitbekam, dass sich in Serbien eine weitere Geheimorganisation, die Narodna Odbrana (Nationale Verteidigung), mit dem Ziel gebildet hatte, die Vereinigung aller Serben, auch jener Österreich-Ungarns, mit dem südslawischen Königreich zu erreichen und obendrein die vermeintliche Schmach zu rächen, die Serbien widerfahren war, war zumindest nach außen hin wieder ein normaler zwischenstaatlicher Verkehr möglich.
Auch im Inneren der Habsburgermonarchie glätteten sich allmählich die Wogen. Doch die Annexion hatte sehr wohl zu überbordenden Reaktionen geführt. Vor allem in den Ländern der böhmischen Krone machte man kein Hehl daraus, dass man weit mehr mit Serbien sympathisierte, als dass man es dem Kaiser gönnte, »Mehrer des Reiches« zu sein. Und ausgerechnet am Jahrestag seiner Thronbesteigung, am 2. Dezember 1908, musste in Prag das Standrecht verkündet werden, um die Ausschreitungen zu beenden und die Ruhe wieder herzustellen.
Am Ende der Annexionskrise war zu registrieren, dass sich 1908/1909 einige Handlungsmuster ergeben hatten, die auch später immer wieder als Vorlage dienten. Der Habsburgermonarchie war bei ihrem Vorgehen seitens des Deutschen Reichs Rückendeckung zuteil geworden. Der deutsche Reichskanzler Bernhard von Bülow hatte am 30. Oktober 1908 Österreich-Ungarn unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass das Deutsche Reich jede Entscheidung mittragen und folglich auch militärisch Rückendeckung geben würde.17 Das war aber nur eine Erfahrung, die zu gewinnen gewesen war. Frankreich und England hatten sich mit der Annexion Bosniens und der Herzegowina abgefunden. Ihre Interessen lagen anderswo, und gerade imperialistischen Mächten konnte eine koloniale Anwandlung nicht fremd sein. Die Reaktion Italiens [<< 21] regte nicht auf. Was aber durchaus zu Buche schlug, war der Umstand, dass Österreich sein Verhältnis zu Russland und Serbien gewaltig strapaziert hatte. Und das sollte nie vergessen werden. Bestimmte Vorgänge im zwischenstaatlichen Bereich werden ja nicht deshalb zu entscheidenden Faktoren, weil sie unmittelbar wirksam werden. Wohl aber lassen Demütigungen oder schwere Schädigungen von als national angesehenen Interessen Aversionen und Rachegefühle wachsen, die zwar nichts in der Politik verloren haben, aber aus jenem Hintergrund, vor dem sich die Politik abspielt, nicht extrapoliert werden können. Dergleichen schlägt sich dem Konfliktpotenzial zu. Izvolskij wurde als Minister abgelöst und ging als russischer Botschafter nach Paris. Er spielte in der Folge auch in der Julikrise 1914 eine Rolle und trat wohl zum wenigsten für ein Nachgeben Russlands und Serbiens ein, als es darum ging, die Folgen des Mordes von Sarajevo zu beurteilen. Er hatte ja noch so etwas wie eine persönliche Rechnung zu begleichen.
Das Pulverfass
Aehrenthal hatte mit seiner Politik letztlich Erfolg gehabt. Und dass sie Kaiser Franz Joseph billigte, fand nicht zuletzt darin seinen Ausdruck, dass der Kaiser seinen Minister des Äußern 1909 in den Grafenstand erhob. Es war nichts Mutwilliges an Aehrenthals Politik gewesen, die mit den österreichischen Entscheidungsträgern, aber auch mit dem Ausland abgestimmt gewesen war. Doch das sollte nicht besagen, dass seine Politik nicht auch umstritten war. Weder die deutschen Parteien der Habsburgermonarchie noch die nationalen Ungarn waren über den Zuwachs an slawischen Gebieten erfreut. Dennoch strebten beide Reichshälften danach, die Neoakquisita ihrem Länderkomplex zugeschlagen zu bekommen. Es gab keine Einigung. Die Folge war, dass die annektierten Provinzen jenes staatliche Niemandsland blieben, das sie seit Beginn der Okkupation 1878 gewesen waren. Der jeweilige gemeinsame Finanzminister Österreich-Ungarns, einer der drei gemeinsamen Minister der Donaumonarchie, und nicht die Regierung einer der beiden Reichshälften Österreich-Ungarns war für die Verwaltung Bosniens und der Herzegowina zuständig. Aber das Sagen hatte ohnedies der Zivil- und Militärgouverneur, und das war ein General.
Kritisiert wurde das augenscheinliche Kriegsrisiko, das der Minister des Äußern eingegangen war. Es gab aber auch Stimmen, die bedauerten, dass die Annexion friedlich erfolgt war und sich daraus kein Krieg mit Serbien ergeben hatte. Exponent dieser Gruppe war der Chef des Generalstabs für die gesamte bewaffnete Macht Österreich-Ungarns, General Franz Conrad von Hötzendorf. Er machte kein Hehl daraus, dass er die Annexion gerne zum Anlass genommen hätte, einen Präventivkrieg gegen Serbien zu führen. Russland, so der Generalstabschef, sei nicht kriegsbereit, ebenso wenig wie Italien und Frankreich. England würde keinen Krieg wollen, und Rumänien sei ein Ver [<< 22] bündeter. Eine wunderbare Gelegenheit also. Doch Aehrenthal hatte mehrmals unmissverständlich betont, dass an einen Angriffskrieg nicht zu denken wäre. Und er wusste sich der Zustimmung des Kaisers wie des Thronfolgers sicher. Tatsächlich erklärte Serbien am 10. März 1909 vergleichsweise feierlich, es würde seine Vorbehalte gegen die Annexion Bosnien-Herzegowinas aufgegeben haben, keinerlei feindselige Absichten gegenüber Österreich-Ungarn hegen und bestrebt sein, gute Nachbarschaft zu pflegen. Damit wurde Österreich ganz offensichtlich jeglicher Kriegsgrund genommen.
Das Verhältnis zwischen Conrad und Aehrenthal verschlechterte sich fast schlagartig. Conrad wollte auch in den Folgejahren einfach nicht wahrhaben, dass sich die für die Außenpolitik der Monarchie Verantwortlichen seinem Drängen nach Krieg widersetzten. Und nachträglich – allerdings nicht unter Zugrundelegung eines moralischen Standpunkts – schien er recht gehabt zu haben: Die Niederwerfung Serbiens hätte alles anders werden lassen.
Außer Politikern, Diplomaten und einigen Parteien war noch eine Gruppe strikt gegen die Annexion gewesen, nämlich die österreichische Friedensbewegung, die unter der Führung Bertha von Suttners zu einer recht einflussreichen Schar geworden war. Massenbeitritte ganzer Organisationen wie von Lehrervereinigungen und kirchlichen Vereinen ließen die Mitgliederzahl der österreichischen Friedensbewegung stark ansteigen. Allerdings wurde auch argumentativ eine Gratwanderung beschritten, da man in der Zeitschrift dieser Bewegung, der »Friedenswarte«, zwischen Kulturnationen und rückständigen Völkern zu differenzieren begann und die Balkanvölker, aber auch Russland unmissverständlich der letzteren Gruppe zurechnete.18 Vorerst konnten sich aber auch Frau von Suttner und die Ihren darüber freuen, dass es doch noch nicht zum Krieg gekommen war.
Obwohl also eine gefährliche Zuspitzung der Krise vermieden werden konnte, war man europaweit in Balkanfragen sensibilisiert. Da Krieg und Frieden so offensichtlich mit dem Balkan zusammenzuhängen schienen, trug denn auch jedes Ereignis, trug jede Veränderung des Status quo auf dem Balkan dazu bei, in den Staatskanzleien die Alarmglocken schrillen zu lassen.
Der Konflikt zwischen Conrad und Aehrenthal erreichte aber erst in den darauf folgenden Jahren seinen Höhepunkt, als sich Serbien und Bulgarien überraschend für eine gemeinsame Politik entschieden und mit russischer Zustimmung und Hilfe einen Balkanbund zu schaffen begannen. Serbien war offensichtlich auf Machtzuwachs aus und erhielt dabei breite Unterstützung. Conrad warf Aehrenthal einmal mehr vor, sich 1909 einem Präventivkrieg widersetzt zu haben. Am 18. Juli 1911 schrieb Conrad an den Minister des Äußern: »Ich kann nicht umhin, auf meine seit jeher vertretene Ansicht zurückzukommen, dass ein vor Jahren geführter Krieg unsere militärische Lage bei Balkanunternehmungen wesentlich günstiger gestaltet hätte, sowie dass die Führung des Kriegs gegen Serbien im Jahre 1909 mit einem Schlage die Monarchie in jene [<< 23] Position am Balkan gebracht hätte, die sie einnehmen muss, deren Erringung aber jetzt weit schwierigere Verhältnisse findet als damals.«19 In dieser Äußerung, der zahlreiche ähnliche vorangingen und noch folgen sollten, wurde nicht nur der Fall Serbien thematisiert, sondern auch das Defizit an Krieg überdeutlich zum Ausdruck gebracht.
Aehrenthal wollte nicht zuletzt wegen seines Konflikts mit Conrad mehrfach demissionieren. Der Kaiser lehnte das ab und versicherte dem Minister sein Vertrauen. So blieb also der schon vom Tod gezeichnete, an schwerer Leukämie leidende Aehrenthal im Amt und stemmte sich weiterhin mit aller Vehemenz gegen die Präventivkriegswünsche der »Kriegspartei«. Auch als Conrad im Dezember 1911 vorübergehend vom Posten des Chefs des Generalstabs abberufen und für rund ein Jahr durch den General der Infanterie Blasius Schemua ersetzt wurde, änderte das nichts daran, dass das Ministerium des Äußern von den »Präventivkriegern« immer nachhaltiger kritisiert wurde. Dabei vertrat Aehrenthal ohnedies die Auffassung, dass »eine aktive, auf Expansion gerichtete Außenpolitik das beste Heilmittel« gegen die innenpolitische Stagnation und die nationalen Zersetzungserscheinungen in der Habsburgermonarchie sei.20 Doch warum sollte man Krieg führen, wenn es sich vermeiden ließ? Aehrenthals Auffassung färbte auf seine engeren Mitarbeiter ab, von denen vor allem János Graf Forgách, der Kabinettschef des Ministers, Friedrich Graf Szápáry, Ottokar Graf Czernin oder auch Alexander Freiherr von Musulin und Alexander Graf Hoyos die Gedanken ihres Chefs fortspannen. Wenig erfolgreich, wie man 1914 sehen sollte. Aehrenthals Politik wurde auch durchgängig von Erzherzog Franz Ferdinand unterstützt, allerdings mit einer vielleicht noch deutlicheren Verweisung auf die Vermeidung eines Kriegs.21
Mitte Februar 1912 wurden die Karten neu gemischt. Aehrenthal starb. Angesichts seiner schweren Krankheit war schon lange über einen Nachfolger gesprochen worden. Es sollte jemand sein, der Erfahrungen mit Russland hatte. Deren gab es mehrere. Zum anderen aber sollte gewährleistet sein, dass die Aehrenthal’sche Politik fortgesetzt würde und dass der neue Minister des Äußern und des kaiserlichen Hauses, der er ja gleichzeitig zu sein hatte, in die schwierige Konstellation bei Hof und in die Machtkreise hineinpasste. Da gab es dann nur mehr wenige. Die Ernennung Leopold Graf Berchtolds, der die Buchlauer Entrevue arrangiert und 1908 die Annexionskrise in St. Petersburg als Botschafter erlebt hatte, schien angesichts dieser Prämissen eine logische Entscheidung zu sein.22 Berchtold blieb keine Zeit der Gewöhnung und des Einarbeitens. Knapp einen Monat nach seiner Ernennung schlossen am 13. März 1912 Serbien und Bulgarien einen lange diskutierten Balkanbund, der sich zwar gegen die Türkei richtete, aber auch eine Spitze gegen Österreich-Ungarn enthielt. Serbien wollte sein Staatsgebiet im Südwesten vergrößern. Für Bulgarien war Mazedonien das Ziel. Zar Ferdinand I. von Bulgarien bekundete sein offenes Interesse an der Gewinnung Adrianopels und Salonikis. Im Vertrag hieß es aber auch, dass Bulgarien zur Entsendung von Truppen verpflichtet wäre, falls Österreich-Ungarn Serbien angreifen sollte.23 [<< 24]
Die Generalstäbe hatten Hochbetrieb. Jene der Balkanstaaten genauso wie die Russlands, Großbritanniens, Frankreichs oder Italiens. Nicht zu vergessen die Generalstäbe Deutschlands und Österreich-Ungarns, die genauso alarmiert waren. Gab es auf dem Balkan Krieg, dann war seine Begrenzbarkeit nicht so ohne Weiteres gegeben. Es hatten sich ja auch schon längst die Stimmen gemehrt, die einen großen Krieg als unvermeidlich darstellten. Der Bericht des russischen Militärattachés in London vom Februar 1912, wonach ein Krieg zwischen Österreich-Ungarn, Deutschland und Italien einerseits und den Mächten der »Entente cordiale«, England und Frankreich, aber auch Russland andererseits »wahrscheinlich unvermeidlich« sei, dessen Aufschiebung aber »wünschenswert« wäre, war nur eine von vielen ähnlichen Äußerungen.24
Im Oktober 1912 war es dann so weit: Griechenland und Montenegro schlossen sich dem Balkanbund an; Bulgarien und Serbien machten mobil.25 Russland, das seit dem September Mobilmachungsübungen durchführte und solcherart vor allem Österreich-Ungarn einschüchtern wollte, signalisierte die Unterstützung der anti-türkischen Koalition. Die Türkei richtete einen dringenden Appell an Österreich-Ungarn, ihr in der schwierigen Lage zu Hilfe zu kommen. Schließlich wurde direkt angefragt, ob die Donaumonarchie nicht wieder den Sandschak von Novi Pazar besetzen könnte. Doch Wien lehnte ab. In einer Reihe von Konferenzen zwischen dem 16. und dem 30. Oktober 1912 wurde festgelegt, dass Österreich-Ungarn nur dann militärische Maßnahmen ergreifen würde, sollte sich eine Großmacht oder auch Serbien am östlichen Adria-Ufer bzw. am Ionischen Meer festsetzen. Auch die Besetzung des Sandschaks durch Serbien oder Montenegro würde keine vitalen Interessen Österreich-Ungarns treffen, meinte man in Wien. Um Serbien von der Adria abzuhalten, wäre es allerdings wünschenswert, nach einer absehbaren Niederlage der türkischen Truppen und der Räumung des Vilâjet auf dem westlichen Balkan einen autonomen albanischen Staat zu schaffen.26 Damit sollte auch verhindert werden, dass Russland sich womöglich mithilfe Serbiens einen Flottenstützpunkt in der Adria sichern könnte.27
Mit dieser Haltung waren sicherlich nicht alle zufrieden, und es gab einen merklichen Einklang zwischen den Forderungen hoher Militärs und hoher Beamter des Ministeriums des Äußern, wie der Grafen Forgách, Szápáry und Hoyos, die sich auf die Seite der Kriegspartei schlugen.28 Doch zunächst galt es abzuwarten, ob der Waffengang so endete wie prognostiziert.
Die Staaten, die gegen die Türkei Krieg begannen, errangen eine Reihe leichter Siege. Am weitesten stießen die Bulgaren vor. Serbien aber drängte zur Adria und wiegte sich in der Hoffnung, Russland würde es in seinem Bestreben, albanische Gebiete zu besetzen, unterstützen. Russland winkte jedoch zur Enttäuschung Belgrads ab. Großbritannien und Frankreich erklärten ebenfalls, sie würden nicht Krieg beginnen wollen, bloß weil Serbien ans Meer drängte und Österreich-Ungarn wiederum die Serben vom Meer abhalten wollte. Der russische Gesandte in Belgrad, Nikolaj Hart [<< 25] vig, der als »mastermind« der Balkankoalition galt, ging jedoch über die Instruktionen St. Petersburgs hinaus und suggerierte Serbien die russische Unterstützung auch in einem Krieg gegen die Donaumonarchie. Serben und Montenegriner behielten daher ihre Vormarschrichtung bei und riskierten den Krieg mit Österreich-Ungarn. Am 7. Dezember 1912 stimmte Kaiser Franz Joseph zu, die Truppen des XV. und XVI. Armeekorps in Bosnien, Herzegowina und Dalmatien auf den Kriegsstand zu bringen. Das war noch keine Mobilmachung, brachte aber eine Aufstockung der Verbände von rund 40.000 Mann Friedensstand auf 100.000 Mann.29303132