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Anton Graff, Johann Gottfried Herder, 1785. Das Gleimhaus. Literaturmuseum und Forschungsstätte Halberstadt.

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Druck und Bindung: Theiss, St. Stefan im Lavanttal

Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier

Printed in the EU

ISBN 978-3-412-22344-1

Datenkonvertierung: Reemers Publishing Services, Krefeld

ISBN dieses eBooks: 978-3-412-21816-4

Inhalt

Cover

Titelei

Impressum

Einführung

Wer war Herder?  7    Warum wurde Herder vergessen?  9   
Der große Anreger  12    Herder – ein ‚bekannter
Unbekannter‘  18   

Herkunft, Kindheit, ­Studium und erstes Amt
(1744 –1769)

Herkunft, Kindheit, Schule  21    Studium in Königsberg  24
Das erste Amt  28    Die erste große Rede  30   
Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente (1767)  32   
Die Denkform ‚Lebensalter‘  35    Flucht aus Riga  37   

Die große Seereise (1769–1771)

Der Philosoph auf dem Schiffe  39    Reiseerfahrungen  46   
Lebensentscheidende Begegnungen  48   

Bildteil

Bückeburg (1771–1776)

Im neuen Amt  61    Abhandlung über den Ursprung
der Sprache (1772)  65    Von deutscher Art und Kunst (1773)  70   
Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774)  74    Die gescheiterte Berufung nach Göttingen  81   

In Weimar angekommen (1776–1788) Im neuen Amt

Akademieabhandlungen: Preisschriften  90    Plastik (1778)  103   
Volkslieder (1778/79)  107    Lieder der Liebe (1778)  112   
Briefe, das Studium der Theologie betreffend (1780/81)  113   
Über die Seelenwanderung (1782)  117    Vom Geist der ebräischen Poesie (1782/83)  120    Ideen zur Philosophie der Geschichte
der Menschheit (1784–1791)  123    Denkform ‚Kette der
Bildung‘  129    Gott. Einige Gespräche (1787)  133   

Die italienische Reise (1788/89)

Voraussetzungen 139 Herders italienische Reise  141   
Die letzte Chance: Erneut ein Ruf nach Göttingen  143   

Weimar: Die Spätzeit (1789–1803)

Briefe zu Beförderung der Humanität (1793–1797)  145   
Was Herder nicht zu veröffentlichen gewagt hat  149   
Über die menschliche Unsterblichkeit (1791)  153   
Verstand und Erfahrung. Eine Metakritik zur Kritik der reinen
Vernunft (1799)  156    Kalligone (1800)  158   
Adrastea (1801–1803)  159    Der Cid (1803/04)  163   
Krankheit und Mißmut  164    Die wachsende Kinderschar  165   
Herders Freunde in der späten Weimarer Zeit  166   
Herder und Goethe  169    Die Nobilitierung  171   
Das Problem des unberechtigten Nachdrucks und die
Gesamtausgabe  172    Das Ende  174   

Herders Größe
175

Nachweis der Zitate
 181   

Literaturhinweise

Herder-Ausgaben  183    Forschungsliteratur  183   

Bildnachweis
 189   

Register
 191   

Backcover

Wer war Herder?

Johann Gottfried Herder (1744–1803) war einer der größten Denker und bedeutendsten Menschen, die je in Deutschland gelebt haben. Im Vergleich mit seiner Leistung und Bedeutung ist sein Bekanntheitsgrad eher gering: Man wird wohl kaum eine höhere Schule absolvieren können, ohne etwas von Lessing, Goethe und Schiller gelesen zu haben; ob einem aber auch Herder, der kein Drama und keinen Roman verfaßt und sich auch selber nicht für einen Dichter gehalten hat, im Rahmen höherer Schulbildung begegnet ist, scheint durchaus fraglich. Herder war universal gebildet und schlechterdings zu vielseitig, als daß ihn ein heutiger Mensch nach allen Richtungen hin verstehen könnte. Außerdem war er von einer Schreib-Lust besessen, von der er sich manchmal auch hinreißen ließ, wenn er seinen Assoziationen nachgab und sich poetische Evokationen ­gestattete, die nicht immer ganz leicht zu dekodieren sind. Herder ist nicht einfach, aber lohnend.

Herder war zu vieles gleichzeitig: Er war in erster Linie ein Gelehrter von tiefer Kenntnis der Vergangenheit, die er sich aus Büchern angeeignet hatte, wenn auch nicht Professor an einer Universität. Er war Prediger und Kirchenmann, allerdings nicht ortho-[<<7] Seitenzahl der gedruckten Ausgabedox, sondern bemerkenswert eigenständig. In seinem wichtigsten Amt war er auch für Schule und Unterricht zuständig und er war ein begeisterter Pädagoge, theoretisch und praktisch. Er war ein Schriftsteller, der bergeweise Bücher schrieb und publizierte: Die nach ­seinem Tode herausgekommene Gesamtausgabe umfaßte nicht weniger als 45 Bände. Er übersetzte aus den verschiedensten Sprachen, er dichtete, er schrieb einzelne Essays und ganze Zeitschriften, er verfaßte schwergewichtige theologische und philosophische Werke. Vor allem aber war er Historiker, doch dies im Versuch, ein ins­gesamt historisches Weltbild aufzubauen, also unter Einschluß der philosophischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit. Zentral ist seine Theorie der Kultur und hauptsächlich seine Auffassung von Sprache. Zwischen Kultur und Humanität besteht dabei eine sehr enge Beziehung: Herder zeigte, inwiefern das Wesen des Menschen in seiner ‚Kultürlichkeit‘ besteht, und seine Bemühung um Kultur zielte auf Humanität, auf möglichst umfassende Entwicklung aller menschlichen Möglichkeiten.

Herder war ein Mensch der Aufklärung – nicht nur in dem Sinne, daß er im ‚Zeitalter der Aufklärung‘ lebte, sondern auch in dem anderen, daß er sich für die Ausbreitung wahrer Aufklärung einsetzte. Dies wird freilich teilweise dadurch verdeckt, daß er Autoren der Aufklärung polemisch angegriffen hat, deren Tendenzen er für verfehlt hielt. Sein Wahlspruch Licht, Liebe, Leben verbindet das Intellektuelle mit dem Religiösen. – Es ist durchaus ein Mißverständnis, Herder als Propheten des Irrationalismus und als Helden einer ‚Deutschen Bewegung‘ gegen die westeuropäische Aufklärung zu sehen. ‚Wahre Aufklärung‘ war nie nur Sache des Kopfes, sondern immer auch Sache des Herzens.

Und hier steht Herder als die entscheidende Mittlerfigur: Sein wesentlicher Beitrag zur Leistung seiner Epoche ist die Rückgewinnung der Sinnlichkeit, die Kultivierung aller Kräfte des Menschen für ein umfassendes, erfülltes Menschsein. Eine bloß abstrakte (erkenntniskritische) Philosophie vermochte ihn deshalb nicht zu [<<8]fesseln. Denken und Schreiben war für ihn immer schon ein sinn­licher Akt, eine Lebensform, welche die emotionalen Komponenten integrierte und zu einer neuen Legitimation des Menschen als eines Sinneswesens beitragen sollte. Herder leistete Wesentliches für die Philosophie, namentlich auch für die Ästhetik, die er sich aber nicht von Ethik getrennt vorstellen konnte.

Als Theologe stand er im Zwiespalt: Einerseits hatte er sich durch sein geistliches Amt auf die Lehren der lutherischen Kirche verpflichtet, andererseits war es ihm ein Anliegen, diese mit den kritischen Impulsen der Aufklärung zu vereinbaren. Seine wesentliche Lebensarbeit kann man darin sehen, daß er sich bemühte, das herkömmliche Christentum mit den neuen Auffassungen seiner Zeit zu versöhnen. Er wollte den Menschen seiner sich von der Religion emanzipierenden Zeit ein Christentum predigen, das sie verstehen und als adäquaten Ausdruck ihrer religiösen, emotionalen und ­intellektuellen Bedürfnisse begreifen konnten.

Herder stellte sich von Anfang an in die literarische Bewegung seiner Zeit. Er war nicht nur Gelehrter, sondern Schriftsteller, kreativ schreibend Tätiger. Er kultivierte fast alle Formen, welche damals von Belang waren, insbesondere auch den Brief und den Essay. Er war aber auch Kritiker und Journalist; er besaß ein polemisches ­Talent. Er hätte sich auf seine beruflichen Tätigkeitsfelder beschränken können, mit denen er an sich genug zu tun hatte – aber das wollte er nie. Hinter seiner Gemeinde und seiner Schule sah er – auch insofern ein echter Aufklärer – immer das große Publikum, die gesamte deutsche Nation.

Warum wurde Herder vergessen?

Wie aber kommt es, daß eine so herausragende Persönlichkeit mit einem so reichen Schaffen später dermaßen verdeckt, verdrängt, vernachlässigt werden konnte? Dafür gibt es mehrere Gründe:

[<<9]

1 Ein Grund liegt darin, daß er kein Talent hatte, sich eine Anhängerschaft zu organisieren. Es gibt keine ‚Herderianer‘ und keinen ‚Herderianismus‘; jede Verengung seiner Gedanken zu einer dogmatischen Lehre oder einem System hätte er abgelehnt. Wohl gab es einige Jüngere, die von ihm begeistert und fasziniert waren (zum Beispiel der Schriftsteller Jean Paul, der Arzt und Naturwissenschaftler Gotthilf Heinrich Schubert, der Historiker Johannes von Müller und der Theologe Johann Georg Müller); aber diese waren nicht die Wortführer der wirkenden Strömungen ihrer Zeit. Und die universitäre Lehre, die vielleicht institutionell die Möglichkeit zum Aufbau einer ‚Schule‘ gebildet hätte, war ihm versagt geblieben. Zwei Gelegenheiten, Professor an der Universität Göttingen zu werden (1775, 1789), zerschlugen sich. Herders Wunsch nach einem Lehrstuhl in Jena (1789) wurde vom Herzog nicht genehmigt.

2 Die Meinungsführer um 1800: Schriftsteller und Philosophen wie die Brüder Schlegel, Hegel, Fichte und die Brüder Humboldt wollten nichts mit ihm zu tun haben. Auch wenn sie alle von Herder eine Fülle von Impulsen aufgenommen haben, vermieden sie es, sich zu Herder zu bekennen. Die Brüder Schlegel haben sich in mancher Hinsicht von Herder anregen lassen, vor allem auch für ihre Studien zur Literaturgeschichte vieler Völker, aber auf Herder bezogen sie sich kaum jemals. Wilhelm von Humboldt hatte viel von Herder gelernt und in seinen sprachwissenschaftlichen und philosophischen Arbeiten ging er in den Spuren Herders fort; aber auf Herder berief er sich nie. Die romantischen Philologen um die Brüder Grimm fußten auf dem, was ihnen Herder gezeigt hatte: Dichtung des Volkes, Sprache als Organismus, nationale Entwicklung. Aber auch für sie war Herder tot. Ein Philosoph wie Hegel war nicht denkbar ohne Herders Durcharbeitung aller Bestände der Geschichte in philosophischer Absicht – aber nie hätte sich Hegel auf Herder berufen bei seinen Bemühungen um einen philosophischen Neuentwurf. Es war schon so, wie es Goethe formulierte: Herders Impulse waren quasi anonym in die Masse des Denkens eingegangen; auch dort, wo man [<<10]Herder weiterdachte, wußte man im frühen 19. Jahrhundert kaum, daß dies von Herder herkam.

3 Herders Rezeption standen schließlich verschiedene Miß­deutungen im Wege. Jeder nahm sich von Herders Gedanken, was er gerade brauchen konnte. Seine Ideen zum Völkischen und Nationalen wurden besonders begierig von den slawischen Völkern aufgegriffen, die ihn auch bis heute als einen ‚Erwecker‘ ihrer jeweiligen Nationalität verehren. Aber das ist ein einseitiges Herder-Verständnis. Ebenso partiell und fatal ist die Meinung, Herder sei ein ‚Irra­tionalist‘ und Kämpfer gegen die Vernunft gewesen. Vielmehr zielte seine Emanzipation der Sinnlichkeit auf eine höhere Rationalität, auf den ‚ganzen Menschen‘. Sodann wurde seine Emphase der Humanität für Herders Nachruhm verhängnisvoll, wo man, in der Nachfolge Nietzsches, ‚Humanität‘ und ‚Humanismus‘ verspottete.

4 Schließlich gibt es auch noch Gründe für eine schwierige Rezeption, die in Herders Werk selbst liegen. In seiner frühen Phase pflegte er einen anspielungsreichen, mystischen und bisweilen schwer verständlichen Stil, der durch seinen älteren Freund und Mentor Johann Georg Hamann angeregt war. Herders Haupt- und Spätwerk jedoch ist in klarer, einfacher Diktion geschrieben und für jedermann zugänglich. Viele der Schriften Herders sind Gelegenheitsschriften, polemische Ergüsse, die nicht immer erfreulich zu lesen sind. Aber sie stehen neben anderen, klassischen Schriften von unübertrefflicher Reinheit und Schönheit. Ihre gelehrte Tiefe und ihr Anspielungsreichtum sind oft so ungeheuer, daß sie nur für wenige Leser in all ihren Dimensionen verständlich sein können. Aber das liegt an uns!

Die meisten dieser Argumente, die erläutern, warum Herder nicht so berühmt ist, wie er es zu sein verdiente, kann man auch umkehren und positiv für ihn geltend machen:

1 Daß er keine Schule bildete, zeigt, daß er kein Dogmatiker war. Es kam ihm letzten Endes nicht auf ‚seinen‘ Ruhm und ‚seine‘ Lehre an, sondern auf den Fortschritt der Menschheit als Zuwachs an Menschlichkeit.

[<<11]

2 Daß schon die Romantiker nicht mehr Herder zitierten, beweist auch, daß Wesentliches aus seinem Denken in das allgemeine Denken seiner Zeit eingegangen war. Man dachte in Herders Bahnen auch dort, wo man nicht mehr wußte, daß das ‚Herder‘ war. In gewisser Hinsicht ist das sogar der höchste Beweis für Wirkung.

3 Die Verächter Herders und der von Hebbel und Goebbels so genannten ‚Humanitätsduselei‘ haben sich durch ihre eigenen Taten und Untaten so gründlich selbst gerichtet, daß man sich nur freuen kann, wenn man statt ‚Übermenschen‘ nun wieder Menschen im gewöhnlichen Maß sehen kann. ‚Humanität‘ erscheint uns gerade nach den Exzessen des 20. Jahrhunderts erneut als erstrebenswertes Ziel.

4 Der ‚schwierige‘ Herder ist auch ein Sprachkünstler, ein Sprachspieler, ein vom Wort Begeisterter. Mit seinen ‚schwierigen‘ Texten bietet er nicht nur Widerstand gegen Verflachungen, sondern auch einen Schatz der Poesie und mystischer Erkenntnis, ein Potential für überraschend zukunftsweisende Lektüren und lohnende Wiederentdeckungen.

Der große Anreger

Bei alledem gab es seit Herders Zeiten immer Menschen, die sich für ihn und sein Werk eingesetzt haben. Vorläufig dazu nur einige wenige Stimmen zum Beleg.

Die erste große Biographie hat Rudolf Haym in zwei Bänden 1880 und 1885 vorgelegt unter dem Titel Herder nach seinem Leben und seinen Werken dargestellt. Hier wird alles ins Einzelne gehend ausführlich dargelegt, doch eine Gesamtcharakteristik findet sich nicht. Freilich hat Haym an zentraler Stelle gewissermaßen den Knoten geschürzt, wo er nämlich auf Herders Werk Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit eingeht. Dort preist er dieses Werk als „Herders größte und durchgearbeitetste schriftstellerische Leistung“, als „Summe seines geistigen Lebens und Strebens“. Herder sei stets [<<12]auf genetische Erklärungen geistiger Erscheinungen aus der Natur aus gewesen, auf Nachempfinden und Nachverstehen alles Menschlichen. Für ihn ergab sich die Darstellung der Mannigfaltigkeit des Daseienden als Aufgabe; sein Schlüssel war der Aufweis eines universalen Werdens und Entstehens. „Ihm war, ihm wurde unter der Hand die Welt Geschichte, seine Weltanschauung Geschichts­anschauung, seine Philosophie eine Philosophie der Geschichte.“ Die Geschichtsphilosophie Herders sei gebunden durch Religion; auch die sprach- und literaturwissenschaftlichen Anschauungen seien nicht anders zu verstehen denn durch seine theologischen Überzeugungen. „Herder der Theolog und Herder der Geschichtsphilosoph ist Eins.“ Damit markiert Haym einen Zentralpunkt Herderschen Denkens: das Verhältnis von Religion und Geschichte. Und er weist darauf hin, daß alle übrigen Herder beschäftigenden Wissenschaften damit zusammenhängen. Herder kann tatsächlich nur holistisch verstanden werden, weil sich sein Denken stets auf das Ganze richtete. Wenn wir seine Schriften nach ihrem Beitrag zur Fortentwicklung verschiedener Fachwissenschaften untersuchen, schneiden wir jeweils etwas heraus aus dem Ganzen, das ihm vorschwebte. Dies ist einerseits analytisch notwendig, um Verstehen zu ermöglichen, andererseits verfälscht es das Anliegen Herders.

Eugen Kühnemann legte 1895 die zweite umfassende Lebens­deutung Herders vor (1927 in dritter Auflage). Sie hat stärker lebens­philosophischen Charakter, wie es um 1900 eben dem Zeitgeist entsprach, und geht weniger auf das empirische Einzelne ein. Kühnemann sieht Herder unter dem Gesichtspunkt des Tragischen: „Das Herdersche Leben ist die Tragödie des Genius, dem nicht gegeben war, aus seiner Genialität die Gestalt des Daseins sich zu schaffen, bei der es ruhig auswuchs zu seiner Notwendigkeit und in dieser Notwendigkeit sich behauptete bis ans Ende. Er erlebte den Gedanken der Menschheit als einer Einheit alles Menschlichen, wie sie in den unendlich verschiedenen Weisen menschlichen Erlebens uns immer das gleiche Brudergesicht zeigt. Er hat diese Menschheit [<<13]uns entdecken gelehrt in den Entzückungen des immer tieferen und feineren Verstehens. Er hat die Liebe zur Menschheit in einem nie gekannten Umfang in sich verwirklicht. Er hat den edlen Zielgedanken der einheitlichen Menschheitsgemeinde aus tiefsten Tiefen der Seele in immer wieder lockender Predigt an unser Herz gelegt. Was von dieser seiner Arbeit bleibt, ist viel: der Ruf zum allseitigsten Verstehen menschlicher Dinge, der Geist der großen Liebe, als in der allein es ein Begreifen für das Menschliche gibt, die Sehnsucht zu den Vollendungsseiten mit ihrer wahren Brudergemeinde der einen Menschheit. Dies alles trägt er als Ziel vor uns her in seiner großen Einheit des Erkennens und Glaubens, der Genius des nachschöpferischen Mitlebens, der Prediger einer zu reiner Humanität befreiten Religion.“ Das ist zeittypisch, aber glänzend formuliert: Herder predigt nicht mehr die orthodoxe lutherische Religion, sondern eine Umbildung derselben, welche ‚Humanität‘ heißt. Er hat die ‚Liebe zur Menschheit‘, die sich ihm sowohl theoretisch als auch praktisch, historisch wie aktuell erschließt als Einheit in der Vielheit. Der Weg des Humanisten zur Geschichte verläuft über Sprache und Literatur – unter Einschluß der historischen Schriften wie auch der Heiligen Schriften, die er als ‚Älteste Urkunde des Menschengeschlechtes‘ liest. Er erschließt sich ihren Gehalt sachlich und poetisch, historisch und religiös zugleich.

Eine Gesamtwürdigung des zu vielen Wissenschaften beitragenden Herder aufgrund seiner verschiedenen Begabungen und persönlichen Stärken hat meisterhaft Ernst Benz im Sammelwerk Die Großen Deutschen geliefert. Er schreibt dort unter anderem: „Von Anfang an sind bestimmte Begabungen bei ihm aufs engste miteinander verflochten. Eine dichterische Gestaltungskraft, ein tiefempfundenes Naturgefühl mit dem Blick für organische Entwicklungen und mit dem Bestreben, die Natur ins Geistige zu erheben, eine ungemeine Empfindsamkeit für das Schöne, gesteigert durch eine reich nuancierte Sinnlichkeit, in der sich Musikalität, Empfindung für Rhythmus und Maß, eine feine Empfänglichkeit für alle Reize mitei-[<<14]nander mischen, ein ausgesprochen religiöses Sensorium, vielleicht der stärkste Zug seiner Begabung, und von hier aus ein außerordent­liches Feingefühl für alle Nuancen des Menschlichen sowohl im leiblichen wie im seelischen wie im geistlichen Bereich. Diese einzigartige Universalität der Begabung Herders macht die Universalität seiner Ideen und Schöpfungen verständlich, ohne sie indes ganz zu erklären. Während sonst Begabungen leicht eine spezialisierte Form annehmen und sich als philosophische, naturwissenschaftliche oder musikalische Einzelbegabung in einem exklusiven Sinne äußern, weist Herders Geist eine Art von Kumulation der verschiedenartigsten Begabungen auf, die es ihm ermöglicht, an den mannigfaltigsten menschlichen Lebensbereichen empfindend und schöpferisch teilzuhaben und in einer unendlich großen Spannweite des Menschlichen zu Hause zu sein.“ – Herders Universalität als „Kumulation der verschiedenartigsten Begabungen“ – das ist trefflich gesehen. Es ist eben nicht nur ein überheblicher Wille, das Ganze zu umfassen, sondern auch ein kräftiges Vermögen, das Ganze zu erschließen. Und man erlebt hier das Zusammenspiel des Intellektuellen mit dem Emotionalen. Um es paradox zuzuspitzen: Herder war eine Persönlichkeit, die an Kants geistige Schärfe nicht heranreichte so wenig wie an Mozarts Musikalität. Aber ließe sich ein Mensch denken, der Kant und Mozart zugleich war? Er müßte ‚Herder‘ heißen.

Von Wilhelm Dobbek wurde Herder nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen mit Goethe nach seinem weltanschaulichen Potential untersucht; seine Humanitätsidee trat gewissermaßen in einem säkularisierten Zeitalter an die Stelle der Religion: „[I]mmer blieb Humanität die letzte Rettung für Menschen, die sich nicht in Jenseitshoffnungen flüchten konnten und wollten, für die das Leben auf dieser Erde aber trotzdem einen Sinn bekommen mußte“. Eine solche Art des Gebrauchs spiegelt die Wirren des 20. Jahrhunderts; Herder selbst, der ohne Zweifel im philosophischen wie auch im christlichen Sinne an die Unsterblichkeit der Seele glaubte, hätte sich wahrscheinlich gegen eine solche Ausdeutung seiner Lehre [<<15]verwahrt. Immerhin: Nach den Überspitzungen des Nationalismus und Nationalsozialismus wie auch des Sozialismus bot Herder einen Anknüpfungspunkt für neues Denken, für die bohrende Identitätssuche in verwirrter Zeit. Das kann man nicht über viele Denker des 18. Jahrhunderts sagen. In der Tat steht hier Herder neben Goethe. Ihr geistiges Potential ging sowohl in die westdeutsche als auch in die ostdeutsche Variante der Neuorientierung nach 1945 ein. Goethe wie Herder wurden von den herrschenden Kräften in West und Ost gleichermaßen vereinnahmt und für ihre ideologischen Positionen in Anspruch genommen.

Ein wichtiges Charakteristikum Herders liegt darin, daß er sich unseren Disziplingrenzen nicht fügt. Wie kaum ein anderer steht er für eine umfassende Wissenschaft vom Menschen. Das hat dazu geführt, daß ihn eine ganze Reihe verschiedener Wissenschaften jeweils zum ‚Klassiker‘ erklärt hat.

Er gehört zu den ‚Klassikern der Theologie‘ und zu den ‚Gestalten der Kirchengeschichte‘. Henning Graf Reventlow hat ihm ein eigenes Kapitel in seinem großen Werk Epochen der Bibelauslegung gewidmet.

Herder figuriert aber auch in jeder Philosophiegeschichte! Dabei leidet eine gerechte Einschätzung seiner Bedeutung jedoch unter der Kontroverse Herders mit Kant. Da nun Kant ohne Zweifel in der Philosophiegeschichte Epoche machte, hegen die meisten Philosophiehistoriker eine negative Vorstellung von Herder.

In der deutschen Literaturgeschichte wiederum herrscht eine andere Verzerrung vor. Natürlich kennt man Herder als Volksliedersammler und erwähnt grundsätzlich seine Begegnung mit Goethe in Straßburg und seine konzeptionelle Bedeutung für die Bewegung des ‚Sturm und Drang‘. Da aber Literaturgeschichte im allgemeinen stark nach Werken und Gattungen organisiert wird, fällt es den Germanisten schwer, einem Manne gerecht zu werden, der keine Romane verfaßt hat und keine Dramen und sich selbst auch nicht für einen Dichter hielt. Neuere Bestrebungen, die Sachprosa und die [<<16]Zeitschriftenliteratur aufzuwerten, haben Herder dabei (bis jetzt) noch nicht helfen können. Auch in der Geschichte des deutschen Briefes hat er noch nicht die ihm gebührende Stellung eingeräumt bekommen.

In den Klassikern der Pädagogik, die Hans Scheuerl heraus­gegeben hat, nimmt Herder einen Platz ein zwischen Pestalozzi und Humboldt – völlig zu Recht. Nach der Ansicht von Ursula Cillien bewährt sich Herder als Pädagoge gerade durch seine ganzheitliche Sicht auf Bildung und Geschichte.

Auch in den Klassikern der Kulturanthropologie, die Wolfgang Marschall herausgegeben hat, steht das Portrait Herders: zwischen Montaigne und den spanischen Kolonialexperten einerseits, Forster, Morgan, Bastian und der großen Reihe der wissenschaftlichen Ethnologen andererseits. Eberhard Berg betont besonders die Vielfalt der Erkenntnisinteressen Herders, der all jenes zu umfassen suchte, was die Menschheit in Vergangenheit und Gegenwart geistig bewegt hat. Die Einheit des Herderschen Denkens findet er in der Formel aus dem Reisejournal: „eine Geschichte der Menschlichen Seele überhaupt, in Zeiten und Völkern!“ (FA 9/2, 34) Herder will die historische Vielfalt menschlicher Lebens- und Denkformen dem Ablauf der Geschichte gemäß ordnen und auf dieser Grundlage eine Gesamtschau des Menschlichen entfalten: „Bildung der Individualität im Zuge der Verwirklichung der Humanität“. Dazu dient ihm die Kulturgeschichte. Sie liefert ihm eine Wesensbestimmung des Menschen aus der Vielfalt menschlicher Lebens- und Denkformen – eine neue Anthropologie. Für Eberhard Berg ist Herder „kraft seiner absolute Werte zurückweisenden und die Gleichwertigkeit aller ­Kultur betonenden Geschichtstheorie zu einem herausragenden Wegbereiter der Kulturanthropologie geworden“.

Für Friedrich Meinecke war Herder der Kronzeuge des Historismus: ein immer geschichtliches Verstehen alles Menschlichen als Grundprinzip der historischen Wissenschaften. Hans-Georg Gadamer schätzte Herder als Meister der Hermeneutik, der Grund-[<<17]lage der Geisteswissenschaften. Das Wort und Bild vom ‚Horizont‘, das Herder zuerst ausgenutzt hatte, wurde bei Gadamer zentral. Für Ernst Cassirer bot Herder den wichtigsten Anknüpfungspunkt einer Theorie der Kultur als Theorie der ‚symbolischen Formen‘.

Unter den jüngeren Philosophen hat vor allem Jens Heise eine eindringliche Würdigung Herders verfaßt, in der Herders bereits 1765 geprägte Formel „Einziehung der Philosophie auf Anthro­pologie“ (FA 1, 132) besonders herausgestellt wird. „Bei Herder steht Anthropologie programmatisch für die Kritik an einer Vernunft, die von allen Bindungen an Sprache, Erfahrung, Tradition gereinigt ist. Daß sich Vernunft nicht unberührt von der Erfahrung konstituiert, sondern immer schon Teil der historischen Welt des Menschen war – das hat Herder in seinem weitgespannten Werk unaufhörlich demonstriert. Getragen ist die Vernunftkritik von der Einsicht, daß Vernunft an Sprache gebunden ist.“

Herder – ein ‚bekannter Unbekannter‘

Herder genießt den Status eines ‚bekannten Unbekannten‘: Nicht selten beruft man sich in der Öffentlichkeit auf ihn, benutzt seinen Namen. Ich will dazu nur fünf Beispiele nennen.

1 Nach dem Ersten Weltkrieg, als die deutschen Ostgebiete völkerrechtlich umstritten waren und im Baltikum jahrelang Freikorps die Szene beherrschten, wurde in Riga von der deutsch-baltischen Herder-Gesellschaft unter dem Namen ‚Johann Gottfried Herder‘ eine Hochschule gegründet (1921 bis 1939).

2 Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden der ‚Johann Gottfried Herder-Forschungsrat‘ und das ‚Herder-Institut‘ in Marburg. Sie widmen sich besonders der Erforschung Ostmitteleuropas durch den Aufbau einer Spezialbibliothek und durch wissenschaftliche Veranstaltungen.

[<<18]

3 In der DDR verlieh man die ‚Johann-Gottfried-Herder-­Medaille‘ an diejenigen Schulabsolventen, welche die besten ­Russischkenntnisse nachweisen konnten.

4 Die Hamburger Alfred Toepfer Stiftung F.V.S. hat seit den sechziger Jahren (bis letztmals 2006) einen ‚Herder-Preis‘ für besondere Leistungen osteuropäischer Künstler und Gelehrter vergeben.

5 Der Deutsche Akademische Austauschdienst hat vor einigen Jahren ein ‚Johann Gottfried Herder-Programm‘ aufgelegt, mit dessen Hilfe die Vermittlung emeritierter deutscher Professoren an die Universitäten in Ostmitteleuropa und in den Balkanländern finanziert wird.

Diesen Verwendungen des Namens ‚Herder‘ ist gemeinsam, daß er hier in seinem Symbolwert entweder für das ‚Deutschtum im Osten‘ oder für die Wirkung seiner Ideen auf die slawischen Völker genommen wird. ‚Herder‘ erscheint hier als eine Chiffre für deutsche Kulturpolitik: Wie man überall in der Welt Goethe mit dem Deutschen identifiziert und also passenderweise ‚Goethe-Institute‘ unterhält, um die Kenntnis der deutschen Sprache und Kultur zu fördern, so bedeutet der Name ‚Alexander von Humboldt‘ (für Südamerika) eben die Beziehung zu Deutschland – und der Name ‚Herder‘ die­jenige zur slawischen Welt.

Schließlich soll nicht übergangen werden, daß Herder in Weimar, wo er jahrzehntelang seine wesentliche Wirkungsstätte hatte, besonders präsent ist. Er liegt in Weimar in der Stadtkirche begraben; seine Grabplatte enthält das berühmte Ewigkeitssymbol der Schlange, die sich in den Schwanz beißt, in einem Strahlenkranz das Alpha und Omega, also Anfang und Ende in Gott, und sein Motto Licht, Liebe, Leben. Die Stadtkirche selbst erhielt den Beinamen ‚Herderkirche‘. 1850 wurde vor der Stadtkirche das Herder-Denkmal errichtet – also noch vor den Denkmälern für Wieland, Goethe und Schiller. Weitere Denkmalbüsten und Tafeln finden sich auf seinem Lieblingsplätzchen im Tiefurter Park, am Südhang des Ettersberges, ferner im Seifersdorfer Tal bei Dresden und an der Stadtkirche [<<19]in Bückeburg. Herder-Denkmäler stehen an seinem Geburtsort Mohrungen in Ostpreußen (heute Morąg, zu Polen gehörig) und an seinem ersten Ort als Prediger und Lehrer, in Riga. Seine Haupt­wirkungsstätte, seine Amtswohnung hinter der Stadtkirche in Weimar, ist nach wie vor als ‚Herder-Haus‘ kenntlich. In der DDR-Zeit gab es ein ‚Herder-Museum‘ im Kirms-Krackow-Haus in Weimar; die ‚Forschungsstätten der klassischen deutschen Literatur/Schiller-­Nationalmuseum‘ in Weimar fühlten sich besonders für Herder-­Forschung zuständig. Im ‚Wilhelm-Ernst-Gymnasium‘ in Weimar, wo Herder den Unterricht inspizierte und Prüfungen abhielt, soll in den kommenden Jahren ein ‚Herder-Zentrum für Kulturwissenschaft und Kulturgeschichte‘ entstehen.

‚Herder‘ ist glücklicherweise nicht auf die Assoziationen ‚Weimar‘ und ‚Osten‘ allein festgelegt, wenn diese auch besonders prägend sind. Es gibt heute eine vielseitige internationale und interdisziplinäre Herder-Forschung, die ihren zentralen Ort in einer wissenschaftlichen Gesellschaft findet. Diese ist jedoch – bezeichnenderweise – keine Erscheinung des 19. Jahrhunderts wie die Goethe- oder die Schillergesellschaft. Sie ging vielmehr aus einer Initiative deutscher Wissenschaftler hervor, die als akademische Lehrer deutsche Kultur in Amerika vertraten. Die International Herder Society wurde 1985 in Monterey in Kalifornien gegründet. Sie umfaßt heute etwa zweihundert Wissenschaftler verschiedener Fachzugehörigkeit auf allen Kontinenten, auch aus Japan, China, Rußland und mehreren afrikanischen Staaten, die sich der Erforschung von Leben, Werk und Wirkung Herders gewidmet haben. Sie treffen sich zu großen Kongressen alle zwei Jahre wechselnd in Amerika und in Europa und geben auch ein Herder-Jahrbuch (Herder Yearbook) heraus.