Jost Hermand
Grüne Klassik
Goethes Naturverständnis in Kunst
und Wissenschaft
BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN · 2016
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.
Umschlagabbildung:
Junge Blätter des Ginkgo (Ginkgo biloba) im Gegenlicht
© INTERFOTO/imageBROKER/Kurt Möbus.
Kopf Goethes für das Goethe-Schiller-Denkmal für Weimar.
Büste, 1856, von Ernst Rietschel © akg-images.
© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien
Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com
Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes
ist unzulässig.
Korrektorat: Malte Heidemann, Berlin
Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien
Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld
Datenkonvertierung: Lumina, Griesheim
Druck und Bindung: Theiss, St. Stefan im Lavanttal
Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier
Printed in the EU
ISBN 978-3-412-50359-8 | eISBN 978-3-412-50630-8
Inhalt
Vorwort: Pro und Contra Goethe
Die Leipziger und Straßburger Studienjahre
Die frühe Weimarer Zeit
Das Italien-Erlebnis
Wieder in Weimar
Nach dem Beginn der Französischen Revolution
Das »klassische« Ideal
Während der Befreiungskriege
Nach dem Wiener Kongreß
Gegen die neu-deutsche religiös-patriotische Kunst
Die Spätzeit
Nachwort: Ökologische Folgerungen
Anmerkungen
Bildnachweise
Personenregister
Vorwort: Pro und Contra Goethe
»Es ist aber nicht nur ein Mißverständnis Goethes,
seine Wissenschaft allein im Dienste von Erkenntnis und
Genuß der Welt zu sehen – es ist die grundsätzliche Frage,
ob der ehrfurchtslose Mensch, mit den Instrumenten zur
Vernichtung der Natur in der Hand, auf humanistischere
Zeiten nur zurückblicken oder nicht viel mehr, sich mit der
Natur auf Goethesche Manier ins Verhältnis zu setzen hat –
was Ehrfurcht freilich nahe legt und ohne Demut nicht
zu bewerkstelligen ist.«
(Günther Böhme: Goethe. Naturwissenschaft.
Humanismus. Bildung, 1991)
»Natur« ist eins der Worte, die in Goethes Schriften am häufigsten auftauchen. Überall wird in ihnen das Organische, das Gewachsene, kurz: das »Natürliche« beschworen, ob nun im Sinne unverfälschter Gefühlsregungen, wohlgestalteter Menschen, naturverbundener Kunstwerke, sonnenüberstrahlter Landschaften, ständig neu aufblühender Pflanzen, das Auge erfreuender Wolkenformationen oder aus der Urzeit stammender Felsablagerungen. All das und noch vieles andere mehr, »was die Welt im innersten zusammenhält«, wie es im Faust heißt, war für ihn »Natur«. Es gab für Goethe nichts Einzelnes, Abgetrenntes, Unorganisches. Die gesamte Erscheinungswelt fügte sich vor seinen Augen zu einer ineinandergleitenden Einheit zusammen, die man nicht frevlerisch auseinanderreißen und damit zerstören dürfe. Und zwar äußert sich dieses Naturverständnis – fast noch stärker als in seinen Dichtungen – vor allem in der Vielzahl seiner bildkünstlerischen und naturwissenschaftlichen Bemühungen, die ihn sein gesamtes Leben beschäftigt haben und ohne deren Kenntnis vieles in seinen anderen Werken, Briefen oder mündlichen Äußerungen kaum verständlich wäre.
[<<7||8>>] Um mit den bildkünstlerischen Aspekten dieser Art von Naturverständnis zu beginnen, ist es erst einmal unumgänglich, auf folgende Fakten und die sich daraus ergebenden Probleme hinzuweisen. Im Gegensatz zu seinen eher beiläufigen Äußerungen über bestimmte musikalische Kompositionen nimmt Goethes Beschäftigung mit Werken der bildenden Kunst in seinem Denken und Schaffen einen beträchtlichen, wenn nicht gar zentralen Raum ein. Zugegeben, er hat auch einige interessant klingende Aperçus zu Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven von sich gegeben sowie mit Musikern wie Philipp Christoph Kayser, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Johann Friedrich Reichardt und Carl Zelter Kontakte aufgenommen. Dennoch blieb ihm diese Kunstform wie fast allen »aufklärerisch« eingestellten Autoren und Denkern des 18. Jahrhunderts, ob nun Gotthold Ephraim Lessing, Immanuel Kant oder Friedrich Schiller, weitgehend fremd.1 Wie sie sah er in ihr, vor allem in den wortlosen und daher als nutzlos geltenden Gattungen der Instrumentalmusik, eine weitgehend untergeordnete Kunstform, der er lediglich eine der Dichtung dienende oder sie verstärkende Rolle zugestand.
Dagegen hat sich Goethe mit Werken der bildenden Kunst, obwohl sie nicht so unmittelbar mit der Wortkunst verbunden sind wie das Lied oder das Singspiel des 18. Jahrhunderts, zeit seines Lebens mit ständig zunehmender Intensität auseinandergesetzt. Auf diesem Gebiet griff er deshalb unablässig mit großer Sachkenntnis in die herrschenden Theoriedebatten und die sich daraus ergebenden, zum Teil recht heftig geführten Kontroversen ein, das heißt unterstützte ihn ansprechende Maler, die sich wie er für das Leitbild einer an der Antike orientierten »Natürlichkeit« und »Wirklichkeitsnähe« engagierten, während er ihm als irrig oder gar krankhaft erscheinende Richtungen innerhalb der romantischen beziehungsweise nazarenischen Malerei als bedauerliche Abweichungen von den seit Johann Joachim Winckelmann als »klassisch« und damit normativ bezeichneten Nachahmungstheorien rigoros verwarf.
Kein Wunder daher, daß es im Hinblick auf die damit verbundenen Aspekte seines Lebens und Schaffens eine geradezu unübersehbare Fülle an [<<8||9>>] Sekundärliteratur gibt, die auf diesem Gebiet selbst die unscheinbarsten, ja auf den ersten Blick relativ unwichtigen Begleiterscheinungen ins Auge gefaßt hat. Das belegen unter anderem die rund 50 diesbezüglichen Einträge in den beiden Bänden des 1998 erschienenen Goethe Handbuchs, die unter der Überschrift »Personen, Sachen, Begriffe« herauskamen.2 Im Hinblick auf die dort angeführten Fakten sowie die sich mit ihnen auseinandersetzenden Sonderstudien läßt sich das schwerlich überbieten.
Warum also noch einmal auf diese Themenstellung eingehen, werden manche Goethe-Kenner einwenden? Wissen wir nicht darüber bereits alles, wenn nicht gar mehr, als ein einzelner Kunstwissenschaftler überblicken kann? Wirkt deshalb – angesichts der uns heutzutage bedrängenden Fragen in politischer, sozioökonomischer und kultureller Hinsicht – ein solches Unterfangen nicht notwendig etwas antiquarisch, ja geradezu verstaubt? Man könnte sich daher fragen: Welche Relevanz haben Goethes Ansichten zur bildenden Kunst im Zeitalter einer massenmedial gesteuerten Visualkultur überhaupt noch, in der die Malerei fast keine Rolle mehr spielt und wir uns fast ausschließlich den werbewirksamen Reklamen der großen Konzerne sowie der unaufhörlich flimmernden Bilderflut der Film- und Fernsehindustrie gegenübersehen? Schließlich sind die seit Goethes Tod verstrichenen 180 Jahre keine »Kleinigkeit«, wie Bertolt Brecht gesagt hätte. Was sollen uns deshalb Rückblicke auf die Kontroversen innerhalb einer inzwischen längst untergegangenen künstlerischen Ausdrucksform? Manche der bewußt zeitnah, sich entweder postmodernistisch oder postheroisch gebenden Kunstkritiker beginnen daher bereits, die von Goethe in dieser Hinsicht verfaßten Schriften in die Rumpelkammer der Geschichte zu werfen. Schließlich habe er als privilegierter »Fürstenknecht«, wie sie erklären, noch in einem der vielen obrigkeitsverpflichteten, vorindustriellen, ja alle freiheitlichen Regungen unterdrückenden Duodezfürstentümer des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts gelebt, in dem noch nicht jener gegenwärtig so gern herausgestellte »demokratische«, das heißt von den visuell gesteuerten Bedürfnissen der breiten Massen ausgehende Geist geherrscht habe, der für unsere Gesellschaftsordnung maßstabsetzend sei.3
[<<9||10>>] Doch seien wir nicht allzu schnell mit unseren Vorurteilen. Wir haben zwar in mancher Hinsicht, wie etwa der persönlichen Freizügigkeit, der Berufswahl sowie der Lockerung im Umgang der Geschlechter untereinander, durchaus Fortschritte gemacht. Doch können wir uns bereits rühmen, um auf den zweiten Aspekt der in diesem Buch behandelten Fragestellungen einzugehen,4 gegen die bereits vom mittleren und alten Goethe im Rahmen seiner naturwissenschaftlichen Bemühungen erkannten ökologischen Auswirkungen der damals einsetzenden und inzwischen geradezu verheerende Folgen angenommenen Mechanisierung und damit Verödung weiter Lebensbereiche irgendwelche gesellschaftsverändernden Maßnahmen ergriffen zu haben? In dieser Hinsicht könnten daher Rückblicke auf das von ihm vertretene Naturverständnis und die damit verbundenen Warnungen in unseren eigenen ideologischen Standortbestimmungen durchaus von Nutzen sein.
Schließlich war Goethe, wenn man neben den reaktionären auch die fortschrittlichen Aspekte seines Denkens ins Auge faßt, nicht nur ein »Fürstenknecht« oder ein bildungsbetonter »Klassiker«, sondern hat aus Abneigung gegen die ins Abstrakte, Mathematisierte und Unorganische tendierende Welt der beginnenden Technisierung in seinen Anschauungen zur bildenden Kunst sowie seinen vielfältigen naturwissenschaftlichen Studien, die in gedruckter Form fast ein Drittel seiner Schriften ausmachen, immer wieder auf das unumgängliche Gebot hingewiesen, sich so nah wie möglich an die in der Natur vorgegebenen Verhältnisse zu halten und sich nicht leichtfertig über die dort herrschenden Gesetzmäßigkeiten hinwegzusetzen.5 Und was könnte – angesichts des heutigen Raubbaus an der Natur und all seinen Folgerungen – aktueller sein als eine solche Forderung?
Statt also weiterhin vornehmlich einem unhinterfragten Kult des »Dichters« Goethe zu huldigen, der weitgehend auf jene Identitätsbemühungen zurückgeht, mit denen sich die saturierte Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts den Anschein einer auf der Weimarer Klassik beruhenden »Kulturnation« zu geben versuchte,6 sollte man lieber etwas eindringlicher auf jene Aspekte seines Denkens und Schaffens eingehen, die sich nach wie vor, wenn auch in [<<10||11>>] gewandelter Form, als für unsere Zeitsituation relevant erweisen. Und dazu gehören, wie gesagt, vor allem seine naturverpflichteten Anschauungen im Bereich der bildenden Künste sowie der Naturwissenschaften, die ihm, als einem prononcierten »Augenmenschen«, wie er sich gern bezeichnete, im Hinblick auf Konzepte wie »Natur« und »Natürlichkeit« fast ebenso wichtig, wenn nicht zeitweilig fast noch wichtiger erschienen als seine ausschließlich literarisch intendierten Werke.
Im Verlauf seines langen Lebens nahmen zwar diese Anschauungen im Zuge einer Reihe höchst dramatisch verlaufender politischer Ereignisse – wie der Französischen Revolution, der Koalitionskriege, dem Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reichs, den Befreiungskriegen, dem Wiener Kongreß und der darauf folgenden Metternichschen Restaurationsperiode – zum Teil recht verschiedenartige, ob nun eher progressive oder eher reaktionäre Formen an, blieben aber letztlich stets dem Prinzip der Naturgemäßheit aller Lebensbedingungen treu. Kurzum: Sie vermieden, im Gegensatz zu den Anschauungen vieler seiner von den gleichen Ereignissen aufgeschreckten Zeitgenossen, irgendwelche Ausflüchte in eine chauvinistische Verherrlichung germanischer Recken, eine romantisierende Verklärung des mittelalterlichen Ritterwesens oder einen nazarenischen Rückfall ins katholisierend Religiöse, sondern bekannten sich – trotz mancher Abirrungen ins ahistorisch Antikisierende – stets zu einem als »nachhaltig« verstandenen Wirklichkeitsverständnis, das es weiterhin zu bedenken gilt.
Statt demnach in den folgenden Kapiteln – aus Pietät vor dem nicht zu kritisierenden Goethe – einer einseitig verklärenden Sicht dieses Weimarer Klassikers zu huldigen oder lediglich in positivistischer Emsigkeit das heutzutage überhandnehmende Informationsbedürfnis zu befriedigen, sollen deshalb in diesem Buch vor allem jene naturverklärenden und zugleich naturerhaltenden Züge in Goethes Verhältnis zur bildenden Kunst sowie zur Geologie, Mineralogie, Meteorologie, Botanik, Zoologie, Anatomie und Optik, und zwar jeweils vor ihrem zeithistorischen Hintergrund herausgestellt werden, die in der bisherigen Sekundärliteratur zu diesem Thema meist eher am Rande beziehungsweise nicht mit der [<<11||12>>] ihnen gebührenden Eindringlichkeit behandelt worden sind. Dabei wird sich erweisen, wie hartnäckig Goethe in den meisten dieser Bereiche mit seinem ins Ideal des »Klassischen« erhobenen Konzept an einer vor allem mit den Augen wahrgenommenen Natur festzuhalten versuchte, dem er jedoch unter den jeweils herrschenden politischen Verhältnissen stets leicht variierende Akzente verlieh. [<<12||13>>]
Die Leipziger und Straßburger Studienjahre
»Das Kunst- und Geschmackselement, worin Oeser lebte und
auf welchem man selbst, insofern man ihn fleißig besuchte,
getragen wurde, ward auch dadurch immer würdiger und
erfreulicher, daß er sich gern abgeschiedener oder abwesender
Männer erinnerte. So wurde auf das hohe Kunstleben
Winckelmanns in Italien hingedeutet, und wir nahmen dessen
erste Schriften mit Andacht in die Hände: denn Oeser hatte
eine leidenschaftliche Verehrung für ihn, die er uns gar leicht
einzuflößen vermochte.«
(Goethe im Rückblick auf die Jahre 1765–1768, 1811)
»Schädlicher als Beispiele sind dem Genius Prinzipien.
Vor ihm mögen einzelne Menschen einzelne Teile bearbeitet
haben; er ist der erste, aus dessen Seele die Teile, in ein
ewiges Ganzes zusammen gewachsen, hervortreten.«
(Goethe: Von deutscher Baukunst, 1771)
Nicht jeder Mensch erfährt bereits in seiner Kindheit durch Bilder vermittelte Eindrücke, die ihn sein ganzes Leben begleiten werden. Im Falle Goethes waren es vor allem Darstellungen imposanter antiker Bauwerke sowie idyllisch wirkender Genreszenen, von denen es in seinem Elternhaus Zu den drei Leiern am Frankfurter Großen Hirschgraben nur so wimmelte. Kurzum: Womit schon der junge Johann Wolfgang konfrontiert wurde, waren Bilder des Altertums und der Natur, die ihm auch später – bewußt oder unbewußt – immer wieder vor Augen schwebten. Schon im Vorsaal jenes Hauses, in welchem er aufwuchs, hatte sein Vater, der vermögende und vielseitig interessierte Privatgelehrte Johann Caspar Goethe, der 1740 als Bildungsreisender nach Italien gepilgert war, einige großformatige Kupferstiche der »Prospekte von Rom« anbringen lassen, wie Goethe später in [<<13||14>>] seiner Italienischen Reise schrieb.1 Außerdem hingen an den anderen Wänden dieses Hauses überall Bilder Frankfurter Maler im damals weitverbreiteten »niederländischen« Stil. Was sein Vater offenbar besonders schätzte, waren die Rheinveduten von Christian Georg Schütz, die Eichen- und Buchenwälder von Friedrich Wilhelm Hirth, die an Rembrandt erinnernden Gemälde von Johann Georg Trautmann sowie einige Monatsdarstellungen von Johann Conrad Seekatz,2 welche er sich manchen Taler kosten ließ. Um auch seinen Sohn für die Werke der bildenden Kunst zu begeistern, ließ er ihn – neben einem höchst sorgfältigen literarischen, philosophischen, naturwissenschaftlichen und fremdsprachlichen Unterricht – obendrein von lokalen Künstlern wie Johann Andreas Benjamin Nothnagel und Johann Michael Eben im Zeichnen ausbilden.
Als Goethes Vater seinen Sohn für »reif« genug hielt, schickte er ihn im Oktober 1765 als Sechzehnjährigen an die Leipziger Universität, wo er sich zum Juristen qualifizieren sollte. Und der junge Johann Wolfgang hörte dort auch bis zum Sommer 1768 zahlreiche staatsrechtliche, philologische und philosophische Vorlesungen. Doch ebenso eifrig, wenn nicht noch lernbegieriger besuchte er, und zwar schon seit dem Dezember 1765, jene Unterrichtsstunden, in denen Adam Friedrich Oeser, der hochangesehene Direktor der Leipziger Zeichenakademie und zugleich kurfürstlich-sächsische Hofmaler, einer größeren Anzahl kunstinteressierter Jünglinge das Zeichnen und Modellieren beizubringen versuchte.3 Goethe war von diesen Unterrichtsstunden so angetan, daß er sie bis zum Ende seiner Leipziger Studienzeit besuchte und auch in späteren Jahren den Kontakt mit Oeser nicht abbrechen ließ. Trotz vieler anderer Einflüsse blieben für ihn die kunsttheoretischen Anschauungen sowie der ihm von Oeser vermittelte Zeichenstil lange Zeit von maßstabsetzender Bedeutung, da er sie in ihrer aufklärerisch eingestellten »Natürlichkeit« als eine Befreiung aus dem noch der höfischen Galanterie verpflichteten Rokoko-Stil des frühen 18. Jahrhunderts empfand, in dem weitgehend ein maskenhaftes Kokettieren mit posenhaft angenommenen Haltungen vorgeherrscht hatte.4
[<<14||15>>] Nachdem der bereits 1717 in Preßburg geborene Oeser seine Ausbildung bei den Wiener Barock-Künstlern Raphael Donner und Daniel Gran erhalten hatte, war er in seiner Dresdener und Leipziger Zeit ein »abgesagter Feind des Schnörkel- und Muschelwesens und des gesamten barocken Geschmacks« geworden, wie Goethe noch als alter Mann erklärte,5 und hatte sich jener frühklassizistischen Richtung zugewandt, als deren theoretischer Hauptvertreter damals Johann Joachim Winckelmann galt, der 1754 bei Oeser das Zeichnen gelernt hatte. Obwohl Oeser in seinen eigenen Werken weiterhin auch gewisse Rokoko-Elemente beibehielt und selbst Abstecher ins Empfindsame keineswegs verschmähte, hielt er seine Schüler, darunter den jungen Goethe, immer wieder dazu an, in ihren bildkünstlerischen Bemühungen stets jene »edle Einfalt und stille Größe« anzustreben, die er nicht nur im Gefolge von Jean-Jacques Rousseaus »Natürlichkeits«-Forderungen, sondern auch im Sinne der von Winckelmann bereits 1755 veröffentlichten Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst sowie dessen 1764 erschienener Geschichte der Kunst des Altertums als vorbildlich empfand, da der Letztere in ihnen die Kunst der klassischen Antike gerade wegen ihrer einfachen, an der Natur geschulten und dennoch ins Idealische erhobenen Schönheit als für alle Zeiten musterhaft hingestellt habe.
Und der junge Goethe war ehrlich genug, diesen Einfluß stets offen zuzugeben. So schrieb er etwa am 20. Februar 1770 an Philipp Erasmus Reich über den von ihm verehrten Oeser: »Sein Unterricht wird auf mein ganzes Leben Folgen haben. Er lehrte mich, das Ideal der Schönheit sei Einfalt und Stille.« Ja, Goethe fuhr fort, Oeser in diesem Brief – neben Shakespeare und Wieland – als den wichtigsten seiner »echten Lehrer« zu bezeichnen. Diese Hochschätzung Oesers hielt bei Goethe bis in seine frühen Weimarer Jahre an, als er ihn mehrfach zu dekorativen Arbeiten für das dortige Liebhabertheater sowie die Deckenmalereien des Festsaals und der Wohnräume im Wittumspalais der Herzogsmutter Anna Amalia heranzog.6 Erst im Anschluß an seine Italienreise in den Jahren 1786 bis 1788 und mit einem wesentlich vertiefteren Verständnis der Schriften Winckelmanns [<<15||16>>] betrachtete Goethe, der sich in Rom zu einem überzeugten »Klassizisten« gewandelt hatte, die Werke Oesers, welche in manchen Zügen, wie gesagt, noch immer einem spätbarocken Stil verpflichtet waren, zusehends kritischer.
Abb. 1 Titelblatt (1764)
Nach einem durch mancherlei Krankheiten bedingten Aufenthalt im Frankfurter Elternhaus setzte der junge Goethe, der inzwischen 21 Jahre [<<16||17>>] alt geworden war, im Frühjahr 1770 sein Studium an der Universität in Straßburg fort. Wie in Leipzig belegte er dort wiederum juristische und geisteswissenschaftliche, aber auch medizinische und chemische Vorlesungen. Als er im Sommersemester 1771 seine Dissertation »De legislatoribus« einreichte, lehnte das dafür zuständige Prüfungskollegium diese Schrift – wegen einiger als »irreligiös« empfundener Passagen – als inakzeptabel ab. Aber dafür wurde er am 6. August des gleichen Jahres nach einer Disputatio über 56 »Positiones juris« zum Lizentiaten ernannt, was damals in vielen deutschen Teilstaaten dem Rang eines Doctor juris entsprach.
Doch wesentlich entscheidender für Goethes geistige und künstlerische Entwicklung war zu diesem Zeitpunkt jene oft beschriebene Bekanntschaft mit Johann Gottfried Herder, der sich vom September 1770 bis zum April 1771 ebenfalls in Straßburg aufhielt. Nachdem sich Goethe in Leipzig unter dem Einfluß Oesers und Winckelmanns, die beide, wie gesagt, einer klassizistischen Antikenverehrung huldigten, in seinen kunsttheoretischen Anschauungen eher den von den Griechen sowie den Vertretern der italienischen Renaissance festgesetzten Regeln gefolgt war, begegnete er in Herder dem maßgeblichen Vertreter jener Genieästhetik, die meist mit der journalistisch klingenden Bezeichnung »Sturm und Drang« umschrieben wird. Als ihn Herder auf die Bedeutsamkeit einer national ausgerichteten Volkspoesie, aber auch auf die ungestüme Regellosigkeit in den Werken Shakespeares, Pindars und Ossians hinwies, wandte sich daher der junge Goethe – noch eher rezeptiv als produktiv gestimmt – vorübergehend von den ihm von Oeser vermittelten klassizistischen, sich an vorgegebenen Mustern orientierenden Kunsttheorien ab. Statt dessen bekannte er sich geradezu über Nacht zu einer Originalitätsästhetik, welche die Größe eines Kunstwerks vor allem aus dem subjektiven Kreativitätsbedürfnis seines Schöpfers abzuleiten versuchte. Wie die Erzeugnisse der Natur, behauptete er jetzt im Gefolge Herders, müsse auch das Werk des Künstlers aus einem Schaffensakt hervorgehen, der sich nicht irgendwelchen auferlegten Gesetzen unterwerfe, sondern gleichsam »naturgemäß« erfolge. Dementsprechend schrieb er in seinem 1771 verfaßten Essay Zum Schäkespears Tag: »Und ich rufe Natur! [<<17||18>>] Natur! nichts so Natur als Schäkespears Menschen«,7 um sich damit in aller Entschiedenheit von der als einengend empfundenen klassizistischen Regelhaftigkeit abzusetzen.
Das bekannteste Beispiel seiner neuen kunsttheoretischen Überzeugungen ist Goethes zur gleichen Zeit geschriebenes Manifest Von deutscher Baukunst, mit dem er dem »gottgleichen Genius« Erwin von Steinbach, dem Erbauer des Straßburger Münsters, ein alle Zeiten überdauerndes Denkmal errichten wollte.8 Mit einem unverhüllten Widerwillen gegen die französische Rokoko-Ästhetik sowie einen oberflächlichen Klassizismus »à la grecque« im Sinne des Essai sur l’architecture (1753) von Marc-Antoine Laugier,9 ja selbst gegen Johann George Sulzers gerade erschienene Allgemeine Theorie der schönen Künste,10 die von vielen Vertretern der Aufklärung als maßstabsetzend empfunden wurde, wie überhaupt gegen alles unnötige, sich an bestimmte Regeln haltende Theoretisieren im Hinblick auf Werke der Malerei und Architektur, bekannte er sich in dieser Schrift zu einem Schöpfergeist, der sich in Erwin von Steinbachs Straßburger Münster »wie in den Werken der ewigen Natur« mit geradezu elementarer Kraft offenbare.11
Im Gegensatz zu der bisher wegen ihrer ornamentalen Überfülle weitverbreiteten Verdammung der Gotik als regelwidrig, wenn nicht gar »barbarisch«12 charakterisierte Goethe angesichts dieses Bauwerks – im Sinne seiner neugewonnenen Anschauungen – die Gotik als einen ursprünglichen, unverstellten »Naturstil«,13 wie es bereits der bis dahin kaum bekannte Germain Boffrand, wenn auch mit negativer Akzentsetzung, in seinem Livre d’architecture (1748) getan hatte. »Das ist deutsche Kunst«, schrieb Goethe, »unsere Baukunst, da der Italiener sich keiner eigenen rühmen darf, viel weniger der Franzose.«14 Das Bedeutsame an einer derartigen Hochschätzung der Gotik als einer spezifisch deutschen Kunst – worauf später mit reaktionärer, franzosenfeindlicher Tendenz immer wieder zurückgegriffen wurde – ist jedoch nicht die darin im Sinne Herders zum Ausdruck kommende patriotische Stimmung dieser Schrift, sondern die schon für den frühen Goethe bezeichnende Charakterisierung des gotischen Stilwillens als einer der Natur verwandten Formgebung, die ihn an das Astwerk [<<18||19>>] großer Bäume gemahnte. Gerade der Gotik, behauptete er zu diesem Zeitpunkt, liege kein akademisch-erstarrtes Regelsystem, sondern ein zutiefst organischer, gleichsam morphologisch erfolgender Schöpfungsakt zugrunde.
Abb. 2 A. D. Dannegger: Straßburger Münster (1758)
Was Goethe damit meinte, war also weniger ein die Natur nachahmender als ein naturgleicher Erfindungsprozeß, der im Sinne der Herderschen [<<19||20>>] Genieästhetik, wie gesagt, geradezu impulsiv, kurzum: naturhaft-unwillkürlich erfolge. Daher schloß Goethe den zweiten Abschnitt seiner Schrift Von deutscher Baukunst im Hinblick auf das Naturgenie Erwin von Steinbach mit geradezu hymnisch wirkender Emphase: »Wohl! wenn uns der Genius nicht zu Hilfe käme, der Erwinen von Steinbach eingab: Vermannigfältige die ungeheure Mauer, die du gen Himmel führen sollst, daß sie aufsteige gleich einem hocherhobenen weit verbreiteten Baume Gottes, mit tausend Ästen, Millionen Zweigen und Blättern wie Sand am Meer, ringsum der Gegend verkündet die Herrlichkeit des Herrn, seines Meisters.«15 Was demnach den Straßburger Goethe am meisten beeindruckte, ja geradezu überwältigte, war nicht die Tendenz ins Transzendentale, die – historisch gesehen – dem hochaufstrebenden Mauer- und Pfeilerwerk dieser gotischen Kathedrale letztlich zugrunde liegt, sondern vor allem die schöpferische Kraft ihres Erbauers, ihres »Meisters«, der sich bei der Ausführung seines Werks ganz seinem eigenwilligen, naturhaft-genialischen Schöpferwillen hingegeben habe.
Zugegeben: All diese frühen kunsttheoretischen Erwägungen waren schon, und zwar sowohl in ihren anfänglich winckelmannisierenden als auch in ihren kurz darauf die Gotik verklärenden Anschauungen, durchaus »naturbezogen« gedacht, aber noch weit von jener Einsicht in die objektiven Gesetze der Natur entfernt, deren Erforschung sich Goethe mit kaum zu überbietender Akribie in seinen mittleren und späteren Jahren widmen sollte. [<<20||21>>]
Die frühe Weimarer Zeit
»Ich kam höchst unwissend in allen Naturstudien nach Weimar,
und erst das Bedürfnis, dem Herzog bei mancherlei Unternehmungen,
Bauten, Anlagen, praktische Ratschläge geben
zu können, trieb mich zum Studium der Natur.«
(Goethe im Gespräch mit Kanzler Friedrich von Müller, 1822)
»Es ist ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr, und doch
rückt sie nicht weiter. Sie ist fest: ihr Tritt ist gemessen,
ihre Ausnahmen selten, ihre Gesetze unwandelbar. Wer sie
nicht allenthalben sieht, sieht sie nirgendwo recht. Sie setzt
alle Augenblicke zum längsten Lauf an, und sie ist alle
Augenblicke am Ziel.«
(Goethe in dem Fragment Die Natur, um 1780)
Die nächsten vier Jahre, also von August 1771 bis zum November 1775, sollten sich als die unruhigsten in Goethes Leben erweisen. Überreich begabt und zugleich finanziell wohlsituiert, traf er damals sowohl in Frankfurt, Wetzlar und Darmstadt als auch auf einer Lahn-Rheinfahrt sowie einer Reise in die Schweiz mit unzähligen interessanten, wenn auch höchst verschiedenartigen Persönlichkeiten zusammen, die ihn jeweils in ihrem Sinne zu beeinflussen suchten. Zugleich schrieb er – noch immer unter dem Einfluß Herders – seinen Götz von Berlichingen und seinen UrfaustDie Leiden des jungen Werthers